Unter keinem Wipfel ist Ruh - Jürgen Roth - E-Book

Unter keinem Wipfel ist Ruh E-Book

Jürgen Roth

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Beschreibung

Eine humorvolle Liebeserklärung an das Leben auf dem Land und ein Muss für alle, die dem Stadtleben entkommen möchten. Goethes Gedicht "Über allen Gipfeln ist Ruh'' liefert die literarische Kontrastfolie für Jürgen Roths Werk. Während bei Goethe noch die Stille der Natur im Vordergrund stand, beleuchtet Roth in seiner "langen Erzählung vom Land" die Besonderheiten sowie Ecken und Kanten des Landlebens in mal poetischer, mal augenzwinkernder Weise. "Unter keinem Wipfel ist Ruh" wurde mit dem Jahreskunstpreis Literatur 2004 ausgezeichnet.-

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Seitenzahl: 234

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Jürgen Roth

Unter keinem Wipfel ist Ruh

Eine lange Erzählung vom Land

Saga

Unter keinem Wipfel ist Ruh

 

Lektorat: Aenne Glienke

Coverbild: Shutterstock

Copyright © 2001, 2022 Jürgen Roth und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728372364

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Auf dem Lande können die Menschen doch noch beisammen sein, ohne sich häßlich zu drängen. Da könnten, wenn alles wäre wie es sollte, schöne Wohnungen und liebliche Hütten wie frische Gewächse und Blumen den grünen Boden schmükken und einen würdigen Garten der Gottheit bilden.

Freilich werden wir auch auf dem Lande die Gemeinheit wieder finden, die noch überall herrscht.

Friedrich Schlegel: Lucinde

Ist das schön auf dem Land!

Jean-Luc Godard: Außer Atem

1

Großvater

Der Großvater nimmt das Fahrrad. Er holt es aus der Scheune, schiebt es über den Hof, am Rande des Gehwegs steigt er auf, und er fährt los. Dann geschieht ein wenig.

Der Großvater fuhr Fahrrad nicht aus Sparsamkeits- oder ökologischen Gründen oder Erwägungen, eine ökologische Krise gab es im übrigen damals ja schlechthin nicht. Er fuhr Fahrrad, weil er weder je einen Führerschein noch einen Pkw besessen hatte.

Das ganze Dorf, vielleicht auch nur ein Teil der Anwohnerschaft dieser Straße, die aus dem Ort hinaus auf die Felder führte, fürchtete die Augenblicke, da der Großvater durch das offene Hoftor das Fahrrad auf die Straße schob, es quer zum Rinnstein stellte, zu sich kippte und mit einem bedächtigen Übersteiger aufsattelte. Dann fuhr er los, in leichten Schlangenlinien, etwas wackelnd rollte er die Straße Richtung Dorfplatz hinunter.

Vielleicht eine Minute dauerte es, bis der Großvater die einhundert oder zweihundert Meter hinter sich gebracht und den Platz erreicht hatte. Die Straße war längst asphaltiert, der Verkehr allerdings noch mäßig. Die Bauern belebten im Frühjahr oder im Hochsommer, zur Getreideernte, morgens und abends jene Straße, die das Unterdorf teilte und in dessen Gemarkungen führte. Die Landwirte des Oberdorfes nutzten mit ihren schon damals schweren Gerätschaften und Fahrzeugen die Hauptstraße, die ihnen die nördlich des Dorfes gelegenen Äcker und Wälder, Wiesen und wenigen Obstbaumbestände erschloß.

Der Großvater war ein großer Mann mit sehr großen Händen, ein ruhiger Mann, der das Dorf in seinem langen Leben kaum verlassen hatte. Er war ein einfacher Mann, den man nie oder höchstens dann ganz leise fluchen hörte, wenn ihm etwa beim Stapeln der Holzscheite für die Heizung im Keller des Hauses, das den bescheidenen Hof zur Straße hin abschirmte, die groben Holzkanten zu oft den Händen entglitten, denn es war ihm vielleicht die einzige Bitternis, daß diese Hände, von denen er sich ein Leben lang ernährt hatte als Landarbeiter und Gärtnereiarbeiter, nun wegen eines nicht zu behandelnden Nervendefekts bisweilen so taub wurden, daß er in ihnen kein Gefühl mehr besaß, nicht für das Stapeln der Holzscheite und nicht für das Schmieren eines Wurstbrotes, noch gar für das exakte Setzen eines Mühlesteins am Abend, nach dem Vespern, da er mit seinen Enkeln gerne am abgedeckten Tisch die eine oder andere Partie Mühle spielte.

Der Großvater fuhr Fahrrad, und wenn nicht die Anwohner der Straße, an welcher jener Hof lag, in dem der Großvater seit Jahrzehnten lebte mit seiner Frau und viele Wochen des Jahres auch mit seiner Tochter, deren Mann und den Kindern, die Momente fürchteten, da er das alte schwarze Fahrrad bestieg und fast berückend würdevoll loszuckelte, dann fürchtete diese Momente zumindest die Tochter. Sie fürchtete das Fahrradfahren des Vaters, das er sich nicht nehmen noch ausreden lassen wollte, weil sie Angst hatte, er könne zu Fall kommen, wackelig, wie er mittlerweile war. Aber er wolle durchaus nicht immer alles zu Fuß erledigen, entgegnete er dann der geliebten Tochter, er wolle hinaus zum Garten sehr wohl weiterhin das Fahrrad benutzen und hinterher noch hie und da nach dem Rechten sehen und schauen, was vorgefallen sei in den letzten Tagen und wie im allgemeinen die Arbeiten am Klärwerk vorangingen.

Nun erreichte der Großvater den Dorfplatz, der Sternplatz hieß. Von dort zweigte die Hauptstraße hinauf ins Oberdorf ab, die Straße Richtung Süden zur kleinen Fabrik und ins Tal auf einen Ort namens Wernsbach zu sowie die Straße, die am Rottlergäßchen, am Postamt mit den zwei Schaltern, an einem Wirtshaus und am Bahnhof vorbei- und auf ein Plateau hinausführte, auf dem zwischen Feldern und Kiefernwäldern ein einzelner Hof stand, den man so gut wie nie aufsuchte. Man suchte, wenn man sich denn veranlaßt sah, das Dorf zu verlassen, die östlich gelegenen Höfe auf, die eine Ortschaft von etwa zehn Anwesen bildeten, in deren Mitte eine jahrhundertealte Linde aufragte, ein stolzer Baum, der nur in Dörfern zu sehen war, in den Wäldern duldeten deren Besitzer nahezu ausschließlich schnell wachsende Hölzer.

Möglich, daß der Großvater jetzt stoppte; schon hier, am Sternplatz, eine Pause einlegte. Nicht weil ihn ein herankommender Wagen daran hinderte, die Kreuzung zu queren, oder weil er überlegte, welche Richtung er heute wählen solle. Der Großvater war entschlußkräftig und wußte mit seinem Tag etwas anzufangen. Der Tag hatte einen Morgen, einen Mittag um zwölf, eine gewisse Zeit der Ruhe und einen Nachmittag, der im Sommer naturgemäß ein wenig über die fünf Uhr hinausreichte und nach dem Abendbrot, das dann den Tag noch nicht gänzlich beschloß, sich zuzeiten bis in den Abend hinein verlängerte, an dem man sich weiterhin und ohne Hast an den Dingen zu schaffen machen konnte: die Scheune kehren, das Gerümpel im Werkzeugschuppen ordnen, eine Fuhre Schmutz mit der Robbern, der Schubkarre, fortbringen oder Erdbeeren ernten im Hausgarten neben dem von Hühnern belebten, rückwärtig zur Scheune gelegenen Grund. Oder die Kaninchen füttern, deren Ställe im engen Durchgang zwischen der Scheune und der Waschküche des linksseitigen Nachbarn untergebracht waren. Die Kaninchen füttern mit Heu durfte bald auch der Enkel, und der Großvater ging derweil seinen Beschäftigungen nach. Wie behütend schritt er umher, durch die Waschküche, den stillgelegten Schweinestall, die Scheune, den Garten und über den Hof, schaute ab und an bei seinem Enkel vorbei, ob alles seine Richtigkeit habe, streichelte ihm über den Kopf und verschwand wieder um eine der vielen Ecken, die diesen einfachen, beinahe und früher ganz bestimmt ärmlichen Hof zu einem Ort der Behaglichkeit und mancher Geheimnisse machten.

Der Großvater hatte nämlich den Dornmeier aus dessen Hof herauskommen sehen und trat deshalb auf die Bremse. Er fuhr nur bei trockenem Wetter und angenehmen Temperaturen Fahrrad, deshalb mußte sich die Familie und vornehmlich die Tochter eigentlich nicht sorgen, er könne vom Fahrrad stürzen und sich womöglich den Oberschenkel brechen. Der Gerch, so nannte ihn das Dorf, brachte das Fahrrad zum Stehen und grüßte mit erhobener Hand. Diese Hand war wirklich eine große Hand, die er aber nie gegen jemanden erhob. Die Hände des Großvaters waren, wie das nicht verwunderlich ist, ledrig, gegerbt, zerfurcht, aber es waren nicht bloß Hände, die zupacken konnten, es waren Hände, mit denen er gerne winkend und wedelnd und seine Freude über jedes Zusammentreffen signalisierend die ihm eigene Herzlichkeit gestisch zum Ausdruck brachte, Hände waren es, die grüßten und anständige Handschläge eingingen und die oft, zum Dank oder einfach so, vorsichtig über die Wangen der Enkelkinder oder deren Haar fuhren. Selten wurde dies der Großmutter zuteil, vor aller Augen der Familie wenigstens, doch oft berührten die Hände des Großvaters die Kinder, ganz beiläufig, und dann sagte er, sie, die Kinder, seien seine Guten.

Eventuell hatte der Dornmeier den Großvater schon nahen sehen. Die Straße machte einen leichten Bogen auf seinen Hof zu, so daß er ihm entgegenkam, um zu grüßen und eine kurze Unterredung zu führen, so beiderseits Zeit dazu sei. Der Dornmeier hatte einen Hof, der ihn ernährte, mit etwa zwanzig Kühen, ein paar Schweinen, einem Traktor und anderem Gerät, während der Gerch die Landwirtschaft im wesentlichen aufgegeben hatte und das Kleinvieh hielt und die Gärten bestellte, weil es ihm, der eine minimale Rente bekam, die Versorgung sicherte.

Nun könnten sich der Großvater und sein entfernter Nachbar Dornmeier besprochen haben. Ob er, der Gerch, denn partout das Fahrrad benutzen müsse, wo er weiß Gott nicht mehr der Sicherste auf diesem klapprigen Gefährt da sei. Er habe ja weiß Gott Zeit genug, zu Fuß zu gehen, wo immer er hinwolle. Er sei schon ein Sturkopf, wo er wisse, daß einem nicht wohl dabei zumute sei, ihn da durchs Dorf und die Straßen schlingern zu sehen, und sähe man es auch nicht, sähe man es ja vor sich, wie er herzuwackele auf dem alten Bock, den er jetzt mal wegwerfen solle, das rostige Ding gehöre längst weg, eröffnete Dornmeier die Unterhaltung.

Nein, nein, lachte der Gerch seinen Freund an, das Fahrrad schmeiße er nicht weg, solange es noch gehe. Solange er mit dem Fahrrad noch hierhin und dorthin unterwegs sein könne, sehe er nicht ein, das Fahrrad wegzuwerfen und das Fahrradfahren aufzugeben. Kein Gesetz der Welt verbiete es ihm, mit dem Fahrrad zu fahren. Und übrigens möge man schon wissen, wieso man ein funktionierendes Fahrrad auf den Müll schmeißen solle.

Es sei schon gut, alter Störresel, erwiderte Dornmeier, aber er solle doch mal an das Annerl denken, das halt den Vater gerne einsichtiger sähe in diesem Punkt.

Naa, naa, der Wolf schimpfe zwar auch allerweil mit ihm, doch das gehe schon. Wenn es nicht mehr gehe, dann wisse er das schon.

Wo es denn hingehe, fragte Dornmeier daraufhin, und der Großvater wies mit der linken Hand Richtung Hauptstraße, erst zum Metzger, dann in die Anstalt, Stiefmütterchen zum Setzen auf dem Friedhof müsse er holen in der Anstaltsgärtnerei, und jetzt müsse er wirklich los, sagte der Großvater, er wolle vor dem Mittagessen draußen auch noch nach den Stachelbeeren sehen.

Die Stachelbeeren seien doch jetzt noch nicht reif, es sei viel zu feucht gewesen die letzten Wochen, der Weizen stehe viel zu niedrig dieses Jahr, das könne er sich ja wohl sparen, und wenn er sich diesen Schlenker von der Anstalt zum Garten draußen erspare, dann könne er auch gleich zu Fuß gehen und käme dennoch pünktlich zum Mittagessen wieder heim.

Das sei schon in Ordnung so, sagte der Großvater, schüttelte kräftig Dornmeiers Hand, zog die alte blaue Joppe zurecht, strich sich durchs kurze, volle Haar und zog das Fahrrad zu sich heran.

Der Großvater stieg wieder auf, die Prozedur begann von vorne. Am Lenker baumelte ein Plastikeimer, ein zerkratztes, ausgeblichenes Behältnis irgendeines Kraftfutteranbieters, das dem Großvater gegen das Knie schlug, während er langsam in die Pedale trat und über den Sternplatz gondelte.

Aufpassen solle er bloß, rief Dornmeier hinterher, und der Großvater hob nochmals grüßend und leicht abwinkend die Hand, worauf das Fahrrad bedenklich zitterte.

Linker Hand führte die Straße zur Autoteilefabrik, gesäumt von einer Doppelreihe alter Laubbäume. Der Großvater fuhr indes rechts um die Ecke in die Hauptstraße hinein und hielt nach ein paar Metern bereits wieder an. Das Dorf hatte sich zwar in den letzten Jahren entwickelt, seine Wege waren erneuert, ein paar Äcker am Rande und ein paar Brachen im Innern des Ortes erschlossen und die schlichten Gebäudlichkeiten entlang den sternförmig die Gemeinde durchziehenden Hauptstraßen renoviert worden, doch im Grunde war alles beim alten geblieben. Kein neues Gewerbe zog das Dorf an, und die eingesessenen Händler, Handwerker und Kleinunternehmer sorgten dafür, daß man das zum Leben Notwendige bekam, und zwar reichlich, sofern es der Tradition entsprach, was vorzüglich für die Wurst- und Fleischwaren, das Brot und das Bier galt.

Hier gab es keinen Markt. Es hatte nie einen Markt gegeben. Es gab den Sternplatz, von dem drei-, viermal am Tag ein Bus zwanzig Kilometer in die nächste Kleinstadt abfuhr, es gab den kastlhaften Bahnhof, den ein pfeifender Kurzzug bediente, es gab zwei Kirchen, ein großes und mehrere kleine Gasthäuser, etwa den Goldenen Bären an der Hauptstraße, wo der Onkel später auf der Terrasse mit seinem Bruder und dessen Söhnen oder bloß mit einem der Neffen samstags, wenn um eins die Lebensmittelkrämer, die Metzgereien, die Bäckereien abgeschlossen hatten, in der Sonne ein paar Biere zu trinken pflegte.

Der Großvater lehnte das Fahrrad an die Wand des Haushaltswarengeschäfts. Sehr gerne aß der Großvater morgens, war er für sich unterwegs und erkundete immer aufs neue sein Dorf, einen Weck, einen Wurstweck. Am liebsten aß er freilich zu Hause in der Eßecke in Geselligkeit. Aber allein und unterwegs mit dem Fahrrad aß er auch sehr gerne. Er querte die Hauptstraße und betrat die Metzgerei, eine der drei Metzgereien, dies war die nächst zu seinem Hof gelegene Metzgerei. Meistens entschied sich der Großvater für ein Stück Hausmacherwurst, es konnte indes genausogut sein, daß er einmal bei der Frau Metzgerin, die in ihrem weißen Kittel eine imposante Figur hinter dem Tresen machte, einen Bierschinken oder ein Stück Bauchfleisch bestellte, die er auf den Weck legen und einpacken ließ.

Der Großvater trug stets zu seinem blauen Arbeitskittel eine blaue Arbeitshose aus robustem Baumwollstoff, bis Samstagmittag. Dann legte er die Arbeitskleidung ab, nahm ein Bad und schlüpfte in die braune Kordhose, die dem restlichen Samstag vorbehalten war. Am Sonntag trug der Großvater freilich seinen Sonntagsanzug, und sonntags fuhr er nie Fahrrad, sonntags ging er zu Fuß, zum Oschner, dem Hauptgasthaus, und auf den Friedhof, morgens in die Kirche, die evangelische St. Nikolaikirche, und meistens ging er die fünfhundert Meter vom Hof zur Kirche zusammen mit den Nachbarn, mit Dornmeier, dem Raumausstatter Göller, dem alten Schustermeister Kling und, seltener, dem Elektriker Münch.

Der Großvater wühlte in der verbeulten Hosentasche nach seiner aus weichem, braunem Leder gefertigten Börse. Sie lag rund in der Hand und enthielt nie mehr als ein paar Münzen und einen Zehnmarkschein. Dem Großvater lag daran, den Überblick zu behalten über die ihm frei zur Verfügung stehenden Geldmittel, und daher kam es höchst selten vor, daß sich ein Zwanzigmarkschein in die Börse verirrte. Er mochte es, im Münzfach herumzukramen und die kühlen Geldstücke zu fühlen. Er redete nie vom Sparen, nie von einer Geldnot, er benötigte nicht mehr als diese Münzen und notfalls den kleinen Schein, mit denen er seinen Weck und andere Kleinigkeiten bezahlte. Die Großmutter verwahrte zu Hause die Geldscheine, sie war sozusagen betraut und belastet mit der Aufgabe, die wahren Geldwerte zu verwalten und vor Zugriffen zu sichern, die der Großvater nie fürchtete. Die Großmutter jedoch dachte oft sogar laut darüber nach, wie nachts ein paar Spitzbuben in das Haus eindringen und die Geldscheine entdecken und davontragen könnten, obwohl diese nicht nur in dem riesigen Wandschrank unter ungeheuren Mengen von Tüchern, zu Tüchern umgearbeiteten Hemden, Bettlaken und anderen Bezügen in hölzernen Kassetten oder ledernen Dokumentenmappen verstaut und verborgen waren, sondern auch von den schlafenden Enkelkindern bewacht wurden. Die Enkelkinder waren die Hüter des papierenen Geldschatzes, und weil sie allein mit Sicherheit keinen Einbrecher lediglich durch ihre Anwesenheit und durch ihr Aufwachen davon abgehalten hätten, das Geld zu stibitzen, mußten sie, die Hüter, davor bewahrt werden, überhaupt als Hüter in Erscheinung oder Aktion treten zu können. Um die Enkelkinder und letztlich das Geld zu sichern, ging die Großmutter im Winter schon um fünf Uhr durch das Haus, erklärte, daß es Nacht werde, schloß sämtliche Fenster, prüfte, heftig an den Fenstergriffen rüttelnd, ob sie abgeschlossen waren, und ließ die Jalousien herunter. Im Sommer konnte das etwas später, etwa um sechs oder halb sieben, geschehen, aber es geschah dann mit derselben Hartnäckigkeit und Unerbittlichkeit wie im Winter. Daß trotz dieser Maßnahmen einmal hundert Mark verschwanden, schrieb die Großmutter der Anwesenheit entweder des Seifen- und Waschmittelvertreters oder des in ihren Augen verlotterten Enkelfreundes zu, der vor nichts zurückschrecke, sagte sie, und den sie fürder nicht mehr im Haus noch auf dem Hof anzutreffen wünsche.

Der Großvater hegte kein Mißtrauen, vor allem am hellichten Tage nicht, wenn er seinen Wurstweck kaufte. Beim Kauf einer Semmel würde man ihn sicherlich nicht bestehlen, sagte er, wenn die Großmutter abends während des Vesperns auf die Gefährlichkeit der modernen Welt zu sprechen kam, er führe ja kaum etwas Stehlenswertes mit sich und sehe auch nicht, daß in diesem Dorf seit dem Krieg überhaupt ein Verbrechen, und sei es ein Kleinverbrechen, begangen worden sei. Man solle sich nicht ängstigen, sagte er, nicht in dieser Angelegenheit und in den meisten anderen Fällen des Lebens auch nicht.

Der Großvater legte die Münzen für den Hausmacherwurstweck etwas umständlich in die Porzellanschale, wünschte der Frau Metzgerin einen schönen Tag, verließ den Laden, querte die Straße und begann abermals, sich das Fahrrad zurechtzustellen, aufzusteigen und sodann die Hauptstraße hinaufzufahren zur Anstalt hin. Er mußte kein Schloß öffnen, zu jener Zeit war es nicht nötig, ein Fahrrad oder ein Auto abzuschließen. Die gemütvolle Kompliziertheit des Großvaters beim Reisen durch das Dorf verlieh seinen täglichen Vorhaben etwas Glanzvolles. Jetzt hatte er die fünfzig Meter des leicht ansteigenden Weges bis zur St. Nikolaikirche zurückgelegt. Wenn er die Anstaltsgärtnerei an der Straße zur nordwestlichen Nachbargemeinde noch erreichen wollte, würde er jedoch einen Zahn zulegen müssen. Seit einer guten Viertelstunde war er unterwegs, und er war erst bis zur Metzgerei und einige hundert Meter weit gekommen.

Der Hausmacherwurstweck lag in dem Eimer, und der Großvater wollte ihn nach gutem Brauch in seinem Garten draußen am Bahnhof verzehren, der indes am südwestlichen Rand des Dorfes lag, direkt an der Straße hinaus auf das Plateau und neben einem der zwei Kramläden des Ortes. Ob der Dornmeier recht behalten mochte oder nicht, der Großvater entschied jetzt doch einfach, es für den Augenblick mit den Stiefmütterchen und vor dem Mittag gut sein zu lassen, und drehte um.

Die leicht abfallende Strecke machte die Sache leichter, im Nu war er wieder an der Ecke Sternplatz/Hauptstraße. Er nahm den Schwung mit, zweigte in die Bahnhofstraße ab und rollte weiter. Rechts standen ein paar Bäume, hinter denen sich der Zugang zum Rottlergäßchen verbarg, wo, so hatte es ihm seine Tochter erzählt, der Schwiegersohn, der aus dem Oberdorf stammte, der Tochter, die aus dem Unterdorf stammte, einst ziemlich überraschend den Antrag wohl gemacht hatte.

Diese Erinnerung freute den Großvater. Er trat gemächlich und schnurrte die Straße zum Bahnhof hinunter, einem schmucklosen, rostbraunen Gebäude mit Fensterläden im oberen Stockwerk, das sich nicht ins Zentrum des Ortes drängte, sondern vorsichtig, als wolle es nicht recht wahrgenommen werden, im Randbereich stand.

Der Großvater ließ die Tankstelle hinter sich, deren Besitzer bald auf Grund des Aufkommens einer starken, nicht mehr zu bremsenden Motorisierung mit dem im Oberdorf an der Straße in die nördliche Gegend ansässigen Tankwart in einen erbitterten, fast etwas gnadenlosen Wettstreit verfiel um die Gunst der Kunden sowohl des Unter- wie des Oberdorfes, die man hereinzuziehen suchte in den je eigenen Abnehmerkreis und mit gewissen Verhaltensweisen auch unter Druck setzte; er ließ sie und die düstere, von einem ihm Bekannten kaum je betretene Gaststätte hinter sich und überquerte die einspurigen Gleise. Die Züge dampften durch den Anstaltswald, von der zwanzig Kilometer entfernt gelegenen Kleinstadt her, und ruckelten in einem Bogen, vorbei an der Fabrik und dem Klärwerk, um das Dorf ins Wernsbacher Tal hinunter und fort nach einem weiteren Dorf.

Kurz hinter dem Bahnübergang endete die Fahrt des Großvaters mit dem Fahrrad, die Hinfahrt. Er brachte auf der Straße das Fahrrad zum Stehen, stieg ab und schob es auf den Gehsteig, um es gegen den Lattenzaun des Gartens zu lehnen. Der Großvater lehnte sein Fahrrad stets am hölzernen Zaun an, den er alle zwei Jahre mit einem Xyladekoranstrich imprägnierte, und nicht gegen die Hauswand des kleinen Lebensmittelladens Kröner. Er war nicht zum Einkaufen herausgekommen. Wäre er zum Einkaufen gefahren, hätte er eine Tasche statt des Eimers mitgenommen und das Fahrrad sicherlich vor dem Krönergeschäft abgestellt. So aber sah jeder, der die Straße entlanglief, daß der Gerch in seinem Garten sich aufhielt und über den Zaun hinweg durchaus eine Plauderei zu beginnen bereit war.

Die Schuster, die Tankstellenbesitzer, der Schreiner und einige der Bauern mochten sich streiten und um Konkurrenzvorteile zu ringen beginnen, der Großvater bestellte seinen Garten, einen tortenstückähnlichen Flecken aus dem rund ums Dorf und innerhalb des Ortes verteilten geringfügigen Familienbesitz. Den Zaun zur Straße säumten die Stachelbeersträucher. Sie trugen grüne, gelbe und rote Früchte, die vom Gehsteig aus im Hochsommer ein buntes Bild ergaben. Der Großvater prüfte mit seinen großen Händen den Reifegrad der Beeren und mußte Dornmeier recht geben; die Sonne hatte zu selten geschienen in letzter Zeit. Er nahm den Eimer, öffnete das Holztor und betrat den Garten. Gleich vorne hatte die Großmutter ein Dreiecksbeet mit Blumen, vornehmlich Astern, angelegt, für das er nicht zuständig war. Blumen schnitt er, wenn es ihm aufgetragen wurde. Die Pflege, das Gießen und das Harken und das gelegentliche Düngen, oblag indes seiner Frau.

Die Beete bildeten schmale Reihen, manchmal waren es nur handtuchbreite Streifen. Inmitten der Erdbeerpflanzen, der Stangenbohnen, der Rüben, der Radieschen und der Salatköpfe befand sich ein Betonfaß, eingelassen in den kargen, nicht besonders ertragreichen Boden. Man bezog das Wasser von Kröners Leitung, und gerade ging das Tor nebenan auf, und Kröner erschien. Er sei gegrüßt, der Gerch.

Ja, die Schwierigkeiten wüchsen, begann Kröner augenblicklich, zupfte an seinem weißen Kittel herum, justierte die Hornbrille und blieb am hinteren Drahtzaun stehen, an dem Bohnenkraut emporrankte und einige weitere Blumen wuchsen und der den Garten vom angrenzenden Kartoffelacker trennte. Die Geschäfte liefen nicht gut. Er könne es sich nicht erklären, warum die Kundschaft mehr und mehr ausbleibe. Das Geschäft habe doch seinen Standort nicht verändert seit letztem Jahr, ja die ganzen letzten Jahre nicht, es stehe noch immer an seinem Platz, hier, das sei doch nicht zu übersehen. Er habe auch das Angebot nicht verschlechtert, woraufhin der Großvater, der sich aufgerichtet und auf den Mann, seinen Gartennachbarn, zugegangen war, nickte, im Gegenteil, er habe wie seit Jahr und Tag, wie es ihm der Vater gelehrt hatte, alles stets vorrätig, von der Limonade über die Wecken bis hin zu sämtlichen gewünschten Fleisch- und Wurstsorten, die ihm der Anstaltsmetzger noch immer zu einem anständigen Preis täglich in den Laden liefere, ja, es sei merkwürdig, es sei kaum zu begreifen.

Kröner schnaufte. Er lief rot an.

Nun ja, sagte der Großvater, er schicke seinen Enkel zum Wasserholen auch immer zum Böcklein, aber das liege ja nahe. Zweimal die Woche ungefähr sage er ihm oder gebe seine Mutter ihm Bescheid, er möge bitte Wasser kaufen, und dann kuppele er den Anhänger an das Fahrrad und radle nur kurz über den Feuerwehrplatz und durchs Gäßlein, den Weg hier heraus müsse er gar nicht...

Ja, er kenne sich wohl aus im Ort.

Böcklein, einst ein Landhandel und vor allem ein Getreideaufkäufer und sonst nichts, war der zweite Lebensmittelhändler des Dorfes. Er hatte kürzlich die Verkaufsflächen erweitert. Die engen Gänge waren weitläufigeren Einkaufszonen gewichen, die Regale größer, die Sortimente reichhaltiger geworden, Neonlicht ersetzte die funzlige Beleuchtung, eine Getränkeausgabeecke hatte man eingerichtet. Etwas Zielstrebiges, unbekannt Forsches, vielleicht Rabiates lag in diesen Entwicklungen.

Dem Vater gehe es übrigens schlechter, sagte Kröner leiser. Sehr viel schlechter. Heraufgearbeitet über lange Jahre hatte der Vater sich, der Schuster, der im Feuerwehrhaus eine kleine Wohnung sein eigen nannte, und dann hatte er dieses Haus angeboten bekommen und einen Laden eingerichtet. Merkwürdig, und Kröner schüttelte den Kopf, das Blut schoß ihm wieder ins runde, gewöhnlich schneeweiße Gesicht, so daß es plötzlich mit Placken übersät war, das eine geht schlechter, und das andere geht auch gleich schlechter, wie verabredet. Die Nerven. Es sind die Nerven, die narrischen Nerven, die führen sich auf wie die Wilden, sie veitstänzelten, dagegen, gegen dieses angeborene Leiden, sei nichts auszurichten, hätten die Ärzte draußen im Krankenhaus mitteilen müssen. Während die einen sich großer Stärke erfreuen und guter Gesundheit und deren Geschäft floriert und expandiert, verlieren die anderen an Boden. Grundlos, nein, nicht grundlos, unverschuldet sei das. Manchmal, murmelte Kröner, glaubt man, den Boden unter den Füßen zu verlieren, und die Einnahmen schwinden zusehends. Wie die Kräfte.

Man wußte, was der alte Böcklein oben über dem Geschäft, wie es vor der Erweiterung bestanden hatte, oben in seiner Wohnung sammelte, aber man hütete sich, ihm etwas nachzusagen, geschweige den dicken, kurzatmigen, auch an der Getränkeausgabe Zigarre paffenden, gleichwohl robusten Mann darauf anzusprechen. Devotionalien hortete er, das war bekannt, und wenn er einen guten Abend erwischte und mit einer vorzüglichen Laune gesegnet war, konnte es geschehen, daß er den Brüdern am Kartltisch mit seinen Schätzen kam, deren Wert pries und die Anschauungen, die mit ihnen verbunden waren und die keineswegs veraltet er nannte, hinausrief und bekundete, es müsse mal wieder so einer her, zumindest hieß es, es sei so vorgefallen ein paarmal.

Nicht devot, nein, geknickt, von einer Sorge niedergedrückt, verabschiedete sich Kröner vom Großvater, und der Großvater wandte sich wieder seinen Beeten zu, es gab genug zu tun. Er holte aus der hintersten Ecke des Gartens eine Handschaufel und den Rechen. Erst schaute er nach dem Lauch und den Schwarzwurzeln, dann prüfte er den Rettich und den Sellerie. Das Blaukraut wuchs kräftiger und schöner als erwartet, das lag am ergiebigen Regen, während die Pfefferminze noch etwas hinterherhinkte. Man konnte nicht alles haben. Das Wetter würde es richten und entscheiden, wieviel wovon auf den Tisch kam.

Am Tisch des Eßzimmers, das die auf den Hof weisende Küche und die zur Straße gelegene Wohnstube verband, gönnte er sich kaum einmal einen Schluck. Früher war er ab und an im Goldenen Bären gewesen, der seit vordenklichen Zeiten am stärksten frequentierten Dorfschenke, in der sich der erste Stammtisch nach dem Krieg zusammenfand. Bei der Berta saß man und besprach, wenn nötig, Obliegenheiten, die nicht tagsüber waren erörtert worden. Jetzt mied der Großvater das Wirtshaus unter der Woche, nicht weil ihm das dortige Gezänk zuwider war, sondern weil er Mißtöne daheim vermeiden wollte. Zwist schien ihm nicht vonnöten, Streit sinnlos. Er hob lieber, das Laute abblockend, die Hand, murmelte etwas, das niemand verstand, und ließ es dabei bewenden.

Gleich würde er hier fertig sein für heute, am Nachmittag waren Ausbesserungen an den vom Salpeter zerfressenen Waschküchenwänden geplant, und bevor er das Erdreich zwischen den Kartoffeln lockern würde, würde er nachsehen, ob sie noch daläge. Zwischen den Kartoffeln versteckte er seine Flasche Bier. Er verschloß sie stets sorgsam mit einem Schnappverschluß, so daß das Getränk gerade so frisch blieb, um es auch am nächsten oder erst am übernächsten Tag zu Ende trinken zu können. Dann angelte er die bauchige Bauernflasche zwischen den Blättern hervor, entfernte den Verschluß und nahm einen Schluck. Der Großvater prostete niemandem zu, selbst wenn ein Bekannter des Wegs spaziert wäre, hätte er diese gemütskräftige, bei gewissen Charakteren prahlerische Geste unterlassen. Er trank einen Schluck für sich. Das genügte und war ein reichhaltiger Genuß.

Jahre bevor Kröner vor Verzweiflung über den unabwendbaren Verfall von eigener Hand in den Tod gegangen war, folgte dem Großvater einmal der Enkel hinaus zum Garten. Sie radelten gemeinsam vom Hof über den Sternplatz bis kurz hinter den Bahnhof, der Enkel darauf bedacht, den Großvater nicht zu überholen. Er sah das schlingernde Fahrrad vor sich, den Eimer schaukeln, und er selbst hatte ebenfalls achtzugeben, den Eimer, den er für die Stachelbeeren am Lenker hängen hatte, nicht zu verlieren.

Die Grillen zirpten, die unvergleichliche frische Kühle eines Landsommermorgens hatte bereits der schweren Wärme des heraufziehenden Mittags Platz machen müssen, und die Beeren waren reif. Der Großvater zog einige gelbe Rüben, sollte des weiteren nachsehen, ob ein Kopfsalat fürs Essen abfiele, und dem Enkel war die Aufgabe übertragen worden, mindestens einen halben Eimer Stachelbeeren für den Quarknachtisch zu ernten.

Der Enkel zupfte vor sich hin, im Hintergrund hörte er ein Kruschpeln und Rascheln, all die Geräusche, die das Herumhantieren im Gemüse verursacht, ein Knistern des Bohnenkrauts und ein Knispeln des Lauchs und das Streifen der Hände des Großvaters über die Kartoffelpflanzen, und auf einmal hörten all die Geräusche auf. Der Großvater erhob sich, streckte sich und kam die wenigen Meter durch das Lattentor auf den Enkel zu.

Er kramte schon in der Hosentasche, zog dann die Börse hervor, fischte ein Markstück heraus und bat wie verschwörerisch darum, er möge ihm ein Bier kaufen, gehst zum Kröner und kaufst eine Flasche Bier, eine kalte Flasche Bier. Bloß eine, und vom Rest kaufst du dir, was du willst.