Undercover - Marek Erhardt - E-Book

Undercover E-Book

Marek Erhardt

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Beschreibung

Sie sind die Männer im Schatten, niemand kommt so dicht ans Verbrechen heran wie sie. Eigentlich wollte sich der Schauspieler Marek Erhardt bei den Zivilfahndern in Hamburg-Billstedt nur auf eine Rolle vorbereiten. Doch dann begleitete er die Undercover-Polizisten zwei Jahre lang. Für dieses Buch blickte er in die dunkelsten Winkel unserer Gesellschaft, in die Welt von Drogendealern, Jugendgangs, Mördern. Er lag mit den Fahndern auf der Jagd nach einem Serienbrandstifter im Gebüsch, stürmte mit ihnen die Wohnungen von Gewaltverbrechern und erlebte tragische, anrührende wie skurrile Geschichten in einem der härtesten Viertel Deutschlands.

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Das Buch

Hamburg-Billstedt. Ein sogenannter Problemkiez, mit der höchsten Arbeitslosigkeit in der Hansestadt. Jedes Jahr werden hier über 8.000 Straftaten begangen – von Drogendealern, Jugendgangs, Gewaltverbrechern. Eigentlich wollte sich der Schauspieler Marek Erhardt bei den Zivilfahndern dieses berühmt-berüchtigten Stadtteils nur auf eine Fernsehrolle vorbereiten. Doch aus einer ursprünglich vorgesehenen Hospitanz wurden zwei Jahre, in denen er die Ermittler regelmäßig bei ihren Einsätzen begleitete: Erhardt lag mit den Fahndern auf der Jagd nach einem Serienbrandstifter im Gebüsch, er stürmte mit ihnen die Wohnungen von Gewaltverbrechern, verfolgte Drogenkuriere auf ihrer täglichen Route. Und erhielt so einen einzigartigen, unverstellten Einblick in die knallharte Realität unserer Gesellschaft. Die Geschichten, die Marek Erhardt in diesem Buch erzählt, sind tragisch, ernüchternd, traurig – und oft einfach nur skurril. Es sind Fälle, die sich kein Mensch ausdenken kann. Denn das wahre Leben schreibt die besten Geschichten.

Der Autor

Marek Erhardt, geboren 1969 in Hamburg, ist Schauspieler (u.a. Tatort, Polizeiruf 110, Großstadtrevier), »Ehrenkommissar« der Stadt Hamburg, Moderator der legendären Polizeishow Hamburg - und Enkel von Heinz Erhardt. Seit frühester Kindheit begeistert er sich für die Arbeit der Polizei. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter.

Marek Erhardtmit Bernd Volland

UNDERCOVER

Mit Zivilfahndern unterwegs im härtesten Revier der Stadt

ullstein extra

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ISBN 978-3-8437-0951-4

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenUmschlagbild: Hans Scherhaufer

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Einsatz in Billstedt

Samstagabend. Champions League. 22.30 Uhr, gleich geht das Finale zwischen Chelsea London und Bayern München in die Verlängerung. Ausgerechnet jetzt klingelt es. Zu dieser Zeit wohnen wir in Alsterdorf, in einem kleinen Haus mit Garten zur Straße hin. Eine nette Ecke. Ich gehe raus auf die Terrasse, und da sehe ich den Mann. Dunkle Haare, schwarzer Trainingsanzug, abwartend steht er an unserer Gartentür.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Er scheint überrascht, dass ich nicht zur Haustür herausgekommen bin. Ja, er wirkt fast erschrocken. Er ruft mit osteuropäischem Akzent: »Ich bin an Hand verletzt. Hast du Pflaster?«

Man sieht gar nichts an seiner Hand.

»Zu wem wollen Sie denn?«

»Zu Tondov.«

»Tondov?«

»Ja, ist Freund von mir. Tondov. Wohnt nebenan.«

Tondov? Nebenan?

Thornton! So heißt mein Nachbar, ein Engländer. Selbst mit schlechtem Englisch kommt da nicht »Tondov« raus. Der kann den Nachnamen seines angeblichen Freundes nicht aussprechen? Hat da einer vielleicht nur mal gerade eben ein Türschild gelesen und sich den Namen nicht richtig gemerkt?

»Sie gehen jetzt besser mal, sonst ruf ich die Polizei.«

Ohne ein Wort verschwindet der Mann.

Ich gehe zurück ins Haus. Als ich von drinnen aus dem Fenster schaue, sehe ich, dass aus dem Gebüsch gegenüber ein zweiter Mann steigt und dem Kerl folgt. Das ist eine klare Sache.

Einsatz für Marek!

Ich bewaffne mich mit meinem Handy und gehe raus in den Großstadtdschungel. Ich muss gestehen, dass ich mich heute, mit etwas mehr Erfahrung in der Polizeiarbeit, ein wenig anders anstellen würde. Aber ich finde, dass ich damals schon Begabung gezeigt habe. Ich folge den beiden Typen. Warum schauen die in jeden Garten der Nachbarschaft? Sondieren da zwei Einbrecher die Lage?

110!

Angst? Klar habe ich Angst. Ich war aber noch nie jemand, der weggeschaut hat. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass hier etwas nicht stimmt. Mein Jagdtrieb verdrängt meine Angst. Ich gebe mir fünf Sekunden, um mich zu sammeln. Diesmal werde ich meine Worte im Griff haben.

Als sich eine Männerstimme meldet, sag ich nur: »Hallo, Schatz! Es wird etwas später.« Ein wenig habe ich ja bereits gelernt in den letzten Monaten: Tarnen und Täuschen. Die Kunst der Schattenmänner. Sollten die beiden Typen mich hören oder ein dritter Einbrecher im Gebüsch stecken, dann müssen sie nicht unbedingt merken, dass hier einer die Polizei ruft.

Der Beamte in der Notrufzentrale kapiert sofort, um was es geht. »Sie können jetzt nicht reden?«, fragt er mich.

»Jaja, Schatz, machen wir.«

»Wo sind Sie?«

»In der Grünaustraße. Mit Freunden.«

»Einbrecher?«, hakt der geschulte Mann in der Aufnahme nach.

»Ja, genau.«

»Wie viele Verdächtige?«

»Um zwei Uhr. Ich zieh den schwarzen Trainingsanzug an.«

Der Beamte hat verstanden: »Zwei Leute. Einer trägt einen schwarzen Trainingsanzug. Ich schicke Ihnen zwei Streifenwagen.«

»Okay, bis gleich, Schatz.«

Ja, diesmal lief es besser.

Zwei Wochen zuvor im Hamburger Stadtteil Billstedt. Drei Männer sitzen in einem unauffälligen Škoda. Am Steuer: ein kräftiger schwarzhaariger Mann, der etwas südländisch wirkt, aber man sollte nicht zu viel über seine Herkunft reden, denn er ist bei diesem Thema etwas empfindlich. Der Mann hat sehr fröhliche dunkle Augen. Aber auch da sollte man sich nicht täuschen lassen. Er kann durchaus sauer werden. Der Mann heißt Ivan. Oder besser: Er wird so genannt. Sein wirklicher Name gehört nicht an die Öffentlichkeit.

Neben ihm sitzt ein größerer Mann. Er hat graue Haare, ist 54 Jahre alt und strahlt eine enorme Ruhe aus. Er wird Oskar genannt. In Wahrheit heißt er Kay-Gerhard Tegtmeyer. Seinen Namen darf ich nennen, denn im Viertel, in dem er arbeitet, kennt ihn eh jeder.

Auf der Rückbank sitzt ein dritter Mann, reden wir nicht über sein Alter, auch nicht darüber, dass ihm die Haare an den Schläfen langsam ausgehen, auch wenn die beiden anderen Männer darüber gerne Witze machen.

Der Mann heißt Marek.

Ich sitze also hinten im Auto und lausche aufmerksam, wie der Funk sein wildes Lied singt. Er kommt aus einem kleinen Gerät, das vorne im Innenraum versteckt ist. Dieses Lied bedeutet Adrenalin für mich. Eine Männerstimme, die durchsagt, wo gerade was passiert, wo gerade welcher Wagen hinfährt: Unfall hier, Schlägerei dort. Vielleicht hat er auch etwas für uns? Ein Einbruch wäre eine feine Sache.

Weitere Stimmen mischen sich in den Gesang. Beamte aus Streifenwagen, die durchgeben, welchen Einsatz sie übernehmen. Auch eine Frauenstimme. Sie kommt aus der Einsatzzentrale. Jung klingt sie und wirkt etwas fahrig.

»Einbrecher am Angerberg. Also Einbrecher am Werk …« Pause. »Ich meine Angerbach.« Ich muss grinsen.

»Wohl auch ’ne Hospitantin«, sage ich.

Ivan und Oskar grinsen ebenfalls.

Und dann, aus dem Nichts, geht es los.

Eine Ampel an einer Kreuzung. Ivan geht vom Gas, wir rollen langsam heran, stoppen. Mit einem Mal kommt der Typ. Ich weiß nicht, wo er hergekommen ist. Ich weiß auch nicht, wie Oskar ihn rechtzeitig sehen konnte. Ich weiß ohnehin nicht, wieso Oskar manches kommen sieht. Nennen wir es mal Intuition. Oskar hat blitzschnell den Türöffner von innen gepackt und hält ihn fest, damit man die Tür nicht von außen aufbekommt. Der Typ draußen ist von irgendwoher auf unseren Wagen zugesprungen und reißt nun am Griff der Beifahrertür. Sein Gesicht ist entsetzlich verzerrt. Ist es Wut? Ist es Irrsinn?

Nein. Es ist Angst.

Eine sehr dunkle Gestalt. Schwarze Jeans, schwarzes T-Shirt und eine Lederjacke, die er wohl eher in Südeuropa gekauft hat. Er hat dunkle Haare, ein schwarzer Bartschatten liegt um seinen Mund, den er weit aufgerissen hat. Auch seine Augen sind so weit aufgerissen, dass sie aus dem Gesicht zu springen drohen. Er rüttelt so stark am Griff, dass es den Wagen durchschüttelt. Er brüllt irgendetwas, was ich nicht verstehe. Es ist, als ob er die Tür aufbrüllen möchte. Warum will der in den Wagen? Will er uns ausrauben? Ein Junkie?

Ich schaue zu den beiden Männern auf den Vordersitzen. Selten in meinem Leben habe ich mich so sicher gefühlt wie mit diesen beiden. Obwohl sie mich bereits in einige der gefährlichsten Ecken meiner Heimatstadt geführt haben. In einige der brenzligsten Situationen, die ich je erlebt habe.

Es gehört zu ihrem Job, ruhig zu bleiben.

Mein Puls rockt bei 150 »Beats per minute«. Und Oskars Puls? Schaukelt wahrscheinlich Walzer bei 60. Er hat den Kopf zur Seite gedreht, schaut sich den Rüttler an, seine Hand liegt weiter auf dem Türgriff. Ivan zeigt immerhin eine Regung, eine gewisse genervte Empörung. Als wolle er gleich sagen: »Hä? Was soll das, Alter? Lass unsere Tür in Ruhe!«

Jetzt geht es schnell.

Oskar lässt den Griff los. Die Tür schnellt vom Ziehen des Typen auf. Oskar stößt sie dabei mit aller Wucht in Richtung des am Griff zerrenden Mannes. Der Knabe hat gar keine Zeit, überrascht zu sein, so schnell segelt er durch die Luft und landet auf dem Hintern. In derselben Sekunde ist auch schon Ivan aus dem Wagen gesprungen. Spurtet um das Auto. Er hat natürlich nicht vergessen, die Warnblinkanlage anzustellen. Oskar und er packen sich den Kerl. Drehen ihn auf den Bauch. Ivan drückt ihm ein Knie in den Rücken.

Gleich werden sie dem Angreifer zur Sicherheit die Handschellen anlegen. Dann werden sie ihn fragen, was er eigentlich will.

Sie kommen nicht dazu.

Ich will aus dem Wagen hinausrufen: »Vorsicht! Da ist noch einer!« Aber das Fenster ist zu.

Doch Oskar und Ivan haben ihn schon gesehen: Noch ein schwarzgekleideter Mann.

Er ist dem anderen gefolgt. Auch er trägt komplett dunkle Klamotten, aber seine Lederjacke ist stylischer, mitteleuropäischer Standard. Das schwarze Haar hat er zurückgegelt. Sein Blick ist anders als der des Türrüttlers: wütend. Der Typ hat einen Schädel wie ein schnaubender Stier, und sein Körper ist ähnlich wuchtig. Er stampft auf die drei Männer zu.

»Marek, ruf Verstärkung!«, ruft Oskar durch das Fenster, das ich heruntergefahren habe.

Verstärkung. Klar. Übers Funkgerät. Hab ich schon gesehen, wie die Jungs das machen.

Ich schau noch einmal hoch. Der Stier hat etwas in der Hand. Ein Messer? Ja, ein Messer!

Ich drücke den versteckten Funkknopf im Auto.

»Polizei. Lassen Sie die Waffe fallen!«, ruft Ivan draußen.

Ich höre ein Knacken aus dem Funkgerät.

»Michel für den 42/21 …«, stammele ich. Die Ansprache war schon mal richtig. »Wir haben einen Widerstand«, fahre ich fort. »Ich meine einen bewaffneten Widerstand. Und zwar an der …« Scheiße! Wo sind wir hier eigentlich?

Ist wohl doch nicht so einfach, unter Stress zu funken.

»Wo sind wir?«, rufe ich aus dem Wagen heraus.

Ivan dreht sich nicht um. »Schiffbeker Weg, gegenüber Nummer elf«, antwortet er so beiläufig, als stünde er gerade beim Abwasch und seine Frau frage ihn etwas.

»Gegenüber Schiffbeker Weg elf!«, gebe ich durch.

Ich warte nicht auf die Antwort, sondern schaue schnell wieder auf die Straße.

Der bullige Kerl hat das Messer aus der Hand fallen lassen. Es blitzt auf dem Boden. Der Mann steht da wie angewurzelt. Er hat seine Schultern noch breiter gemacht, die Arme lässt er baumeln wie ein Cowboy an High Noon, bereit zu ziehen. Will er’s drauf anlegen? Was läuft hier eigentlich?

Ivan stellt keine Fragen.

Er spurtet los wie ein Linebacker im American Football, drei schnelle Schritte, dann springt er mit voller Wucht in den großen, breit aufgebauten Mann. Dem geht das alles nun doch etwas zu schnell. Er schlägt mit dem Rücken auf die Straße. Und bevor er sich wehren kann, liegen Ivan und auch Oskar auf ihm drauf.

Ich schaue auf unseren Türrüttler. Er trägt mittlerweile Handschellen. Oskar muss ihn noch schnell verpackt haben, bevor er Ivan zu Hilfe geeilt ist.

»Michel, der 42/2, der drei und eins gehen mit raus«, meldet der Funk. Eine andere Stimme: »Peter 2/33 ist unterwegs.« Und noch eine, mir bekannte Stimme: »42/81 ist unterwegs.« Andi. Er und Cooper kommen uns also auch zu Hilfe.

Die Sirenen heulen. Von allen Seiten kommen sie angerast. Die Reifen quietschen, als die Wagen um uns herum bremsen. Der Ort wird immer unwirklicher. Dieses Lichterspiel: Die Ampel schaltet von Rot auf Grün und von Grün auf Rot. Die Blaulichter flackern. Auf einmal liegt eine gespenstische Ruhe über der Kreuzung. Ein Dutzend Polizisten stehen nun um die beiden schwarzen Männer herum, die auf dem Boden liegen. Die Türen ihrer Wagen sind aufgerissen, die Funksprüche knarzen auf die Straße hinaus. Auch ich steige jetzt aus.

Der Türrüttler liegt wie paralysiert am Boden. Der andere Mann windet sich ein paar Meter von ihm entfernt auf der Straße, drückt den Rücken durch wie ein gefangener Fisch. Er ist noch immer auf 180. Die Beamten lassen ihn sich austoben. Umso weniger Kraft hat er später in der Zelle.

Ich merke erst jetzt, wie sehr ich zittere. Mein Herz schlägt hoch bis zum Hals. Ich weiß nicht, ob es Angst ist oder Aufregung. Vielleicht ist es auch Aggression? Oder alles zusammen? Es ist ein Ur-Gefühl. So muss sich ein Steinzeitmensch nach einem Angriff einer feindlichen Horde gefühlt haben. Klar, ich saß nur im Wagen. Hab nur in den Funk gestammelt, nachdem ich mich kurz zuvor über die Beamtin aus der Zentrale lustig gemacht hatte. Aber verdammt. Solch einen Adrenalinstoß habe ich noch nie erlebt.

»Der hat meine Freundin angemacht!«, schimpft der größere der beiden Männer auf dem Boden.

Jetzt im Flackern des Blaulichts sieht man, dass ein Auge des Türrüttlers langsam zuschwillt. Später werde ich erfahren, was passiert ist. Der Stier und er sind sich in einer Shisha-Bar, die gleich an der Kreuzung liegt, nähergekommen, weil der Türrüttler auf die Idee kam, die Freundin des Großen anzusprechen. Der Große hat ihm sofort eine gedrückt. Und weil er seinem Missmut noch mehr Nachdruck verleihen wollte, hat er auch noch sein Klappmesser gezogen. In Todesangst ist der Kleinere auf die Straße gerannt, der Stier polterte ihm hinterher. Und da sah der Panische unseren Wagen an der Kreuzung stehen. Er wollte hineinspringen, um irgendwie in Sicherheit zu kommen. Er konnte nicht wissen, dass Polizisten in diesem Škoda saßen.

Das hat ihm vielleicht das Leben gerettet.

»Jaja, jetzt ist erst mal gut«, sagt Oskar mit väterlicher Stimme zu dem hyperventilierenden Burschen, während Ivan in Seelenruhe dessen Papiere anschaut. Die beiden wirken wie milde Eltern, die gerade die übermütige Gästeschar eines Kindergeburtstags zur Räson gebracht haben.

Ich frage mich kurz, was mich eigentlich hierhergebracht hat. Ja, was zum Teufel hat mich nur in eine solche Situation getrieben?

Es hat alles so besinnlich angefangen vor einigen Monaten im Winter.

Ein Novemberabend. Dicke Flocken schweben vom Himmel. Der Verkehr schleppt sich durch die Stadt, ich mittendrin. Die Straßen verändern sich, wenn man langsam aus der Innenstadt gen Osten fährt. Die schickeren Restaurants verschwinden. Dafür tauchen immer mehr Shisha-Bars am Straßenrand auf, dazwischen Gemüseläden. Die Gehsteige sind heute leergefegt. Aber auch ein wenig Farbe kommt ins Bild. Bunte Leuchtreklamen schimmern durch die weißen Flocken hindurch: Spielhallen, die das schnelle Glück versprechen. Daneben mehrstöckige Wohnhäuser aus Backstein, quadratisch, praktisch, rot.

Ein großer Park mit weißgekrönten Bäumen zieht an mir vorbei. Hübsch eigentlich.

Man lernt die Welt ja immer durch eine Schablone kennen, die Schablone der eigenen Erwartungen, der Klischees. Und man versucht das, was man tatsächlich sieht, dort einzupassen.

Billstedt: der Problemstadtteil.

Obwohl ich in Hamburg geboren bin, hat es mich bisher nur selten in dieses Viertel verschlagen. Es ist kein Ziel für Wochenendausflüge, obwohl die vielen Grünanlagen hier wirklich phantastisch sind. In den Hamburger Verbrechens-Top-Ten schafft es Billstedt regelmäßig unter die ersten drei, hinter St. Pauli, wo häufig Partygänger im Suff straffällig werden, und dem Bahnhofsviertel St. Georg, das Junkies aus der ganzen Republik anlockt. Billstedt wiederum ist eines der Viertel mit der höchsten Arbeitslosenrate.

Ja wirklich, überraschend hübsch ist der Park.

Ich fahre am Polizeirevier vorbei. Ein roter Backsteinbau. Dahinter geht es in die Fußgängerzone, die an diesem frühen Winterabend niemanden anzulocken scheint. In einer Seitenstraße suche ich nach einem Parkplatz. Einfamilienhaus steht hier neben Einfamilienhaus. Kleine Gärten umsäumen die Gebäude, geschützt von gepflegten Zäunen. Das Schneegestöber lässt nicht nach, aber die netten Häuschen mit LED-Lichterketten geben der Nacht etwas Feierliches, ist ja auch bald Weihnachten – »Stille Nacht, heilige Nacht«.

Ja, die Schablone passt nie so ganz genau.

Manche nennen Stadtteile wie Billstedt »Ghetto«. Aber das ist kompletter Unfug. Wer Harlem oder die Bronx in den 80er Jahren gesehen hat, weiß, wie Ghettos aussehen.

Ich fahre bis zum Ende der Straße. Da tauchen hinter einer Wiese diese mächtigen Würfel auf. Vierstöckig, klinisch weiß, mit blassblau gestrichenen Balkonen.

Sozialbauten. Sie sind überall in diesen Stadtteil hineingeworfen worden. Zwischen die Einfamilienidylle, zwischen die grünen Parks. Ich ahne noch nicht, wie häufig ich mit den Fahndern in Gebäude wie diese hineinmarschieren werde. Wie tief ich hinter diese Mauern blicken werde, die alles verschwinden lassen. Die Welt von Arbeiterfamilien, die sich dort eingerichtet haben und gesetzestreuer sind als mancher Wirtschaftsboss. Familien, die sich hart, aber mit Anstand durchschlagen. Aber auch Matratzenlager, auf denen komplett verwahrloste Fixer vor sich hin vegetieren. Drogendepots, mit denen sich Kleingangster ihre dicken Autos finanzieren, indem sie Teenies mit dem Stoff versorgen, der sie aus der Wirklichkeit herausbeamt. Prügelnde Männer und weinende Frauen. Misshandelte Kinder. Und dann wieder freundliche, hilfsbereite Nachbarn, die stolz auf ihr Viertel sind. All das liegt hinter diesen kargen Mauern, das »Gute« wie das »Böse«.

Ich bin zu früh dran. Also stelle ich erst mal meinen Wagen ab und blicke einen Moment auf diese Bauklötze.

Ich habe einen Termin. Bei der Polizei.

Die Polizei: Schon als Kind war es mein Traum, Kommissar zu werden. Ich wurde dann zwar Schauspieler, aber als Schauspieler kann man ja alles sein. Zum Beispiel spielte ich mal Deutschlands erste männliche Fernsehsprechstundenhilfe in »Freunde fürs Leben«. Und weil ich mich auf meine Rollen immer intensiv vorbereite, habe ich dafür auch ein Praktikum in einer Allgemeinarztpraxis gemacht. Es war stinklangweilig.

Doch dann kam meine Chance. Für die Serie »Da kommt Kalle« übernahm ich die Hauptrolle als Kommissar Olli Kottke. Und so fragte ich bei der Polizei Hamburg an, ob ich zur Vorbereitung eine Hospitanz, ein Praktikum, auf der Davidwache machen könnte. Ich durfte tatsächlich.

Die Davidwache an der Reeperbahn: Deutschlands berühmteste Polizeiwache. Mitten im Rotlicht- und Vergnügungsviertel, in jenem Revier, in dem sich einst die Gangs um die Vormacht auf dem Kiez bekriegten, dort, wo die Nutella-Bande und die Gangster-GmbH herrschten und Mucki Pinzner mordete. Es ist auch heute kein Paradies voller Friedensengel. Wer hier als Polizist arbeitet, braucht starke Nerven.

Gleich am ersten Tag meiner Hospitanz kam die Meldung, dass eine Schießerei in der Silbersackstraße stattgefunden hatte. Ein paar junge Männer waren in einen Streit geraten. Alkohol und Drogen spielten mal wieder die Hauptrolle. Einer der Männer hatte daraufhin eine Waffe gezogen und um sich geschossen. Ich lief mit den Beamten aus der Wache zum Tatort. Als wir ankamen, war die Arbeit schon getan. Die ganze Gasse wimmelte von Polizisten. An einem Haus standen fünfzehn junge Burschen mit den Händen an der Wand. Die Beamten tasteten sie ab. Es waren alte Bekannte der Polizei.

Aber keine von beiden Seiten legte allzu viel Wert auf diese »Verbundenheit«. »Hey, warum nehmt ihr eigentlich immer uns fest?«, schimpfte einer der Jungs. Genau in diesem Moment fand der Polizist ein Messer in der Hosentasche des Jungen. »Und warum gehst du eigentlich immer mit einem Messer zu einer Schießerei?«, sagte er.

Ich war verstört und beeindruckt zugleich. Von der Selbstverständlichkeit, mit der manche auf Menschen schießen und Messer mit sich herumtragen. Und von der Lässigkeit, mit der die Polizisten diesen Gefahren mit einem witzigen Spruch begegnen.

Nach zwei Tagen endete meine Hospitanz. Ich bedankte mich beim damaligen Pressesprecher und jetzigen Polizeipräsidenten Ralf Meyer. Da sagte er den folgenreichen Satz: »Wenn du wirklich etwas erleben willst, dann fahr mal bei den Zivilfahndern in Billstedt mit.«

Die Zivilfahnder: die Schattenmänner der Polizei. Sie tragen keine Uniform, sie fahren keine Streifenwagen. Dafür haben sie gelernt, wie man in der Menge verschwindet. Wie man sich der Umgebung anpasst. Sie sind Chamäleons. Wenn ein Tatverdächtiger unbemerkt beobachtet werden muss, sind es die Zivilfahnder, die ihn observieren, oft über Wochen hinweg. Sie streifen auch durchs Revier, um Dealer oder Räuber auf frischer Tat zu erwischen. Sie kommen so dicht heran ans Verbrechen wie niemand sonst bei der Polizei.

Ein paar Tage möchte ich die Schattenmänner in Billstedt begleiten. Es wird viel länger werden, aber das weiß ich an jenem Abend noch nicht.

Der Vorraum ist leer, als ich das Revier betrete. Gegenüber der Eingangstür steht der schlichte Empfangstresen. Dahinter ein Panzerglaskasten. Wie Fische im Aquarium sitzen darin uniformierte Beamte. Es ist der Wachraum. Oberhalb der Glasfront zeigen Monitore die Bilder der Überwachungskameras am Gebäude und aus den Zellen. Es wurden schon Autoreifen auf dem Revierparkplatz aufgestochen.

Ich melde mich am Empfang.

»Hallo, ich bin Oskar«, sagt bald darauf eine ruhige Stimme hinter mir.

Eine markante Nase hat der Mann. Er ist groß und kräftig, Mitte fünfzig und trägt ein Karohemd, Marke Holzfäller. Später werde ich erfahren, dass er ungefähr 300 dieser Hemden hat, weil man unter ihnen alles verschwinden lassen kann – die kugelsichere Weste, die Pistole, das Funkgerät. Ein offener, bodenständiger Mann. Er ist der Typus ehrenamtlicher Trainer im Sportverein. Und tatsächlich bringt Oskar in seiner Freizeit Frauen Selbstverteidigung bei.

»Ist es okay, wenn wir du sagen? Wir sind hier alle per du.«

»Klar, ich bin Marek.«

Ich werde sehr viel Zeit mit diesem Mann verbringen. Und heute, wo ich diese Zeilen schreibe, kann ich nicht ohne Stolz sagen, dass wir wohl auch Freunde sind.

Oskar macht es mir leicht. Alle machen sie es mir leicht, auch die anderen sieben Männer, die ich kurz darauf oben im zweiten Stock in einem Großraumbüro kennenlerne und über deren sonderbare Namen ich staune. Jeder von ihnen trägt einen Codenamen, damit ihre wahre Identität bei Einsätzen nicht bekannt wird. Sie tragen ihn mit einer Selbstverständlichkeit, dass ich mich heute frage, ob sie noch so genau wissen, wie sie wirklich heißen.

Sie stehen auf und stellen sich mir vor.

»Ivan.« Ein Typ mit verschmitztem Lächeln. Dunkle Haare. Er hat diesen Balkancharme, der es ihm wohl leichtmacht, mit den Verbrechern mit »Migrationshintergrund« umzugehen. Ivan ist Oskars Partner, denn die Fahnder arbeiten meist in festen Zweierteams zusammen.

»Frigo.« Ein großer kräftiger Brocken mit Glatze. Könnte auch als Türsteher durchgehen. Er dürfte mit jedem auf »Augenhöhe« reden können.

»Andi.« Ein langer Schlaks. Typ Familienvater. Jemand, dem man alles anvertrauen würde und nichts zutrauen. Schon gar nicht, dass er unter seiner Jacke eine Pistole trägt und Polizist ist.

»Cooper.« Eindeutig tiefenentspannt. Er spricht etwas langsam. Wirkt fast ein wenig gemütlich. Aber es wird sich zeigen, dass er alles andere als gemütlich ist. Besonders dann, wenn es drauf ankommt.

»Taxi.« Lustiger Vogel. Einer, der mit einem Witz wohl jedes Eis brechen kann. Er macht auch gleich einen über meinen HSV. Ungern hört er selbst wiederum Witze über Ostdeutsche.

»Lola.« Er hat mich die ganze Zeit gemustert. Ein stiller Beobachter.

Ein junger Mann, Anfang dreißig, im Kapuzenshirt, der auch beim HSV in der Fankurve stehen könnte, stellt sich mir als Letzter vor: »Pinsel.«

Eine hübsche Bauchtasche trägt er. Die habe ich bei den Luden an der Reeperbahn schon gesehen, da lässt sich schnell die Kohle wegpacken. Als er sieht, wie ich sie anstarre, reißt er sie gleich auf, zieht Handschellen raus, eine kleine Taschenlampe – und einen kurzen schwarzen Metallstock. »Das ist der EKA.«

»EKA?« Ich verstehe nur Bahnhof.

Pinsel lässt das schwarze Ding mit einem Schwung ausfahren. »Einsatzstock, kurz, ausziehbar.« Einen kleinen Stöpsel hat er auch in seinem Täschchen. »Der Funk für den Außeneinsatz.« Die Knöpfe sind noch unauffälliger als diese modernen Hörgeräte, hautfarben und so klein, dass sie fast im Ohr verschwinden. Ich werde sie öfter im Einsatz erleben. Im Wagen wird über das feste Funkgerät oder das Handy kommuniziert. Wenn die Fahnder aber zu Fuß unterwegs sind, können sie über die mobilen Funkgeräte unbemerkt auch über weite Strecken miteinander reden. Gesprochen wird über ein kleines Mikrophon, das man sich an den Hemdkragen steckt. Dafür muss man nur einen Knopf drücken, den man in der Hosentasche oder an der Gürtelschnalle trägt.

»Und das da?«, frage ich neugierig und zeige auf das noch verbliebene kleine schwarze Gerät in der Bauchtasche.

»Pfefferspray. Willst du mal probieren?« Bevor ich antworten kann, sprüht er auch schon eine Ladung auf den grauen Teppichboden. Das Zeug beißt in der Nase. Andi reißt das Fenster auf. »Mann, Mann, Mann«, schimpft er. Sie lachen. Ich lache mit.

Vielleicht bin ich hier gut aufgehoben.

Dann geht es raus in meine erste Nacht mit Ivan und Oskar. Es wird eine ruhige Nacht im Schnee. Wir fahren durch die Straßen. Mächtige Hochhäuser sehe ich. Sie türmen sich neben uns im Schneegestöber auf wie die Eigernordwand bei Eissturm. »Mümmelmannsberg«, sagt Oskar. »Da kommen wir öfter mal hin.« Dann kleine Flachbauten, die ausschauen wie Ferienbungalows für Pauschaltouristen. »Hier gibt es Marihuana.« Ich sehe einen Mercedes vor einem Backsteinwohnhaus. »Unser Freund Özer ist heute wohl zu Hause«, sagt Oskar. Wir fahren durch ein Gewerbegebiet. »Das Asylantenwohnheim«, sagt Ivan und deutet nach rechts. Ein sechsstöckiger Plattenbau, mit Betonbalkonen. Irgendjemand hat sich mit Hilfe einer Plastikplane dort eine Art Wintergarten gebaut, darunter hat er all sein Hab und Gut auf den Balkon gepackt, alles, was in seinem Zimmer keinen Raum mehr hatte. Man bekommt bereits Platzangst, wenn man nur diesen Balkon von außen sieht.

Auch ein schönes Reetdachgebäude passieren wir, weitere Parks, Schrebergartensiedlungen, Jugendstilvillen. HSV-Fahnen hängen aus den Fenstern. In diesem »Problemviertel« leben Menschen, von deren Schreckenstaten ich in der Zeitung gelesen habe, und solche, neben denen ich im Fußballstadion schon eine Wurst gegessen und mit denen ich freundlich geplaudert habe.

Wir fahren an einer weiteren Plattenbausiedlung vorbei. Ein Billigdiscounter wurde davorgeknallt, viel mehr gibt es hier nicht. Die Siedlungen sind alle ähnlich gestaltet. Man sieht kaum Kneipen, kaum Läden. Wir lassen die Häuser hinter uns. Und dann sagt Oskar auf einmal zu Ivan: »Fahr mal geradeaus weiter.«

Wir kommen auf einen kleinen Weg, an dessen Ende sich Schrebergärten in den Wald drücken. Es sind keine Spuren im Schnee zu sehen. Doch irgendwie muss Oskar gerochen haben, dass hier jemand ist.

Wir rollen auf einen Parkplatz zu. Tatsächlich. Da steht jemand, kurz vor der Einfahrt auf den Parkplatz, nur ein dunkler Schatten im Schneegestöber. Oskar hat den Mann sofort gesehen. Wir fahren an ihm vorbei, steigen aus und gehen in die Schrebergartensiedlung. So weit hinein, dass der Mann uns nicht mehr sehen kann. Ohne ein Wort zu sagen, zieht Oskar mich plötzlich nach links hinter eine Hecke. Sie ist so dicht, dass uns der Mann am Parkplatz nicht sehen kann. Aber wir sehen ihn.

Jetzt bewegt er sich. Der Schatten im Schnee kommt in unsere Richtung. Geht an den ersten Lauben vorbei. Biegt in einen Weg.

Als wäre es lange vorher abgesprochen gewesen, verlassen wir unsere Deckung – Ivan geht nach links, Oskar und ich nach rechts. Wir stapfen durch den Schnee, um den Mann abzupassen. Die Siedlung ist wie ein kleiner Irrgarten. Aber als hätten die Fahnder einen unsichtbaren Lageplan des Gartengeländes gehabt, stehen Oskar und ich auf einmal vor dem Mann. Und Ivan kommt auch schon von hinten. Wir haben den Schatten.

»Polizei! Was machst du hier?«, fragt Oskar.

Der Mann ist ganz perplex. »Nix. Bin nur spazieren«, stammelt er.

Sieht gar nicht aus wie ein Spaziergänger, der die Winterromantik genießen will. Er ist ungefähr zwanzig Jahre alt und trägt einen schwarzen Anorak, dessen Kapuze er tief ins Gesicht gezogen hat. Unter der Kapuze schaut eine Baseballkappe hervor. Auf dem Rücken trägt er einen schwarzen Rucksack.

»Was hast du da in der Tasche? Können wir das mal sehen?«

Sie duzen ihn. Ich werde später sehen, dass es die Stärke der Fahnder ist, nicht nur auszusehen wie normale Bürger dieses Viertels, sondern auch deren Sprache zu sprechen. Sie wissen, wie die Menschen ticken, mit denen sie täglich zu tun haben. Jeder der Fahnder kommt aus einem Viertel wie diesem. Oskar zum Beispiel kommt aus Hamm. Bereits sein Vater war Polizist. Aber viele aus Oskars Nachbarschaft schlugen Wege ein wie jene Leute, die er heute vernehmen und festnehmen muss. Die Fahnder verstehen die Biographien dieser Menschen.

Widerwillig reicht der Junge Ivan seinen Rucksack. Dieser leuchtet mit der Taschenlampe hinein. Er wühlt. Zieht einen Apfel raus. Noch vier weitere hat der »Spaziergänger« in seinem Rucksack. »Äpfel?«

»Ja, is’ ja wohl nicht verboten«, antwortet der Junge.

»Doch«, sagt Oskar lachend, »wir suchen heute Apfeldiebe.«

Der junge Kerl lacht nicht mit. Und er blickt noch ernster, als Ivan einen Schraubenzieher herauszieht. »Und wofür brauchst du den? Um Gärten aufzubrechen?«

»Zum Schränkezusammenbauen. Ist ja wohl auch nicht verboten«, sagt er.

»Nein«, sagt Oskar jetzt. Aber nun blickt auch er ernst.

Der »Spaziergänger« kann weitergehen.

Wir fahren weiter durch die Nacht, nachdem Oskar und Ivan kurz die Personalien des Mannes aufgenommen haben. »Hier werden immer wieder Gartenlauben aufgebrochen«, berichtet Oskar. »Und ich bin mir sicher, der Kerl hat was damit zu tun. Na ja, zumindest haben wir ihn so erschreckt, dass er heute nichts mehr macht. Irgendwann kriegen wir ihn«, fügt er noch hinzu. »Ein Fahnder braucht Geduld.«

Ich werde diesen Satz öfter hören.

Nachdenklich sitze ich auf der Rückbank. Der Funk bringt immer nur die gleichen Meldungen: Unfälle, ein paar Ruhestörungen. Die Häuser ziehen an mir vorbei. Eine ruhige Nacht.

Meine erste Nacht.

Als ich schließlich nachts um vier Uhr zu meinem eigenen Auto zurückkehre, auf die Wohnwürfel blicke, den Schnee von der Windschutzscheibe schiebe und darüber fluche, dass ich keine Handschuhe dabeihabe, ahne ich noch nicht, wie viele Nächte ich noch zwischen diesen Hochhäusern verbringen werde.

Und wie viel ich bei den Fahndern lernen werde.

Dass man zum Beispiel ein Auto nachts nur zu zweit kontrolliert, egal wie banal einem der Grund erscheint. Dass ich die Zivilfahnder nicht grüßen darf, wenn ich ihnen zufällig auf der Straße begegne, denn sie könnten im Einsatz sein und durch mich enttarnt werden. Wie man eine Straße entlanggeht und darüber redet, wo wohl Dealer versteckt sein könnten, und wie man dann blitzschnell beginnt, sich übers Rasenmähen zu unterhalten, weil ein Passant vorbeikommt.

Ich glaube, ich habe eine gewisse Beobachtungsgabe. Sie hilft mir als Schauspieler, mich in Rollen einzufühlen, und sie hilft mir auch bei den Fahndern. Da war zum Beispiel unsere erste gemeinsame Fahrzeugkontrolle. Ich hatte schon bei meiner Hospitanz auf der Davidwache genau beobachtet, wie Polizisten sich dabei hinstellen. Als Oskar bemerkte, wie ich mich ohne weitere Anweisungen mit meiner Taschenlampe positionierte und von der Beifahrerseite ins Fahrzeuginnere leuchtete, kam er nach dem Einsatz zu mir und sagte: »Dich kann man mitnehmen.« Ich glaube heute, dass es einer der kleinen Durchbruchmomente war. Er musste nie das Gefühl haben, auf mich aufpassen zu müssen, auch wenn er es natürlich pausenlos tat.

Eines Tages verschlägt es Oskar, Ivan und mich wieder nach Mümmelmannsberg. Oskar hat zuvor im Revier »freie Jagd« ausgerufen. Das heißt: Alle Fahnder streifen durch das Viertel und halten Ausschau nach Verdächtigen, nach Dealern, Einbrechern oder nach mit Haftbefehl Gesuchten. Es ist eine Reise ins Ungewisse. Alles kann passieren. Und dabei kommt es sehr auf das Auge der Fahnder an: Wo könnte etwas lauern? Wer könnte etwas ausgefressen haben? Manchmal habe ich das Gefühl, es ist fast magisch, wie die Männer erahnen, wo etwas zu holen ist.

Ein alter BMW.

Er kommt aus einer kleinen Seitenstraße.

Oskar und Ivan müssen nicht mal ein Wort wechseln. Sie tauschen nur einen schnellen Blick. Ivan lässt kurz das mobile Blaulicht aufblitzen. Der BMW stoppt. Drei Männer sitzen darin.

Mir erscheinen sie relativ unauffällig. Ziemlich gepflegt. Hemd, Hose, Turnschuhe. Nur den wuchtigen Moschusgeruch, der aus dem Auto steigt, werde ich noch Stunden in der Nase haben. Höflich sind die Männer auch, sie lächeln sogar freundlich, als Ivan sie um ihre Ausweise bittet.

Warum haben die Fahnder ausgerechnet die drei angehalten?

Ivan setzt sich mit den Ausweisen in unseren Wagen, um über sein Handy die Daten mit der Zentrale abzugleichen, während Oskar und ich draußen vor dem Auto stehen. Wir hören nur, wie er die Namen und die Geburtsdaten nacheinander durchgibt. Die Namen klingen polnisch. Die drei Typen wirken immer noch recht entspannt. Sie haben nichts getrunken.

Aber auf einmal verändert sich etwas. Oskar unterbricht plötzlich das Gespräch mit mir. Seine Augen sind nur noch auf die drei Männer gerichtet. Und auch sie sind auf einmal unruhig geworden.

Geht hier irgendetwas Telepathisches vor?

Als Ivan den letzten Namen durchgegeben und sich für die Antwort aus dem Revier bedankt hat, hat sich seine Stimme verändert. Oskar hat es sofort bemerkt.

Die Insassen des Wagens wühlen nun ganz hektisch in ihren Taschen. Was ziehen sie da raus? Geldscheine. Sie stecken die Scheine dem Mann auf der Rückbank zu, ein paar hundert Euro wandern von vorne nach hinten. Der Mann auf dem Rücksitz lächelt uns immer noch an. Aber jetzt lächelt er nervös.

»Haftbefehl wegen einer nicht bezahlten Strafe«, sagt Ivan zu Oskar, als er wieder neben uns steht.

Der Mann hat mehrfach Gerichtstermine nicht wahrgenommen, deshalb ist er zu einem Bußgeld verdonnert worden. Er hat es nicht bezahlt. Und so wurde ein Haftbefehl gegen ihn erlassen. Seine letzte Chance, um nicht in den Bau zu wandern: Er zahlt jetzt in Cash.

Als Oskar und Ivan auf den Wagen zugehen, grinst der Mann auf dem Rücksitz schon über beide Ohren. Scheint sich diebisch zu freuen. Er hält das Geld bereits in der Hand.

Wir drei müssen auch lachen.

Da ist wohl einer gerade noch davongekommen.

»Sie wissen, um was es geht?«, fragt Ivan freundlich durchs Fenster. »Jaja«, sagt der Mann auf der Rückbank spitzbübisch. Mit einem höflichen »Bitte schön« drückt er Ivan das Geld in die Hand. 550 Euro. Exakt die Summe des Bußgelds. Ivan schreibt ihm eine Quittung. Der Haftbefehl wird danach sofort gelöscht. »Dann wünschen wir noch eine gute Fahrt«, sagt Ivan. »Danke. Heute Abend machen wir noch richtig Party!«, entgegnet der Mann.

»Dann sieht man sich ja noch«, rutscht es mir raus. Ein kleiner Scherz am Rande. Ich weiß noch nicht, wie recht ich damit habe.

Netter Kerl eigentlich, denke ich. Ich weiß noch nicht, wie sehr ich mich irre.

Weiter geht die freie Jagd. Aber die Nacht ist relativ ruhig. In Horn finden wir auf einem Parkplatz einen Kastenwagen mit polnischen Kennzeichen. Ivan prüft, ob die Türen verschlossen sind. Sind sie nicht. Er reißt die Türen auf. Sechs polnische Arbeiter liegen auf der Ladefläche und schlafen. Sie arbeiten auf einer Baustelle, bekommen aber kein Hotel bezahlt, sagen sie. Und so hausen sie dort, zusammengepresst wie die Ölsardinen, auf einem Lastwagen.

Gegen Mitternacht fängt der Funk wieder an zu toben. »Raubüberfall in Bergedorf!« Mehrere Männer haben einen jungen Mann auf dem Bahnhof ausgeraubt. »Lasst uns die U-Bahnhöfe abdecken«, sagt Oskar. Wenn die Täter in die Bahn gestiegen sind, können wir sie vielleicht beim Aussteigen erwischen. Die beiden anderen Billstedter Teams übernehmen zwei Stationen. Wir drei stellen uns mit unserem Wagen an der U-Bahn-Station Allermöhe an den Rand der Fußgängerzone. Doch keiner der Menschen, die aus dem Bahnhof kommen, entspricht der Täterbeschreibung. Dafür geht eine Gruppe Jugendlicher in Richtung Bahnhof.

Ziemlich angetrunken sind sie. Und entsprechend laut reden sie. Oskar hat sein Fenster halb geöffnet. Obwohl die fünf Teenager fünfzig Meter entfernt an uns vorbeigehen, verstehen wir jedes Wort hier im Wagen. Tolle Ideen haben sie: »Ey, lasst uns doch ein Rad mitnehmen!«, sagt einer der Jungs.