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Der Richter Thomas Ramin liebt seine Frau Cornelia über alles. Seit zehn Jahren sind die beiden glücklich verheiratet, und nie hatte er Zweifel an ihrer Liebe. Doch da erreicht ihn ein anonymer Brief, der ihn zutiefst verunsichert. Thomas muss sich eingestehen, dass er es in der Tat merkwürdig findet, wie unbekümmert und verschwenderisch seine Frau seit einiger Zeit Geld ausgibt. Sollte sie in das Milieu zurückgekehrt sein, aus dem er sie damals herausgeholt hat? Cornelia streitet alles ab, doch Thomas Vertrauen ist erschüttert. Es folgen weitere Briefe, und Thomas gerät an den Abgrund der Verzweiflung. Geht es nicht nur um die mysteriöse Herkunft ihres Geldes, sondern etwa auch um eine heimliche Affäre?Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-
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Seitenzahl: 313
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Marie Louise Fischer
Roman
Saga Egmont
Unruhige Nächte
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og RInghof A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)
represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1967 by F. Schneider, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711719220
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Richter Thomas Ramin blickte auf, als seine Frau ins Zimmer trat. Cornelia trug ein eng tailliertes dunkelgrünes Herbstkostüm, das ihre jugendliche Figur betonte.
»Entschuldige, dass ich störe«, sagte sie und legte ein paar Briefe vor ihn auf den Schreibtisch. »Die Post.«
»Was Interessantes dabei?«
»Ein Brief von Lotte Thainacher. Ich habe ihn dir dazugelegt.« »Nun, wie geht’s ihr?«
»Sie scheint sich in Baden-Baden prächtig zu erholen!«
Auf Cornelias Wangen erschienen zwei runde kleine Grübchen. »Sie genießt ihren Urlaub von der Ehe … du kennst sie ja.«
Richter Thomas Ramin runzelte die Stirn. »Wieder ein Flirt?« Cornelia zuckte mit den schönen Schultern. »Sieht ganz so aus. Aber ich wette, sie berichtet Leo in allen Einzelheiten darüber. Ich glaube, es geht ihr darum, seine Liebe aufzufrischen.«
»Mir gefällt das nicht«, sagte er, »nein, das gefällt mir ganz und gar nicht. Ich glaube, ich werde mit Leo mal ein Wort darüber sprechen. Du kennst meine Grundsätze …«
Jetzt lachte sie. »Ja, leider!« Sie schwang sich auf seine Sessellehne und zauste ihm das dunkle dichte Haar. »Ich wollte dich gerade fragen, ob du nicht jetzt schon einen Blick auf deinen Geburtstagstisch werfen möchtest … noch bevor die Kinder aus der Schule kommen. Oder widerspricht das auch deinen Grundsätzen?«
»Tatsächlich … ja!«, sagte er. Vergeblich versuchte er ein wenig abzurücken. Ihre Nähe irritierte ihn. Sie waren zehn Jahre verheiratet, aber er begehrte sie immer noch wie am ersten Tag.
»Ach, sei kein Frosch!« Sie küsste ihn auf die Nase.
»Bist du sehr böse, wenn ich dich jetzt bitte, mich allein zu lassen? Ich habe nämlich noch einiges zu arbeiten.«
»Heute, an deinem Geburtstag? Muss das sein?«
»Es muss. Damit ich mich dann meiner Familie widmen kann.« »Wie lieb von dir.«
»Trotzdem, ich bin ein wenig gekränkt. Wie kann man nur so wenig neugierig sein?!«
Er lächelte ihr zu. Plötzlich wünschte er, sie wäre bei ihm geblieben. »Vorfreude ist die schönste Freude … Ich freue mich auf eure Geschenke und auf den heutigen Tag!«
»Es gibt Hähnchen mit Apfelkompott. Würdest du so lieb sein und den Backofen einstellen, wenn ich bis halb zwölf noch nicht da bin?« »Natürlich. Wenn ich es nicht vergesse.«
»Bloß nicht! Vielleicht bin ich bis dahin auch zurück.«
Er sah ihr nach, wie sie schlank und elastisch aus dem Zimmer ging. Er liebte sie sehr. Sein Herz war ganz warm und voller Zärtlichkeit. Wenn es ihm nicht zu theatralisch erschienen wäre, hätte er jetzt die Hände falten mögen und beten: »Ich danke dir, lieber Gott, für alles, für Cornelia, für die Kinder, für das gute Leben, das wir führen.« Er tat es nicht, sondern zündete sich eine Zigarette an und lächelte in sich hinein.
Erst als er sich wieder an die Arbeit machen wollte, dachte er an die Post, die Cornelia ihm auf den Schreibtisch gelegt hatte. Er las den Brief von Lotte Thainacher aus Baden-Baden, schüttelte ein wenig den Kopf, öffnete eine Drucksache, dann erst sah er den anderen Brief.
Es war ein billiger Umschlag, die Adresse war in großen Druckbuchstaben, ungeschickt nebeneinander gesetzt, geschrieben. Herrn Landgerichtsdirektor Thomas Ramin, München 22, Holbeinstraße. Auf der Rückseite war kein Absender vermerkt. Thomas Ramin riss den Umschlag auf. Ein kleiner weißer Bogen flatterte heraus. Er las, die eckigen, ungeraden Buchstaben sprangen ihn geradezu an.
Sind Sie blind? Sind Sie weltfremd? Oder sind Sie so verkommen, dass es Sie nicht interessiert, was Ihre Frau treibt? Ich werde Ihnen die Augen öffnen. Prüfen Sie nach, was Sie monatlich verdienen und wie viel Ihre Frau ausgibt. Es ist eine einfache Rechnung. Woher bestreitet Ihre Frau die großen Ausgaben? Woher nimmt sie das Geld, das sie von Ihnen nicht bekommt? Denken Sie darüber nach!
Der Brief war mit keinem Namen unterschrieben, statt dessen stand da: Jemand, der es nicht mit ansehen kann, wie Ihre Frau Sie ins Unglück treibt. Das Blut war Thomas Ramin in die Schläfen gestiegen. Er zerknüllte Briefbogen und Umschlag und warf sie mit heftigem Schwung in den Papierkorb.
Als Cornelia ihn drei Stunden später zur Bescherung rief, hatte Thomas Ramin nichts gearbeitet. Er hatte die ganze Zeit an seinem Schreibtisch gesessen und mit allen Kräften versucht, den Inhalt jenes niederträchtigen Briefes zu vergessen. Aber er saß wie ein Widerhaken in seinem Gehirn.
Im Esszimmer war der Mittagstisch festlich gedeckt. Cornelia stand, Nelly an der einen, Tom an der anderen Hand, mit dem Rücken vor dem kleinen Rauchtisch, auf dem die Geburtstagsgaben aufgebaut waren. Alle drei strahlten vor fröhlicher Erwartung. Sie sangen, nicht gerade melodisch, aber sehr begeistert und laut: »Der Vater hat Geburtstag, lalalalala, wir wünschen alles Gute, lalalalala! Hoch soll er leben! Dreimal hoch!«
Er ließ ihre Küsse und Umarmungen über sich ergehen und hatte dabei das Gefühl, als wenn es gar nicht er selber wäre, der hier gefeiert wurde, sondern ein anderer, ein Wildfremder.
Fünfundvierzig kleine Kerzen brannten um die große Geburtstagstorte herum, in der Mitte stand die mächtige Lebenskerze aus Bienenwachs. Ein prächtiger Gladiolenstrauß glühte in einer hohen Vase, ringsum lagen die Geschenke.
Thomas Ramins Blick fiel sofort auf die elegante schwarze Aktentasche, in ihrem Verschluss steckte eine kleine Rosenknospe. Cornelia hatte ihm einen Lieblingswunsch erfüllt, den er nicht einmal auszusprechen gewagt hätte.
Er nahm die Aktentasche in die Hand, spürte dabei den erwartungsvollen Blick seiner Frau auf sich gerichtet. Sie war federleicht, aus weichem, feinem Leder, in drei Fächer unterteilt. Sie war prachtvoll. Ohne ein Lächeln fragte er: »Wie teuer?«
»Aber, Thomas! Bei Geschenken fragt man doch nicht nach dem Preis!«
»Da du sie, wie ich annehme, von meinem Geld gekauft hast, darf ich wohl auch fragen!«
»Ich habe sie mir vom Wirtschaftsgeld abgespart … um dir eine Freude zu machen. Gefällt sie dir nicht?«
»Doch. Aber …«
Sie trat auf ihn zu und legte ihre braune schmale Hand auf seinen Arm. »Thomas! Wenn sie dir gefällt, ist doch alles in Ordnung. Weshalb machst du dir Gedanken?«
»Weil ich nicht begreife, wovon du ein so kostspieliges Geschenk hast erstehen können. Glaube nur nicht, dass ich weltfremd bin.« Er biss sich auf die Lippen, als er merkte, dass er unwillkürlich ein Wort aus jenem anonymen Brief gewählt hatte. »Ich weiß genau«, fuhr er noch schärfer fort, »die Frauen meiner Kollegen klagen ständig über die steigenden Preise. Die können mit dem Gehalt ihrer Männer nicht auskommen, und du …«
Sie legte den Kopf zur Seite und lächelte ihn schelmisch an. »Wäre es dir lieber, wenn ich dir auch was vorjammern würde?«
»Darum handelt es sich ja nicht«, sagte er hart. »Wieviel hat die Tasche gekostet?«
Plötzlich runzelte sie ihre glatte Stirn. »Du glaubst, dass ich Schulden mache?«
»Ich weiß es nicht. Ich möchte nur wissen, woher du das Geld genommen hast. Du hast einen Kühlschrank gekauft …«
»Wir haben uns entschlossen, einen neuen Kühlschrank zu kaufen. Weil wir ihn dringend brauchten. Wir haben ihn nicht bar bezahlt, sondern auf Raten gekauft.«
»Die Raten sind noch nicht bezahlt.«
»Das weiß ich. Aber ich bin nicht im Verzug. Wenn du die Quittungen sehen möchtest …«
»Du willst mich nicht verstehen.«
»Nein, wirklich nicht!«, sagte sie jetzt heftig. »Ich habe mich angestrengt, dich mit einem schönen Geburtstagsgeschenk zu überraschen, und du … aber ich weiß schon, was mit dir los ist. Du willst dir einfach nichts schenken lassen. Wahrscheinlich glaubst du, dass das deine männliche Würde verletzt. Statt zu sagen: Danke, liebe Cornelia, du hast mir eine große Freude gemacht …«
»Danke, liebe Cornelia«, sagte er mit hochgezogenen Augenbrauen. Nelly konnte es schon nicht mehr aushalten, ihr Geschenk anzubringen. »Schau mal, Vati, was du von mir kriegst! Eine Krawatte! Ist sie nicht wunderhübsch? Blau … deine Lieblingsfarbe. Ich habe sie selber gewebt.«
Sie hielt ihm das Werk ihrer kleinen Hände vor die Nase, er betrachtete sie stirnrunzelnd.
»Die war bestimmt nicht teuer«, sagte Nelly rasch.
»Hm«, sagte Thomas Ramin, »ganz hübsch …«
Nelly schluckte. »Gefällt sie dir nicht?« Sie hatte das honiggelbe Haar und die anmutige Art ihrer Mutter geerbt, aber ihre Augen waren nicht braun und voller Fröhlichkeit, sondern grau, klar und ernst. Sie neigte dazu, die Dinge allzu schwer zu nehmen, und ihre Enttäuschung darüber, dass der Vater sich über ihre Krawatte nicht so freute, wie sie es sich vorgestellt hatte, war maßlos.
»Erwartest du, dass ich vor Begeisterung in die Luft springe?«, fragte Thomas Ramin kalt. »Wenn du mir wirklich eine Freude machen wolltest, hättest du dir ein bisschen mehr Mühe geben können. Du bist leider ein sehr unordentliches kleines Mädchen. Hier … sieh dir das mal an!« Er deutete auf eine Stelle der Krawatte, in der sich der Faden ungebührlich verdickt hatte. »Ist das ein Webfehler oder was?!«
»Oh, Vati! Du bist … da kann ich doch nichts dafür! Ich habe einen neuen Faden ansetzen müssen! Wie hätte ich das anders machen sollen?« Nellys Stimme erstickte in Tränen. Sie warf sich schluchzend in die Arme ihrer Mutter. »Nicht weinen, Nelly«, sagte Cornelia, »es ist alles nicht so schlimm. Vater hat es nicht so ernst gemeint. Er hat schlechte Laune, weißt du.«
»Ich?!« Wie kommst du darauf, dass ich schlechte Laune hätte?« Cornelia antwortete nicht. Sie putzte ihrer kleinen Tochter die Nase. »Und hier ist mein Geschenk, Vater!«, trompetete der kleine Tom herausfordernd und deutete auf eine Schachtel, die er wild und fantasievoll mit buntem Papier beklebt hatte. »Aber wenn es dir nicht gefällt, dann sag es lieber gleich … dann behalte ich sie nämlich selber.«
»Ja, sag mal, wie redest du denn mit deinem Vater?!«
»Ich sag’s, wie ich es mir denke. Du hast es uns doch immer eingebläut, die Wahrheit zu sagen!«
Tom stand breitbeinig da und dachte nicht daran, die Augen vor dem Blick seines zornigen Vaters zu senken. Er war ein strammer kleiner Kerl mit dunklen zerzausten Haaren, den fröhlichen Augen seiner Mutter und einem runden, etwas aufgeworfenen Jungenmund. »Donnerwetter! Das ist ein Geburtstag!«, sagte Thomas Ramin. »Das habt ihr fein gemacht! Du hast deine Kinder prächtig erzogen, Cornelia, das muss man dir lassen. Wirklich prächtig!«
»Bestimmt haben wir unsere Fehler«, sagte Cornelia sehr ruhig, »wir sind keine Engel, Thomas. Aber wir haben dich alle sehr lieb, und ich denke, das ist es doch, worauf es ankommt!«
Ohne ein Wort zu sagen, drehte Richter Thomas Ramin sich um und setzte sich an den Mittagstisch.
»Vati, du musst noch die Kerzen ausblasen!«, rief Tom.
»Tu du’s nur, Tom«, sagte Cornelia, »du siehst doch, Vati hat Hunger.«
»Aber das geht doch nicht! Jeder muss doch seine Geburtstagskerzen selber ausblasen, sonst bringt das Unglück!«
»Wenn man will, geht alles!« Cornelia begann, die Kerzen auszublasen, Nelly und Tom halfen ihr dabei.
Es wurde ein schweigsames Mittagessen. Thomas Ramin hatte kaum Appetit, aber es ärgerte ihn, dass Cornelia sich nicht die Mühe gab, ihn zu nötigen. Die Kinder ließen sich die Freude an ihrem Lieblingsessen auch durch seine schlechte Stimmung nicht nehmen, und es kränkte Thomas Ramin, dass sie so unbekümmert zulangten.
Cornelia tat, als wenn gar nichts vorgefallen wäre, sie benahm sich ganz wie immer, und das verletzte Thomas Ramin am meisten. Die Kinder waren noch nicht mit dem Nachtisch fertig, als er seinen Stuhl zurückstieß. »Ich gehe zum Amt!«, sagte er kurz.
Jetzt wurde Cornelia blass. »Heute? Thomas, ich bitte dich … wir wollten doch alle zusammen gemütlich Kaffee trinken!«
»Ich habe zu tun!«
Cornelia stand auf und trat auf ihn zu. »Bitte, Thomas. Vielleicht sind wir wirklich schuld an allem … bitte, sei uns nicht böse! Wir haben es wirklich nur gut gemeint. Du bleibst bei uns, ja?«
»Ich nehme an, dass euch die Torte ohne mich besser schmecken wird!«, sagte er hart und ging zur Tür.
Als er die Wohnung verließ, hörte er, wie Cornelia und die Kinder in der Küche zusammen plauderten. Tom und Nelly halfen der Mutter beim Geschirrspülen. Wenn sie ihn jetzt noch einmal gebeten hätten, wäre er geblieben. Aber niemand ließ sich blicken. Er fühlte sich unglücklich und ausgestoßen, als er das Haus verließ.
Richter Thomas Ramin hatte sein Arbeitszimmer seit über einem Jahr in der Maxburg. Es war ein freundlicher kleiner Raum mit einem großen Fenster, das er die meiste Zeit geschlossen halten musste, weil sonst der Großstadtverkehr überlaut hereinbrandete. Als er es heute betrat, entdeckte er sofort den Topf mit schönen zartroten Alpenveilchen auf seinem Schreibtisch. Ein Schildchen war daran befestigt: »Wir gratulieren - Abteilung IV.«
Er wusste sofort, dass es nur Fräulein Agnes Barowsky sein konnte, die sich diese Geburtstagsüberraschung ausgedacht hatte. Es tat ihm gut, zu wissen, dass er hier in seinem Amt geschätzt wurde.
Noch bevor er sich setzte, drückte er auf die Klingel, wenige Minuten später erschien Fräulein Barowsky in der Tür. Ihr mausgraues Haar war unordentlich wie immer, ihr spitzes kleines Gesicht ohne Farbe, aber ihre dunklen Augen waren groß und schön und ausdrucksvoll. »Herr Landgerichtsdirektor«, rief sie, »wenn ich geahnt hätte, dass Sie kommen würden …«
Er winkte ab. »Schon gut, schon gut. Ich möchte mich nur bei Ihnen bedanken …«
»Wegen der Blumen? Aber Herr Landgerichtsdirektor, die sind ja nicht von mir. Die ganze Abteilung hat zusammengelegt, um …« »Aber Sie haben es angeregt, nicht wahr?«, fragte er lächelnd.
Sie errötete sanft. »Das muss ich zugeben. Ich habe mir Ihren Geburtstagstermin aufgeschrieben. Ich finde, es gehört sich so, dass man an seinem Ehrentag ein bisschen gefeiert wird!«
»Sicher. Es war sehr lieb von Ihnen.«
»Darf ich Ihnen Kaffee machen?«
Es war ihm unangenehm, dass sie sich wegen ihm so viel Mühe machte, aber er spürte, dass ihm jetzt eine Tasse Kaffee gerade recht käme. »Bitte, wenn Sie so nett sein wollen …«
Fräulein Barowsky entschwand und kam wenige Minuten später, als sich Richter Thomas Ramin eine Zigarette angezündet hatte, mit einem Kännchen Kaffee wieder herein.
»Schwarz wie die Hölle«, sagte sie lächelnd, »ich weiß schon, wie Sie ihn gerne haben, Herr Landgerichtsdirektor.«
»Danke«, sagte er kurz. Er hatte keine Lust, sich länger mit ihr zu unterhalten. Sie zog sich sofort zurück.
Er trank den Kaffee, rauchte seine Zigarette und dachte an Cornelia. Mit Entsetzen spürte er plötzlich, dass er sich schändlich benommen hatte. Er hatte ihr und den Kindern die Geburtstagsfreude genommen. Warum hatte sie es ihm nicht mit gleicher Münze heimgezahlt? Eine wirkliche Auseinandersetzung hätte die Atmosphäre vielleicht gereinigt. Aber so …
Er drückte seine Zigarette aus und zündete sich sofort eine neue an. Es gab nur eine Erklärung für Cornelias Sanftmut. Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Dieser anonyme Brief war niederträchtig gewesen. Er schämte sich, dass er ihn gelesen und sich sogar von ihm hatte beeindrucken lassen. Aber ein Funken Wahrheit steckte sicher in diesen bösartigen Anschuldigungen.
Er verdiente wirklich nicht schlecht. Aber war es genug, um einen Haushalt zu bestreiten, wie Cornelia ihn führte? Sie hatten sich im Lauf der letzten Jahre die modernsten Küchenmaschinen angeschafft, einen großartigen Staubsauger, den neuen Kühlschrank, eine Gefriertruhe, einen Fernseher.
Sie hatte ihn bei all diesen Anschaffungen - das stimmte - vorher um seine Zustimmung gefragt, aber die finanzielle Seite hatte sie immer ganz allein geregelt. Was sie monatlich auf die Hand bekam, davon bestritt sie die Miete - Landgerichtsdirektor Thomas Ramin begann Zahlen auf ein Stück Papier zu kritzeln -, Elektrizität, seine Lebensversicherung - ihm wurde auf einmal klar, dass er nicht einmal über die laufenden Ausgaben orientiert war. Er würde sich mit diesen Dingen befassen müssen.
Eines wusste er ganz genau: Cornelia war immer hoch elegant und nach der letzten Mode gekleidet, auch die Kinder waren ausgesprochen gut angezogen, und niemals - das war es, was ihm am meisten zu denken gab - hatte Cornelia darüber geklagt, dass sie mit dem Geld nicht auskam, dass eine größere Anschaffung bevorstünde und sie nicht wüsste, wie und von was sie sie bezahlen sollte. Dabei las man so oft in der Zeitung, dass die Lebenshaltungskosten von Tag zu Tag stiegen, dabei wusste er, dass den meisten der Kollegenfrauen das Geld vorn und hinten nicht reichte.
Alle hatten ihn immer um die schöne, die kluge, die elegante Cornelia beneidet, und es hatte ihm gut getan. Er war stolz auf sie gewesen, glücklich, mit ihr verheiratet zu sein. Und jetzt dieser schändliche Verrat.
Cornelia gab mehr Geld aus, als er verdiente. Das schien ihm, ohne es näher überprüfen zu können, festzustehen. Machte sie Schulden? Woher nahm sie das Geld, das sie nicht von ihm bekam?
Fast zehn Jahre waren sie nun verheiratet, und er hatte geglaubt, sie durch und durch zu kennen. Er hatte sie für einen fröhlichen, harmonischen und ganz und gar unkomplizierten Menschen gehalten. Was aber wusste er wirklich von ihr?
Jetzt, als er sich diese Frage zum ersten Mal ganz bewusst stellte, merkte er, dass es sehr wenig war. Er erinnerte sich, dass sie vor der Hochzeit einige Male versucht hatte, mit ihm über ihre Vergangenheit zu reden. Aber damals hatte er nichts wissen wollen. Er liebte sie, das war ihm genug. Er wusste, dass sie nicht mehr unschuldig war, aber er hatte es für das Richtigste gehalten, diese Tatsachen gar nicht zu beachten, sondern sie so bald wie möglich zu vergessen. Er scheute davor zurück, Einzelheiten zu erfahren, die ihn nur verletzt hätten.
Als sie verheiratet waren, hatten weder er noch Claudia je an diese Dinge gerührt. Die Vergangenheit war tot für sie, sie hatten ein neues Leben angefangen.
Das hatte er immer geglaubt. Wenn es nun nicht stimmte? Wenn Cornelia die Verbindungen mit ihrer Vergangenheit aufrechterhalten hatte? Wenn sie von Natur aus leichtsinnig war? Wenn sie …? Er wagte diesen letzten, diesen schrecklichsten Gedanken nicht auszudenken.
Unsinn, dachte er, verdammt noch mal - Unsinn. Er schämte sich über sich selber und seine Gedanken. Er schämte sich, dass ein anonymer Brief es fertiggebracht hatte, an seinem Glück, an Cornelia, an ihrer Liebe zu zweifeln. Er hatte sich schändlich benommen. Er hätte Cornelia den Brief zeigen und mit ihr über alles sprechen müssen. Einen Augenblick überlegte er, ob er sie anrufen sollte, aber dann gab er diese Idee doch wieder auf. Er spürte, dass er immer noch nicht im Stande war, mit ihr zu reden, als ob nichts geschehen wäre. Er musste erst selber über diese Dinge hinwegkommen.
Mit zusammengebissenen Zähnen zwang er sich zur Arbeit. Er studierte noch einmal den Fall Krüger gegen Krüger, der morgen zur Verhandlung stehen würde. Der Installateur Willi Krüger hatte Scheidungsklage gegen seine Frau Lisbeth eingereicht. Es war eine schlimme Geschichte, die da aus den Akten hervorging.
Lisbeth kam aus der Ostzone. Sie hatte sich Anfang 1950 als Telefonistin von der Volkspolizei anwerben lassen. Sie bearbeitete bei der Grenzbereitschaft die Überwachung des illegalen Grenzverkehrs. Ende des Jahres heiratete sie einen Leutnant der Volkspolizei, und im September 1951 wurde sie - damals im sechsten Monat schwanger - zwangsweise von ihrem Posten beurlaubt. Sie stand unter dem Verdacht, Dienstgeheimnisse verraten zu haben. Sie floh in den Westen. Im Januar 1952 gebar sie einen gesunden Knaben, den sie nach dem Vater Jürgen nannte. Noch in der Klinik erhielt sie die Nachricht, dass ihr Mann sich vor einem ostzonalen Gericht wegen ihrer illegalen Auswanderung aus der DDR hatte scheiden lassen. Sie war sehr verzweifelt.
Aus der Klinik entlassen, fand sie eine Stelle als Hausangestellte in München. Den kleinen Jungen konnte sie bei Pflegeeltern in Oberbayern unterbringen. Sie sehnte sich danach, wieder zu heiraten, um Jürgen zu sich nehmen zu können.
Beim Oktoberfest lernte sie einen jungen Mann namens Ferdinand kennen. Sie verabredeten sich für den nächsten Sonntag, trafen sich auch. Sie verliebte sich Hals über Kopf in ihn, er versprach ihr die Ehe, und sie nahm ihn mit auf ihr Zimmer. Noch in der Nacht verschwand er und wurde nie mehr gesehen. Sie forschte nach ihm, konnte ihn aber in Ermangelung ausreichender Anhaltspunkte nicht finden. Kurze Zeit später stellte sie fest, dass sie ein Kind erwartete. Sie wollte sterben, nahm aber nicht genug Schlaftabletten.
Ihre Arbeitgeberin vermittelte ihr eine Stellung in einem Geschäftshaushalt. Sie schämte sich, der neuen Hausfrau die Wahrheit zu erzählen. Einen Monat vor ihrer Niederkunft verabschiedete sie sich, sie erzählte, ihr Verlobter hätte jetzt eine Stellung bekommen, sie würde zu ihm fahren und ihn heiraten. Ihr Kind, das sie in einer Münchener Klinik zur Welt brachte, wurde auf den Namen Hildegard getauft, und nach ihrer Entlassung erstickte sie es in ihrer Schürze. Sie bekam wieder einen Posten als Hausangestellte in München, und als die Wohnung ihrer Herrschaft renoviert wurde, lernte sie den Installateur Willi Krüger kennen, der sofort Gefallen an ihr fand. Er war ein schlesischer Flüchtling und hatte durch unermüdliche Arbeit bereits so viel gespart, dass er sich selbstständig machen konnte. Er heiratete Lisbeth und nahm ihren Sohn Jürgen bei sich auf. Von ihrem zweiten Kind, Hildegard, hatte sie ihm erzählt, es wäre in der Klinik gestorben.
Die Ehe wurde glücklich, bis das Stadtjugendamt München, dem die Geburt der kleinen Hildegard gemeldet worden war, die Adresse der jetzigen Lisbeth Krüger ermittelte. Die Wahrheit kam ans Licht. Lisbeth wurde wegen Totschlags zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren verurteilt. Willi zeigte Verständnis für sie und versprach ihr, auf sie zu warten. Wegen guter Führung wurde sie vorzeitig entlassen, voll bester Vorsätze kehrte sie in ihr Heim zurück.
Aber Willi hatte sich inzwischen verändert. Er hatte sich daran gewöhnt, ins Wirtshaus zu gehen, zu trinken und Karten zu spielen, er hatte auch mehr oder weniger Beziehungen zu anderen Frauen angeknüpft. Er fand in das geordnete und häusliche Familienleben nicht mehr zurück.
Als Lisbeth begann, ihm Vorwürfe zu machen, hielt er ihr ihre Vergangenheit vor, beschimpfte sie als ›Zuchthäuslerin‹, ›Mörderin‹, ›Schlampe‹. Er schlug sie. Sie flüchtete zu ihrer Nachbarin. Diese Tatsache nahm er zum Anlass, um Scheidungsklage gegen sie einzureichen. Er brachte vor, sie hätte aus nichtigem Grund geschrien und ihn vor den Hausbewohnern bloßgestellt. Außerdem habe sie ihn vor der Hochzeit über ihre Vergangenheit derartig belogen, dass er ihr kein Vertrauen mehr schenken könne. Lisbeth wollte sich nicht scheiden lassen. Sie beantragte, die Klage ihres Mannes abzuweisen. Das war der Fall Krüger gegen Krüger.
Richter Thomas Ramin klappte die Akten zusammen.
Als er sich zum ersten Mal mit dieser Scheidungsklage beschäftigt hatte, war er sich vollkommen darüber klar gewesen, dass Willi Krüger ein rücksichtsloser und brutaler Egoist war. Jetzt plötzlich begriff er die Verzweiflung dieses Mannes. Als er seiner Frau verziehen und versprochen hatte, alles zu vergessen, hatte er sich mehr zugemutet, als er zu halten im Stande war. Er war nicht mehr fähig gewesen, seine Enttäuschung, sein Misstrauen zu überwinden. Er war nicht schlecht, er hatte nur versagt. Darin lag seine Schuld.
Richter Thomas Ramin war es, als wenn man ihm einen Spiegel vorgehalten hätte. Er war weniger wert als Willi Krüger, den er verachtet hatte. Ein anonymer Brief hatte genügt, das Vertrauen in seine Frau zu erschüttern. Auf eine bösartige und unbewiesene Anschuldigung hin zweifelte er an ihrer Liebe und dem Glück seiner Ehe.
Thomas Ramin schämte sich. Wie viele unglückliche Ehepartner hatte er in all den vergangenen Jahren vor den Schranken des Gerichtes auftreten sehen, und in fast allen Fällen war er überzeugt gewesen, dass mit ein wenig gutem Willen, mit gegenseitigem Verständnis und Anstand die Ehe aufrechtzuhalten gewesen wäre. Er hatte es den Eheleuten nie leicht gemacht, die Scheidung zu erreichen. Die Anwälte wussten es und fürchteten ihn deswegen. Er selber hatte, als die erste Krise in seiner Ehe aufgetaucht war, kläglich versagt.
Thomas Ramin war, als er nach Hause kam, fest entschlossen, seine Frau um Verzeihung zu bitten und sich mit ihr zu versöhnen.
Er fand die Wohnung leer. Der Geburtstagstisch war unberührt, die Torte nicht angeschnitten.
Jähe Angst überfiel ihn. Sein Schuldgefühl ließ es ihm möglich erscheinen, dass Cornelia und die Kinder ihn verlassen hätten.
Er ging ins Schlafzimmer. Die Koffer lagen unberührt auf dem Schrank. Das Kinderzimmer war nur flüchtig aufgeräumt, die Schulranzen lagen auf ihren Plätzen. Er durchsuchte die ganze Wohnung, nirgends fand er eine Zeile von Cornelia.
Er versuchte, über seine Angst zu lächeln. Cornelia liebte ihn. Sie würde ihn nicht wegen eines einzigen Streites verlassen. Aber sein Unbehagen blieb. Es hielt ihn nicht in der leeren Wohnung. Unruhe trieb ihn aus dem Haus.
Er begegnete Cornelia und den Kindern, als sie aus dem Kino kamen. Tom und Nelly liefen ihm strahlend entgegen, als wenn nichts gewesen wäre. Cornelia reichte ihm lächelnd die Hand.
»Fein, dass du schon zurück bist, Vati!«, sagte Nelly und hängte sich bei ihm ein.
»Wir haben noch keinen Fitz von der Geburtstagstorte gegessen«, erklärte Tom stolz. »Mami hat gesagt … ohne das Geburtstagskind dürfen wir nicht!«
Nelly tippte sich auf die Stirn. »Geburtstagskind! Vati ist doch kein Geburtstagskind. Er ist ein erwachsener Mann! Da kann man doch nicht Kind sagen.«
»Jeder, der Geburtstag hat, ist ein Geburtstagskind!«, beharrte Tom.
»Der Geburtstagsmann ist ganz was anderes … der bringt Geschenke. Dass du’s nur weißt!«
Cornelia nahm Tom bei der Hand und hakte sich auf der anderen Seite bei Thomas Ramin ein. »Ich bin mit den Kindern in die Märchenvorstellung gegangen, Thomas«, sagte sie. »Sie hatten sich so auf deinen Geburtstag gefreut.«
»Und ich habe ihnen alles verpatzt, nicht wahr?«
»Macht ja nichts. Jetzt werden wir’s nachholen, ja?«
Es wurde ein fröhlicher Nachmittag. Die Geburtstagstorte schmeckte wunderbar. Thomas Ramin, der mittags fast nichts gegessen hatte, aß, zum Jubel seiner Kinder, drei Stück.
Nachher spielten sie im Kinderzimmer zusammen ›Mensch ärgere dich nicht‹ und Schwarzer Peter, Bilderlotto und Quartett. Sie lachten und alberten dabei. Alle trüben Schatten schienen verscheucht. Als die Kinder zu Bett gebracht waren, machten Cornelia und Thomas Ramin es sich im Wohnzimmer gemütlich. Der Hausherr öffnete eine Flasche Wein, Cornelia brachte eine Schale mit frischem, selbstgemachtem Käsegebäck. Sie stellte den Plattenspieler an, auf dem sie schon in der Früh das Lieblingsprogramm von Thomas zusammengestellt hatte. Dann ließ sie sich, Thomas gegenüber, in einen der bequemen Sessel am Rauchtisch sinken. Sie trug ein einfaches, schick geschnittenes graues Flanellkleid, dessen enger Rock jetzt, als sie dasaß, ihre schlanken, schönen Beine bis über die Knie freigab. Als einzigen Schmuck trug sie an der linken Schulter die goldene Nadel mit einer rosa schimmernden Perle, die ihr Mann ihr zu Toms Geburt geschenkt hatte. Sie wirkte sehr mädchenhaft und anmutig mit ihren strahlenden braunen Augen, dem kühn geschnittenen honiggelben Haar. Für Thomas Ramin war sie die schönste Frau der Welt.
Er bot ihr eine Zigarette an und gab ihr Feuer.
Lächelnd stieß sie den Rauch durch die Nase. »Goldig sind unsere Kinder, aber auch recht anstrengend, findest du nicht auch?«
»Ich habe das Gefühl, ich hätte mich bei ihnen entschuldigen müssen. Wegen heute Mittag.«
»Aber Thomas! Was sind das für Ideen? Du bist doch der Vater!« »Du meinst, Väter brauchen sich nie zu entschuldigen?«
»Natürlich nicht. Das wäre ja noch schöner.«
»Ehemänner auch nicht?«
»Nicht immer. Die Hauptsache ist, dass es dir hinterher leid tut.« »Trotzdem möchte ich …«
»Nicht, Thomas, wirklich nicht! Du weißt doch, ich liebe dich so, wie du bist!« Sie nahm seine Hand und schmiegte ihre Wange hinein.
»Ich bin nur froh, dass doch noch alles schön geworden ist.«
»Ich habe mich wie ein Scheusal benommen.«
»Unsinn. Du hattest einen schweren Tag. Das kann jedem passieren.«
»Dir nicht.«
»Doch. Du merkst es nur nicht.« Sie küsste seine Hand und hielt sie dann fest in der ihren. »Ich habe neulich gelesen … ich weiß nicht, ob ich dir das erzählt habe … da stand: Es ist schwer, verheiratet zu sein, weil Lieblosigkeit und Ungerechtigkeit bei dem einen Partner meist Lieblosigkeit und Ungerechtigkeit bei dem anderen hervorrufen. Wenn man glücklich sein will, muss man verstehen lernen, dass der schlecht gelaunte Partner doppelt so viel Liebe und Verständnis braucht. Gut, nicht wahr? Jetzt versuche ich, dieses Rezept zu verwirklichen.«
»Hoffentlich gibst du mir bald eine Möglichkeit, dass ich mich revanchieren kann.«
Sie sah ihn an. Ihre braunen leuchtenden Augen waren ernst geworden. »Ich brauche immer Liebe, Thomas … sehr viel Liebe!«
Er zog sie auf seinen Schoß und schloss sie fest in die Arme.
Sie sprachen kein Wort, aber sie fühlten beide, wie sehr sie zusammengehörten.
Als an der Wohnungstür geklingelt wurde, fuhren sie auseinander. »Oh«, sagte Cornelia und versuchte mit beiden Händen, ihr zerzaustes Haar in Ordnung zu bringen.
Thomas Ramin lächelte. »Genier dich nicht, Liebling. Wir sind ja verheiratet!«
»Trotzdem. Wenn uns jemand überrascht hätte. Was macht das für einen Eindruck bei einem so alten Ehepaar! Bitte, öffne du doch die Tür … ich möchte mich erst ein bisschen in Ordnung bringen.«
»Na gut. Wenn du meinst. Aber ich wette, es ist bestimmt nur Leo.«
Rechtsanwalt Dr. Leo Thainacher, ein stämmiger Mann mit breiten, ausdrucksvollen Augen und, zu seinem Kummer, einer beginnenden Glatze, war ein alter Freund der Familie. Er und Thomas Ramin kannten sich noch aus der Schulzeit her, sie hatten zusammen studiert. Ihre Wege hatten sich erst getrennt, als Thainacher, der von Haus aus vermögend war, sich entschloss, Rechtsanwalt zu werden, während Thomas Ramin es vorzog, in den Staatsdienst zu gehen.
Aber an ihrer Freundschaft hatte sich niemals etwas geändert, auch nicht, als beide geheiratet hatten. Lotte Thainacher, verwöhnte Tochter eines reichen Bierbrauers, und Cornelia, das Flüchtlingsmädchen aus dem Osten, hatten sich auf Anhieb verstanden. Thomas Ramin und Leo Thainacher waren froh darüber, denn sie wussten, dass Frauenfeindschaft im Stande ist, die besten Männerfreundschaften auseinanderzubringen oder lahmzulegen. Leo Thainacher hatte als Geburtstagsgeschenk einen Stich aus dem fünfzehnten Jahrhundert mitgebracht, der ein eindrucksvolles Bild aus einer Gerichtsverhandlung der damaligen Zeit wiedergab. Er behauptete, dass der hagere und knochige Ritter auf dem alten Stich eine auffallende Ähnlichkeit mit Thomas Ramin hätte.
»Wieder einmal ein Beweis«, sagte er, »dass du fünfhundert Jahre zu spät auf die Welt gekommen bist. Du bist eine Antiquität, Thomas, ein Überbleibsel aus dem Mittelalter.«
Richter Thomas Ramin lächelte. Er wusste, worauf der Freund hinauswollte. »Wenn du’s so nimmst, kannst du genauso gut sagen, dass die Ehe an sich als Lebensform überholt ist. Vergiss aber nicht, dass unsere ganze Gesellschaftsordnung …« Er sprach den Satz nicht zu Ende, denn in diesem Augenblick trat Cornelia ein.
Sie zwinkerte vergnügt, als sie Leo Thainacher die Hand gab. »Lasst euch durch mich nicht stören«, sagte sie. »Ich weiß schon, wenn ihr euch nicht zanken könnt, seid ihr nicht glücklich!«
»Wir sind weit davon, uns zu streiten«, erklärte Thomas Ramin, »es handelt sich nur um eine sachliche Auseinandersetzung, aber von so etwas versteht ihr Frauen natürlich nichts.«
»Sehr richtig!« Cornelia lächelte. »Die Frau gehört an den Kochtopf, aber der Mann hinaus ins feindliche Leben! So meinst du’s doch, nicht?«
»Die Emanzipation der Frauen ist heute schon zu solch einer Selbstverständlichkeit geworden«, sagte Leo Thainacher, »dass wir uns darüber wirklich nicht zu streiten brauchen.«
»O doch. Mit Thomas schon! Er ist zwar bereit zuzugeben, dass heutzutage viele Frauen im Berufsleben einiges leisten, aber gefallen tut es ihm trotzdem nicht. Er würde es lieber sehen, wenn die Frauen Sklavinnen geblieben wären und in ewiger Anbetung zu ihren Männern als ihren Herren und Meistern aufschauen würden!«
Leo Thainacher lachte. »Cornelia, was ist los mit dir? So spitzzüngig kenne ich dich gar nicht.«
»Sie hat sich über mich geärgert«, Thomas Ramin legte seinen Arm um Cornelias Schultern, »weil ich ihr und den Kindern die Geburtstagsfreude verdorben habe.«
»Thomas! Wie kannst du so etwas denken? Das habe ich doch schon längst vergessen!«
»Wirklich?«
»Ganz bestimmt. Überhaupt, du weißt ja, dass ich manchmal gern dumm daherrede … für mich bist du der Herr und Meister, und ich bin froh, dass ich ihn in dir gefunden habe!«
»Bravo!« Leo Thainacher klopfte Beifall auf die Tischplatte. »Kannst du das nicht noch mal wiederholen, wenn meine Lotte dabei ist?«
»Jederzeit. Aber ich bin sicher, Lotte bewundert dich genauso wie ich meinen Thomas.«
»Warum seid ihr eigentlich nicht zusammen verreist?«, fragte Thomas Ramin. »Ich finde …«
»Ich weiß! Ich weiß! Eheleute sollen zusammenbleiben, bis dass der Tod sie scheidet. Aber ein kleiner Urlaub von der Ehe ist manchmal ganz erholsam.«
»Mir würde es überhaupt keinen Spaß machen, allein zu verreisen«, behauptete Cornelia.
»Ja, aber du bist auch ein Musterexemplar von einer Ehefrau. Nicht jedem gelingt es, sich einen lebendigen Engel einzufangen!«
Cornelia lachte. »Der Engel hat in weiser Voraussicht ein paar belegte Brote für die Herren der Schöpfung bereitgestellt! Entschuldigt mich eine Minute!«
Die beiden Herren setzten sich.
»Du weißt, dass ich seinerzeit nicht ganz mit deiner Heirat einverstanden war«, begann Leo Thainacher.
»Als Rechtsanwalt hättest du mehr Menschenkenntnis haben müssen!«, unterbrach ihn Thomas Ramin.
Leo Thainacher lächelte. »Du hast meine Bedenken immer missverstanden. Ich hatte niemals etwas gegen Cornelia, ich habe nur daran gezweifelt, dass du im Stande wärst, ein solches Ausnahmeexemplar glücklich zu machen.«
»Und jetzt? Wie siehst du die Dinge heute?«
»Cornelia hat es geschafft. Sie hat es fertiggebracht, selbst aus dir verknöchertem Juristen eine Art Mensch zu machen.«
»Danke«, sagte Thomas Ramin trocken. Er wusste, wie es Leo Thainacher meinte.
Die belegten Brote, die Cornelia auf einer silbernen Platte hereinbrachte, waren appetitlich garnierte kleine Happen: Pumpernickel, Käse und Radieschen, Tatar mit Sardellen, hartgekochte Eier mit Tomatenscheiben. Man aß, trank, knabberte Teegebäck, rauchte und war guter Dinge.
Um elf Uhr wollte der Hausherr eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank holen, aber Leo Thainacher machte einen anderen Vorschlag. »Wie wär’s, wenn wir ein bisschen bummeln gingen? Ich weiß, ihr beiden gehört zu den häuslichen Lebewesen, aber schließlich bin ich ja auch noch da. Ich möchte meine Strohwitwerfreiheit genießen, solange es möglich ist.«
»Magst du, Cornelia?«, fragte Thomas Ramin.
»Ich bin keine Spaßverderberin. Aber ich glaube, dazu müsste ich mich noch umziehen.«
»Mach dich schön, Cornelia!«, bat Leo Thainacher. »Alle sollen uns um dich beneiden!«
»Uns? Thomas hob die Augenbrauen. »Bis jetzt ist sie noch mit mir verheiratet!«
»Leider. Aber wenn sich das mal ändern sollte … ich bin jederzeit bereit, sie als Ehefrau linker Hand aufzunehmen.«
»Wüstling!«
Als Cornelia Ramin wieder ins Wohnzimmer kam, trug sie ein Cocktailkleid aus goldbraunem Samt, dessen halsferner großer Kragen ihre schönen Schultern und den Ansatz ihres kleinen, hoch sitzenden Busens freigab. Den beiden Männern verschlug es den Atem. »Donnerwetter!«, sagte Leo Thainacher. »Wo lässt du arbeiten, Cornelia?«
»Gefällt’s euch? Habe ich selber gemacht. Du weißt ja, ich kann ein bisschen schneidern.«
»Ein bisschen ist gut! Und die Schuhe, hast du die etwa auch selber zusammengeschustert?«
Cornelia hob den Fuß und betrachtete wohlgefällig ihren Krokodillederpumps mit dem hohen bleistiftdünnen Absatz. »Du überschätzt mich, Leo!«
»Verrat mir doch mal bitte, wie viel kostet so was? Lotte liegt mir ständig damit in den Ohren. Ein Paar Krokodillederschuhe sind seit langem ihr Herzenswunsch.«
»Die habe ich im Ausverkauf erwischt. Sie waren unverschämt billig.«
»Ich habe sie noch nie an dir gesehen«, sagte Thomas Ramin.
»Du hast kein Auge für so was, Thomas. Ich habe sie schon ein paarmal angehabt, aber anscheinend muss dich erst jemand darauf aufmerksam machen.« Zu dritt fuhren sie in Leo Thainachers Wagen nach Schwabing hinaus.
Im ›Fentilator‹ produzierte eine italienische Band heiße Rhythmen. Eine glutäugige, schwarzhaarige Schönheit tänzelte auf dem Podium, das Mikrofon dicht vor den grell geschminkten Lippen, und tönte den nichtssagenden, aber durchaus wohllautenden Text des Schlagers in das Lokal.
Es herrschte Hochbetrieb. Die Tanzfläche war gesteckt voll. Sie hatten Mühe, einen freien Tisch zu finden. Thomas Ramin spürte, dass viele Blicke sich bewundernd begehrlich und neidisch auf Cornelia hefteten. Es erfüllte ihn mit einem Stolz, den er selber als töricht empfand, eine so schöne Frau zu haben.
Es gelang ihm, einen kleinen Tisch in der Nähe der Tanzfläche zu erwischen. Thomas Ramin rückte Cornelia den Stuhl zurecht. Sie setzten sich. Leo Thainacher studierte die Getränkekarte.
Cornelia legte ihre schmale Hand, deren Fingernägel in einem Ton lackiert waren, der wunderbar mit ihren Lippen und dem Goldbraun ihres Kleides harmonierte, auf Thomas Ramins Arm. »Gefällt es dir?«, fragte sie lächelnd.
»Ein Höllenlärm!«
»Ich freue mich darauf, mit dir zu tanzen!«
Sie sahen den eleganten Herrn mit dem schmalen, gut geschnittenen Gesicht und dem dunklen Bärtchen auf der Oberlippe erst, als er sich vor ihrem Tisch verbeugte. »Gnädige Frau!«, sagte er strahlend, »welch reizende Überraschung, Sie wieder einmal im Nachtleben von München zu treffen! Darf ich … Er machte Anstalten, sich auf den vierten Stuhl zu setzen.
Cornelia erhob sich. »Ich bin mit meinem Mann hier, Herr Brunner«, sagte sie rasch. »Trotzdem … einen Tanz habe ich für Sie frei. Du erlaubst doch, Thomas?«
Er sah ihr nach, wie sie hinter Herrn Brunner im Gewühl der Tanzenden verschwand. Wer war dieser Mann? Woher kannte Cornelia ihn? Warum hatte sie nie von ihm erzählt?
»Leo …«, sagte er und wunderte sich, dass er im Stande war zu sprechen.
Leo Thainacher hatte nur kurz von der Getränkekarte aufgeblickt, als Cornelia zum Tanz geholt worden war. »Ich denke, wir trinken eine Flasche Sekt … wie wär‘s?«, sagte er.
»Kennst du diesen Mann?«
»Ich nicht. Du solltest ihn kennen.«
Immer wieder tauchte Cornelia in den Armen des Fremden im Tanzgewühl auf. Sie hatte den schönen Kopf mit dem honiggelben Haar in den Nacken gelegt und sah ihm lächelnd in die Augen. Die beiden schienen miteinander zu plaudern, während sie sich bemühten, ihre Tanzschritte im Rhythmus der Musik und dem Stoßen und Drängen der anderen anzupassen.
Thomas Ramin zündete sich eine Zigarette an. Er merkte mit Entsetzen, dass seine Hände zitterten.
»Leo … was würdest du tun, wenn du einen anonymen Brief bekämst?«
»Kommt ganz drauf an. Was stand drin?«
»Ich frage nur, ganz theoretisch.«
»Ach so. Es käme natürlich drauf an, um was es sich handelt. Wenn die Sache mir wichtig wäre, würde ich überlegen, wer Interesse daran gehabt haben könnte, mir so einen Brief zu schreiben. Meistens enthalten diese Wische ja nicht gerade etwas Erfreuliches. Möglicherweise würde ich Anzeige gegen Unbekannt erstatten.«
»Das meine ich nicht. Glaubst du, dass ein anonymer Brief ehrlich gemeint sein kann? Ich meine, dass er die Wahrheit enthält?«