Unsere anarchistischen Herzen - Lisa Krusche - E-Book

Unsere anarchistischen Herzen E-Book

Lisa Krusche

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Beschreibung

Nominiert für den aspekte-Literaturpreis 2021 Zwei junge Frauen: Charles und Gwen. Charles muss mit ihren Post-Hippie-Eltern aufs Land ziehen und will da unter keinen Umständen hin. Auf einen Kiosk, eine Palme und das Internet ist zum Glück noch Verlass. Und Gwen? Sie wohnt ganz in der Nähe und führt dort unbemerkt ein wildes, schmutziges Leben, um dem Wohlstand ihrer Eltern zu entkommen. Das Geld, das sie den Jungs aus der Tasche zieht, während sie mit ihnen schläft, spendet sie. Dass die beiden sich kennenlernen, ist definitiv überfällig. Lisa Krusche erzählt in ihrem Debütroman »Unsere anarchistischen Herzen« von den Zumutungen des gegenwärtigen Lebens. Wie soll man eigentlich rebellieren, wenn sich alles schon verloren anfühlt? Was einem bleibt, ist die Freundschaft. Und die entwickelt eine explosive Kraft. »Lisa Krusche beseelt alles durch ihre starksehnig poetische und quecksilbrig mischfreudige Sprache, und ihr endloser Einfallsreichtum zeigt mir – und den meisten anderen Dichtern deutscher Sprache – wie steinalt und roboterhaft wir inzwischen geworden sind.« Clemens J. Setz »Lisa Krusche entwirft ein phantastisches Panorama ... Überzeugend in den literarischen Mitteln und eminent politisch.« Klaus Kastberger, Jurymitglied Bachmann Wettbewerb

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Seitenzahl: 400

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Lisa Krusche

Unsere anarchistischen Herzen

Roman

Roman

FISCHER E-Books

Für alle Freund*innen

Die Welt ist an den Rändern und in den Tiefen blau. Dieses Blau ist das Licht, das verloren gegangen ist.

Rebecca Solnit

[…] und ich will, dass unsere Herzen offen sind. Da steht es jetzt. Ich will, dass unsere Herzen offen sind.

Leslie Jamison

Charles

Papa rennt nackt durch Charlottenburg.

»Schneller«, sage ich zu Achim, dem Uberfahrer, »wir müssen ihn vor der Polizei erwischen. Papa war mal Autonomer, sein Verhältnis zu der Polizei ist nicht das Beste.«

Achim, eine Hand am Steuer, die andere schnipst die eben gerauchte Kippe aus dem Fenster, beschleunigt.

»Was ist er jetzt?«, fragt er.

»Ein armer Irrer«, sage ich und deute auf Papas nackten Hintern am Ende der Straße. Hin und wieder verschwindet er hinter Menschen, Bäumen, Mülleimern, Autos, um dann wieder aufzutauchen, strahlend weiß und unendlich peinlich.

»Ne Verfolgungsjagd hatte ich noch nie«, sagt Achim.

»Ist das nicht die Königsdisziplin des Uberfahrens?«

»Das sind die Überlandfahrten. Da kommt richtig Geld in die Taschen.«

»Ach Achim, es geht doch nicht immer nur ums Geld.«

»Na hör mal. Man muss doch von irgendetwas leben.«

»Klar«, sage ich.

»Was hat’n dein Vater da eigentlich in der Hand?«

»Einen Kopf«, sage ich.

»Ah«, sagt Achim, obwohl er es natürlich nicht versteht. Wie auch. Er kann ja nicht wissen, dass der Kopf, den Papa da gerade in der Hand hält, der seines ehemaligen Galeristen ist.

»Der ist nicht echt«, sage ich, »das ist eine Nachbildung. Papa ist ein Irrer, kein Mörder. Noch nicht.«

»Na, da bin ich aber froh«, sagt Achim.

»Ich auch.« Mein Handy klingelt. »Hi.«

»Hey, Charli. Was ist los? Ich sitz auf dem Rad und bin auf dem Weg.«

Ich grinse, Gustavs Stimme zu hören tut gut.

»Platz da, Achtung. Tschuldigung, ja, das ist kein Fahrradweg, aber ich mach hier eine Verfolgungsjagd, tut mir sehr leid.«

Ich halte das Handy ein Stück vom Ohr weg, während Gustav auf seine ewig höfliche Art Passanten anschreit.

»Auch einer von deinen Verwandten?«, fragt Achim.

»Nein«, sage ich, »besser. Gustav. Der beste Freund meines Lebens.«

»Bist du nicht zu jung, um so was behaupten zu können?«

»Manche Sachen weiß man halt.«

»Hallo?«

»Hi.«

»Dachte schon, du wärst weg.«

»Wollte nur keinen Hörsturz bekommen.«

»Entschuldige. Die Leute wieder. Leben und Tod hin oder her, Hauptsache ist ja immer, dass die Verkehrsregeln gewahrt werden. Versteh mich nicht falsch, ich bin auch für Verkehrsregeln …«

»Gustav.«

»Ja?«

»Wir sind hier auf einer Mission.«

»Okay, nicht abschweifen, verstehe. Also, wo seid ihr?«

»Kurz vor Papas Galerie.«

»Will er dahin?«

»Keine Ahnung. Ich schätze mal.«

»In Ordnung. Wir treffen uns dort. Bis gleich.«

Ich lege auf. Papa rempelt einen Mann an, der schreit ihm gestikulierend hinterher, Papa dreht sich nicht mal um.

»Sportlich, dein Vater.«

»Das sind die Drogen, die halten jung.«

»Bist du vielleicht auch eine arme Irre?«

»Das frage ich mich auch manchmal. Aber ich glaube, so lange man sich das fragt, ist alles noch ganz okay.«

Papa stoppt.

»Halt an, halt an. Warte hier. Alles klar?«

»Klar«, sagt Achim, setzt den Blinker und macht sich noch eine Zigarette an. Ich springe raus, knalle die Autotür zu.

»Das ist keen Panzer hier.«

Ich sprinte zu Papa.

»Kapitalistenschweine.«

Ich muss lachen, wie er da steht, mein Vater, so verloren und so nackt, und seiner Galerie vorwirft, an Geld interessiert zu sein. Ein paar Menschen sind stehen geblieben und gucken sich das Spektakel an, andere gehen einfach vorbei, man kann nicht bei jedem verrückten Nackten stehen bleiben.

»Hey!« Gustav springt von seinem Rennrad und lässt es auf den Boden knallen.

»Papa, komm mal runter«, sage ich.

Papa reckt die Hand mit dem Kopf in die Luft und taumelt leicht von links nach rechts.

»Was ist das?«, fragt Gustav.

»Er hat sich eine Puppe von seinem Galeristen genäht. Wegen Kokoschka und so. Gestern wollte er sich dann feierlich von ihr trennen. Um einen Schlussstrich zu setzen.«

»Ist aber etwas ausgeartet?«

»Kann man so sagen.«

Papa grölt jetzt zusammenhanglose Textfetzen von Leonard-Cohen-Songs, schwenkt die Arme in der Luft und wiegt sein nacktes Becken hin und her. Sein Penis schlägt gegen seine Oberschenkel, links, rechts, links, rechts. Wenn später in meinen Leben etwas schiefgehen sollte, werde ich es immer auf diesen Moment schieben.

»Oh. Wir sind in der Cohen-Phase.«

»Wir sind in der Cohen-Phase«, wiederhole ich, »und zwar in der, wo nicht mal mehr die Texte sitzen.«

»Das ist Kunst, Gusti, Kunst«, sagt Papa.

»Nein«, sagt Gustav.

»Wirklich nicht«, sage ich, »das ist scheiße, Papa.«

Gustav holt einen Bademantel aus seinem Rucksack.

»Dafür liebe ich dich«, sage ich. Als ich vorhin Palomas Nachricht bekommen habe, sie hätte gerade eventuell meinen Vater nackt an sich vorbeilaufen sehen, bin ich einfach los, einen schnellen Griff in das wenige geheime Geldfach meiner Eltern, das war’s.

»Zieh das mal an jetzt«, sage ich und reiche Papa den Mantel.

»Ernsthaft«, sagt Gustav.

Etwas in Papa sackt zusammen. Sein Blick kippt von manisch zu leer. Er legt den Kopf neben sich. Während er umständlich die Arme in die Ärmel steckt, schaut er Gustav an wie ein treudoofer Hund.

Ich spucke mein Kaugummi auf den Boden, ziehe ein neues aus der Hosentasche, schnipse Papa das Silberpapier gegen den Kopf und stecke mir den Streifen in den Mund.

»Alles klar. Lass uns fahren«, sage ich.

Papa nickt wieder nur. Ich greife nach seiner Hand, die so groß ist wie immer, obwohl er mir irgendwie kleiner vorkommt, und wir gehen zum Uber. Gustav trägt den Kopf hinter uns her.

»Weiß deine Mutter Bescheid?«

»Nein. Die macht einen Kurs zum Thema Improtanz und Selbsterkenntnis.«

Ich verdrehe die Augen.

»Könnte ich vielleicht, also ich würde gerne, wirklich gern kiffen«, sagt Papa.

»Kannst du, wenn du zu Hause bist. Bis dahin gibt Achim dir vielleicht eine Kippe ab.«

»Wer ist Achim?«, fragt Gustav.

»Ich«, sagt Achim, der an seinem Uber lehnt.

»Okay«, sagt Gustav, »ihr fahrt mit dem Auto, ich komm mit dem Fahrrad nach. Alles klar?«

»Klar«, sage ich.

»Klar«, sagt Achim.

Ich drehe mich noch mal zu Gustav.

»Danke«, flüstere ich.

»Immer«, sagt Gustav.

Papa stößt sich den Kopf bei dem Versuch, ins Uber einzusteigen.

»Aber nicht übergeben«, sagt Achim.

»Das ist auch so eine Standartphrase von euch Uberfahrern, oder?«, frage ich.

»Mach du mal ständig die Kotze fremder Leute weg, dann weißt du, was ich meine.«

Ich nicke. Wir fahren los, dieses Mal langsamer, das ist nicht halb so lustig, insgesamt kommt mir das jetzt alles nur wenig witzig vor. Aus dem Fußraum glotzt mich der Kopf an.

»Was ist denn jetzt mit dieser Zigarette?« Papa sitzt breitbeinig in der Mitte der Rückbank. Der Mantel bedeckt nur knapp all das, was er bedeckten sollte.

»Hier darf nur der Fahrer rauchen«, sagt Achim.

»Noch einer«, sagt Papa und rollt sich zusammen, »der mir nicht das geben will, was ich verdiene. Ich verdiene das.« Er fährt mit dem Zeigefinger die Nähte der Rückbank nach.

»Mensch, Achim«, sage ich, »jetzt gib Papa mal was zu Rauchen. Ist doch Quatsch.«

Achim guckt mich an, dann greift er in seine Hemdtasche und gibt mir die Zigarettenpackung.

»Ich hab irgendwann mal ein bisschen soziale Arbeit studiert«, sagt er, »und das Wort, das mir hierfür einfällt, ist dysfunktional.«

»Dafür muss man aber nicht studiert haben«, sage ich. »Feuer.«

»Aus dir würde mal ein guter Chef werden«, sagt Achim.

»Mit solchen Eltern«, sage ich, »braucht es das.«

Achim lächelt. Ich ziehe eine Zigarette aus der Packung, drehe mich um, stecke sie Papa in den Mund und zünde sie an.

»Zieh«, sage ich und Papa zieht.

»Gut«, sagt er und dann raucht er eine Weile. Achim fährt das Fenster hinten runter.

»Charli Charles«, sagt Papa, »wir dürfen das nicht deiner Mama sagen. Die dreht durch sonst, ganz durch.«

Gwen

Außenspiegel abtreten und Fensterscheiben einwerfen und Motorräder demolieren färbt die Welt ganz rosa, so ein Rosa wie an den Rändern des Horizonts, wenn die Nacht in den Tag übergeht. Nie nachdenken, nichts zurückhalten, immer drauf, Wut nehmen und zuschlagen, so funktioniert Zerstörungsmodus. Sich mit dem Körper gegen die Dinge stellen, Bewegungen gegen Besitztümer; und ich weiß, woran ich erkennen kann, dass es die Richtigen trifft. Andere zu schlagen, ist was anders, darin fehlt mir die Übung. Aber der Gedanke daran löst so ein Flirren in mir aus, und ich hoffe, es könnte golden sein.

»Mach du«, flüstert Mo mir zu und meint den Typen, der gerade »gebt doch lieber gleich auf« über den leeren Parkplatz gerufen hat. Seine Freunde grölen, er springt auf und ab, erhobenen Hauptes, das Lächeln adrenalinlüstern, ein Körper in euphorischer Anspannung. Ein seit Jahren geschlossener Supermarkt schirmt uns von der Straße ab. Die Gräser zwischen den Pflastersteinen stehen hoch, an der Fassade ranken Brombeeren, vereinzelt stehen alte Einkaufswagen herum, voller Laub und Müll, teils umgekippt, fehlende Räder, demoliert. Eine Plastiktüte weht über den Platz, erhebt sich in die Luft und sinkt wieder, wirbelt umher, verstrickt in einen selbstvergessenen Tanz. Meine Zahnoberflächen so glatt, ich fahre mit der Zunge darüber. Ich habe noch einen Milchzahn, darunter kommt keiner nach, deswegen darf er nicht verlorengehen.

mein einziges heiligtum: ein letzter milchzahn

Mos Atmen dicht hinter mir; ich will; aber mein Zögern; aber der Zahn.

»Traust du dich doch nicht?«, fragt Mo.

Seine Stimme leise, ich denke: zärtlich, Wärme, die sich in meinem Nacken ausbreitet.

»Traut sich nicht«, sagt Dennis.

Kopfnicken in meine Richtung, bufft Vince in die Seite. Vince macht sich noch ein Bier auf. Das ist von seinem Vater, der merke das nicht, hat Vince gesagt und selbst gar nicht bemerkt oder nur so getan, als hätte das nicht etwas mit der großen Verlorenheit zu tun, in die wir alle involviert sind.

Echt jetzt, will ich fragen, aber ich weiß eigentlich gar nicht genau wen, die anderen oder mich.

»Wir sind nicht zum Spaß hier«, kommt es von der anderen Seite.

Idiotisch, denke ich, diese immer gleichen Sätze und das Einzige, was zwischen ihren Wiederholungen wächst, wie die Halme zwischen den Steinen, ist eine immer größere Abgeschmacktheit. Und auch das: Wir sind zum Spaß hier. Haben uns über Rumblr verabredet, opferlose Gelegenheitskämpfe kostenlos, komm zusammen mit anderen, die jemanden auf die Matte werfen wollen. Anonym, effizient und mit guten Tipps für angemessene Treffpunkte. Die App schockierte bei Erscheinen niemanden wirklich, Schock ist ohnehin so eine abgenutzte Kategorie. Aber vielleicht liegt der Spaß doch in der Ernsthaftigkeit, der angestrebten Vernichtung des Gegenübers. Ziel ist es immer, denke ich an den Thaiboxtrainer von YouTube, das Bein zu brechen. Ich denke, eigentlich bin ich nicht zum Denken hier. Ich denke an alles, was ich mir geschworen habe. Dann endlich gerate ich in Bewegung.

»Ja, Mann!«, ruft Vince mir hinterher.

»Na also«, höre ich Mo sagen.

Der Typ über meinen Kopf hinweg: »Echt jetzt, ihr schickt ein Mädchen?«

Und alles wird rot. Es fließt über den Parkplatz, Fluten ohne Wellenbewegungen, nur ein massives Rauschen. Es umspült das Silber der Einkaufswagen, bedeckt die verlotterte Fassade des Supermarkts, umhüllt die dunkelgrünen Brombeerblätter, verschluckt die Plastiktüte. Meine Wut ist größer als ich, sie ist alles, was ich bin, und noch mehr, sie ist meine Hingabe, sie ist überall, und das ist gut, weil sie dann auch in jeder meiner Bewegungen ist.

Wann verschwindet ein Mann? Wie sehr lässt sich die Textur des Gesichts, des Körpers verändern, wann verliert sich das Menschliche? Und meine Verzweiflung lässt sie sich mit den Körperflüssigkeiten des anderen auf dem Boden ausbreiten? Meine Unzulänglichkeiten, meine Unfreiheiten, der andere, wann beginnt die Auflösung und fühlt sie sich nach Erleichterung an? Ein Körper unter meinem Schambein, der aufgegeben hat, ein Körper wie Puddingmasse, Erhabenheit kickt rein. Gold war immer meine Lieblingsfarbe, weil es so etwas Warmes hat, und wie es sich über die ganze Welt ergießt, über mein Inneres, und alles erhellt, wie die Sonne, die das Nachtblau in etwas Linderes verwandelt. Arme, die mich aufhalten wollten, Stimmen, die mich zur Mäßigung aufrufen, aber wie will man die aufhalten, die nichts zu verlieren haben, außer die Kontemplation in den Abfuck? Mo, der mich wegzerrt. Die Freunde des Jungen, die sich an seinem Körper zu schaffen machen. Was mit mir los sei. Wie psycho könne man sein. Ich höre mich sagen, wir seien doch nicht zum Spaß hier. Ich taumle über den Parkplatz, benommen von der Klarheit der Welt. Alles liegt so scharf umrissen da. Ich fühle mich riesig, aus mir selbst herausgeplatzt. Ich denke an Hulk, ein blanker Nerv. Komplett durchgeknallt die Alte, sagen sie. Einer telefoniert. Das Gesicht ganz weiß. Gott, denke ich, wir sehen alle wie Babygespenster aus. Blaulicht, das durch die Lücken zwischen den Gebäuden unheilvoll zu uns herüber blinkt, immer näher kommt, die Jungs irgendetwas am Fluchen, ich stehe nur da, die Verästelungen des Blutes auf den Steinen, hoffentlich kriege ich die Hände hoch, und das Sirenengeheul fickt mein Trommelfell, und Dennis schreit, wir müssten uns jetzt verpissen hier jetzt. Ich neige den Kopf zum Himmel, es kommt immer darauf an, aus welcher Perspektive man sich die Bilder anschaut, und heule wie ein Hund, für den die Sirenen klingen, wie das mystische Rufen des großen Wolfs. Alle schauen mich an. Ihre Angst materialisiert sich in lilafarbenen Schauern. Vor nichts fürchten sie sich mehr als vor einer verrückten Frau, darüber müsste man mal nachdenken. Aber das Sirenengeheul hart und härter und Dennis versucht, mich zu ziehen, und Vince brüllt, ob ich jetzt komplett durchgebrannt sei, ich solle jetzt mitkommen, das seien die Scheißbullen. Mein Herz ist ganz leise.

»Dann fick dich halt«, ruft Dennis, schon fast verschwunden.

Quietschende Reifen, zurückkehrendes Blau und der Gedanke an das Gesicht meiner Mutter, wie sie auf dem Bildschirm der Sicherheitsanlage ihre Tochter in Obhut der Polizei sieht. Ich renne los, irgendwohin, ich kenne mich hier überhaupt nicht aus, vom Parkplatz, durch die Siedlung, über den Hof einer Grundschule, ein Zaun, noch ein Zaun, eine Kleingartensiedlung, noch ein Zaun und zwischen zwei Holzstapeln lehne ich mich an eine Hütte. Durch die Nase einatmen und durch den Mund aus, sage ich mir selbst vor. Die Sträucher haben mahnend ihre kahlen Äste erhoben, als wollten sie sagen, nicht alles, was glänzt, ist golden. Mein Körper dampft, meine Beine brennen, ich fühle mich so wolkig. Der Himmel ist vollkommen blau. Ich stelle mir meinen Schweiß silbern vor, wie eine Schneckenschleimspur an meiner Flanke bis zur Taille.

willst du silber von meiner taille lecken, schreibe ich Mo.

was?

egal

wo bist du?

irgendwo

was war das für 1 total dumme aktion?

war doch die idee von uns allen

nee voll nicht nicht so

Ich schicke den schulterzuckenden Smiley; es ist ein Lebensstil.

sind jetzt bei mcces

ok, schreibe ich, komme dahin

Keine Antwort, aber blaue Haken, ich laufe wieder los, diesmal locker wie bei einem morgendlichen Lauf, um gut in den Tag zu starten, und wie ich es nie mache, weil ich nicht weiß, warum man das überhaupt starten sollte, Tage.

 

Mo steht vor McDonald’s und macht riesige E-Zigarettenrauchwolken. Erdbeergeschmack. Sie umhüllen ihn, als wäre er eine magische Erscheinung. Er hat ein McFlurry in der Hand.

»Willst du?«, fragt er.

»Danke«, sage ich.

»Ist eh schon fast geschmolzen.«

»Aha. Wo sind die anderen?«

Smarties crunchen in meinem Mund, ich mag, dass sie immer so farbig Schlieren ziehen, und am Ende ist doch alles braun.

»Schon los. Wollen noch bei Dennis abhängen, einen buffen und bisschen Zocken.«

»Hm.«

Er steckt die E-Zigarette ein und setzt seine Kapuze auf. Ich schmeiße den Becher in den Müll und ein Kaugummi in meinen Mund. Melone.

»Was sollte das eigentlich von wegen Silber?«

Ich zucke die Schultern und hebe die Hände wie der Smiley, und Mo grinst mich an, unverschämt zweifelnd, aber leider auch süß.

»Hast du Bock?«

Er nickt mit dem Kopf Richtung Garagen. Ich zucke wieder die Schultern. Hinter der Garage wachsen zu viele Brennnesseln, ich fasse rein, während ich mich an der Wand abstütze, es brennt, hinter mir Mo, alles schmeckt nach Melone, ich muss an die schwebende Plastiktüte denken, während das Kaugummi langsam immer labbriger wird, und alle Farben von allem sich vermischen und zu einem einzigen Braun werden, Leben ist auch nur wie schmelzendes Smartie-Eis, und dann ist Mo fertig, zieht raus, das Kondom bleibt stecken, und ich gehe leicht in die Hocke, fingere es raus und werfe es auf den Boden.

»Ciao«, sagt Mo.

»Ciao«, sage ich.

Charles

»Wir sind da«, sagt meine Mum.

Sie klingt verstörend fröhlich dabei. Ich gucke aus dem Autofenster. Draußen nur Grün. Ein Kiesplatz vor einem Haus, das hellblau und gelb und rosa gestrichen ist. Am Gartenzaun steht eine Frau im pinken Kimono, darunter einen türkisen Badeanzug, Blumenmuster aus den 80ern, sie raucht. In ihrem Gesicht schimmert eine grüne Gesichtsmaske. JWD ist tatsächlich ein Ort. Hier ist noch weniger los. Es ist nichts. Es ist Heinde. Ich werde jetzt hier leben. Die Sonne scheint und spiegelt sich nirgendwo, strahlt nur die Felder an. Der Sommer hier ist wie der Sommer in Berlin. Nur ohne Berlin.

»Hier ist ja gar nichts«, sagt mein kleiner Bruder. Zwischen uns liegt der Seesack von Papa mit den Überresten seines Galeristen, Nico legt seinen Kopf darauf ab. Papa sitzt auf dem Beifahrersitz, steckt sich eine Zigarette in den Mund, zündet sie an und schließt die Augen. Meine Mum wirft ihm einen Blick zu, ganz kurz. Sie kapiert ihn nicht mehr. Seit seinem Ausbruch ist ihr alles noch egaler als sonst und mit alles meine ich uns. Ich kapiere beide schon lange nicht mehr, aber Mama noch weniger, seit sie entschieden hat, dass es jetzt genug sei mit Berlin. Mal rauskommen. Mal was anderes sehen. Weiterziehen, nicht steckenbleiben. Entkommen. Keine Ahnung, welches Horoskop oder welche Traumdeutung sie dazu bewogen hat und keine, wie man dem Wahnsinn entkommen will, wenn er sich doch offensichtlich einfach in einem Auto transportieren lässt.

»Missy!«, ruft sie und winkt euphorisch. Sie steigt aus, kickt die Sandalen von den Füßen und läuft barfuß zu der Frau.

»Allen Ernstes«, sage ich, »wtf.« Ich lehne mich zu Papa nach vorne. Ich puste ihm gegen die Wange. Er blinzelt.

»Papa«, sage ich, »wir müssen jetzt mal alle klarkommen. Und wir müssen das mit Mama regeln.«

»Ich glaube«, sagt Papa und lächelt, »ich mach hier eine Ausstellung. Was Skulpturales. So viel Platz. Und bei der Vernissage werde ich einen Dackel auf die doppelte Größe aufblasen.«

Ich lege meinen Kopf neben den von Nico und schließe die Augen.

Gwen

Draußen auf dem Flur heult ein Motor auf, in mir drin wird alles in vibrierendes Rot getaucht, es läuft aus der Mitte meines Bauches in beide Richtungen, bis ich ganz eingehüllt bin, vor allem meine Gedanken. Es gibt diesen Punkt im Bauch, da sitzen Ruhe und Wut gleichzeitig, und es kommt immer darauf an, wie man die Sachen angeht, aber auch darauf, was die Sachen sind. Manchmal hilft Atmen, aber eigentlich hilft es nie, und das Rot verankert sich molekular. Ich öffne die Tür meines Zimmers, obwohl ich es gar nicht will, aber was will ich eigentlich, und draußen steht Fritz im Flur, vor dem Biedermeierschränkchen, auf dem die Nelken der marmorierten Vase erste Anzeichen des Verwelkens zeigen, dahinter ein Spiegel im Goldrahmen, der nicht aufhören kann, das Szenario zu verdoppeln, Fritz und die 125er, auf der er halb steht, halb sitzt. Wie er sich die blonden Haare zurückstreicht, diese Grübchen in seinen dicken roten Wangen.

»Die haben es mir nicht geglaubt, dass ich es schaffe, die Treppe hochzukommen.«

Sein Lallen, das Instabile seines Sprechens, das Instabile seines wankenden Körpers. Wo sind eigentlich meine Noise-Cancelling-Kopfhörer, die ich mir extra angeschafft hatte für Situationen wie diese, obwohl ich sie eigentlich nicht mag.

was ist schlimmer: sich atmosphärisch abdichten und untergehen in diesem sound des klopfenden herzens oder das draußen hören?

»Könnt ihr vielleicht«, sage ich und atme tief ein und aus, »ein bisschen leiser sein?«

Fritz lässt das Motorrad auf den Boden fallen, das wird Kratzer im Parkett geben, aber weil er ein Freund meiner Eltern ist, wird es einfach stillschweigend wegpoliert werden, und hebt die Hände.

»Schon gut, schon gut. Wollte ja nur mal beweisen, dass ich es schaffe, entspann dich, ich bin jetzt ganz leise.«

Sein Finger auf seinen fleischigen Lippen, Beschwichtigungsgesten, sein Siegelring passt zu seinem Tweedjackett, manieriert bis zum Erbrechen.

»Die haben es mir nicht geglaubt.«

Fritz schüttelt ungläubig den Kopf, dann lacht er.

»Komm doch mit runter und erzähl ihnen davon, du kannst mein Pit-Babe sein.«

Er baut sich vor mir auf, sein Atem riecht nach Gin, das Rot schwappt schon über die Ränder. Ich will mich umdrehen, verschwinden, da geht nebenan die Zimmertür auf. Chris’ Gesicht taucht im Spiegel auf, milde verwirrt, er versucht zu begreifen, schaut Fritz an, sieht sein Motorrad auf dem Boden liegen, schaut wieder Fritz an, seine Augenlider werden flatterig, die Verwirrung und alles andere an ihm kippt ins Zornige.

»Fick dich, Fritz«, sagt er, und er sagt es so, als würde er ihm gleich eine reinhauen, als könnte Fritz noch froh sein, dass er ihn erstmal nur beleidigt, ein wohltätiger Aufschub, es ist so schön, wie gleich wir sind, beide mit so viel Wut.

»Was denn, ich musste nur mal was unter Beweis stellen.« Fritz dreht sich zu Chris.

»Kümmer dich lieber um deine zerrüttete Familie, statt hier so einen Terror zu schieben und meine verfickten Sachen zu benutzen«, sagt Chris.

Fritz schaut ihn verdutzt an.

»Also das ist wirklich das Letzte.«

Fritz steht so da und schwankt ein bisschen, von der Seite sieht sein Gesicht noch feister aus.

»Verpiss dich jetzt«, sagt Chris, und gleich wird es lustig, gleich fliegt Fritz hier aus dem Fenster, wenn es so weitergeht, man kann spüren, wie die Grenze in Chris erreicht ist, und morgen muss Alicia alles wegmachen, ganz heimlich, damit die Leute nichts zu denken haben. Damit hat sie bestimmt auch nicht gerechnet, dass sie hier nicht bloß die endlos vielen Flure wischen, sondern auch immer die Spuren unseres Familienlebens einsammeln muss.

magst du es wie die dinge am boden zerschellen?

Ich mache die Tür zu. Der schwankende Fritz wirft sich noch kurz als Projektion meiner Netzhaut auf die Holzschnitzereien, ich blinzle es weg.

 

Ich rauche langsam und gucke dabei über die Stadt. Im Dunkeln, und wenn man von oben drauf guckt, ist Hildesheim am schönsten, die Lichter, als wäre alles friedlich und magisch und schön. Das Steingeländer vom Balkon noch warm von der Sonne, ich baumle mit den Füßen in die Nacht hinein. Hinter dem Haus rauscht der Wald leise im Wind. Von unten hört man manchmal die Stimmen der Erwachsenen durch das Fenster dringen, abwechselnd mit dem Schlager, den sie hören. Heile Welt für die, die tief in ihrem Inneren davon überzeugt sind, nichts befürchten zu müssen, und doch voller Angst. Mein Vater ist heute zurückgekommen, das wird gefeiert. Drinnen klopft es, ich inhaliere und puste den Rauch um mich herum, wie eine Wolke, die meinen Kopf schützt, bitte lass es nicht meine Mutter sein, die eine zynische Rede über die Bedeutung von Familie halten will, oder Fritz, um mich doch noch als Zeugin zu gewinnen. Ich drücke die Zigarette aus, manchmal sehne ich mich nach Schlampigkeit, einem unachtsamen Schnippen in die falsche Richtung, und wie alles auf einmal Feuer fängt. Chris kommt rein. Er schmeißt sich aufs Bett, ich bleibe mitten im Zimmer stehen. Er sieht nicht gut aus, Blick diffus.

»Ich hasse sie«, sagt er.

»Wen?«, frage ich.

»Alle«, sagt er.

»Ja«, sage ich und leg mich neben ihn, wir starren die Decke an und fühlen uns mies.

»Hast du was genommen?«

»Geht dich gar nichts an.«

»Okay.«

»Bisschen Emma.«

»Willst du eine Kippe?«

»Du rauchst?«

»Eigentlich nicht.«

»Ich nehm eine«, sagt er, und ich gebe sie ihm und nehme selber auch eine. Der Rauch steigt in sanften Kringeln Richtung Stuck.

»Guck, was er mir geschenkt hat«, sagt Chris.

Er hält mir den Arm hin, am Handgelenk eine Uhr, viel zu groß und protzig und typisch unser Vater eben.

»Weil er in Thailand meinen Geburtstag vergessen hat.«

»Wie sieht er aus?«

»Mies.«

Ich nicke, war klar, mein Vater kommt immer fertig wieder und sagt, es wäre wegen dem Stress und den vielen Geschäften. Ich schätze, dass es wegen Alkohol, der Nutten und einer Vorliebe für Sex ohne Gummi ist.

Meistens ist in mir drin alles blau, ganz dunkelblau, wie sehr weit unten im Meer.

ich schwimme durch mich selbst hindurch und habe meine taucherbrille in der umkleide liegen gelassen das heißt ich bin ein blindfisch

Ich schaue von meinem Telefon auf.

»Nicht mein Fall«, sage ich und meine die Uhr und das Auto und den Versuch, sich das Gewissen reinzukaufen, als ginge das, als würde so eine Uhr oder sonst was es irgendwie besser machen.

»Meiner auch nicht«, sagt Chris.

»Ich kenn wen, der könnte damit was anfangen«, sage ich.

»Vielleicht tausch ich sie gegen Gras«, sagt Chris, steht auf und dreht sich in der Tür noch mal um.

»Was ist das für ein Leben, Gwen?«, fragt er und ich schaue ihn an und er mich.

& ich habe keine antworten ich habe keine einzige mit augen die nicht für die umgebung gemacht wurden es lässt sich nichts erkennen und nichts begreifen im verschwommenen

Ich lege den Kopf schief und will ihn fragen, was ist los, woher kommt das, sonst bist du doch nicht so, nimm dann doch ruhig immer diese Drogen, aber Chris dreht sich um und zieht die Tür hinter sich zu.

Charles

Manchmal ertappe ich mich, wie ich früher war alles besser denke. Wir sind noch keine Stunde hier. So ist das. Manchmal ist früher eben. Früher ist, als ich noch in Berlin gelebt habe. Früher ist, als ich mit dem Fahrrad zu Gustav fahren konnte. Früher ist Graffiti, Allee der Kosmonauten, Döner für zweifünfzig. Früher ist Freunde haben, ist Eisfabrikdachfrühstück, ist Karl-Marx-Café, ist Zauberkönig in Neukölln. Früher ist auf Open-Air-Festivals schleichen, früher ist am Wochenende nachmittags Schnappschussbilder von ans Licht tretenden Raver*innen machen.

»Na, Schätzchen, kommst du erstmal an?«, fragt mich Missy. Sie hat den Kimono ausgezogen und steht seit geraumer Zeit nur noch im Badeanzug da und beobachtet mich, wie ich das Haus beobachte. Ich versuche klarzukommen, sie versucht, nicht beim Auspacken zu helfen.

»Ich fasse es nicht«, sage ich.

Hippiekommune auf dem Land, da denkt man an so ausgewaschene Erdtöne, maximal Batik, aber hier knallt es, meine Netzhäute stehen kurz vor dem Burnout wegen lauter Primärfarben. Saturation auf Max. Überall Mobiles aus Naturfundstücken, Windlichter und kleine und große Truhen und Miniaturelefanten und Räucherstäbchenhalter und Blumengirlanden und ein Gong und Sitzpoufs und Sitzsäcke und Hängematten und Säbel und Revolver an den Wänden und Fotografien ohne Ende und Bücherstapel.

»Ich liebe Farben«, sagt Missy.

»Ja«, sage ich, »das muss man hier auch.«

»Das meiste hier habe ich gemacht. Ich wollte ja auch mal Künstlerin werden.«

»Oh«, sage ich und denke mir das Nein dazu.

»Ist aber nichts für mich. Der Kunstmarkt kann einen nur zerstören. Du siehst es ja bei Rufus.«

Ich gucke sie an, sie nimmt einen tiefen Zug. Die Zigarette kommt kaum mit dem Abbrennen hinterher.

»Man muss Opfer bringen, sich selbst am Ende. Weißt du Schätzchen, das größte Kunstwerk ist das eigene Leben.«

»Da muss man sich selbst am Ende aber auch opfern«, sage ich.

Missy lacht auf. Sie hustet.

»Fred hat mir viel geholfen.« Sie deutet auf eins der Fotos. Man sieht einen jungen Mann an einen Baum gelehnt, nackt, lange braune Haare, Joint im Mundwinkel, aber ein Bauch, als würde er seine gesamte Zeit damit verbringen, Sport zu machen.

»Wo war das«, frage ich, »Woodstock?«

Sie lacht wieder. »Du hast was, Kleines. Gilda hat eigentlich nichts gemacht hier«, sagt sie, »du weißt ja, sie ist einfach. Na ja. Einfach in anderen Sphären.«

»Wer ist Gilda?«, frage ich.

»Freds Frau«, sagt Missy, »die beiden fanden es lustig zu heiraten. Vielleicht ging es auch um die Steuereinsparungen. Jedenfalls wohnt sie hier. Haben Rufus und Nelly dir nichts erzählt?«

Ich schüttle den Kopf.

Ich habe aber auch nicht besonders viel gefragt. Fragen führen bei meinen Eltern selten zu Antworten und öfter zu tiefgreifenden Verstörungen.

»Wir ziehen weg«, hat Mama eines Abends verkündet und wirkte ungemein begeistert dabei.

»Niemals«, habe ich gesagt.

Sie hat das Wohnungskündigungsschreiben auf den Tisch gelegt und gesagt »auf jeden Fall« und wie immer, wenn sie sich was in den Kopf gesetzt hat, war sie sich ihrer Sache absolut sicher. Nur, dass diese Sache viel idiotischer war als alles zuvor, und das will schon was heißen. Nico hat es nicht richtig mitbekommen, und Papa hat überhaupt nicht gecheckt, was abging, weil er seit seiner Nacktraserei dauerhaft irgendwelche Pillen nahm, die ihn halbwegs sedierten. Ich war die Einzige, die die Katastrophe aufhalten konnte.

»Ich geh nicht aus Berlin weg, mir egal«, habe ich gesagt.

»Es ist das Beste für uns alle«, hat Mama gesagt.

»Es ist einfach nur irre«, habe ich gesagt.

»Es ist eine Chance für uns alle«, hat Mama gesagt. »Ist eh viel besser so eine Umgebung für ein junges Mädchen.«

»Willst du mich jetzt verarschen?«

Auf einmal tut sie einen auf besorgte Mutter. Ich habe meine ganze Kindheit in der Großstadt verbracht und es hat mich nicht gekillt. Wäre ich ein Rapper würde ich sagen: Die Straße hat mich hart gemacht. Mein Block und so weiter. Jetzt ist nichts mehr mit mein Block. Jetzt ist Hippiekommune und Hühner und so ein Scheiß.

»Warum denn?«, habe ich noch gefragt.

»Weißt du«, hat Mama gesagt, »ist doch schön, erholsam. Ich wollte eigentlich schon immer im Grünen leben. Mehr Raum für neue Ideen.«

»Wir brauchen alle mal eine Verschnaufpause«, hat sie gesagt.

»So kann es jedenfalls nicht weitergehen.«

»Etwas muss sich ändern.«

»Warum muss das unser Wohnort sein und nicht einfach ihr?«, habe ich gesagt.

»Charles«, hat sie gesagt, »ich gebe hier mein Bestes.«

»Das«, habe ich gesagt, »höre ich seit meiner Geburt. Und es ist nicht genug.«

»Und wohin wollen wir überhaupt ziehen?«

»Zu alten Freunden von uns. Sie haben ein Haus in einem niedersächsischen Dorf. Viel Grün, viel Platz, direkt an einem Fluss.«

»Das klingt furchtbar«, habe ich gesagt.

»Du kannst Nico und mich doch nicht aus unseren gewohnten Strukturen reißen.«

»Ich dachte, Papa ist der, der irre ist, und nicht du.«

»Das kannst du echt nicht bringen. Kinder brauchen zumindest ein Mindestmaß an Stabilität, und wenn es nur die Stadt ist«, habe ich gesagt. Aber wie eigentlich immer waren die Organe der Macht nicht durch bloßen Widerspruch aufzuhalten. Jetzt sind wir hier.

Mama lädt Sachen aus dem Auto. Papa schludert hinter ihr her und weiß nichts mit sich anzufangen. Nico ist im Garten und guckt sich Steine an, weil Steine sein Hobby sind, seit er mal diesen uralten Kosmos-Steinführer auf dem Flohmarkt gefunden hat. Missy steht immer noch neben mir und ascht auf den gelben Teppichboden, und ich sage: »Musst du das Zeug nicht mal langsam aus deinem Gesicht wischen?!«

Dann schicke ich Gustav einen Robotersmiley.

Gwen

Allermeistens ist die Welt dunkelblau. Ein deep space Blau. Mein Bett kommt mir riesig vor, man kann mittendrin liegen und die Arme ausstrecken und wird niemals den Rand berühren oder die gedrechselten Säulen.

hi aus diesem ozean aus decken kissen ausdünstungen krümeln kleidung blut & kopfschmerztabletten

Vielleicht bin ich auch sehr, sehr klein. Manchmal scheint mir auch beides der Fall zu sein, ein riesiges Bett, ein winziger Mensch. Ich rolle mich zwischen den weißen Decken zusammen und puste gegen ein Haar auf dem Laken.

 

Allermeistens bin ich blau. Ein deep space Blau. Aber das hängt ja mit der Welt zusammen, weil man ihr nicht entkommen kann. Weil alles in einen hineinläuft, es gibt keine Filter, keine Schleusen, nur diesen Strom der Dinge, der sich in Farben kristallisiert. Das Seltsamste ist, dass ich dunkelblau bin, aber mich auch in dem Dunkelblau bewegen kann.

ich bin in mich selbst invertiert, ein vexierbild aber ohne kippmoment ein 3D-film ohne brille

es wird mir immer schwindelig wenn ich mich selbst zu lange anschaue

Wie soll das eigentlich gehen, morgens aufstehen und zur Schule gehen, und mit anderen reden, Bus fahren und sein Pausenbrot essen, über ein paar Memes lachen, bei Latein nichts verstehen, weil seit vier Jahren keine Vokabeln mehr gelernt, in Mathe alles kapieren, weil Zahlen so angenehm verlässlich sind, zuhören wie Gossip verbreitet wird, manchmal nicken, manchmal auf »Hast du eigentlich zugehört« mit »was sonst« antworten und »Wollen wir uns vielleicht noch einen Kaffee holen?«, über den Schulhof schlurfen, nach Hause fahren, all das: wie?

 

Nach viermal snoozen knicke ich ein, sammle mich zusammen und rolle mich aus dem Bett. Ich seile mich ab, gleite die Arme voraus, mit den Zehen in der Bettritze verkeilt, nach unten, bleibe auf dem Boden liegen, bis der Wecker das nächste Mal überengagiert piept. Mhm, sage ich zu ihm und weiß nicht, was ich damit meine, mache ihn aus und scrolle mich durch Instagram ohne irgendwas wahrzunehmen, nicht, was ich sehe, nicht, was ich like; ich kriege die Augen kaum auf. Irgendwo in mir drin schwebt ein Müllplanet, auf dem sich die ganzen unverarbeiteten Daten sammeln, und eines Tages wird mein ganzes Bewusstsein durch ein Wurmloch dorthin geschleudert werden, verdammt, sich mit allem auseinanderzusetzen. Ich werfe das Telefon aufs Bett und stehe taumelnd auf, ziehe das Taumeln durch, bis ich im Badezimmer bin, vermeide mein Spiegelbild, nicht einfach bei der vollverspiegelten Wand hinter dem Waschbecken, aber Übung ist alles, würde auch mein Lateinlehrer sagen, die Zahnpasta, die ich ausspucke, sieht aus wie eine Sternenexplosion, was hat das zu bedeuten?

 

Nichts.

Ich mache den Wasserhahn an und lasse sie wegspülen.

 

Jeden Morgen steige ich über die vierte und siebte Stufe, weil sie knarzen, und damit, falls jemand in der Küche ist, ich nicht gehört werde, als würde mich jemand unbedingt in ein Gespräch verwickeln wollen oder mir ein gemeinsames Frühstück anbieten. Aber ich will nicht mal ein »Guten Morgen«. Jeden Morgen lacht die leere Küche meine Paranoia aus, und ich sende ihr dafür telepathisch Glückskekssprüche, die Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, besser Vorsicht als Nachsicht, der kluge Mann baut vor und so weiter. Ich habe nichts gegen sie, sie hat ja sogar recht eigentlich, aber das verrate ich ihr nicht. Meistens tut das Haus mir leid, es kann ja für nichts etwas. Keines der Häuser hier in der Straße kann etwas dafür. Sie stehen einfach so da, am Waldrand, schön und alt, bis auf unser Haus, das ganz neu ist, ein gläserner Kubus, an dem an einer Seite ein künstlicher Wasserfall hinabrinnt, mit Steinvorgarten und Bronzeskulpturen am Hang, aber die anderen sind alle alt, teils Fachwerk, teils Gründerzeitvillen, und zwei Häuser aus den 50ern, aber »beachtlich grundsaniert«, wie meine Mutter nach jedem Besuch anmerkt, und man weiß nie, ob anerkennend oder abschätzig. Alle mit Blick über die ganze Stadt. Keines von ihnen konnte sich aussuchen, wer sie bewohnt. Ich gehe an allen vorbei, grüße jedes mit einem flatterhaften Augenaufschlag, am Kriegerdenkmal klettere ich kurz auf einen hervorstehenden Stein und nicke der ganzen Stadt zu. Die Stadt nickt nicht zurück. So machen wir das jeden Morgen. Ich laufe die ganze Straße entlang, in der jetzt gerade die verkaterten Freunde meiner Eltern aufwachen und später ihren Kindern oder Kollegen oder sonst wem, bei dem man sich mit Spektakel profilieren kann, von Fritz und dem Motorrad erzählen, ich laufe bis die Straße irgendwann in eine andere übergeht, die Häuser zu Mehrfamilienhäusern und die Menschen zu solchen, die bei meinen Eltern nie eingeladen werden. Ich stecke mir die Kopfhörer in die Ohren und regle auf laut. Auf der Fußgängerüberführung überkommt mich Fernweh, ich weiß nicht, woran das liegt, irgendwas lösen die darunterliegenden Straßen und den Schienen in mir aus.

Hier wünsche ich mir immer, ich wäre woanders.

Sonst wünsche ich mir, ich wäre nicht da.

Ich schlenkere mit den Armen zum Beat, der Himmel ist so babyblau. Gleich Kaffee vom Kiosk.

& ich sage dem himmel ja ja ich weiß er existiert

Mo schickt Memes von Boxern, die ich nicht kenne, float like a butterfly, sting like a bee, und schreibt: später rache gegen die wixer wegen Bullen anrufen

Normalerweise läuft es nicht so, normalerweise prügeln sich die Jungs, und nach den Schlägereien stehen alle zusammen, stoßen mit Bier an, klopfen sich gegenseitig auf die Schulter, nennen sich Ehrenmann.

& ich denke das ist wunderschön

Normalerweise ruft niemand die Cops, normalerweise gibt es keinen Anlass zur Rache, normalerweise kämpfen aber auch keine Mädchen. Ich schicke Daumen hoch und hasse mich für das und alles andere, was uncool an mir ist.

Charles

Mein Zimmer ist direkt unter dem Dach. Es ist riesig. An einem der freigelegten Balken baumelt ein Hängesitz, sonst nur Wollmäuse. Von nebenan wummert es. Gilda hat ihr Zimmer auch unter dem Dach, und es klingt, als würde sie darin ein paar Leute erschießen. Zwischendurch atmosphärische Musik.

Ich weiß nicht, was ich dem Universum getan habe.

Durch zwei bodenlange Fenster kann ich durch ein paar Bäume hindurch auf den Fluss gucken. Die Aussicht ist beängstigend. Ich checke auf Google Maps: Hinter dem Fluss, der Innerste heißt, kommt eine Wiese. Dann kommt die Lamme, ein Nebenfluss der Innerste. Dann kommen Felder. Irgendwann ein weiteres Dorf, Klein Düngen. Es gibt auch Groß Düngen. Egenstedt. Wesseln. Lechstedt. Felder, Wiesen, Wälder, die Innerste. Es ist nichts. Vergiss es gleich wieder. Die nächstgrößere Stadt ist Hildesheim. Hildesheim, lese ich bei Wikipedia, ist eine große selbständige Stadt in Niedersachsen rund 30 km südöstlich der Landeshauptstadt Hannover und eines von neun Oberzentren des Bundeslandes. Mit rund 100000 Einwohnern schwankt sie an der Schwelle zwischen Mittelstadt und Großstadt. Es gibt dort sehr viele Kirchen. Die kulinarische Spezialität sind Hildesheimer Pumpernickel, eine Art Lebkuchen, nicht zu verwechseln mit dem Brot. In den letzten Jahren hat Hildesheim so einige Handballnationalspieler hervorgebracht, es gibt einen tausendjährigen Rosenstock und unter Kultur wird genau eine Galerie angeführt. Ich hasse Lebkuchen schon immer und Hildesheim klingt allerhöchstens wie eine Mittelstadt. Ich lege mich auf den Holzboden. Die Sonne fällt auf mich drauf, als sei es das Normalste der Welt.

mir kommt sogar die sonne tröstlich vor weil es die gleiche ist wie in berlin

du wirst richtiggehend rührselig

kanntest du das wort mittelstadt

nie gehört

ich auch nicht

Gustav schickt mir den Hirnsmiley und das bin wirklich ich, die ganze Zeit.

»Charles!!!« Meine Mum ruft von unten, ihre Stimme kommt hier nur noch ganz dünn an. Ich tue so, als würde ich nichts hören, wie auch, bei der Geräuschkulisse?

»Charles!!!!«

Das Hirn platzt mir weg, weil ich das Geballere hasse. Das Hirn platzt mir weg, weil ich nicht hier sein sollte. Das Hirn platzt mir weg, weil meine Eltern es einfach nicht auf die Reihe bekommen. Das Hirn platzt mir weg, weil es den anderen gar nichts auszumachen scheint. Das Hirn platzt mir weg, weil man hier bis zum Horizont gucken kann. Das Hirn platzt mir weg vor lauter Grün. Mein Handy klingelt.

»Bist du taub geworden?«

»Wieso?«

»Ich hab nach dir gerufen.«

»Jaaa, Gilda ist so laut.«

»Komm mal runter und hilf tragen. Das Umzugsunternehmen ist da.«

»Weißt du, was eine Mittelstadt ist?«

Meine Mum sagt nichts, vielleicht denkt sie nach.

»Es ist, wo ich vor Langeweile sterben werde.«

»Komm nach unten und bring deinen Bruder mit.«

»Wo ist der denn?«

»Charles, bitte denk selber nach, woher soll ich das alles wissen?«

Sie legt auf. Es tutet. Ich lausche dem Tuten ein bisschen. Es ist angenehm technisch. Ich stehe auf, das Handy noch in der Hand. Ich halte es dem Ausblick entgegen.

»Glaub ja nicht, ich wäre unausgerüstet«, sage ich zu ihm, »mal gucken, wer am Ende noch steht.«

Die Bäume und der Fluss sind maximal unbeeindruckt.

»Ihr werdet schon noch sehen«, sage ich.

Ich höre sie leise kichern.

Wer, glaubst du, hat mehr Standfestigkeit, fragen sie.

»Ja«, sage ich, »okay. Aber ihr müsst wissen, ich habe einen verdammt dicken Schädel.«

Gwen

Das erste Mal war Zufall. Ich habe Mo aus dem Autofenster gesehen. Er stand mit Vince und Dennis an einer Ecke rum, sie rauchten. Alle drei hatten eine Hand in ihren Jackentaschen, es war so kalt, dass der Rauch ganz deutlich zu sehen war, silbrig weiß und schwerer als ihre Atemluft. Ich begleitete meine Eltern bei irgendwelchen Besorgungen, und mein Vater war die Abkürzung durchs Fahrenheitviertel gefahren. Meine Eltern sprachen über die Sanierungsmaßnamen, ein Freund von ihnen ist Geschäftsführer der Immobilienverwaltung.

»Da willst du was Gutes tun, und die Leute stellen sich an«, sagte meine Mutter, »ständig hat der Stress mit dem Mieterverein.«

»Wer, wie die die Heizkörper in jedem Raum voll aufdreht, muss nun mal mehr zahlen als jemand, der energiebewusster wohnt«, sagte mein Vater.

Ich saß hinten und schaute durch die getönten Scheiben nach draußen. Jemand fuhr seinen Einkauf in einem Einkaufswagen die Straße lang, ein anderer saß in der Bushaltestelle und schien was vor sich hin zu murmeln, die drei Jungs fingen an, eine Dose hin und her zu kicken.

»Ist eben nicht so einfach, einen sozialen Brennpunkt zu einem Vorzeigeviertel zu machen«, sagte meine Mutter und lachte.

Die Jungs kickten die Dose auf die Straße und sprangen hinterher, als wäre der SUV überhaupt nicht existent. Mein Vater bremste scharf, »geht’s noch«, brüllte er und drückte auf die Hupe, mehrmals und lange.

& du kamst halt wirklich in wie ein wreckingball

Den Typ, den ich später als Mo kennenlernen sollte, blieb einfach stehen und schaute durch die Frontscheibe meinen Vater an. Der hupte weiter. Mo ging einen Schritt nach vorne und schlug einmal mit der flachen Hand auf die Motorhaube. Mein Vater ließ den Motor aufheulen, ich rutschte tiefer in meinen Sitz, Mo lehnte sich nach vorne und flüsterte »Fick dich, du Bastard«. Dann ging er zur Seite, langsam und gemächlich, und als mein Vater losfuhr und das Fenster ein kleines Stück runterließ und »Das wird Konsequenzen haben« rief, lachte Mo, es war ein ehrliches Lachen von jemandem, der keine, nicht mal ein kleines bisschen Angst vor irgendetwas hatte, mit dem mein Vater ihm drohen konnte. Dann warf er die Dose nach dem Auto, traf genau die Mitte der Heckscheibe und in mein Herz, ich war sofort hin und weg.

Charles

Wir essen gemeinsam Abendbrot. Das haben wir in Berlin nie gemacht. Es ist komplett seltsam. Wir sitzen an einem runden Holztisch in einem riesigen Raum, der vielleicht ein Wohnzimmer sein könnte, aber niemand hier würde so etwas sagen, die Kategorien müssen schließlich alle aufgeweicht werden. Auf dem Tisch steht ein ganzes Arrangement getrockneter Blumensträuße in Vasen und Wassergläsern und Flaschen und dazwischen Aschenbecher und Fakeperlenketten und Papierschnipsel und Feuerzeuge und Bücher. Mama, Papa, Nico, Fred, Missy, Gilda und ich. Gilda zählt nur halb, weil sie mit schwebendem Blick über die Dinge hinwegstarrt. Sie scheint sehr angestrengt über etwas nachzudenken, innerlich komplett abwesend.

Fred hat Curry gekocht.

»Eigentlich wollte ich den Veganismus hier großmachen«, sagt er schulterzuckend.

»Seid ihr deswegen hier?«, frage ich.

Er nickt.

»Aber die Leute wollen sich ihren Braten und ihr Steak nicht wegnehmen lassen. Man hält vegan sein für einen Sektenkult. Etwas völlig Abstruses.«

»Ich mag überhaupt kein Curry«, sagt Nico, »wieso gibt es keine Pizza wie sonst?«

»Weil wir es jetzt besser machen«, sagt Mama.

»Irgendwann wird die Zeit kommen«, sagt Missy und legt Fred die Hand auf den Unterarm. Gilda macht das nichts. Ihr macht nichts irgendwas. Ich beneide sie. Sie zieht einen Gameboy Color aus ihrer Tasche und fängt an zu spielen.

»Na, ich weiß nicht«, sagt Fred und lacht.

»Wovon lebst du jetzt?«, frage ich, »gehst du arbeiten?«

»Oh, schön neoliberal eure Tochter«, sagt Fred.

»Du kannst auch mit mir reden«, sage ich zu ihm, »ich bin ja hier.«

»Schätzchen«, sagt Missy, »es geht ja nicht nur um Geld und Leistung im Leben. Es geht auch ums Leben.«

Sie steht auf, startet den Plattenspieler und beginnt zu tanzen.

Gilda drückt konzentriert auf dem Gameboy rum, es sieht aus, als würde sie mit den Fingern denken. Missy lässt sich wieder auf einen Stuhl fallen, wischt sich die Haare aus der Stirn und wirft Fred eine Kusshand zu.

»Wir sind am Arsch«, sage ich.

»Charli«, sagt Mama.

»Seit wann bist du denn so?«, frage ich sie.

Gilda nimmt sich den Gameboy und legt sich auf eines der grünen Samtsofas.

»Willst du nichts mehr essen, Liebe?«, fragt Fred in ihre Richtung. Sie winkt ab, alle ihre Gliedmaßen hängen schlaff am Sofa herunter. Der Gameboy theatralisch in der ausgestreckten Hand.

»Am Arsch der Welt«, sagt Nico und grinst. Er steckt sich einen Löffel Curry in den Mund und verzieht das Gesicht.

»Nico«, sagt Mama.

»Mama!«, sage ich.

»Ich glaube, ich lasse es eine Zeitlang mit der Malerei«, sagt Papa.

»Das wird das Beste sein«, sagt Missy.

»Du hast doch keine Ahnung, wovon du redest«, sage ich.

Missy guckt mich an, verdutzt oder angepisst oder beides. Eine seltsame Mischung in ihrem spitzmäusigen Gesicht. Alles ist so filigran an ihr, sogar ihre Wut.

»Ist doch gut, wenn er sich Ruhe gönnt. Das ist jetzt genau das Richtige«, sagt Missy.

Mama nickt.

Es gibt diese alten Fotos von Papa. Er im Atelier, vor einer seiner Malereien. Er steht eigentlich zum Bild, wendet sich aber in die Kamera und strahlt. Komplett, alles an ihm, sein Lächeln, seine Augen, seine Gesichtsmuskulatur, ich schwöre, sogar seine Haare, seine ganze gespannte Körperhaltung, alles vibriert vor Zufriedenheit.

Jetzt sitzt er auf diesem Stuhl an diesem Tisch fast so, wie Gilda auf dem Sofa liegt, alle viere von sich.

»Papa«, sage ich leise, »es ist nur eine Phase. War vielleicht ein bisschen viel zurzeit. Aber Malerei, das bist doch du.«

»Dinge ändern sich«, sagt Mama.

»Das ganze Leben ist Fluss«, sagt Missy.

»Ich merke es«, sage ich.

»Noch jemand Curry?«, fragt Fred.

»Du hast ja recht«, sagt Papa, und niemand weiß, wer jetzt eigentlich gemeint ist.

»Das ist ungefähr der schlimmste Tag meines Lebens«, sage ich.

»Das spricht für dein bisheriges Leben«, sagt Fred.

»Also ich mag’s hier«, sagt Nico, »so viele Steine.«

»In ein paar Jahren wirst du die alle gegen ein Stück Berliner Mauer tauschen wollen«, sage ich.

»Charles«, sagt Mama.

»Wie oft willst du denn jetzt noch meinen Namen sagen?«, sage ich.

»Bis du zur Vernunft kommst.«

»Ich scheiße auf Vernunft.«

»Charles!«

»Mama!«

»Beruhigt euch«, sagt Missy. »Tief einatmen jetzt. Gleich mache ich Lavendeltee, das hilft, aber ihr müsst auch aktiv an eurem inneren Frieden arbeiten. Mensch zu sein, also Menschlichkeit bewahren, bedeutet eine konstante Anstrengung.«

Gildas Gameboy macht jenen traurigen Düdeldu-Jump-and-run-Sound, der den Tod verkündet.

»Scheiße«, sagt Gilda.

»Genau«, sagt Papa, »genau.«

ich vermisse dich, tippe ich unter dem Tisch an Gustav, unendlich und fünfmal

ohne dich ist berlin trostlos wie in einem dieser drogenromane

was hatte eigentlich der Roboter zu bedeuten? sci-fi-revolution?

quasi, schreibe ich, er steht für die sehnsucht nach einer ki, die meinen eltern neue hirne einsetzt

man kann seinem erbe nicht entkommen, schreibt Gustav.

sagt der enkel eines clowns, schreibe ich.

man stelle sich mich mit einer roten nase vor ich salutiere dir, schreibt Gustav.

»Kein Handy am Esstisch«, sagt Mama.

»Aber Gameboy oder was?«, sage ich.

ich vermisse alles, schreibe ich Gustav, und in mich rein crasht die Erkenntnis, dass jetzt einfach alles anders ist, dass wir nicht bloß unsere Wohnung und unsere Stadt zurückgelassen haben, sondern auch das letzte bisschen Glaube an die Vernunft meiner Eltern. Diese Hirngespinste sind ersetzt durch neue Realitäten, die selbst nichts mit sich anzufangen wissen.

Gwen

»Alter«, sagt Sinan, »was ist denn mit dir los?«

Er beugt sich über den Tresen.

»Straßenkampf«, sage ich und beginne die Melodie von Eye of the Tiger zu pfeifen.

»Ich sehe es«, sagt er.

Er dreht sich zum Kühlschrank um und reicht mir eine kalte Wasserflasche.

»Für dein Auge«, sagt er.

»Was ist damit?«, frage ich.

»Blau«, sagt er, »tut das nicht weh? Und deine Lippe!«

Sein Kopfschütteln, das sich nach Sorge und nicht nach Urteil anfühlt, und ich will mich dort hineinfallen lassen.

jede zuwendung hätte ich gern als gif um es immer wieder abspielen zu können für die harten tage

»Nicht so richtig«, sage ich, und während ich es sage, fühle ich den stechenden Schmerz. »Mein Kopf tut weh.«

Auf einmal bin ich so müde. Direkt nach der Rache wegen der Wixer-Aktion war ich nur aufgeputscht und glücklich, jetzt strömt die Euphorie aus mir raus, als hätte ich Hunderte Löcher, und ich spüre, dass von unten die Tränen kommen.

»Kann ich mal auf die Toilette?«

»Wir haben keine Kundentoilette, das ist ein Kiosk, kein Café.«

»Aber du hast mir das Hinterzimmer doch schon längst angeboten.«

»Tamam«, sagt Sinan, »komm mit.«