Under Your Spell – Dein Verstand sagt Nein. Aber dein Herz Ja. - Laura Wood - E-Book

Under Your Spell – Dein Verstand sagt Nein. Aber dein Herz Ja. E-Book

Laura Wood

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Beschreibung

Drei Schwestern, drei Wünsche und eine heiße Begegnung, die alles verändert

Auch wenn sie nicht unterschiedlicher sein könnten, halten Clementine »Clemmie« Monroe und ihre beiden Halbschwestern Serena und Lil schon immer fest zusammen. Ihre Mütter wurden vom selben Rockstar schwanger und zogen ihre Töchter gemeinsam groß. Als Clemmie von ihrem Ex aufs Übelste abserviert wird, sind Serena und Lil sofort zur Stelle, und jede der drei hat einen Wunsch für Clemmie. Ausgerechnet auf einer Beerdigung auf dem Anwesen ihrer Mütter geht Serenas Wunsch prompt in Erfüllung: Clemmie erlebt eine unfassbar heiße Nacht mit einem Unbekannten. Nur blöd, dass dieser sich später als der weltberühmte Sänger Theo Eliott entpuppt, den Clemmie schon bald für sechs Wochen betreuen soll. Dabei hat sie sich doch geschworen, niemals etwas mit einem Rockstar anzufangen. Doch, allein zu zweit in einem Haus am Meer. Kann das gutgehen?

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Seitenzahl: 561

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Zum Buch

Auch wenn sie nicht unterschiedlicher sein könnten, halten Clementine »Clemmie« Monroe und ihre beiden Halbschwestern Serena und Lil schon immer fest zusammen. Ihre Mütter wurden vom selben Rockstar schwanger und zogen ihre Töchter gemeinsam groß. Als Clemmie von ihrem Ex aufs Übelste abserviert wird, sind Serena und Lil sofort zur Stelle, und jede der drei hat einen Wunsch für Clemmie. Ausgerechnet auf einer Beerdigung geht Serenas prompt in Erfüllung: Clemmie erlebt eine unfassbar heiße Nacht mit einem Unbekannten. Nur blöd, dass dieser sich später als der weltberühmte Sänger Theo Eliott entpuppt, den Clemmie schon bald für sechs Wochen betreuen soll. Dabei lautet ihre oberste Regel: Fang niemals etwas mit einem Rockstar an! Doch allein zu zweit in einem Haus am Meer? Kann das gut gehen?

Zur Autorin

Laura Wood hat bereits erfolgreich Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht. Under Your Spell ist ihr erster Roman für Erwachsene. Sie ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und lebt in Warwickshire mit ihrem Mann und ihrem Hund Bea. Laura liebt Reisen, Kochbücher, Herbstlaub, neue Schreibwaren, salziges Karamell und Ginger Beer.

LAURAWOOD

Under Your

Spell

Roman

Aus dem Englischen von Bettina Hengesbach

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe Under Your Spell erschien erstmals 2024 bei

Simon & Schuster UK Ltd, London.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 06/2024

Copyright © 2024 by Laura Wood

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Anita Hirtreiter

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Nach einer Vorlage von Pip Watkins / S&S Art Dept. unter Verwendung von © Shutterstock (Lana_Samcorp)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-31770-6V002

www.heyne.de

Für alle sechs Bücher pro Woche

und nur noch eine Seite lesenden, Tropes liebenden, Bibliotheksausweis besitzenden, versaute Hörbücher in der Öffentlichkeit hörenden, Happy End liebenden Träumer:innen. Dies ist ein Liebesbrief.

Teil eins

1

Hiermit gewähre ich einen Einblick in mein derzeitiges Leben: Meine Schwester steht mit einem toten Vogel in der Hand auf meiner Türschwelle, und das ist noch nicht mal das Schlimmste, das heute passiert ist.

»Clemmie.« Lils Augen füllen sich schnell mit Tränen, und ihr schwarzer Eyeliner beginnt bereits zu zerfließen, als sie mir das Bündel aus glänzenden Federn hinhält. »Er ist direkt gegen meine Windschutzscheibe geflogen … Meinst du, er kommt wieder auf die Beine?«

Ich betrachte den Vogel. Den ganz offensichtlich toten Vogel.

»Ich glaube eher nicht, nein.« Mein Ziel ist es, mit sanfter Stimme zu sprechen, doch das gelingt mir nicht einmal annähernd. Wie schon erwähnt, es war ein anstrengender Tag.

»Verflucht, Lil!« Unsere Schwester Serena taucht hinter mir auf und nimmt einen Schluck direkt aus der Champagnerflasche, die sie mitgebracht hat. »Was hast du mit diesem Ding vor? Das ist ekelhaft!«

Lil funkelt Serena an. »Ich versuche, ihm das Leben zu retten. Meint ihr, bei einem Vogel funktioniert Mund-zu-Mund-Beatmung?«

»Mund zu Schnabel meinst du«, entgegne ich, während Serena laute Würgegeräusche ausstößt.

»Ich kann ihn doch nicht einfach sterben lassen«, erwidert Lil starrsinnig.

Ich stehe noch immer fest entschlossen im Türrahmen, ohne mich vom Fleck zu rühren, denn ich weiß, dass der tote Vogel bei der ersten noch so kleinen Chance in meiner Wohnung landen wird.

»Ich glaube, der Zug ist abgefahren.« Serena zeigt mit ihrem hübsch manikürten Finger auf das Tier. »Bin mir ziemlich sicher, er sollte in der Mitte nicht so platt sein.«

Lil schaut hinunter. »Oh«, sagt sie schließlich. »Das ist schrecklich.«

»Ja, aber vielleicht kannst du den toten Vogel nun trotzdem ablegen und reinkommen?«, schlage ich vor.

»Und ihn einfach auf dem Boden zurücklassen?« Lil klingt entsetzt.

Bereits jetzt ahne ich, wie die Sache enden wird, aber ich bin viel zu müde, um eine Beerdigung für diesen Vogel zu organisieren. Ich werfe Serena einen verzweifelten Blick zu, doch die verdreht nur die Augen.

»Warum wirfst du ihn nicht in die Mülltonne?«, schlägt sie vor.

»In die Mülltonne?« Lils Stimme wandert eine Oktave höher.

»Die Komposttonne«, antwortet Serena eilig. »Clemmie hat ungefähr sechzehn unterschiedliche Mülltonnen, nicht wahr?« Sie sieht mich an.

»Es gibt eine für Gartenabfälle.« Ich zucke mit den Schultern. Obwohl die Bezeichnung »Garten« für das winzige Stück Rasenfläche, das zu der Wohnung gehört, vielleicht etwas zu hoch gegriffen ist. Ich hatte immer vor, etwas anzupflanzen, habe mir in den schillerndsten Farben ausgemalt, wie ich mit einem Weidenkorb in der Armbeuge umherspaziere und bescheiden lächele, wenn die Leute mich für meinen grünen Daumen loben, aber dafür fehlte mir stets die Zeit. Und im Augenblick spielt es ohnehin keine Rolle mehr.

»Na siehst du.« Serena wirft ihr Haar zurück. »Das ist perfekt. So kann er wieder eins mit der Erde werden.« Serena ist eine Meisterin darin, Menschen dazu zu bewegen, das zu tun, was sie will, und in diesem Moment bedient sie sich dazu einer Sprache, die Lil selbst verwenden würde, und schlägt einen äußerst überzeugenden Tonfall an.

Lil scheint zu zaudern. »Das ist nicht sonderlich würdevoll.«

»So läuft das in der Natur, Lil.« Serena wedelt mit der Hand durch die Luft. »Du weißt schon – natürliche Auslese.«

»Ob die Sache so natürlich war?«, werfe ich ein. »Ich glaube nicht, dass Darwin damit meinte, gegen die Windschutzscheibe eines Toyota Yaris zu fliegen, der von einer kleinen Frau in einem sackartigen rosa Mantel gefahren wird.«

»Wie dem auch sei.« Serena, die nun richtig in Fahrt gerät, winkt ab. »Dennoch gehört das alles zum natürlichen Kreislauf, oder? Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub. It’s the circle of life …«

Als sie den Titelsong aus König der Löwen anstimmt, befürchte ich, dies könnte den Eindruck erwecken, dass sie die Sache nicht so ernst nimmt, wie Lil es gern hätte, also grätsche ich schnell dazwischen. »Komm schon, Lil, es ist eiskalt hier draußen, und drinnen gibt es Pizza. Deine vegane Lieblingspizza. Und Wein. Ganz, ganz viel Wein.«

»Na schön.« Lil nickt zögerlich. »Aber ich finde, ich sollte ein paar Worte sagen.«

»Sag sie schnell«, kontert Serena. »Clemmie braucht uns dringender als der tote Vogel. Für sie gibt es vielleicht noch Hoffnung.«

»War das wirklich notwendig?«, murmele ich.

Serena antwortet nicht, sondern nimmt mit hochgezogenen Augenbrauen einen weiteren Schluck aus der Flasche, auch wenn mir klar ist, was sie damit ausdrücken will: Mein Leben ist das Äquivalent zu einem toten Vogel, und ich kann ihr nicht einmal widersprechen.

Fünf Minuten später haben wir uns um die geöffnete Tonne für Gartenmüll versammelt.

»Hier ruht Peter die Taube«, verkündet Lil in feierlichem Tonfall.

Ich bin alles andere als überzeugt, dass der Vogel, der tot in meiner Mülltonne liegt, eine Taube ist, doch nun scheint mir nicht der richtige Zeitpunkt, um dies zur Sprache zu bringen.

»Wir wissen nicht genau, wie lange du gelebt hast«, fährt Lil fort, »aber du warst Teil dieser großen, wunderschönen Welt, und es ist traurig, dass du von uns gegangen bist. Ich hoffe, dass du, wo immer du jetzt sein magst, die Sonne auf deinem Rücken und den Wind unter deinen Flügeln spüren kannst. Mögest du glücklich und frei sein.«

Überraschenderweise spüre ich, dass mir Tränen in die Augen treten, die ich vor Serena zu verbergen versuche.

»Ihr zwei seid beide gleich schlimm«, murrt sie, doch ich höre eine widerwillige Zärtlichkeit in ihrer Stimme. »Können wir nun reingehen? Es ist eiskalt, okay? Was kümmert uns der verfluchte Vogel? Ich sterbe gleich an Unterkühlung.«

Lil klappt den Deckel der Mülltonne zu, und ich seufze erleichtert, ehe ich den beiden voran ins Haus gehe.

»Was ist denn hier passiert?«, fragt Lil, als sie sich in meiner Wohnung umsieht, die zugegeben ein wenig spartanisch wirkt.

Serenas Miene verfinstert sich. »Leonard ist passiert.«

»Er hat all deine Habseligkeiten mitgenommen?« Lil schnappt nach Luft. »Deine Couch? Und deinen Fernseher? Und … wo sind denn Tunas Sachen? Und wo ist eigentlich Tuna?«

Ach ja. Die Katze. Daran darf ich nicht allzu lange denken, sonst fange ich an zu heulen.

Lil blinzelt, während sie die Information verdaut. »Er hat deine Katze mitgenommen?«

»Len hat behauptet, es würde ihr in der neuen Bleibe besser gehen«, erkläre ich und versuche, leichtherzig zu klingen. »Und er hat recht. Es ist ein richtiges Haus, weit entfernt von allen Hauptstraßen. Dort ist es viel sicherer.«

»Er hat deine Katze mitgenommen!«, wiederholt Lil, und diesmal blitzt Mordlust in ihren großen blauen Augen auf. »Er hat dich für eine andere Frau verlassen, all deine Sachen mitgenommen und deine Katze gestohlen? Ich hasse ihn.«

Ich sehe mich in der fast leeren offenen Küche und dem Wohnzimmer um. Noch gestern standen hier neuwertige Möbel von Ikea, elegant und in gut durchdachter Anordnung. Okay, nicht alles davon entsprach meinem Geschmack – der moderne Stil und das Fehlen von jeglichem Durcheinander wirkten etwas unpersönlich, aber es war dennoch in Ordnung; es sah aus wie ein Zuhause. Jetzt, wo bloß noch der einzelne Sessel verblieben ist, den ich einst auf der Straße gefunden habe (Len habe ich erzählt, ich hätte ihn auf einem Antikmarkt erstanden, sonst hätte er ihn niemals ins Haus gelassen), das durchhängende, halb gefüllte Bücherregal und die Tischlampe in Form einer Meerjungfrau mit Muschel in der Hand, die nun keinen Tisch mehr hatte, auf dem sie stehen konnte, sah meine Wohnung aus wie ein Hinterhoftrödelmarkt wenige Minuten vor der Schließung.

»Es waren seine Sachen«, erwidere ich schulterzuckend. »Er hat sie ausgesucht und bezahlt. Mir war nur nicht bewusst, wie viel davon seins war, bis die Leute vom Umzugsunternehmen gekommen sind und alles mitgenommen haben.« Was heute geschehen ist, als ich in der Arbeit war. Einer Arbeit, die ich bald nicht mehr haben werde. Bei diesem Gedanken kehren die Kopfschmerzen zurück, die ich versucht habe zu verdrängen.

»Ich wusste schon immer, dass er dir nicht guttut«, sagt Serena mit ernster Stimme, lehnt sich auf die Küchenarbeitsplatte und öffnet den Deckel eines riesigen Pizzakartons. »Das sage ich dir seit Jahren.«

»Du hast gesagt, er sei langweilig«, entgegne ich, »was man fairerweise jetzt nicht mehr von ihm behaupten kann.«

Len und ich waren vier Jahre lang zusammen, ehe er mir vor zehn Tagen nicht nur eröffnet hat, dass er mich für Jenny, eine Kollegin aus seiner Steuerberatungsfirma, verlässt, sondern auch, dass er seit eineinhalb Jahren ein Verhältnis mit ihr hat und sie im dritten Monat schwanger ist. Len, Jenny, ihr Baby und meine Katze würden alle in ein Cottage mit fünf Zimmern in einer ländlichen Region von Oxfordshire ziehen, zusammen mit unseren Möbeln. Dabei hat er mir großzügigerweise die Wohnung in der Stadt überlassen, deren Miete ich mir bald nicht mehr leisten kann.

Bevor ich es selbst erlebt habe, war es mir immer ein Rätsel, wie Menschen in solchen Situationen vollkommen ahnungslos sein können. Wie konnten sie es nicht wissen?, fragte ich mich immer. Nun kann ich beteuern, dass ich keine Ahnung hatte. Nicht einmal die leiseste. Nichts von alldem ist mir auch nur einmal in den Sinn gekommen.

Als sich Len vor dem Kamin aufbaute wie ein Detektiv in einer schlechten Agatha-Christie-Verfilmung und mir die Fakten darlegte, war mein erster Gedanke, dass er mich auf den Arm nehmen wollte.

Doch Len war kein Mensch, der Scherze machte, und keines der Worte, die ihm über die Lippen kamen, war lustig.

»Ich finde einfach, dass wir beide uns schon lange auseinandergelebt haben.« Der Satz klang steif und eingeübt. (Später fand ich heraus, dass Jenny ihm tatsächlich eine Rede geschrieben hatte, was schlau war, denn Len hat die Tendenz, alles viel zu vage zu formulieren, und unsere Trennung dagegen war unumstößlich.) »Wir beide sind zu unterschiedlich. Und das ist auch keine große Überraschung, wenn man deinen familiären Hintergrund bedenkt …« Diese Bemerkung traf mich besonders schwer. »Wir sind nicht mehr wirklich ineinander verliebt, Clemmie. Es ist zur Gewohnheit geworden. Du wirst selbst sehen, dass es besser so ist.«

In diesem Moment übergab ich mich in die leere Quality-Street-Dose, die ich umklammerte.

Die Tatsache, dass er recht hatte, ist ein schwacher Trost. Ich vermisse eigentlich nicht ihn, sondern eher das gewohnte Gefühl, einen Menschen an meiner Seite zu haben, und die eingespielte Routine unserer beider Leben, die so eng miteinander verwoben zu sein schienen. Was ich jedoch wirklich vermisse, ist die Katze. Und die Couch.

»Ich habe mich davon täuschen lassen, wie langweilig er ist«, sinniert Serena nun. »Vermutlich habe ich nicht erkannt, dass in ihm ein Bösewicht schlummert. Aber jetzt … jetzt wird mir alles klar.« Ihr Tonfall klingt gefährlich, als wäre das Versprechen darin enthalten, Vergeltung zu üben, und ihr finsterer Blick ist beeindruckend. Sie nimmt sich ein Stück Pizza und beißt unnötig aggressiv hinein.

Lil setzt sich auf die Arbeitsplatte und beginnt, die Folie von einer weiteren Champagnerflasche zu lösen, die Serena mitgebracht hat. »Er war so was von langweilig, Clemmie.« Sie entkorkt die Flasche mit einem geübten Plopp. »Nun kannst du es ruhig zugeben.«

»Er war nicht langweilig«, wehre ich mich. »Er war verlässlich und immer zur Stelle. Das mochte ich an ihm.«

»Mensch, Clemmie!« Serena stößt genervt die Luft aus. »Er war dein Freund, kein Auto. Du solltest mehr von einer Beziehung erwarten.« Dann macht sie eine bedeutungsschwere Pause, ehe sie mir den härtesten Schlag versetzt. »Außerdem wissen wir alle, dass es bei der ganzen Sache mit Leonard in Wahrheit um das P-Wort ging.«

»Nein, so war es nicht«, versetze ich und fahre mit einem Mal meine Stacheln aus. »Und sag nicht das P-Wort.«

»In diesem Punkt muss ich Clemmie recht geben.« Lil nickt, während sie vorsichtig drei Tassen mit Champagner füllt, obwohl Serena immer noch aus ihrer fast leeren Flasche trinkt. »P-Wort klingt, als würdest du über Penisse sprechen.«

»Igitt.« Serena nimmt eine Tasse mit der Aufschrift Accountants are great between the (spread)sheets entgegen, ein Geschenk von mir an Len, an dem er jedoch offenbar nicht so sehr hing wie beispielsweise an den guten Gläsern und dem Staubsauger.

»Wenn ich von Penissen sprechen wollte«, erwidert meine Schwester überheblich, »würde ich einfach von Penissen sprechen. Aber in Ordnung.« Sie räuspert sich und bedenkt mich mit einem strengen Blick. »Clemmie – du weißt, dass es bei deiner Beziehung zu Leonard eigentlich um unseren Papa ging.«

»Fang nicht wieder damit an«, murmele ich und nehme einen großen Schluck aus meinem Becher. Der Champagner ist kalt und prickelt auf meiner Zunge. Serena kauft nur den besten.

Wir haben alle unsere ganz eigene Beziehung zu unserem Vater – in meinem Fall könnte man diese als flüchtige Bekanntschaft bezeichnen. Wenn dein Erzeuger ein alternder Rockstar ist, der es geschafft hat, innerhalb von vier Monaten drei Frauen zu schwängern, werden die Dinge kompliziert.

»Es stimmt, dass Len das Gegenteil von Dad war«, merkt Lil an. »Ein Steuerberater aus Surrey – weniger Rock ’n’ Roll geht wohl kaum.«

»Was weißt du schon von Rock ’n’ Roll?« Serena schnaubt.

»Ich bin Musikerin.« Lil verschränkt die Arme vor der Brust. »Ich habe von allen Musikrichtungen Ahnung.«

»Bloß von Musik, die von Frauen gemacht wird, die aussehen wie Geister aus dem viktorianischen Zeitalter.« Serena grinst, als Lil empört zu stottern beginnt, obwohl es tatsächlich aussieht, als würde sie ein bauschiges weißes Nachthemd unter ihrem weiten rosa Mantel tragen.

»Diesen Mainstream-Mist, den dein Label veröffentlicht, kann man wohl kaum als Musik bezeichnen«, entrüstet sich Lil.

Serena wirft sich das glänzende Haar mit der Balayage-Färbung über die Schulter. »Beliebt zu sein ist kein Verbrechen. Nur weil du keine Musik magst, die einen Beat hat und zu der die Leute tatsächlich tanzen können.«

»Können wir dieses Thema bitte heute ruhen lassen?«, unterbreche ich sie, denn diesen Streit haben die beiden schon oft geführt.

Meine Schwestern sind beide in die Fußstapfen unseres Vaters getreten und arbeiten in der Musikbranche; dennoch haben sie so gut wie nichts gemeinsam. Serena ist eine erschreckend erfolgreiche Musikproduzentin bei einer der größten Plattenfirmen der Welt – wunderschön, immer wie aus dem Ei gepellt und klickt mit ihren langen Fingernägeln ständig auf dem Display ihres iPhones herum. Lil dagegen wirkt wie ein engelsgleiches Blumenkind, das mit sanfter, kratziger Stimme und Akustikgitarre die Menschenmassen auf Musikfestivals begeistert.

»Kein Grund, dich einzumischen, Miss Ich-hab-seit-zwanzig-Jahren-keine-neue-Musik-mehr-gehört.« Serena schnaubt.

»Du meinst Dr. Ich-hab-seit-zwanzig-Jahren-keine-neue-Musik-mehr-gehört, nur um das klarzustellen«, kontere ich, ohne mich zu rechtfertigen. Es bringt nichts, uns in Diskussionen zu verstricken, wenn es unzählige andere Dinge gibt, über die wir uns momentan aufregen könnten. »Und ich habe gedacht, ihr wärt gekommen, um mir bei meinen Problemen zu helfen«, füge ich verzweifelt hinzu und klettere auf einen der Hocker an der kleinen Frühstückstheke.

»Das sind wir auch!«, ruft Lil. »Natürlich wollen wir dir helfen. Also erzähl uns, was passiert ist. Ich dachte, sie wollten deinen Vertrag verlängern.«

»Das habe ich auch gedacht, denn so hat es mir der Abteilungsleiter gesagt, aber es gibt Personalkürzungen und …« Meine Stimme verliert sich, und ich lege mir Daumen und Zeigefinger an den Nasenrücken, um mich darauf zu konzentrieren, die Tränen zurückzuhalten.

»Wenn sie dir gesagt haben, dass sie dich behalten, dann sollten sie das auch tun.« Serena schnaubt. »Du bist brillant, eine Expertin auf deinem Gebiet, und deine Studierenden lieben dich. Was soll also der Blödsinn?«

»Als Expertin für unbekannte mittelalterliche Schriften ist man nicht so gefragt, wie du denkst«, sage ich in meine Tasse.

Seit ich vor fünf Jahren meinen Doktortitel erhalten habe, habe ich eine schlecht bezahlte befristete Stelle nach der anderen angenommen, stets in der Hoffnung, dass ich irgendwann einen festen Job bekommen würde. Hier in Oxford sah es aus, als hätte ich es endlich geschafft, aber das Universum war offenbar noch nicht fertig damit, mir Pech zu bringen. Gerade als ich geglaubt habe, ich könnte durchatmen und im reifen Alter von zweiunddreißig endlich mein Erwachsenenleben beginnen, muss ich feststellen, dass ich zum Semesterende im Sommer arbeitslos sein werde. Arbeitslos. Beziehungslos. Und bald obdachlos. So viel zum Thema Erwachsenenleben.

Ich leere die Tasse mit dem Champagner und halte sie meiner Schwester hin, damit sie mir nachschenkt.

Lil gehorcht schweigend.

»Wir brauchen einen Plan«, verkündet Serena entschlossen. »Und wir müssen einen neuen Job für dich finden.«

»Lehrstellen an der Uni werden nicht so oft frei«, erwidere ich. »Und wenn doch, bewerben sich immer unzählige Leute. Glaubt mir, ich weiß es. Und selbst wenn sich auf wundersame Weise eine Möglichkeit auftut, könnte ich erst im Herbstsemester beginnen, sodass ich gut vier Monate ohne Einkommen dastehen würde.« Ich habe extrem großes Mitleid mit mir selbst.

»Wie wäre es, wenn ich dir Geld leihe?«, fragt Serena. »Nur bis du eine neue Arbeit gefunden hast.«

Noch bevor sie den Satz beendet hat, schüttele ich den Kopf. »Ich kann kein Geld von dir annehmen.«

»Du weißt, dass du jederzeit Dad fragen könntest«, merkt Lil an und zuckt zusammen, als ich ihr einen bösen Blick zuwerfe. »Das widerstrebt dir jetzt bestimmt, aber ich bin mir sicher …«

»Ich will sein Geld nicht«, entgegne ich und bemühe mich, jegliche Emotionen aus meiner Stimme fernzuhalten.

»Du bist unnötig starrsinnig, was das betrifft«, wirft Serena mir vor. »Er ist ein miserabler Vater, ob du sein Geld nun annimmst oder nicht. Du kannst den alten Trottel ruhig dazu veranlassen, ausnahmsweise mal etwas Hilfreiches zu tun. Und außerdem ist er nicht so ein übler Kerl, wie du …«

Ich schneide ihr das Wort ab, indem ich die Hand hebe.

Meine Schwestern schauen mich einen Moment lang an und seufzen dann gleichzeitig. Sie wissen, es ist eine Diskussion, die sie nicht gewinnen werden.

»Also, was wirst du tun?«, fragt Lil. »Hast du es deiner Mum schon erzählt?«

Ich schneide eine Grimasse. »Noch nicht. Sie wird wollen, dass ich wieder bei ihr einziehe.«

Nachdenklich schweigend trinken wir alle einen weiteren Schluck von dem Champagner. Ich kann das Prickeln auf meiner Zunge kaum noch spüren, denn ich fühle mich bereits angenehm benebelt.

»Ich weiß, was wir tun können«, verkündet Serena schließlich, und ihre Worte klingen ein wenig lallend und weicher vom Alkohol.

»Und was?«, frage ich.

Sie grinst. »Wir sollten den Drei-Wünsche-Zauber anwenden.«

2

»Den Drei-Wünsche-Zauber?« Ich rümpfe die Nase. »So wie damals, als wir noch Kinder waren?«

Etwas, das verdächtig nach einem amüsierten Gackern klingt, kommt Serena über die Lippen. »Die unheimlichen Schwestern sind wieder am Werk!«

Ächzend lasse ich den Kopf in meine Hände fallen. Die unheimlichen Schwestern ist ein Spiel, das wir mit ungefähr zehn oft gespielt haben und das auf unserer leicht … ungewöhnlichen Familiensituation basierte.

Es begann als Kommentar in der Zeitung, in dem unsere Familie als Hexenzirkel bezeichnet wurde, woraufhin meine Mum gelacht und gesagt hatte: »Wem der Hexenhut passt!« Dann hatten Petty und Ava auch gelacht, und wir drei Mädchen hatten mit eingestimmt, obwohl wir das Wort »Hexenzirkel« anschließend hatten nachschlagen müssen.

Damals schrieben die Zeitungen oft über uns. Als bekannt wurde, dass Ripp Harris mehr oder weniger gleichzeitig drei Frauen geschwängert hatte, stürzte sich die Presse förmlich auf die Story. Meine Mutter Dee – die damals dreiundzwanzig und ebenfalls eine aufstrebende Sängerin war – war im Gegensatz zu den anderen beiden mit Ripp verheiratet gewesen, was die größte Aufmerksamkeit auf sie gelenkt hatte.

Immer wieder kamen die gleichen Fragen auf. Was würde sie tun? Würde sie bei ihm bleiben? Würde sie um ihren Mann kämpfen? Würde sie dies vielleicht sogar vor den Kameras tun, falls sich ihr die anderen Frauen auf mehr als fünfzehn Meter nähern würden?

Tatsächlich tat meine Mutter nichts von alldem. Sie packte ihre Sachen, verließ ihn (unter minimalem Protest von Ripp) und kaufte von der beachtlichen Summe, die sie bei der Scheidung erhielt, eine Farm in Hertfordshire.

Als sie Petty und Ava anbot, zu ihr auf die Farm zu ziehen, drehte die Boulevardpresse durch.

Ripps Ex eröffnet Baby-Kommune war Mums Lieblingsschlagzeile. Der Artikel hing eingerahmt auf der Toilette im Erdgeschoss.

Keine von uns wusste jemals wirklich, wie eine Baby-Kommune auszusehen hatte, aber unser wahres Leben war nicht mal annähernd so skandalös oder aufregend, wie die Paparazzi vor den Toren glauben wollten.

Als Mum ihre Karriere als Sängerin aufgab, nahm das Interesse der Medien ab, verschwand jedoch nie ganz. Das Haus war unser Rückzugsort. Nachdem Mum nicht mehr auftrat, gründete sie eine gemeinnützige Kunstorganisation, die sie immer noch von ihrem Homeoffice aus führt. Sie und ich wohnten im mittleren Teil des langen, heruntergekommenen Gebäudes, das über mehrere Jahrhunderte hinweg immer wieder erweitert worden war, während Petty mit Lil und Ava mit Serena jeweils in einem der Anbauten wohnten. Alle hatten ihren eigenen Bereich, aber für gewöhnlich blieben die Türen geöffnet, und wir versammelten uns oft in der riesigen Küche in der Mitte des Hauses oder in dem alten Wohnzimmer.

Ich weiß nicht, wie es Mum, Petty und Ava unter den gegebenen Voraussetzungen schafften, so eine gute Beziehung zueinander aufzubauen, doch solange ich zurückdenken kann, waren diese drei besten Freundinnen und wir drei Schwestern beieinander ein- und ausgegangen, über die weiten ungenutzten Felder gerannt und in einem glücklichen, liebenden Geflecht zusammen aufgewachsen.

Ripp spielte keine große Rolle in unserem Leben. Wenn man ihn nach der Sache mit den drei Babys im selben Jahr fragte, zuckte er nur mit den Schultern und sagte: »Hey, Mann, das waren die Achtziger.« Dazu setzte er ein reumütiges Lächeln auf, als würde das alles erklären, als hätten der Fall der Berliner Mauer und die starke Vermehrung von Legwarmers es schlichtweg unmöglich gemacht, damit aufzuhören, jede Frau in Sichtweite zu vögeln und sein Sperma zu verbreiten. (»Igitt, sag nicht Sperma«, beschwerte sich Lil, als ich diesen Gedanken einmal laut aussprach.)

Wir wurden alle 1990 innerhalb weniger Monate geboren und haben – was Ripp vielleicht auf das neue Jahrzehnt hätte schieben können – keine weiteren Halbgeschwister bekommen. Es ist schwer, es nicht persönlich zu nehmen, wenn dein Dad in einem Interview auf der Titelseite der Zeitung bekannt gibt, dass er sich in der Woche nach deiner Geburt hat sterilisieren lassen. (Ripp macht schnipp!) Die Sache hatte meine Therapeutin vor eine große Herausforderung gestellt.

Jedenfalls schien sich die Öffentlichkeit einig zu sein, dass unser Haus eine Mischung aus einem Kult, einer Kommune und einem Ort für dunkle Magie war. Die Realität war selbstverständlich viel profaner, doch für meine Schwestern und mich war es zu einer Art Obsession geworden – der Gedanke, dass wir Hexen waren wie die drei Schwestern in Macbeth.

Als die unheimlichen Schwestern hatten wir uns mit Mums von Stevie Nicks inspirierter Garderobe verkleidet, waren über lange, mit Pailletten besetzte schwarze Kleider gestolpert und hatten über einem alten Le-Creuset-Kochtopf Zaubersprüche aufgesagt, unsere Feinde mit Flüchen belegt und einander strahlende Schönheit, die Aufmerksamkeit unseres Schwarms und einmal auch »größere Brüste« gewünscht.

Mum und Petty machte es nichts aus, aber Ava sagte, wir sollten lieber um einen guten Geschäftssinn und Börsentipps bitten, denn all der andere Kram erscheine uns nur wegen des Patriarchats wichtig. »Patriarchat« war ein weiteres Wort, das wir nachschlagen mussten, und danach wurden unsere Zaubersprüche sehr viel … wütender.

Später, als wir Teenager waren, ließen wir die alte Tradition in Zeiten, in denen wir Liebeskummer hatten, wieder aufleben.

»Wir sind keine Kinder mehr«, gebe ich nun zu bedenken, doch Serena wühlt bereits in ihrer gigantischen Handtasche herum, um eine kleine Holzschatulle hervorzuholen.

»Ich habe mir schon gedacht, dass wir die heute Abend brauchen würden«, sagt Serena.

Mir fällt die Kinnlade herunter.

»O mein Gott!«, ruft Lil. »Ist das …«

»Die Trennungsschatulle?«, beende ich ihren Satz atemlos.

Serena nickt. »Ihr wisst ja, dass Petty Granny Macs Haus renoviert, und dort hat sie sie im Garten vergraben gefunden.«

Lil macht große Augen. »Das ist so ein perfektes Timing, dass es geradezu unheimlich ist. Als wäre es … Schicksal.«

Ich nehme die Schatulle von Serena entgegen und spüre einen schmerzhaften Stich in der Brust, als ich den Deckel öffne. Darin befinden sich mehrere Umschläge – einer für jede Trennung, die wir in unserer Jugend verkraften mussten. Ganz oben liegt ein schwarzes Kuvert, auf das ein silberner Stern gezeichnet wurde. Ich weiß genau, was sich darin befindet: der letzte Zauber, den die unheimlichen Schwestern je gewirkt haben. Der Drei-Wünsche-Zauber.

Es war kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag – eine Zeit in meinem Leben, an die ich nicht gern zurückdenke. Ich hatte gerade eine Trennung hinter mir, die die Sache mit Leonard wie eine Nichtigkeit wirken lässt. Serena und Lil überredeten mich an jenem Abend dazu, mich zusammen mit ihnen zu betrinken und zu zaubern. Zu diesem Zeitpunkt waren wir bei Pettys Großmutter in Northumberland, und nach unserer Hexerei vergruben wir die Schatulle im Garten. Ich habe nicht damit gerechnet, sie jemals wieder zu Gesicht zu bekommen.

Serena nimmt den schwarzen Umschlag heraus und reißt ihn, ohne zu zögern, auf. »Drei Wünsche und ein Fluch«, liest sie vor, ehe sie grinsend zu mir und Lil aufschaut. »Es wird Zeit, die alten Sprüche wieder zum Leben zu erwecken, findet ihr nicht?«

»Jaaaaaa!«, quiekt Lil und fällt von der Arbeitsplatte.

Serena beginnt, auf der Suche nach einem geeigneten Topf alle Küchenschränke aufzureißen. Es gibt keinen alten Le Creuset – und wenn wir einen gehabt hätten, würde sich dieser sicher in Lens neuem Haus befinden –, aber sie entdeckt eine verbeulte Bratpfanne, die sie offenbar für geeignet hält.

»Ich hole die Kräuter«, ruft Lil und läuft wankend zur Wohnungstür.

»Serena, das ist lächerlich!«, sage ich. »Ich kann nicht glauben, dass du so etwas unterstützt.«

»Warum nicht?« Meine Schwester zuckt mit den Schultern. »Es kann doch nicht schaden. Noch größeres Pech kannst du schließlich nicht haben.«

Ich ächze erneut.

»Kerzen?«, fragt Serena.

»Sehe ich aus, als hätte ich Kerzen?« Ich schließe mit einer Handbewegung meine leere Wohnung ein, die nicht gerade wirkt wie eine Reklame für Jo Malone.

Sie schnalzt mit der Zunge und beginnt, Schubladen zu öffnen und zu schließen, um am Ende einen triumphierenden Schrei auszustoßen, als sie halb heruntergebrannte Geburtstagskerzen findet.

Lil kommt wieder hereingestürmt, in der Hand diverses Grünzeug. »Ich war mir nicht sicher, ob irgendwelche davon Kräuter sind.« Sie legt das Bündel auf die Arbeitsplatte.

»Ich glaube, das hier ist Salbei«, sagt Serena und tippt ein Blatt an.

»Das ist Löwenzahn«, entgegne ich.

»Was soll’s.« Serena winkt gelassen ab. »Lil, gib sie alle in die Pfanne.«

Serena zündet die Kerzen an und steckt sie in die übrig gebliebene Pizza, was durchaus ein wenig festlich wirkt, während Lil alle Blätter in die Bratpfanne wirft.

»Das ist bescheuert«, versuche ich es erneut.

»Sag das mal deiner BH-Größe.« Serena grunzt.

»Das nennt sich Pubertät, nicht Zauberei«, gebe ich zurück.

»Könnt ihr euch noch an den Zauber erinnern, nachdem es zwischen Serena und Cam aus war?« Lil kichert beschwipst. »Wir haben eine hohe Erfolgsquote.«

»Da hast du recht«, pflichtet Serena ihr bei. »Und wisst ihr auch noch, als ihre Mum ihren geheimen Zigarettenvorrat unter dem Bett gefunden und ihr den ganzen Sommer Hausarrest erteilt hat, sodass sie das Shania-Twain-Konzert im Hyde Park verpasst hat? Wer hat da zuletzt gelacht?«

Ich blinzele. Vielleicht liegt es an diesem bezwingenden Argument oder an der unumstößlichen Unterstützung meiner Schwestern, vielleicht aber auch an dem Anflug von Nostalgie oder der Flasche Champagner, die ich getrunken habe (wer kann das schon sagen?), doch ich finde tatsächlich immer mehr Gefallen an der Zauberei-Idee.

»Scheiß drauf«, sage ich. »Lasst es uns tun.«

»Yessssss!« Lil stößt ihre Faust in die Luft, gerät dabei allerdings leicht ins Wanken und stolpert über den Saum ihres nachthemdartigen Kleides.

»Was kam noch mal als Erstes?« Ich runzele die Stirn und versuche mich zu erinnern.

»Wir brauchen einen Salzkreis«, erwidert Serena, die bereits dabei ist, Flocken des guten Maldon-Salzes großzügig auf dem Küchenboden zu verteilen. Als die Hälfte des Kreises fertig ist, ist nichts mehr übrig, aber sie lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und greift nach der Pfeffermühle. Bald niesen wir alle drei.

»Vielleicht wäre Zucker besser gewesen als Pfeffer?«, schlägt Lil mit tränenden Augen vor. »Ich finde, ein Kreis aus Salz und Zucker wäre ein gutes Symbol für das Leben – süß und salzig, ihr wisst schon.«

Da ich nun tief in der Sache drinstecke und Champagner durch meine Adern fließt, klingt Lils Argument für mich tatsächlich unfassbar logisch. Ich greife nach einer Tüte Zucker und beende den Kreis, den sie begonnen hat. »Und jetzt?«

Lil nimmt die Pfanne mit den Kräutern und stellt sie in der Mitte des krummen Kreises auf den Boden.

»Wir brauchen Musik.« Serena greift nach ihrem Handy und blickt stirnrunzelnd darauf hinab. »Ich muss es aufladen«, murmelt sie, kramt in ihrer überdimensionalen Handtasche herum und holt ein Ladekabel hervor, das sie einstöpselt. Nachdem sie ein paarmal auf dem Display herumgetippt hat, erklingen die vertrauten Töne von Sisters of the Moon von Fleetwood Mac blechern aus dem winzigen Lautsprecher.

»Yesssss!«, ruft Lil, die mittlerweile hin und her schwankt, erneut. »Ich erinnere mich wieder.« Sie beginnt, leise mitzusingen, woraufhin Serena und ich mit einstimmen.

Ich schließe die Augen und denke an unsere alte Küche zurück, wo die Musik knackend durch die Lautsprecher von Mums Plattenspieler drang und der Geruch von Lavendel und Minze, die wir aus Avas Garten geklaut hatten, in der Luft lag. Damals war Musik etwas Simples für mich. Etwas, das unser Haus erfüllte.

Serena schüttelt das Blatt Papier in ihrer Hand auf und beginnt vorzulesen: »Wir sind die unheimlichen Schwestern und haben uns heute hier versammelt, um die Göttin zu bitten, uns drei Wünsche zu erfüllen.«

Sie reicht das Blatt an Lil weiter, damit sie die nächste Zeile vorlesen kann. »Außerdem bitten wir dich, unseren Feind mit einem Fluch zu belegen. Einen Mann, der unserer geliebten Schwester unrecht getan hat.«

»Leonard«, spuckt Serena verächtlich aus und ersetzt damit den Namen, der auf dem Zettel steht. An den ich definitiv nicht denken will.

»Genau.« Ich nicke, entkorke die Weinflasche und fülle unbeholfen und schwankend meine Tasse auf. »Len, wir verfluchen dich!«

Lil reicht den Zettel an Serena zurück, die ausruft: »Leonard, wir verfluchen dich! Mögest du nie wieder eine andere Frau sexuell befriedigen, und mögest du dort unten einen extrem juckenden Ausschlag bekommen!«

»Das steht dort bestimmt nicht«, zische ich erschrocken.

Als Serena mir das Blatt hinhält, sehe ich die Worte in ihrer Handschrift.

»Wir waren echt gnadenlos«, stellt Lil fröhlich fest.

»Die arme Jenny«, murmele ich.

Serena reicht mir den Zettel zurück, woraufhin ich die nächste – von mir geschriebene – Zeile lese. »Mögest du dein Fehlverhalten einsehen und dich für immer schuldig dafür fühlen, wie du mich behandelt hast.« Mein Magen zieht sich zusammen, als ich an das Mädchen zurückdenke, das ich damals war. »Hmmm, vielleicht ein bisschen heavy.«

»Es ist nicht heavy«, meldet sich Lil zu Wort. »Es ist wahr. Len sollte sich für immer schuldig fühlen, genau wie …« Sie fängt Serenas tadelnden Blick auf und bricht ab, bevor sie den Namen des Ex-Freundes ausspricht, den wir niemals erwähnen. »Und das mit dem Ausschlag«, fährt sie nervös fort. »Definitiv das mit dem Ausschlag.«

Mit einem Nicken zieht Serena eine der Kerzen aus der Pizza und wirft sie in die Pfanne mit den Blättern. Wir jubeln, und Serena gackert erneut.

»Jetzt die Wünsche«, verkünde ich und schaue auf das Blatt Papier.

»Drei Wünsche für Clemmie«, sagt Lil. »Um ihr gebrochenes Herz zu heilen.«

Serena greift sofort nach einer weiteren Kerze und wirft sie in die Pfanne. »Grandioser Sex!«

»Dafür musstest du nicht mal aufs Blatt schauen«, stellt Lil bewundernd fest.

»Ich kann mich noch gut daran erinnern.« Serena schmunzelt. »Es ist genau das, was sie braucht. Ich weiß nicht, ob es Clemmie geholfen hat, aber für mich ist es definitiv wahr geworden. Unzählige Male.«

»Und ich kann mich noch gut daran erinnern, angemerkt zu haben, dass du ein bisschen länger darüber hättest nachdenken können«, sage ich.

»Das ist dein Problem, Clemmie.« Serena stößt genervt die Luft aus. »Du denkst zu viel und handelst zu wenig, und wenn ich handeln sage, meine ich …«

»Wir wissen alles, was du meinst.« Ich verdrehe die Augen.

»Du warst jahrelang mit niemandem zusammen außer mit Leonard.« Serena erschaudert. »Ehrlich gesagt kann ich mir nichts Schlimmeres vorstellen.«

»Es würde dir guttun, deine Sexualität auszuleben«, sagt Lil ein wenig diplomatischer.

»Das tue ich doch.« Ich schnaube.

Meine Schwestern sind verdächtig still.

»Geh einfach ein bisschen mehr aus«, schlägt Lil schließlich vor.

»Unverfänglicher Sex, Clemmie … kann wirklich toll sein, und du hast es noch nie ausprobiert«, fügt Serena hinzu.

»An der Uni hatte ich Tom«, gebe ich empört zurück. »Das war unverfänglich.«

»Ihr wart sechs Monate zusammen. Es war erst unverfänglich, als du rausgefunden hast, dass er die halbe Theatergruppe vögelt.« Serena klingt abfällig.

Das stimmt nicht ganz. Es war durchaus unverfänglich für mich, weil ich immer noch nicht über die bereits erwähnte niederschmetternde Trennung hinweg war und mich daher emotional nie richtig auf Tom eingelassen hatte.

»Ich sage ja nur, dass dir ein One-Night-Stand guttun würde«, fährt meine Schwester fort.

»Ich habe nichts gegen etwas Unverfängliches«, beharre ich. »Aber ich nutze keine Dating-Apps.« Als ich zuletzt Single war, hat mich Serena bei allen angemeldet und mich auf meinem Profil als kurvige Rothaarige mit gutem Geschäftssinn und einem sündhaft schönen Körper beschrieben – in der fälschlichen Annahme, dass dies das Interesse von Männern wecken würde, die aus Die Waffen der Frauen (gut) zitieren konnten, statt einen Haufen Perverser, die glaubten, ich würde mich auf Basis eines Bildes von ihrem Penis (schlecht) auf der Stelle unsterblich in sie verlieben. »Gott sei Dank bin ich lesbisch«, sagte Serena damals entschuldigend.

Nun verdreht sie die Augen. »Wie willst du denn sonst jemanden finden, mit dem du Sex haben kannst? Du schottest dich vollkommen von der Außenwelt ab. Du hängst in Bibliotheken rum, und die einzigen Männer, mit denen du dich beschäftigst, sind seit achthundert Jahren tot.«

»Keine Dating-Apps«, wiederhole ich.

»Schon in Ordnung«, mischt sich Lil beschwichtigend ein. »Der Zauber wird Clemmie schon jemanden bringen, mit dem sie grandiosen Sex haben kann. Sie braucht keine Dating-App. Clemmie, jetzt ist dein Wunsch dran.«

Ich schaue auf das Blatt hinunter. »Ich wünsche mir einen Job, in dem ich das tun kann, was ich liebe«, lese ich vor. »Wow. Danke dafür, siebzehnjähriges Ich. Sieht so aus, als wäre ich seitdem nicht viel weiter gekommen.«

»Das Timing hat eben nicht gestimmt.« Serena schneidet eine Grimasse.

»Aber der Wunsch wird dir helfen, wieder auf den richtigen Weg zu kommen«, sagt Lil voller Überzeugung. »Darum geht es ja bei der Sache.«

Ich spüre einen Stich, als ich daran denke, dass mir in dem Job, den ich liebe, nur noch zwei Monate bleiben. Ich greife nach einer Kerze und werfe sie in die Pfanne.

Dann dreht sich Lil um und nimmt die letzte Kerze von der Pizza. Sie liest die Worte, die in ihrer eigenen geschwungenen Handschrift auf dem Papier stehen, mit einem sanften Lächeln vor. »Mein Wunsch ist die große Liebe – bedingungslose, leidenschaftliche Liebe mit einem Seelenverwandten. Genau das ist es, was Clemmie verdient.«

»Buuuuuh!«, ruft Serena. »Ich habe ganz vergessen, wie armselig deine Wünsche sind.«

Ohne auf ihre Bemerkung einzugehen, wirft Lil ihre Kerze in die Pfanne. »Die letzte Zeile lesen wir alle zusammen.« Sie zeigt uns die geschriebenen Worte.

»In die Dunkelheit bringen wir Licht, aus der Asche steigen wir auf«, intonieren wir feierlich. Wow, wir waren damals wirklich dramatisch!

Als Lil uns beide anschaut, nicken wir, und sie wirft den Zauberspruch ebenfalls in die Pfanne. Das Papier fängt Feuer und glimmt an den Ecken auf. Auf einmal zischt es, und eine Rauchwolke steigt auf, als die trockenen Blätter zu brennen beginnen.

»Warte, Lil … Waren auch Äste dabei?«, frage ich.

»Vielleicht?«

Die winzigen Flammen erwachen flackernd zum Leben, verschlingen das Papier, werden höher und füllen die gesamte Pfanne aus, während wir wie benommen zusehen. Eine dichtere Rauchwolke steigt nun auf, und im nächsten Moment schlägt der Rauchmelder über unseren Köpfen Alarm. Ein paar Sekunden später gehen alle Lichter aus.

»Was ist hier los?«, schreit Serena und hält sich die Ohren zu.

»Du hast dein Handy an die schwache Steckdose angeschlossen«, rufe ich zurück und stolpere in der Dunkelheit über diverse Dinge. »Die Sicherung ist durchgebrannt. Im Schrank unter der Spüle ist eine Taschenlampe.«

Lil stellt sich auf die Zehenspitzen und wedelt vergeblich mit einem Geschirrtuch vor dem Rauchmelder durch die Luft.

Serena greift nach der Weinflasche und gießt den verbliebenen Inhalt über das Feuer, was die Flammen zwar löscht, aber den Rauch nicht vertreibt.

»Mein Wein«, heule ich verzweifelt.

»Wo zum Teufel ist die verdammte Taschenlampe?«, knurrt Serena in der Dunkelheit. Klappern und mehrere laute Schläge sind zu hören, ehe Lil es schafft, die Hintertür zu öffnen.

Endlich findet Serena die Taschenlampe und lässt einen hellen Lichtring durch den Raum huschen.

Das Piepen des Rauchmelders hört abrupt auf, wird jedoch von einem schrillen Klingeln ersetzt.

Wir stehen blinzelnd da und starren verwirrt auf die Bratpfanne.

»Es ist mein Handy«, sagt Serena schließlich, nimmt ihr Telefon und schaut auf das Display.

»Hi, Mum«, meldet sie sich. »Es ist gerade etwas ungünstig …« Sie hält inne und hört zu, wobei sich ihre Augen weiten. »Warte, noch mal von vorn«, unterbricht Serena ihre Mutter. »Wer ist gestorben?«

»O mein Gott, Clemmie«, flüstert Lil, das Geschirrtuch noch immer umklammert. »Unser Zauber scheint ziemlich wirkungsvoll gewesen zu sein.«

3

Entgegen Lils Vermutung haben wir mit unserem Zauber niemanden getötet. Wie sich herausstellte, handelt es sich bei dem Verstorbenen um Uncle Carl. Er hatte einen Herzinfarkt, und zwar schon ganze zwei Stunden, bevor wir im angetrunkenen Zustand ein Bündel Zweige angezündet haben. Ich bin mir ziemlich sicher, das bedeutet, dass wir nichts damit zu tun haben.

Im Grunde ist Uncle Carl gar nicht mit uns verwandt, sondern war Mums ehemaliger Manager. Danach ist er weiterhin Ripps Manager geblieben. Obwohl meine Mum ihre Karriere als Sängerin aufgegeben hat, sind Carl und sie über die Jahre Freunde geblieben – größtenteils, wie ich vermute, weil er zwischen ihr und Ripp vermittelt hat, indem er Besuchstage organisierte und meinen Vater um Geld für Schulausflüge bat. Da Uncle Carl nichts zu viel war, sprang er sogar oft für Ripp ein, wenn dieser unsere Treffen vergessen hatte oder einen Tag verschlief, an dem er eigentlich auf uns aufpassen sollte – etwas, das mit vorhersehbarer Regelmäßigkeit vorkam.

Carl war ein dürrer Mann, der rauchte wie ein Schlot und sein Handy ständig am Ohr hatte. Ich kann jede Erinnerung an ihn anhand der Größe seines Mobiltelefons einer bestimmten Zeit zuordnen. Er sprach seitlich durch den Mund und hatte immer Kirsch-Hustenbonbons in der Tasche, die er großzügig an uns verteilte, wobei er erklärte, dass er keine einzige Zahnfüllung habe und der Krieg gegen Zucker ein »kommunistisches Komplott« sei.

Mittlerweile sind seit unserem Zauber zwei Wochen vergangen, und ich bin auf dem Weg zu seiner Beerdigung. Aus Gründen, die nur meine Mutter kennt, sind alle Gäste nach der Trauerfeier in der örtlichen Kirche in unser Haus geladen. In meinem klapprigen alten Ford Fiesta tuckere ich die M40 entlang und bin aufgrund des obligatorischen Personalmeetings an der Uni, die mir gekündigt hat, sehr spät dran. Ich kann bloß hoffen, dass der Wagen nicht auseinanderfällt, ehe ich ankomme. Bei der letzten Inspektion in der Werkstatt hat mir der Mechaniker verkündet, dass er den Wagen erschießen würde, wenn er ein Pferd wäre – eine Bemerkung, die ich für unnötig hielt. Dennoch zahlte ich die exorbitante Servicegebühr für vier neue Reifen und die lange Liste mit dringlichen Hinweisen auf alarmierende Mängel, die unbedingt behoben werden müssen.

Nachdem ich zweimal falsch abgebogen bin, komme ich endlich mit quietschenden Reifen vor der Kirche zum Stehen und stelle fest, dass der Leichenwagen direkt hinter mir anhält. Eilig greife ich nach meinem Handy und meiner Handtasche und sprinte durch die Tür.

In der überfüllten Kirche drehen sich Hunderte Köpfe in meine Richtung, als ich hineinstolpere, den Mantel über meinem zu engem schwarzem Kleid zurechtzupfe und nach meiner Familie Ausschau halte.

Als jemand »Clemmie« zischt, entdecke ich Serena und Lil, die mir offenbar einen Platz freigehalten haben. Nicht einen Moment zu früh lasse ich mich neben sie auf die Bank fallen.

»Das war knapp«, flüstert Serena, als düstere Orgelmusik einsetzt.

»Ich hatte Schwierigkeiten, den Weg zu finden«, erwidere ich und lasse mich erschöpft auf meinem Platz zurücksinken. Doch mir ist keine lange Verschnaufpause vergönnt, denn schon im nächsten Moment ertönt das Signal, dass wir uns alle erheben sollen. Ich stehe auf und wende mich zusammen mit allen anderen zu dem Sarg um, der nun hereingetragen wird.

Es ist schwer zu glauben, dass Carl, der eine äußerst lebendige Person war, in dieser kleinen Kiste liegen soll. Ich spüre einen Kloß im Hals und ein Brennen in meinen Augen. Lil reicht mir ein zerknülltes Taschentuch.

Als sich die Sargträger nähern, erkenne ich, dass mein Vater einer von ihnen ist, und verspanne mich automatisch. Obwohl Carl und er sich nahestanden, hätte es mich nicht überrascht, wenn Ripp gar nicht zur Beerdigung gekommen wäre.

Ich habe ihn seit mindestens einem Jahr nicht mehr gesehen – bei unserer letzten Begegnung habe ich Ripp und Len miteinander bekannt gemacht. Die beiden haben einander auf der Stelle verabscheut, und damals deutete ich das als gutes Zeichen für unsere Beziehung.

Jetzt entdeckt er mich und zwinkert mir unbeschwert zu. Natürlich kann so etwas Nichtiges wie eine Leiche, die auf seiner Schulter ruht, Ripp Harris’ Charme nichts anhaben.

Ich dagegen bemühe mich um eine versteinerte Miene, doch als mir bewusst wird, dass ich vermutlich später mit ihm werde sprechen müssen, zieht sich mein Magen zusammen.

Das misstönende Ächzen der Orgel wird lauter, aber plötzlich fällt mir auf, dass sich noch ein anderes Geräusch unter die Klänge mischt.

»Sie haben Ihr Ziel erreicht«, verkündet eine ernste Stimme und übertönt die Musik.

Ein paar Köpfe heben sich, und ich wechsele einen verwirrten Blick mit Serena.

»Sie haben Ihr Ziel erreicht«, brüllt die Stimme erneut, diesmal lauter.

Weitere Köpfe drehen sich in meine Richtung.

»Gott?«, formt Lil mit den Lippen und richtet ihren Blick nach oben zu der hohen Steindecke.

Während die sechs Sargträger weiter den Gang entlangschreiten und die Stimme uns erneut den gleichen Satz zuruft, bemerke ich, dass einer der Männer in seinen Schritten stockt. Da er mir den Rücken zugekehrt hat, sehe ich nur seine breiten Schultern und die dunklen Locken, die ihm bis zum Kragen seines perfekt geschnittenen Anzugs reichen.

»Bei der nächsten Möglichkeit wenden«, donnert die Stimme nun, und mit einem Mal dämmert mir die quälende Wahrheit.

»Nein, nein, nein«, murmele ich und schließe die Augen, als könnte ich damit bewirken, dass ich vom Erdboden verschluckt werde. Als würde das Problem verschwinden, wenn ich es einfach ignoriere.

»Bei der nächsten Möglichkeit wenden«, wiederholt die Stimme.

»Fuck, Fuck, Fuck«, flüstere ich und mache mich an meiner Handtasche zu schaffen.

Die Dame vor uns zieht erschrocken die Luft ein und funkelt mich wütend an, ehe sie einen bedeutungsvollen Blick auf das riesige Kreuz wirft, das vor uns an der Wand hängt.

Offen gestanden glaube ich jedoch, dass Jesus größere Probleme hat. Die habe selbst ich.

Ich schließe die Hand um mein Telefon und ziehe es aus meiner Tasche, während die Karten-App ihre letzte Chance ergreift, um auf voller Lautstärke »Bei der nächsten Möglichkeit wenden« zu brüllen, als wollte sie den Sarg wieder zurück in Richtung der Lebenden umleiten.

Der Organist verspielt sich, und alle Anwesenden schauen uns an. Die Schultern des dunkelhaarigen Sargträgers beben, als er schließlich am Altar ankommt.

»Es tut mir so leid«, flüstere ich und stelle mein Handy mit zitternden Fingern auf lautlos. Mittlerweile sind meine Wangen so heiß, dass sie ein Atomkraftwerk in Gang setzen könnten.

Serena und Lil sind in einem stummen Lachanfall neben mir zusammengesunken – hin und wieder kommt ihnen ein wenig hilfreiches Grunzen über die Lippen, während ich in Erwägung ziehe, mir ein hübsches offenes Grab zu suchen, in das ich mich hineinstürzen kann.

Der Rest der Messe verläuft ohne weitere Zwischenfälle, doch ich kann mich nicht mehr darauf konzentrieren. Es wird gesungen, und der Priester liest aus der Bibel vor.

Schließlich stolziert Ripp nach vorn, um die Grabrede zu halten.

Er ist groß und schlank mit erstaunlich dunklem Haar, sein Gesicht wirkt allerdings faltiger als bei unserer letzten Begegnung. Seine Kieferkontur ist weicher, und seine Gesichtszüge sind schlaffer, wenn auch nur ein bisschen. Das schwarze Hemd hat er für eine Beerdigung mindestens einen Knopf, wenn nicht sogar zwei Knöpfe, zu weit geöffnet, aber das scheint die missbilligende Dame vor uns nicht zu stören. Stattdessen schaut sie meinen Vater mit diesem Blick an … Eine Mischung aus Vergötterung und Ehrfurcht, vermischt mit einer Übelkeit erregenden Portion Lust. Diesen Blick kenne ich nur allzu gut, denn ich habe ihn schon bei allen möglichen Leuten gesehen, sogar bei meinen eigenen Freundinnen und meiner Mathelehrerin aus der achten Klasse.

»Carl Montgomery«, beginnt Ripp nun mit einem langsamen, traurigen Kopfschütteln. »Was für ein Kerl! Welch ein Verlust!« Obwohl er nicht laut spricht, rutschen alle auf ihren Bänken nach vorn, hängen an seinen Lippen und lauschen jedem Wort, das er mit seiner berühmten kratzigen Stimme spricht. Mit Ripp Harris geschieht etwas, wenn man ihm ein Publikum gibt: Auf einmal hat er eine Anziehungskraft, gegen die man sich nicht wehren kann. Das ist eins der Dinge, die ich immer schwierig an ihm fand – es fühlt sich an, als würde er dem Raum jegliche Luft entziehen.

»Einige von euch wissen vielleicht, wer ich bin«, fährt Ripp mit aufgesetzter Bescheidenheit fort, worauf die Frau vor uns offenbar reinfällt, denn sie stößt ein leises Seufzen aus. »Aber niemand hätte jemals von mir gehört, wenn es Carl nicht gegeben hätte. Er hat mich entdeckt, wie man es vermutlich ausdrücken könnte – vor vielen, vielen Jahren im Keller eines Pubs in Sheffield.« An dieser Stelle macht er eine Pause und lässt seine perfekt geraden weißen Zähne aufblitzen. »Obwohl ich mir sicher bin, dass Carl es aus Gründen der Eitelkeit lieber wäre, wenn ich behaupten würde, dass es noch gar nicht allzu lange her ist.«

Die Menge lacht leise, und Ripp fährt mit seiner Trauerrede fort, die eigentlich bloß von ihm selbst handelt, was jedoch niemandem aufzufallen scheint. Zu dem Zeitpunkt, wo er bei seinem zweiten Grammy angelangt ist, höre ich längst nicht mehr zu, sondern ertappe mich dabei, wie ich meinen Blick geistesabwesend über die Menge schweifen lasse, um meine Mum ausfindig zu machen.

Aber stattdessen bleibe ich an einem Mann in einer der vorderen Bänke hängen. Es ist der Sargträger, auch wenn ich selbst nicht weiß, warum ich mir dessen so sicher bin, obwohl ich nur einen Blick auf seinen Hinterkopf erhaschen konnte. Hinterköpfe sehen doch alle ziemlich gleich aus und sind vollkommen unscheinbar, oder? Als er sich der Person neben ihm zuwendet, um leise etwas zu ihr zu sagen, stelle ich fest, dass sein Profil sogar noch netter anzuschauen ist als sein Hinterkopf. Ich sehe seine Wangenknochen, die markante Kieferkontur und das weiche dunkle Haar, das ihm in die Stirn fällt und sich an seinem Ohr lockt.

Ein merkwürdig heißes Gefühl schlängelt sich durch meinen Körper, und es dauert einen Moment, bis ich es als Lust definieren kann. Es ist eine Weile her, und ich sollte mich selbst dafür schelten. Mich nach einem Fremden zu verzehren? In einer Kirche? Auf einer Beerdigung?

Auch wenn ich mir sicher bin, dass Serena und Lil begeistert über diese unerwartete Wendung wären, bin ich das Gegenteil. Ich rede mir ein, dass ich nicht meine Sexualität unterdrücke, sondern lediglich gute Manieren an den Tag lege, indem ich meinen Blick stattdessen auf den traurigen Jesus hefte, der am Kreuz an der Wand hängt. Er erinnert ein wenig an eine geschmolzene Kerze, und nichts daran ist sexy.

In diesem Moment setzt die Orgelmusik wieder ein, während sich die Vorhänge um Carls Sarg schließen. Diesmal ist es ein fröhlicheres Stück. Ich erkenne, dass es sich um Here Comes The Sun von den Beatles handelt, und spüre einen weiteren Anflug von Traurigkeit. Doch nun ist es zu spät, denn die Beerdigung ist vorbei, und die Menge drängt sich mit einem erleichterten Seufzen nach draußen in die schwache Frühlingssonne.

»Wie viele Leute kommen noch mit zu uns?«, fragt Serena, als wir uns in die Reihe der Hinausströmenden eingliedern.

Ich zucke mit den Schultern. »Mum hat gesagt, bloß ein paar enge Freundinnen und Freunde.«

Serena schneidet eine Grimasse. »Also reden wir von ungefähr zweihundert Schaulustigen.«

»Vermutlich. Wo sind unsere Mütter überhaupt?«, frage ich und recke den Hals.

»Sie haben ziemlich weit vorn gesessen«, antwortet Lil hinter mir. »Sie haben gesagt, wir treffen uns zu Hause.«

»Was um alles in der Welt hast du eigentlich an?« Meine Augen weiten sich, als ich eine Chance habe, Lils Beerdigungsoutfit zu begutachten.

»Was?«, fragt Lil hinter ihrem schwarzen Spitzenschleier, der ihr Gesicht bedeckt. Ihr restlicher Körper verbirgt sich in einem überdimensionalen schwarzen Zelt, und sie scheint schwarze Handschuhe zu tragen, die ihr bis zum Ellbogen reichen. »Wir sind alle in Trauer, weißt du?«

»Das ist ihre Art von Cosplay – heute spielt sie die Mafiawitwe«, flüstert Serena.

»Das habe ich gehört«, versetzt Lil. »Ich verstehe nicht, warum ihr beide offenbar keinen Sinn dafür habt, die Toten zu ehren.«

»Lil, ich schwöre, wenn du wieder von dem toten Vogel anfängst …«, warnt Serena sie.

»Er hatte einen Namen.« Ich kann nur vermuten, dass Lil sie hinter ihrem schwarzen Schleier mit einem strengen Blick bedenkt.

»Nein, hatte er nicht«, ruft Serena. »Ich weigere mich, einen toten Vogel ›Peter die Taube‹ zu nennen.«

Ich schenke den Leuten um uns herum ein mildes Lächeln, denn angesichts Serenas lauter Stimme ist ihre Aufmerksamkeit geweckt. »Kommt schon, ihr zwei«, wispere ich. »Wir müssen zum Leichenschmaus. Und unser Vater wird verdammt noch mal dort sein.«

Ohne ein weiteres Wort haken sie sich bei mir ein.

»Ich hoffe, es gibt Wein«, flüstere ich.

»Ich weiß, dass es zumindest Tequila gibt.« Serena öffnet schmunzelnd ihre Handtasche und holt eine Flasche hervor.

»Gott segne dich«, hauche ich, während wir zu den Autos gehen.

4

Als ich am Haus ankomme, parke ich neben Serenas glänzendem Mercedes und Lils Toyota mit dem fliederfarbenen Spezialanstrich. Es ist keine große Überraschung, dass beide vor mir eingetroffen sind. Über die Schnellstraße zu tuckern und zuzusehen, wie sie flink von einer Spur auf die andere wechselten und schließlich in der Ferne verschwanden, fühlte sich an wie eine unbarmherzige Metapher für mein Leben.

Das einladend wirkende schiefe Haus sieht so aus wie immer, abgesehen von den wild durcheinander geparkten Autos davor und den diskret platzierten Securityleuten. Ich frage mich, ob die stämmigen Männer mit der starren Haltung – die versuchen, mit dem Gebüsch im Vorgarten zu verschmelzen wie in dem Homer-Simpson-Meme – mit einem der Gäste gekommen sind oder ob Mum sie engagiert hat.

So oder so bin ich froh, dass sie hier sind. Dank ihnen werden die Paparazzi zumindest nicht auf die Idee kommen, dass das offene Tor eine Einladung sein könnte.

Die Atmosphäre wirkt eher wie auf einem Volksfest, denn die Gäste stolpern mit Getränken in der Hand fröhlich zur Tür hinaus. Abgesehen von der Tatsache, dass alle in Schwarz gekleidet sind, könnte man meinen, es würde sich um eine der legendären Partys des Hexenzirkels handeln.

Unsere Mütter haben nicht oft bei uns zu Hause gefeiert, als wir klein waren, aber ab und zu gab es ein spontanes Fest, wenn sie eine Gruppe von Freundinnen und Freunden zu Besuch hatten und ein paar weitere Leute dazukamen, und auf einmal wurde laute Musik gespielt, und es wurde getanzt, und man trank hellgrüne Cocktails aus leeren Marmeladengläsern. Die Gäste waren immer eine interessante Mischung aus Künstlern, Musikern, Schriftstellern und anderen kreativen Menschen, was ein Garant für wirklich gute Partys war.

Unsere Mütter tolerierten kein extrem schlechtes Benehmen, sodass der ein oder andere Joint oder nackt schwimmen im Fluss das Skandalöseste war, das wir miterlebten. Allerdings waren wir auch nie unbeaufsichtigt, daher kann ich nicht sagen, was sich sonst noch hinter verschlossenen Türen abspielte. Was ich jedoch mit Sicherheit sagen kann, ist, dass es keine Kult-Sexorgie bei Ripps Frauen war, wie es in einer Schlagzeile hieß.

(»Warum schreiben sie nicht einfach Orgie?«, fragte Ava und schüttelte seufzend den Kopf. »Das Wort Sex ist in diesem Zusammenhang überflüssig.« Sie tippte mit ihrem knallrot lackierten Fingernagel auf die Zeitung. »Denkt immer daran, Kinder: Worte sind Waffen, wenn man sie präzise einsetzt. Man muss sie nicht verschwenden.«)

Jetzt, wo ich mich durch die Küchentür quetsche, erkenne ich, dass die meisten Leute auf Carls Beerdigung die Chance genutzt haben, sich den Schauplatz anzusehen, an dem sich angeblich jahrelang Skandale ereignet haben. Ich fühle mich unwohl bei ihrem Anblick und bin mir sicher, dass ich mir die Enttäuschung, die sich auf einigen Gesichtern abzeichnet, nicht nur einbilde. Wo, höre ich sie fast fragen, sind die Sexkerker und die Drogen? Ich beobachte einen Mann dabei, wie er hoffnungsvoll Mums Zuckerdose in Augenschein nimmt, jedoch eine verdrießliche Miene macht, als er unauffällig seinen Finger reinsteckt und ihn ableckt. Es muss niederschmetternd sein festzustellen, dass Dee Monroe ihr Porridge nicht mit Kokain bestreut.

Die Küche ist mein Lieblingsraum und befindet sich in der Mitte des Hauses. Ursprünglich waren es drei Zimmer, an deren Stelle sich nun ein riesiger von Licht durchfluteter Raum mit schiefen Steinwänden, abgeschmirgelten Deckenbalken und einer Reihe zum Garten hinauszeigender französischer Fenster befindet. Es gibt einen uralten AGA-Herd, eine Vitrine mit nicht zusammenpassendem Geschirr, zwei große durchgesessene Sofas und einen breiten Eichentisch, in dessen Beine unsere Initialen geschnitzt sind, ebenso wie das Wort FUK, das in krummen Buchstaben an der Unterseite prangt, hinzugefügt von der mutigen sechsjährigen Serena.

Einmal abgesehen von falsch buchstabierten Schimpfwörtern ist dieses Zimmer das Gegenteil von Rock ’n’ Roll. Es ist das Zentrum unserer Familie und der Ort, an dem wir sechs einen Großteil unserer Zeit verbrachten; an dem wir uns zum Abendessen mit der Familie versammelten, unsere Hausaufgaben erledigten, Spiele auf dem Fußboden spielten, mit Mandelentzündung auf dem Sofa lagen, während meine Mutter uns dampfende Tassen mit Honig und Zitrone servierte.

Und hier kommt Mum jetzt endlich. In ihrem schwarzen, kaftanähnlichen Seidenkleid schwebt sie in den Raum, in einer Hand eine Flasche Champagner, mit der sie im Vorbeigehen die Gläser der Gäste auffüllt und immer wieder stehen bleibt, um ihr Mitgefühl auszudrücken und anderen Trost zu spenden. 

»Clementine!« Ihre Miene hellt sich auf, als sie mich entdeckt. Dee ist unwiderstehlich, und selbst ich, die ihren Anblick gewohnt ist, bin nicht immun dagegen. Sie sieht so aus wie eine schalkhafte Waldfee mit einem herzförmigen Gesicht, riesengroßen grauen Augen und einem breiten, ansteckenden Lächeln. Sie hat einen Porzellanteint und bekommt leicht einen Sonnenbrand, und ihre rotbraunen Haare sind so kurz geschnitten, dass ihr schlanker Hals und ihre makellosen markanten Gesichtszüge zur Geltung kommen. Sie bewegt sich wie eine Tänzerin und hat die heisere Singstimme einer französischen kettenrauchenden Chanteuse.

Als sie mich in ihre Arme schließt, umgibt mich der gleiche Geruch wie immer: Birnenseife und Diorissimo, ein Parfüm, das sie ausgewählt hat, als sie achtzehn war, weil sie sich damit fühlte wie ein Charakter aus einem Jilly-Cooper-Roman. Sie drückt mich noch einmal an sich, was sicher daran liegt, dass ich ihr endlich gestanden habe, sowohl meinen Freund als auch meinen Job verloren zu haben, und ich erwidere ihre Umarmung für einen langen Moment.

»Hi, Mum«, begrüße ich sie. »Ich dachte, du wolltest nur ein paar Leute einladen.«

»Nun, Schätzchen, ich nehme an, dass Carl beliebter war, als wir geahnt haben.« Meine Mum sieht sich um, offensichtlich zufrieden über den regen Betrieb im Haus.

»Ich verstehe immer noch nicht, warum du diejenige bist, die den Leichenschmaus ausrichtet«, sage ich mit gesenkter Stimme und klinge dabei selbst in meinen eigenen Ohren kleinlich.

»Du weißt, dass er keine Familie hatte.« Mum blinzelt mit trauriger Miene. »So hätte er es gewollt, und er war uns stets ein guter Freund.«

Sofort fühle ich mich schuldig. »Tut mir leid«, erwidere ich. »Du hast recht. Mir widerstrebt es einfach, all diese Menschen im Haus zu sehen, aber natürlich war es die richtige Entscheidung. Es war eine wunderschöne Trauerfeier.«

Mum legt mir verständnisvoll ihre Hand auf den Arm, lässt sich allerdings auf den Themenwechsel ein. »Ja, nicht wahr? Obwohl es zu Beginn offenbar irgendwo hinten einen kleinen Aufruhr gab. Ich habe nicht mitbekommen, was passiert ist, du vielleicht?«

Ich schüttele unschuldig den Kopf. »Nein, nein, ich habe nichts mitbekommen.«

»Da seid ihr ja!«

Ich sehe, wie sich Serena und Lil ihren Weg durch die Menge bahnen.

Mum umarmt sie beide.

»So ein verdammtes Gedränge hier drin.« Serena schnauft.

»Mir gefällt der Schleier.« Mum streicht über die Spitze, die Lil auf die Schultern fällt.

»Wo sind Petty und Ava?«, frage ich und suche die Menge ab.

»Ich glaube, sie sind mit eurem Vater drüben im Wohnzimmer.«

Ich muss mich zusammenreißen, um nicht die Augen zu verdrehen.

»Lasst uns Hallo sagen. Sie wollen dich unbedingt sehen und kommen fast um vor Ungeduld.« Mum schlägt sich eine Hand vor den Mund. »Ups! Unbeabsichtigter Beerdigungswitz.«

Wie erwartet, platzt der Raum aus allen Nähten, weil sich eine riesige Menge um die beiden Frauen und meinen Vater versammelt hat, um sie unverhohlen anzugaffen. Viele berühmte Menschen sind zur Beerdigung erschienen, auch wenn ich nur wenige von ihnen kenne (Carl war schließlich vierzig Jahre lang überaus erfolgreich in der Musikindustrie tätig), aber der Anblick von Ripp, Ava und Petty, wie sie zusammensitzen und Champagner trinken, ist zugegebenermaßen bezwingend.

Ich fange den Blick eines Mannes auf, der versucht, heimlich ein Foto zu schießen, und schaue ihn finster an. Sofort lässt er das Handy in seiner Tasche verschwinden, als hätte er sich daran verbrannt. Meine Schultern sind so angespannt, dass sie beinahe meine Ohren berühren und ich mich zwingen muss, sie sinken zu lassen. Ich hasse das. Ich hasse das. Ich hasse das.

Die Möbel wurden alle auf eine Seite des Zimmers gerückt, und die Leute stehen in kleinen Gruppen zusammen.

Ripp hat die Hand um Pettys Taille gelegt, und sie lächelt ihn gutmütig an. Petty – die eigentlich Petunia heißt – ist der liebste Mensch, den ich kenne, und hat nie ein schlechtes Wort über Ripp verloren. Sie war erst siebzehn, als sie Lil zur Welt gebracht hat – Ripp war damals fast vierzig, also mache ich wirklich keine Witze, wenn ich behaupte, er ist der Schlimmste –, und sie erzählt immer, dass sie ebenfalls in diesem Haus aufgewachsen sei. Sie arbeitet als Kostümdesignerin für diverse Theatergruppen und ist eine talentierte Künstlerin. Mit ihren langen blonden Haaren und den blauen Augen sehen sie und Lil aus wie Zwillinge, obwohl Petty kein bisschen musikalisch ist.

Ava dagegen schaut Ripp auf die gleiche Art an, wie sie ihn immer anschaut – mit einem leicht verwirrten Ausdruck, in dem die Frage Was habe ich mir nur dabei gedacht? mitschwingt.