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Das mitreißende Debüt einer jungen Frau, die sich zwischen zwei Welten behauptet.
»Lisolo« bedeutet auf Lingala, einer der Nationalsprachen des Kongo, Geschichten zu erzählen. Und Geschichten hat Nadège Kusanika viele zu erzählen: von ihrer Kindheit im Kongo, von Süßkartoffelblättern und Mango mit Pili Pili, von undurchdringlichem Nebel und unendlichem Sternenhimmel, von Plastiksandalen auf ewig staubiger Erde. Aber auch Geschichten von Hunger und Armut, vom Ankommen in einem fremden Land und vom Hineinwachsen in die deutsche Gesellschaft.
»Unter derselben Sonne« ist ein Roman, der mit Sanftheit und Humor eindringliche Fragen nach Heimat und Identität in der alltäglichen Erfahrung des Fremdseins stellt. Ein eindrücklicher Roman über Familie, das Erwachsenwerden und die Suche nach sich selbst in unserer globalen Welt.
»Was für ein großartiges Debüt! Eine zärtliche, wilde, traurige, lustige Reise in ein fernes und nahes Land – eine wahre Heldinnenreise!« Doris Dörrie.
»Eine eingängige, schlicht-schöne Prosa, die vom Wesentlichen spricht.« Julia Schoch.
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Seitenzahl: 243
Veröffentlichungsjahr: 2025
Schon als kleines Mädchen hat Nadège Kusanika den versammelten Nachbarskindern gerne Geschichten erzählt, und die besten Geschichten entstanden, wenn es zuvor geregnet hatte. Dann war es für sie leichter, die Bilder in ihrem Kopf auf die vormals staubige Erde zu zeichnen. Später wurde das Geschichtenerzählen für sie zu einer Aufgabe: Mit fünfzehn zieht sie aus der Demokratischen Republik Kongo zu ihrem Vater nach Deutschland und weiß viele Geschichten aus ihrer Heimat zu erzählen, und nicht nur von den Härten des Aufwachsens im krisengebeutelten Kongo, die den Menschen hier in Deutschland als erstes in den Sinn kommen. Indem sie ihre persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen aufschreibt, gibt Nadège Kusanika denjenigen eine Stimme, die sonst nicht gehört würden, gibt dem Kongo seine Bedeutungsvielfalt zurück und sensibilisiert die Lauten und Vorschnellen für eine neue Perspektive. In »Unter derselben Sonne« stellt die Autorin mit Leichtigkeit und Humor beide Welten, für die ihr Herz schlägt, gegenüber. Sie geht der Frage nach, in welcher Tiefe sie ihr Leben beeinflusst haben, und inwieweit beide Lebenswelten sie zu dem Menschen gemacht haben, der sie heute ist.
Nadège Kusanika wurde 1988 in Lubumbashi in der Demokratischen Republik Kongo geboren. Angeregt durch das Buch »Leben, Schreiben, Atmen – Eine Einladung zum Schreiben« von Doris Dörrie, hat sie angefangen, zu schreiben. Sie studierte Rechtswissenschaften in Würzburg und arbeitete als Beraterin im Bereich Datenschutz. Sie verbringt viel Zeit mit Kochen, Reisen, dem Muttersein – und dem Schreiben. Sie lebt mit ihrer Familie in Bonn.
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Nadège Kusanika
Unter derselben Sonne
Roman
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
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Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Danksagung
Impressum
Für meine Kinder, Louis und Nala.
Und für alle, deren Stimme zum Verstummen gebracht wurde und die sich seit Langem nicht gesehen und gehört fühlen.
Lisolo bedeutet »Geschichte« auf Lingala. Lisolo ist außerdem der Name eines Spiels, das ich in meiner Kindheit gerne gespielt habe. Dazu holte ich einen ebonga, einen Hocker aus Holz, aus dem Haus und suchte mir für ihn einen schönen Platz unter einem Baum. Dann sammelte ich nacheinander alle Nachbarskinder ein, um ihnen unter dem Baum lisolo, eine Geschichte, zu erzählen.
Ähnlich wie ein Comiczeichner, der für jede Szene seiner Erzählung Blatt und Papier braucht, waren der Boden und ein dünnes Stück Holz die perfekten Werkzeuge, um meinen Charakteren Leben einzuhauchen. Hand oder Fuß dienten mir als Radiergummi, um Platz für die nächste Szene zu schaffen. Ich freute mich, wenn es zuvor geregnet hatte, denn dann war die Erde weniger staubig und die Bilder in meinem Kopf ließen sich leichter auf den Boden zeichnen. Dazu musste ich zunächst eine ebene Fläche schaffen und strich mit dem Fuß die Erde glatt. Mit einem Stück Holz, das ich zuvor angespitzt hatte, malte ich ein Haus in den Sand. In das Haus zeichnete ich die passende Einrichtung und die Protagonisten meiner Geschichte. Dann begann ich zu erzählen. Meist ging es um alltägliche Begebenheiten, an die ich mich heute nicht mehr erinnern kann.
In Deutschland werde ich eine Mentorin kennenlernen, die mir von der magischen Kraft berichtet, Geschichten, die eigene Geschichte zu erzählen. Und von der Verpflichtung, die wir alle gegenüber der Menschheit haben, als Zeugen bestimmter Geschehnisse diese in die Welt hinauszutragen.
Ich werde ihr zustimmen, ohne die Tragweite dieser Worte zu begreifen. Bis ich mich dann wieder an die Worte meines Onkels Jean erinnern werde. Er erzählte uns Kindern, wie wichtig es sei, les sans voix, den Stimmlosen, eine Stimme, ihre eigene Stimme zurückzugeben. Seine Worte werden mich sehr lange beschäftigen. Schon seit langer Zeit habe ich das Bedürfnis, denen, die in einem politisch-gesellschaftlichen System leben, in dem ihre Meinung unterdrückt wird, oder denen, die aufgrund ihres Bildungsniveaus nicht in der Lage sind, mit den Stärkeren in einen Dialog zu treten, meine Stimme zu leihen. Zunächst erschien mir meine eigene Geschichte in diesem Zusammenhang zu unbedeutend. Doch wir alle haben das Recht, uns selbst im Kontext der Menschheitsentwicklung kritisch zu betrachten. Gerade in der heutigen Zeit ist die Suche nach einem größeren Sinn besonders für diejenigen Menschen von großer Bedeutung, die unabhängig von ihrer Herkunft versuchen, sich selbst und andere in ihrer kulturellen Vielfalt zu verstehen. Diese, meine Geschichte ist ein Versuch, die magische Kraft unserer Geschichten in die Welt zu tragen, damit sich die Stimmlosen gehört und gesehen fühlen.
Als Kind schien mir das Erzählen von Geschichten viel selbstverständlicher und intuitiver. Oftmals entbrannte zwischen uns Kindern ein Wettstreit: Wer vermochte es, die spannendere Geschichte zu erzählen? Es war schwer, meine Zuhörer mit meiner Erzählung zu fesseln, wenn sich direkt neben mir ein Nachbarskind niederließ und ebenfalls anfing, eine lisolo zu erzählen, die vielleicht sogar spannender war als meine. Dann standen die anderen Kinder auf und gingen zu meiner Rivalin hinüber; ich hingegen blieb allein mit meiner Geschichte zurück. Gekränkt von dem Verrat zog ich mich in solchen Momenten ins Haus zurück. Manchmal war ich aber auch diejenige, die der lisolo der anderen Kinder lauschte.
Jeder Kongolese, oder zumindest jeder, der in Kinshasa aufgewachsen ist, kennt dieses Spiel. Wenn es regnete, wurden die besten lisolo erzählt.
Oft verlor ich mich in meinen Geschichten. Meine Mutter hingegen hasste es, wenn ich lisolo spielte, denn meine Füße wurden beim Glattstreichen des Bodens immer besonders schmutzig. Sie schimpfte jedes Mal mit mir, wenn ich mit meinen dreckigen Füßen das Haus betrat. Vorher musste ich mir deshalb jedes Mal die Füße waschen.
Wenn es nicht genug Wasser gab, verbot meine Mutter mir, lisolo zu spielen.
»Das wenige Wasser ist nicht dazu da, deine dreckigen Füße zu waschen«, sagte sie dann.
In solchen Momenten bat ich bei unseren Nachbarn um das Wasser, in dem sie zuvor ihre Wäsche gewaschen hatten, um meine Füße damit zu säubern.
Der Regen schenkte mir nicht nur den schönsten und feuchtesten Boden für meine lisolo. Auch für andere Spiele wie kede, also das Hüpfspiel »Himmel und Hölle«, war es besonders vorteilhaft, wenn es zuvor geregnet hatte. Viele Jahre später werde ich feststellen, dass dieses Spiel, das ich für eine kongolesische Erfindung gehalten hatte, von Kindern auf der ganzen Welt gespielt wird.
Spielplätze, die von der Stadt für die kleinen Bürger bereitgestellt werden, kannte ich damals noch nicht. Viele Spiele, die ich als Kind gespielt hatte, wären auf einem angelegten und durchgeplanten Spielplatz, wie es sie in Deutschland gibt, gar nicht möglich gewesen. Im Kongo tendieren wir dazu, alles, was aus dem Westen kommt, zu glorifizieren und pauschal als besser zu betrachten. Aber als ich schließlich an dem Ort stand, von dem ich als Kind so oft geträumt hatte, konnte ich keine besondere Freude empfinden. Ich konnte mich nicht so austoben, wie ich es aus meiner Heimat gewohnt war. Denn weite Sandflächen und die Erde, die uns so erfinderisch werden ließ, spielten eine entscheidende Rolle in den meisten Spielen meiner Kindheit.
Die Liebe zum Fußball forderte ebenfalls unsere Kreativität heraus. Im Kongo bastelten wir Kinder unsere eigenen Fußbälle, denn einen richtigen Ball konnten wir uns nicht leisten. Oft spielten mein Bruder und seine Freunde mit einem aus Socken oder Plastiktüten improvisierten Fußball. Die Straßen Kinshasas, voller Sand und Erde, waren ihr Spielfeld. Auf diesem Untergrund zu spielen, erfordert besonders große körperliche Anstrengung. Aber ich liebte es, barfuß durch die Gegend zu rennen. Ich liebte es, wenn die Erde an meinen Füßen klebte. Wenn ich die Hitze des Bodens unter meinen Sohlen spürte.
Ich war oft barfuß oder in meinen mapapa unterwegs – meinen Flip-Flops –, die nicht selten auseinanderbrachen. Selbst die mamas, die kilometerweit mit ihren Waren auf dem Kopf nach Kundschaft suchten, trugen stets mapapa. Nur selten sah ich meine Mutter in anderen Schuhen, ihren schwarzen High Heels. Auf dem Hinweg zur Kirche trug sie noch ihre mapapa, um dann, kurz bevor wir die Kirche erreichten, ihre schwarzen Pumps aus der Tasche hervorzuholen. Bevor sie hineinschlüpfte, wischte sie mit einem Taschentuch den Staub von ihren Füßen. Dann schritt sie anmutig mit ihren Pumps zum Gottesdienst. In diesen Momenten wirkte sie auf mich wie Naomi Campbell auf dem Laufsteg. Ich konnte es kaum erwarten, erwachsen zu werden, um so voller Anmut zu gehen wie sie.
Das war ihr Ritual. Nicht nur zu Gottesdiensten wechselte sie ihr Schuhwerk, auch zu Feierlichkeiten oder wenn sie zur Arbeit ging. Der Kongo ist ein sehr gläubiges Land, in dem überwiegend Christen leben. Der Glaube spielte eine zentrale Rolle in unserem Alltag: Für meine Mutter ist der Glaube die Essenz des Lebens. Sie verließ nie das Haus, ohne vorher gebetet zu haben. Wenn sie nach Hause kam, bedankte sie sich zuerst bei Gott, dass er sie unversehrt zu ihrer Familie hatte heimkehren lassen. Vor dem Schlafengehen und nach dem Aufstehen vergaß sie nie, mich zu fragen, ob ich schon gebetet hätte. Sehr oft versammelten wir uns als Familie, um gemeinsam zu beten. An manchen Tagen durfte ich ein paar Verse aus der Bibel heraussuchen, über die wir dann alle zusammen meditierten. Es überforderte mich jedes Mal, aber die erwartungsvollen Augen meiner Mutter gaben mir zu verstehen, dass sie so lange warten würde, bis ich einen passenden Vers gefunden hatte. Oftmals schlug ich einfach willkürlich die Bibel auf und suchte eine Stelle aus, die mir annehmbar erschien. Manchmal erinnerte ich mich auch an eine Predigt des letzten Sonntags und griff das Thema nochmals auf.
Als ich eines Tages meine mapapa zum Kirchenbesuch trug, schaute mich meine Mutter fassungslos an:
»Vor keinem Präsidenten der Welt würdest du diese mapapa tragen! Warum also traust du dich, vor Gott solche mapapa zu tragen, deren Geist diese Welt schon vor vielen Jahren verlassen hat? Es ist respektlos gegenüber Gott, mit diesen mapapa in die Kirche zu gehen.«
Seither achte ich ganz besonders darauf, welche Schuhe ich trage, wenn ich eine Kirche betrete.
Wenn ich ins Stadtzentrum Kinshasas wollte, musste ich oft etliche Kilometer zu Fuß zurücklegen, um zu einer Bushaltestelle zu gelangen. Meine mapapa überlebten die weiten Strecken nur selten. Auf dem Weg riss oft der kleine Riemen zwischen den zwei Zehen durch. Wenn die mapapa noch neu waren, konnte ich sie meist selbst reparieren und weitergehen. Aber wenn sie bereits viele Male geflickt worden waren, dann half nur noch ein Besuch beim Schuster.
Bei den weiten Strecken, die wir tagtäglich zurücklegen mussten, wäre es sicherlich praktisch gewesen, so etwas wie Wanderschuhe zu tragen. Mein späterer Ehemann wird es lieben zu wandern. Von ihm werde ich lernen, wie wichtig es ist, im Wald die richtigen Schuhe zu tragen. Aber sie sind auch dementsprechend teuer. Mapapa kosten dagegen nicht viel, benötigen aber oft eine kleine Operation, um weiterhin getragen werden zu können. Wanderschuhe oder festes Schuhwerk für die alltägliche Arbeit sind im Kongo noch immer ein Wunschtraum.
Sobald die mapapa vom Gewicht unserer Körper müde geworden waren und ihren Dienst quittierten, brachte ich sie also zum Schuster. Sein atelier befand sich am Straßenrand, nicht weit von meinem Zuhause. Kinshasa ist hügelig, und ich musste, um zum Schuster zu gelangen, einen Berg hochlaufen. Erst am Gipfel des Berges, da, wo die Straße flacher wurde, konnte ich sein atelier zwischen zwei Hauptstraßen aus der Entfernung erkennen. Unser Schuster war der einzige in der Gegend.
Wenn er nicht da war und sein atelier geschlossen hatte, mussten wir noch weiter gehen: in die wenzes, das sind kongolesische Märkte, oder in das Stadtzentrum. Das atelier unseres Schusters war vielleicht fünf Quadratmeter groß. Zwischen vier im rechten Winkel voneinander stehenden Bäumen hatte er maputa – afrikanische Stoffbahnen – gespannt, die ihm als Wände dienten. Wenn es regnete, verließ er sein atelier und versteckte sich unter den großen Blättern eines nahen Baumes. Ich fragte mich immer, was er tat, wenn der Regen schlimmer wurde, denn es gab kein Dach oder Wände, um die Schuhe vor dem Regen zu schützen.
Mapapa sind aus Plastik. Ihnen macht der Regen nichts aus. Aber Schuhe aus Leder oder anderem Material brauchen Schutz vor der Nässe. Es gab auch keine Tür, die er hätte abschließen können: Nach Feierabend mussten die mapapa und die anderen Schuhe vor Diebstahl geschützt werden. Deshalb nahm der Schuster sie mit zu sich nach Hause. Ein Auto, mit dem er die Schuhe hätte transportieren können, kann er nicht gehabt haben. Für seine Verhältnisse, wie auch für viele andere Kongolesen, wäre das eine Ausnahme gewesen. Ich fragte mich, wie er jeden Tag mit den ganzen Schuhen und Werkzeugen in sein atelier kam. Vielleicht wohnte er nicht weit entfernt und hatte nur eine kurze Strecke zu laufen.
Wenn die Schuh‑OP nicht mehr als fünf Minuten in Anspruch nahm, wartete ich geduldig, bis meine mapapa repariert waren. Wenn es sich jedoch um einen gebrochenen Absatz handelte und die Reparatur länger dauerte, nannte mir der Schuster einen Termin, an dem ich die Schuhe wieder abholen konnte.
Oftmals war die Reparatur am vereinbarten Tag noch nicht abgeschlossen. Dann wartete ich auf einer Bank aus Bambus in dem winzigen Raum voller Schuhe auf meine mapapa. Die Schuhe mussten ordentlich geklebt oder mit Nadel und Faden genäht werden, damit sie den Füßen zuverlässig Schutz vor den unsichtbaren Gefahren gewährten, die auf dem Boden lauerten.
Und davon gab es einige. Oft musste mir meine Mutter eine liyanzi aus meinem großen Zeh entfernen. Eine liyanzi ist eine Art Floh und gehört zur Familie der Sandflöhe. Dieser Parasit ist in den meisten tropischen Ländern verbreitet und lauert im Kongo vor allem während der Trockenzeit im Sand. Mit dem bloßen Auge ist er kaum zu erkennen. Es ist vor allem für Kinder ein Leiden, wenn diese kleinen Tierchen sich entscheiden, die eigenen Füße zu ihrem neuen Zuhause zu ernennen.
Weil ich so oft barfuß spielte, waren meine Füße ein gefundenes Fressen für die liyanzi. Am Anfang bemerkte ich sie kaum. Doch dann fingen die Stellen an, derart zu jucken und zu schmerzen, dass ich am liebsten aus meinem eigenen Körper geflohen wäre.
Ich muss ungefähr sieben Jahre alt gewesen sein, als meine Mutter mir das erste Mal Flöhe mit einer Stecknadel aus dem Fuß entfernt hat. Ich begann schon zu weinen, bevor sie mit ihrer Operation überhaupt begonnen hatte. Allein die Vorstellung davon, was mich in wenigen Minuten erwarten würde, bereitete mir große Schmerzen. Zwar wollte ich den Parasiten aus meinem Fuß entfernt wissen, aber die Behandlung fürchtete ich fast noch mehr. Als meine Mutter dann mit sanfter Gewalt nach meinem Fuß griff, um den Sandfloh zu entfernen, schrie ich wie am Spieß: »Je vais mourir, je vais mourir!«, denn in diesem Moment glaubte ich mich dem Tode nahe. Und meine Mutter schien hin- und hergerissen, ob sie lachen oder schimpfen sollte.
In einem Haus mit so vielen Menschen, wie wir es waren, gab es nicht immer genug mapapa für jeden. Viele von ihnen waren kaputt oder gerade beim Schuster zur Reparatur. Das führte dazu, dass wir mit den verbliebenen mapapa auskommen mussten. Die Duschen befanden sich hinter dem Haus im Freien. Kein Mensch ging dort barfuß duschen, da sie von vielen Haushalten gemeinsam benutzt wurden. Mapapa waren daher neben Wasser und Seife unverzichtbar, wenn man duschen wollte, denn sie schützten vor Bakterien, und außerdem blieben die Füße sauber, wenn man zurück ins Haus ging. Es kam nicht selten vor, dass eine Mutter ihr Kind anschrie, weil es ihre mapapa angezogen hatte, um spielen zu gehen. Der Sand sollte nicht ins Haus getragen werden, deswegen mussten die Schuhe stets vor der Haustür abgestellt werden. Meine Mutter hatte damit ständig zu kämpfen. Wenn sie aus dem Haus kam und ihre mapapa anziehen wollte, konnte sie sie oft nicht finden. Aus der Ferne hörte ich sie dann auf Lingala schreien: »Nani azui mapapa na nga?« Wer hat meine mapapa an? Und als wäre ihr in Sekundenschnelle die Erleuchtung gekommen, hörte ich sie gleich darauf meinen Namen rufen.
Im Kongo gibt es zwei Jahreszeiten: die Trockenzeit und die Regenzeit. Meine Cousine Sarebi ist im Kongo Eventmanagerin, hauptsächlich für Hochzeiten. Sie erzählte mir, dass ihr Geschäft in der Trockenzeit am besten lief. Ich kann zwar verstehen, dass viele Menschen Angst davor haben, an ihrem Ehrentag vom Regen überrascht zu werden. Außerdem ist es während der Regenzeit sehr heiß. Trotzdem kann ich nicht nachvollziehen, warum die meisten Kongolesen die Trockenzeit bevorzugen. Meine Lieblingsjahreszeit war stets die Regenzeit.
Wenn Menschen in den Kongo reisen wollen, rate ich ihnen daher, in der Regenzeit zu fahren, denn sie sollen den Kongo in seiner vollen Pracht erleben. Sie sollen die leckersten Mangos, Maracujas und Papayas, die meistens in der Regenzeit reif sind, probieren und Kongos grüne Lunge bewundern können.
Mir wird es immer noch warm ums Herz, wenn ich daran denke, wie ich mich nach tagelangem Regen über einen sonnigen Tag freuen konnte. Es war wie ein Naturgesetz. Wenn es an einem Tag unermüdlich regnete, konnte ich sicher sein, dass der nächste Tag sehr heiß sein würde. Es war ein unglaublich lebendiges Gefühl, am Tag nach dem Regen aufzustehen und am hellblauen Himmel keine einzige Wolke zu erblicken. Alles war frisch, und die Blumen bekamen durch die Sonnenstrahlen einen ganz besonderen Glanz.
Doch die Regenzeit konnte auch ein Fluch sein. Der Regen hinterließ jedes Jahr Löcher im Erdboden, die Jahr für Jahr größer wurden, sobald die Regenzeit wieder anfing. Jedes Jahr trafen die Älteren aus der Nachbarschaft Vorkehrungen, damit es nicht noch schlimmer wurde. Sie nahmen leere Reissäcke, füllten sie mit Sand und stopften die Löcher damit. Doch der kongolesische Regen konnte manchmal unverschämt sein und ließ sich davon nicht beeindrucken. Er bohrte stattdessen noch mehr Löcher und vertrieb dadurch viele Familien, deren Häuser durch den weggeschwemmten Boden nicht mehr so stabil standen wie vorher. Das Haus eines unserer Nachbarn konnte davon ein Lied siegen. Jedes Jahr fraßen sich die Löcher immer näher an das Haus heran, und jedes Jahr trafen die Älteren die notwendigen Vorkehrungen, um das Schlimmste zu verhindern.
Ich weiß nicht recht, aber ich hatte das Gefühl, dass diese Vorkehrungen den Regen mit jedem Mal wütender machten. In der nächsten Regenzeit kehrte er dann mit noch mehr Kraft zurück und zerstörte die mühsam aufgeschichteten Sandsäcke. Das Haus von unserem Nachbarn stand schließlich wie eine klapprige Hütte auf einem steilen Berggipfel und schien nur auf einen winzigen Windstoß zu warten, um ganz abzustürzen. So kam es, dass während der Regenzeit viele Häuser zerstört wurden. Es machte mir jedes Mal Angst, wenn ich sah, was mein geliebter Regen anrichten konnte.
In Kinshasa spielt sich das Leben die meiste Zeit des Tages draußen ab. Auch die Wäsche wird vor dem Haus getrocknet. Wenn es zu regnen anfing, rannte ich schnell wie der Blitz nach draußen, um die Wäsche und alles, was nicht nass werden durfte, ins Trockene zu bringen.
Ich erinnere mich an ein Lied, das wir in der Schule sangen: »Nous avons chaud chaque jour à midi … sous le soleil nous avons chaud …«
Während der Regenzeit stimmt das ganz besonders. In der Mittagszeit scheint die Sonne am intensivsten. Ihre Strahlen durchdringen unsere Seele und erwärmen sie, damit wir unter der Sonne glänzen. Wenn die Menschen in der Sonne stehen, bekommt ihre dunkle Haut einen glänzenden Schimmer. Das ist so schön anzusehen wie eine Galaxie voller Sterne. Der Nachteil daran scheint für viele Menschen zu sein, dass man immer dunkler wird, je länger man sich in der Sonne aufhält.
»Oyendi makasi boye.« Du bist dunkler geworden. Das hörte ich sehr oft, nachdem ich in der prallen Sonne gespielt hatte. Die Sonnenstrahlen hinterließen ihre Spuren, indem sie meine Haut dunkler machten. Die Nuancen zwischen dem unterschiedlich intensivem Schimmern der Hautfarben werde ich erst später erkennen lernen. Als Kind waren für mich alle Schattierungen gleich. Heute sehe ich sofort, wenn die Sonnenstrahlen es besonders gut mit einer Schwester oder einem Bruder gemeint haben.
Um die Mittagszeit, wenn die Sonne uns ihre heißen Küsse schenkte, warteten wir, bevor wir das Haus verließen oder erholten uns unter einem Mangobaum. Die flatternden Blätter gaben uns die ersehnte Kühlung.
In den Straßen Kinshasas sieht man besonders in der heißen Regenzeit viele Jungen mit großen Behältern voller Wasser auf dem Kopf. Das Wasser ist in kleine Plastiktüten verpackt und auf einer Schicht Eiswürfel gelagert, die es kühl hält. Die Jungen schreien immerzu: »Mela mayi, mayi! Mayi ya mpio, mayi!«
Trink Wasser, kaltes Wasser!
Doch meine Mutter war diesem abgepackten Wasser gegenüber oftmals misstrauisch, da sie nicht wusste, wo es herkam und wie es verarbeitet worden war. Daher kaufte sie es nie, zumindest nie, wenn ich dabei war. Das Wasser, das wir zu Hause tranken, kochten wir zuerst über dem Feuer ab. Wir ließen es abkühlen, bevor wir es in einen Behälter füllten. Wenn es gerade Strom gab, wanderte das Wasser anschließend in den Kühlschrank. Erst dann durften wir es trinken. Wenn es nach meiner Mutter ging, konnten wir nicht vorsichtig genug sein. Aber die Sonne und ihre Strahlen verleiteten mich an manchen Tagen dazu, die Prinzipien meiner Mutter zu ignorieren.
Meine Schule war weit entfernt von meinem Zuhause. Wenn das Geld für den Bus nicht reichte, ging ich zu Fuß. Doch dann holte mich irgendwann der Durst ein, und der Klang von mela mayi war wie eine Erlösung.
Vielleicht erschien mir auch deshalb Europa so aufregend: die Kälte, der Schnee im Winter. Weiße Weihnachten kannte ich nur aus Filmen. Dass es während des Weihnachtsfests draußen schneien konnte, erschien mir wie ein Traum. Innerlich freute ich mich schon damals, die äquatoriale Hitze irgendwann gegen einen richtigen Winter eintauschen zu können und im Schnee zu spielen.
Mein erster Winter in Deutschland würde mir jedoch zu verstehen geben, dass ich mich an diese Kälte niemals gewöhnen werde. Wenn ich wochenlang keine Sonnenstrahlen sehe, weckt das meine Sehnsucht nach dem Kongo. Dort ist es unmöglich, eine ganze Woche lang nicht von der Sonne geküsst zu werden.
Am Äquator ist es in der Regel bereits um 18 Uhr so dunkel wie um Mitternacht. An den Straßenecken, wo die mamas auch spät noch ihre Waren verkauften, erhellte ihr Licht die Straßen. Kinder – meistens Jungen – liefen durch die Nacht und verkauften Benzin für die Petroleumlampen, die ein wenig Licht in die Dunkelheit bringen sollten. Man konnte diese Kinder fast nicht sehen, weil es überall so dunkel war. Doch man wusste schnell, wo sie waren, denn sie klopften mit einer Metalldose an die Glasflasche, in der sie das Benzin abgefüllt hatten, als wollten sie einen Toast aussprechen. Wenn ich dieses Geräusch hörte, durfte ich »Mwana pétrol!« rufen. Denn so nannten wir sie: Benzinkinder. Da es dunkel war, wussten die Benzinkinder nicht immer, welches Haus nach ihnen gerufen hatte.
Ich stellte mich gerne draußen vor unser lopango – unser Grundstück – und machte mit meiner unüberhörbaren Stimme deutlich, dass wir es waren, die den mwana pétrol gerufen hatten. Dann füllte er unsere Petroleumlampe mit Benzin. Wenn genug Geld da war, kaufte meine Mama auch gleich einen Vorrat für den nächsten Tag. Ich durfte mir ein paar Münzen aus der Tasche meiner Mutter nehmen und sie dem mwana pétrol überreichen. So hatten wir Licht, wenn der Strom mal wieder lieber im Nirgendwo unterwegs war, anstatt uns Gesellschaft zu leisten.
Die Geschichten, die entstehen, wenn Strom und Licht in Kinshasa fehlen, sind unbezahlbar: Einer meiner Freunde war auch ein mwana pétrol. Von ihm weiß ich, wie es war, als Kind in den dunklen Straßen Kinshasas Benzin zu verkaufen, damit die Menschen nicht im Dunkeln leben mussten. Jedes Mal lachte ich Tränen über seine Abenteuer, denn er war ein exzellenter Erzähler. Jede Tragödie in seinem Leben konnte er so erzählen, dass ich vor lauter Lachen Sorge um meine schwache Blase bekam. Es fiel ihr dann sehr schwer, dem Druck meines Lachens standzuhalten.
Wenn es dunkel wurde, hörte ich die Benzinkinder überall. Ihr Klopfen in der Nacht war aus dem Kongo ebenso wenig wegzudenken wie das Vogelzwitschern am Morgen. Sie liefen durch die dunklen Straßen mit einem Kanister voller Benzin, einer leeren Glasflasche und einer leeren Tomatenmarkdose. Die Dose diente als Messbecher. Falls jemand nicht genug Geld für eine ganze Flasche Benzin hatte, konnte er auch nur ein oder zwei Dosen Benzin kaufen. Anders als andere Verkäufer, die laut und deutlich ihre Waren feilboten, erkannten wir den mwana pétrol nur durch das Klopfgeräusch, das er mit Glasflasche und Dose erzeugte. Manche Benzinkinder versuchten, sich vorzudrängeln und als Erste zum Kunden zu laufen, obwohl sie gar nicht zum Verkauf gerufen worden waren. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass das Kind, welches als Erstes geklopft hatte, dasjenige war, das auf dem entsprechenden Grundstück seine Ware verkaufen durfte. Mein Freund hatte diese Regel einmal gebrochen und wäre deshalb beinahe verprügelt worden.
»Was ist dann passiert?«, fragte ich meinen Freund.
»Der Junge, der eigentlich gemeint war, hat vor der Tür auf mich gewartet. Er wollte das Geld, das ich an seiner statt verdient hatte. Aber ich wollte es ihm nicht geben. Er drohte mir Prügel an. Er war viel größer als ich, ich hätte überhaupt keine Chance gehabt.«
»Und was hast du dann gemacht? Bist du weggelaufen?«, fragte ich.
»Nein, aber ich habe ihm meinen nächsten Kunden angeboten.«
In der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, hatten wir oftmals kein fließendes Wasser. Das Wasser kam und ging, wann es wollte. Vor allem in der Trockenzeit erlebten wir Wochen, manchmal sogar Monate, ohne dass Wasser aus unseren Wasserhähnen gelaufen wäre. Dann musste ich mit zwei 5‑Liter-Kanistern zusammen mit meinen Cousinen frühmorgens vor der Schule Wasser suchen gehen, oder manchmal auch nach der Schule, wenn morgens die Zeit dafür nicht ausgereicht hatte. Wir wussten nie genau, wo gerade Wasser zu finden war. Auf der Suche danach trafen wir Menschen mit gefüllten Behältern auf ihren Köpfen, die uns Tipps gaben, wo noch Wasser auf uns warten könnte. Wenn wir Glück hatten, dann waren es tatsächlich nur ein paar Minuten zu Fuß. Wenn nicht, dann mussten wir sehr weit laufen, bis wir Wasser fanden. Dort stand dann schon eine lange Schlange von Menschen mit Behältern, die zehn, zwanzig oder sogar fünfzig Liter fassen konnten. Wir mussten uns hinten anstellen und warten, bis wir endlich an der Reihe waren, um unsere Kanister aufzufüllen. Das Wasser verhielt sich oftmals wie eine launische Diva. Wenn es wollte, schoss es mit voller Kraft aus dem Wasserhahn heraus, und wenn es keine Lust hatte, kroch es langsam wie eine Schnecke in die Behälter hinein. Das Wasserholen erforderte viel Geduld.
Mir kam es jedes Mal wie eine Ewigkeit vor, bis ein Kanister gefüllt war. Wenn das Wasser einen besonders schlechten Tag hatte, – und leider hatte es sehr oft einen schlechten Tag – hörte es von einer Sekunde auf die andere einfach auf zu laufen. Da hatten wir stundenlang gewartet, damit auch wir vom Wasser etwas abbekamen, und kurz bevor wir unsere Behälter endlich füllen konnten, entschied sich das Wasser dann doch, dorthin zu fliehen, wo die Menschen es nicht unter Druck setzen konnten. Dann mussten wir uns erneut auf die Suche machen. Wenn es bei uns in der Gegend kein Wasser mehr gab, suchten wir im nahe gelegenen Wald weiter. Das hasste ich, was vor allem an der Beschaffenheit des Weges lag. Er war schmal, steinig und sehr lang. Ohne das Wasser auf dem Kopf war es leichter, den Weg auf sich zu nehmen. Die Schwierigkeit ergab sich erst beim Rückweg mit dem gefüllten Behälter, denn dann ging es zudem noch bergauf.
Viele Jahre später werde ich von einer Freundin in Deutschland gefragt, ob ich Ballett tanzen würde, da ich eine so aufrechte Haltung hätte. »Das Wassertragen auf dem Kopf hat sich ausgezahlt!«, würde ich scherzhaft erwidern. Mein tägliches Krafttraining war zwar nicht unbedingt freiwillig, aber vielleicht der Grund, warum ich bei Umzügen problemlos auch schwere Gegenstände tragen kann. In Deutschland werde ich in ein Fitnessstudio gehen müssen, um diese Kraft auch weiterhin zu behalten. Trainieren wollen oder es zu müssen, sind jedoch zwei völlig verschiedene Dinge.
Jedes Mal, wenn ich die Wasserquelle erreichte, sah ich neben den Kindern und Erwachsenen, die im Wasser badeten, auch viele Mütter, die Wäsche oder Geschirr wuschen. Es ergab keinen Sinn, das mühsam nach Hause geschleppte Wasser innerhalb von wenigen Minuten an Geschirr oder Wäsche zu verlieren. Deshalb nahmen sie vieles aus ihren Haushalten mit zur Quelle.