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Die Arenz-Geschwister laden ein zu Familiengeschichten voller Situationskomik Kleine literarische Meisterstücke zu Freud und Leid des Familienlebens: Die drei Arenz-Geschwister Ewald, Sigrun und Helwig erzählen mit feinem Witz und sanfter Ironie vom turbulenten Alltag einer beinahe normalen Familie. Dabei erfahren die Leserinnen und Leser nicht nur vom »Rosenkrawallier« und »Fußball à la Beethoven«, sondern auch von allerhand Kuriositäten rund um Muttertag, Urlaubsreisen, Schuhkauf und Friseurbesuche.
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Seitenzahl: 140
Veröffentlichungsjahr: 2025
Originalausgabe
1. Auflage 2025
© 2025 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG,
Bauhof 1, 90556 Cadolzburg
www.arsvivendi.com
Tel. +49 9103 719290
Alle Rechte vorbehalten
Ein Teil der Geschichten erschien als gleichnamige Kolumnenserie in den Nürnberger Nachrichten
Umschlaggestaltung: finken & bumiller, Stuttgart,
unter Verwendung eines Fotos von © TShaKopy/shutterstock (Cover),
© Annie Spratt/Unsplash (Buchrückseite)
Zärtliche Bande
Es war im Kaisersaal der Burg. Alle Nichtmusiker beim Empfang der Internationalen Orgelwoche Nürnberg versuchten so auszusehen, als hätte der Ministerpräsident sie persönlich eingeladen. Ich auch. Deshalb arbeitete ich mich geschickt in seine Richtung, als er zu reden begann, damit er mir zuwinken konnte, sobald er mich entdeckte. Ich hätte gerne noch konzentrierter zugehört, aber eine ausgesprochen hübsche, lockige Dame in roter Seidenbluse stand schräg vor mir. Im Gegensatz zu mir sah sie so aus, als wäre sie wirklich persönlich eingeladen worden. An ihrer Handtasche baumelte ein Notenschlüssel, und ich rätselte gerade, ob das ein geheimes Organistinnenabzeichen war, als mir eine andere Dame so unvermittelt ins Ohr flüsterte, dass ich zusammenfuhr.
»Sie haben also wieder geheiratet!«, sagte die Stimme fast anklagend.
Ich drehte mich zu ihr um. Wenn der Ministerpräsident die persönlich eingeladen hatte, sah ich schwarz für die Zukunft Bayerns. Sie war um die fünfzig, und ihr Outfit wies darauf hin, dass sie von Lennons Tod noch nicht erfahren hatte.
»Was?«, fragte ich etwas fassungslos. »Wieso wieder geheiratet? Ich bin noch nicht einmal geschieden.«
»Die ist schon deutlich jünger als Sie, oder?«, fuhr die Frau neugierig flüsternd fort. »Aber ihre Krimis sind viel spannender!« Immerhin schien sie so viel Restsensibilität zu haben, dass sie merkte, wie sehr mich Zweifel an meinem literarischen Können trafen, und fuhr hastig fort: »Ich mag Ihre romantischen Sachen ja, aber die Krimis Ihrer Frau – wow!«
Der Ministerpräsident sprach eben von Tod und Verklärung, deshalb unterdrückte ich jede boshafte Antwort. Mir war jetzt klar, dass die Frau meine Schwester Katharina meinte, die aus nachvollziehbaren Gründen meinen Nachnamen trägt. Sie begann trotzdem, mir auf die Nerven zu gehen, denn die Organistin sah zu mir herüber und fand mich im intimen Gespräch mit einer anderen Frau, was, wie ich fand, missverstanden werden konnte. Aber sie ließ nicht locker. »Und Ihr Sohn Jörg erst!«, schwärmte sie im lautesten Flüsterton. »Sein erstes Buch ist richtig toll! Da müssen Sie aufpassen, dass er Sie nicht vom Sockel stößt, gell?«
Jetzt reichte es! Für wie alt hielt die mich, wenn ich der Vater meines jüngsten Bruders sein sollte? Giftig und etwas zu laut sagte ich: »Meine Frau ist meine Schwester und mein Sohn mein Bruder!«
Leider hatte der Ministerpräsident in diesem Augenblick eine Kunstpause gemacht, die von mir für alle vernehmlich gefüllt worden war. Nicht nur die Frau starrte mich entsetzt an. »Krank!«, flüsterte sie dann, während sie zurückwich. »Sie sind sehr krank!«
Tatsächlich fühlte ich mich plötzlich, als hätte ich Ebola.
Um mich herum bildete sich ein komplett honoratiorenfreies Vakuum, und auch die schöne Organistin war verschwunden. Ich nehme an, im nächsten Jahr werde ich zur Internationalen Orgelwoche nicht mehr eingeladen. Wenn es so weitergeht, bleibt mir irgendwann nur noch die Familie.
Ewald Arenz
Fernsehgebot
Es war wirklich kein Snobismus, dass ich die Frage »Hast du gestern Germany’s Next Topmodel geschaut?« mit »Nein« beantwortete. Ich hätte sie auch verneint, wenn es um eine Sendung über Quantenmechanik gegangen wäre, und zwar einfach deshalb, weil mein Fernseher, seit ich umgezogen war, eher dekorative Funktionen erfüllte. Keine Ahnung, was ich falsch gemacht hatte, aber ich hatte keine Zeit, mich mit dem Problem zu beschäftigen, und überhaupt: Wer muss fernsehen, wenn er auch Deutsch-Schulaufgaben korrigieren kann? Das ging so lange gut, bis der USA-Austausch unserer Schule vor der Tür stand. Für zwei Wochen würde Gina, Deutschlehrerin an unserer Partnerschule in Oregon, bei mir wohnen. »Sie schaut abends ganz gerne mal deutsche Shows an«, ließ mein Kollege Winnie beiläufig verlauten. »Und Germany’s Next Topmodel ist für sie ein absolutes Muss.« Oha, dachte ich. Mein Fernseher empfing genau vier Sender, von denen einzig RTL II auch nur entfernt für den Konsum deutscher Unterhaltungssendungen geeignet war. Die anderen waren N-TV, Eurosport und ein Verkaufssender für Haushaltswaren. Kein Wunder, dass ich lieber korrigierte. Nein, ehe Gina am Münchner Flughafen landete, musste etwas geschehen.
»Sie haben aber einen kleinen Fernseher«, kritisierte der TV-Techniker, als er mein Wohnzimmer betrat.
»Der ist schon größer als mein letzter«, erklärte ich halb verärgert, halb defensiv.
»Hm«, machte er. »Kabel oder Satellit?«
Nun war ich an der Reihe: »Hm«, murmelte ich unverbindlich. Ich bin ja wirklich für Emanzipation und so, aber es gibt Fragen, die muss eine Frau nicht beantworten können, finde ich.
»Wo haben Sie denn diesen absurden Receiver her?«, wollte der Mann wissen, während er sich vor meinem Fernseher niederließ. »Der kann doch gar nicht funktionieren.«
Ich druckste herum.
Schweigen. Mann kniet vor Maschine. Frau steht daneben und fühlt sich irgendwie unzulänglich.
»Haben Sie schon mal den Sendersuchlauf durchgeführt?« Seine Stimme ließ erkennen, dass Frau sich nicht nur unzulänglich fühlte.
Ich entschied, dass ich keine Würde mehr zu verlieren hatte, machte einen auf blond und lächelte süß: »Sendersuchlauf? Wie geht denn das? Ist das schwierig? Können Sie das für mich durchführen?«
»Klar. Das sind dann zwanzig Euro.«
Ich weiß nicht, ob Fernsehen dumm macht, aber es hat mich dumm dastehen lassen, was noch viel schlimmer ist.
Deshalb konnte ich mir ein kleines, schadenfrohes Lächeln auch nicht verkneifen, als der Mann zwei Wochen später in meiner Sprechstunde in der Schule auftauchte.
»Was kann man denn da jetzt machen mit dem Jungen?«, wollte er wissen. »So kann das ja nicht weitergehen.«
»Weniger Ablenkung, mehr lesen.«
Er seufzte. »Das ist nicht so einfach. Der hängt doch die ganze Zeit am Handy oder vorm Fernseher. Den kriegt man da kaum weg.«
Jetzt tat er mir fast ein bisschen leid.
»Wissen Sie was?«, schlug ich ihm freundlich vor. »Ich könnte ja bei Ihnen vorbeikommen und Ihren Fernseher richten. Wenn ich mit dem Sendersuchlauf durch bin, findet er nie wieder ein Programm, das er sehen möchte.«
Sigrun Arenz
Umzug im Familienkreis
Wir standen in meiner neuen Wohnung, mein Bruder Heinrich, meine Schwester Katharina und ich.
»Und, wie findet ihr es?«, fragte ich begeistert.
»Na ja«, sagte Katharina zweifelnd, »wenn du gestrichen hast, wird es bestimmt ganz wohnlich!«
»Was ist das da unter den Dielen?«, wollte Heinrich wissen und kniete sich auf den Boden. »Sind das etwa Mäuse?«
»Ach, Quatsch!«, winkte ich großzügig ab und zog ihn auf die Füße. »Wisst ihr, was ich mir gedacht habe? Wir machen uns einen schönen gemeinsamen Vormittag und streichen hier die Wände!« Irgendwie steckte sie mein Enthusiasmus nicht an.
»Aber ich dachte, wir machen mal was gemeinsam!«, versuchte ich es mit übertriebener Fröhlichkeit. »Deswegen bin ich doch hergezogen. Wir drei. Familie!«
»Nun ja«, berichtigte mich Katharina. »Das stimmt nicht ganz. Du bist hergezogen, weil du deinen Job verloren hast.«
»Und weil du es von hier nicht so weit zu uns zum Essen hast«, ergänzte mein Bruder.
»Gut«, gab ich kleinlaut nach. »Helft ihr mir noch schnell, meine Sachen hochzutragen?«
»Okay, fangen wir schon mal an«, seufzte Heinrich und sah auf die Uhr. »Aber ich hab um drei Lehrerkonferenz. Wann kommen denn die anderen?«
»Hm«, machte ich und sah zu Boden. »Wen meinst du mit ›die anderen‹?«
*
»Warum ist es immer der vierte Stock?«, fragte mich Heinrich eine Viertelstunde später stöhnend und setzte die Kiste mit meinen Büchern ab. »Warum ist es der vierte Umzug in drei Jahren?«, fauchte Katharina, die einen hartnäckigen Fleck vom Boden kratzte.
»Was wollt ihr denn!«, rief ich. »Ich bin Schauspieler, da muss man oft umziehen. Kommt, noch schnell die Möbel!« Und schon war ich wieder unten beim Lastwagen.
»Andere Schauspieler ziehen mit einem großen Koffer um«, nörgelte Heinrich und wuchtete das Sofa die Treppen hinauf.
»Aber wie kriegst du das Sofa in den Koffer?«, konterte ich und ermahnte ihn: »Sei bitte vorsichtig! Der Bezug ist empfindlich!«
*
Am Abend sanken die beiden erschöpft auf das große, weiche Sofa. »Wollt ihr was trinken?«, fragte ich.
Sie nickten müde.
Ich ging in die Küche. »Ich glaube, das Leitungswasser ist okay«, rief ich.
Als wir dann beisammensaßen, seufzte ich erleichtert. »Danke, Leute«, sagte ich. »Übrigens, Heinrich, was den Koffer für die Umzüge angeht, hast du eigentlich recht. Aber wisst ihr was?«, fügte ich hinzu. »Manchmal sind große Geschwister genauso gut wie ein großer Koffer.«
Helwig Arenz
Familie im Schlepptau
Mein Handy klingelte, als ich eben unter die Dusche gehen wollte. Es war mein Bruder Jörg. Er hat ein fast unheimliches Gespür dafür, mich in den unpassendsten Situationen anzurufen. Deswegen nahm ich jetzt das Handy auch nur zögernd auf. »Wie lange kann ich die rote Batterieleuchte ignorieren?«, fragte er mich ohne Gruß und offenbar aus dem Auto heraus. »Und außerdem dampft es aus dem Motorraum.«
Obwohl ich nackt im kühlen Bad stand, wurde mir warm. »Wie lang leuchtet das Ding schon?«, fragte ich alarmiert. Es stellte sich heraus, dass Jörg die Leuchte bereits beim Losfahren in Nürnberg unbeachtet gelassen und gehofft hatte, dass sich der Fehler bis zu seiner Rückkehr aus Bregenz geben würde, wo er inzwischen seine Tochter abgeholt hatte. »Halt sofort an!«, befahl ich. »Egal wo!« Ich hörte Jörg entsetzliche Flüche ausstoßen, die wohl damit zusammenhingen, dass er wegen des Dampfs die vor ihm einscherenden Laster nicht erkennen konnte. »Ich schaff’s bis Feuchtwangen!«, keuchte er. »Da kannst du uns holen kommen.« Die Verbindung brach ab. Eine weitere Konstante im Leben Jörgs ist der leere Akku seines Handys in jedem Notfall. Resigniert und ungeduscht zog ich mich an.
*
Zwei Stunden später fand ich im vierten Café am Feuchtwanger Marktplatz endlich meinen Bruder, der vergnügt ein zweites Frühstück einnahm. Ich stand einigermaßen verblüfft vor seinem Tisch und sah in die Runde: »Es wäre hilfreich gewesen«, sagte ich müde, »wenn du mir gesagt hättest, dass ich mit einem Reisebus kommen soll.« Bei Jörg saßen nicht nur meine Nichte mit ihrer Mutter und deren Freund, sondern auch meine Schwester Katharina sowie zwei meiner Cousins, die sich anscheinend spontan materialisiert hatten.
»Hab ich vergessen«, winkte Jörg mit vollem Mund großzügig ab. »Willst du einen Kaffee?«
»Nein«, antwortete ich düster, »ich will eine neue Familie.«
Zwanzig Minuten später kroch ich unter meinem Auto hervor und putzte die Hände an meinem Hemd ab. Eine Dusche brauchte ich mehr denn je.
»Das hält nie!«, zweifelte Jörg.
»Hättest du mir halt gesagt, dass du kein Abschleppseil dabeihast!«, herrschte ich ihn an, aber ich war auch nervös. Ich hatte nämlich statt eines Abschleppseils einen Spanngurt genommen. Dann verteilten wir uns auf Jörgs und mein Auto. Katharina hatte das Fahrrad meiner Nichte Klara auf dem Schoß.
Es wurde eine der schlimmsten Touren, die ich je durch das schöne Frankenland gemacht habe. Alle waren überlastet: Jörg und ich, der Motor meines Wagens und der Spanngurt. Als wir in Seckendorf auf den Hof der Werkstatt einbogen, holperte Jörgs überladenes Auto über den Bordstein, der Gurt riss, mein so plötzlich befreiter Wagen machte einen fröhlichen Hüpfer nach vorn und wurde erst durch den pittoresken Sandsteinpfeiler neben der Einfahrt abrupt und mit einem sehr hässlichen Knirschen gestoppt.
Eine Stunde später wanderten wir alle acht trotz des sonnigen Wetters in tiefem, erbittertem Schweigen die sieben Kilometer zu mir nach Hause. Nur Klara fuhr fröhlich pfeifend auf ihrem Fahrrad voran. Es mag ein wenig abergläubisch klingen, aber seither schalte ich mein Handy vor dem Duschen aus.
Ewald Arenz
Kleine Geschenke
»Hast du in letzter Zeit jemanden beleidigt?«, wollte mein Bruder wissen. »Oder ist das eine verpatzte Lieferung von amazon?« Er starrte die durchsichtige Tüte an, die ich gerade aus meinem Briefkasten geholt hatte.
Ich starrte ebenfalls. »Irgendjemand hasst mich«, murmelte ich beunruhigt.
»Du wohnst eigentlich noch nicht lange genug wieder in Fürth, um der hiesigen Mafia in die Quere gekommen zu sein«, sinnierte Jörg. Wir waren uns in der Stadt über den Weg gelaufen, und sobald er erfahren hatte, dass ich Flammkuchen backen wollte, hatte er sich mir an die Fersen geheftet.
Mir allerdings war beim Öffnen des Briefkastens jäh der Appetit vergangen.
Ich hielt die Tüte, die ein Stück rohes, grob zerteiltes, noch blutiges Fleisch enthielt, auf Armeslänge entfernt. »Das ist doch absurd«, protestierte ich. »Das gibt es nur in Krimis, dass jemand seine Feinde mit Leichenteilen bedroht … Mal abgesehen davon, dass ich überhaupt keine Feinde habe …« Ich verstummte, denn in meiner Verunsicherung fielen mir natürlich sofort eine ganze Reihe von Menschen ein, denen ich in der letzten Zeit auf die Zehen getreten war.
Da war der Verriss, den ich kürzlich geschrieben hatte. Du hast dir auf elegante Weise einen Feind gemacht, hatte mein Bruder Heinrich mir am nächsten Tag getextet. Der Oberstufenschüler, der sich wegen einer Note mit mir herumgestritten hatte, wirkte zwar nicht wie ein Psychopath, aber man konnte ja nie wissen. Und da war die neue Kollegin, die sich um dieselbe Position beworben hatte wie ich. Sie hatte natürlich gesagt, dass sie das Ganze nicht als Konkurrenzsituation sah …
»Okay, beruhig dich«, riet Jörg, als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte. »War doch bloß Spaß.« So ganz überzeugt wirkte er selbst nicht, aber er nahm mir die Tüte mit einer Grimasse ab und verstaute sie in seinem alten Armeerucksack. »Gehen wir zurück in die Stadt und entsorgen sie unauffällig irgendwo«, schlug er vor. »Sicher ist sicher.«
Am nächsten Morgen traf ich im Lehrerzimmer auf meinen Kollegen Erich, der gerade dabei war, Kaffee zu kochen. »Ich hoffe, du hast etwas Schönes daraus gemacht«, strahlte er, als er mich sah.
Meine Verwirrung musste mir anzusehen gewesen sein, denn er fuhr fort: »Frische Rehleber, eine echte Delikatesse, erst gestern Morgen im Wald geschossen. Ich habe gedacht, du freust dich.«
»Oh ja, klar«, stimmte ich etwas zu eifrig zu und verbannte die Erinnerung an den Weiher im Stadtpark, wo Jörg und ich die Fische gefüttert hatten, entschlossen aus meinem Gedächtnis.
Die Tupperwarenschüssel mit den veganen Minipizzen, die ich eigentlich für die Kollegen gebacken hatte, schob ich unauffällig wieder in meine Tasche zurück. Manchmal sind kleine Geschenke einfach nur eine Frage des richtigen Zeitpunkts.
Sigrun Arenz
Kleider machen Leute
Es war Samstag, ich stand in der Schlange vor dem Kundenservice der städtischen Verkehrsbetriebe, der VAG, die bis weit hinaus in den Bahnhof reichte. Die Stimmung war angeheizt, und was immer vorne an den Schaltern geschah, es ging viel zu langsam. Immerhin war ich schon bis zur Werbetafel Wenn bargeldlos, dann VAG vorgerückt.
»Man kann sich auch Schöneres vorstellen, als kurz vor Schluss noch so viele Kunden abfertigen zu müssen«, begann ich ein Gespräch mit dem hübschen Mädchen vor mir. Sie hatte lange Rastazöpfe und einen Hund an der Leine.
»Diese verfluchten Schweine sollen in der Hölle brennen!«, antwortete sie mir und drehte sich wieder weg.
Die Zeit verging zäh, aber irgendwann war ich doch dran. Ich nannte die Zone meiner Monatskarte und wartete ungefähr zehn Minuten, bis der Mann mir den Preis ausgerechnet hatte, den ich sowieso jeden Monat zahlte.
»Mit Karte, bitte«, sagte ich und zückte meine Geldbörse.
»Nix Karte!Bar!«, belehrte mich der Angestellte. »Aber«, sagte ich zaghaft und wies nach hinten, »auf dem Schild da steht: Wenn bargeldlos …«
»Vorher anmelden, wenn Sie elektronisch zahlen wollen!«, wies er mich zurecht.
Mehr mit dem Fahrrad fahren, dachte ich nur und atmete ruhig aus. Die Monatskarte konnte ich dann doch noch bezahlen, da mir die Frau mit dem Hund Geld lieh. Sie war geblieben, um die Szene mit ihrem Handy zu filmen. Genau! Wie im Film, dachte ich. Und da kam mir die Idee.
*
»Hier sind die bestellten Uniformen!«, begrüßte ich am Montag darauf den VAG-Mann am Schalter.
»Was für Uniformen?«, blaffte er mich verständnislos an. Also reichte ich ihm die sorgsam gefälschte Dienstanweisung. Mit Zusatz zur Kleiderordnung hatte ich sie überschrieben.
»Das ist korrekt!«, sagte der Mann nach kurzer Prüfung und nahm das Paket mit den historischen Kostümen in Empfang. Er und seine Kollegen begannen sofort, sich umzuziehen. Ein paar eben zum Dienst angetretene Kontrolleure ebenfalls. Sie rückten ihre neuen Helme zurecht und machten sich fröhlich auf den Weg in Richtung Bahnsteig. Ich lächelte: Aussehen und Umgangsformen der VAG-Mit arbeiter würden nun endlich homogen sein. Willkommen in der Kaiserzeit!
»Ihr Schnurrbart«, schmeichelte ich dem Mann am Schalter noch, »wird sich vortrefflich mit dem roten Kragen und den goldenen Litzen machen! Sie sehen aus wie ein strammer Leutnant.«
Im Hinausgehen zwinkerte ich der Frau mit dem Hund zu, die auch heute gekommen war, um ein VAG-Imagevideo für YouTube aufzunehmen.
Helwig Arenz
Der Meister ruft
Wir standen an der Ampel. »Fahr!«, rief mein Bruder Jörg hektisch. »Fahr doch!«
»Es ist Rot«, antwortete ich mit zusammengebissenen Zähnen.
»Ja, aber die Kreuzung ist leer«, schrie Jörg nun fast, »willst du für hundertachtzig weinende Kinder verantwortlich sein?«
»Unsere Mutter«, antwortete ich wütend, »mag sechs Kinder haben, aber ich werde ihr auf keinen Fall zwei ihrer Söhne in einem komplett unnötigen Verkehrsmassaker rauben, bloß weil du nie an dein Handy gehst.«