Wir melden uns vom Abgrund - Jürgen Roth - E-Book

Wir melden uns vom Abgrund E-Book

Jürgen Roth

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Beschreibung

»Ein genialer Solist«, »ein Poet am Ball«, »einzigartig« – kein anderer Fußballreporter ist so inständig mit Lob bedacht worden wie Günther Koch. »Wir melden uns vom Abgrund« ist eine Liebeserklärung an den Fußball und an die Sprache und das Zeugnis eines exemplarischen Lebens für den Sport. Günther Kochs Radioreportagen von Champions-League-Spielen und seine Einsätze in der ARD-Bundesligaschlusskonferenz sind legendär. Selbst Köln-, HSV- und Hertha-Fans erkennen seine Stimme sofort. »Hallo, hier ist Nürnberg! Wir melden uns vom Abgrund!«: Diese zwei Sätze vom letzten Spieltag der Bundesligasaison 1998/99 sind ins kollektive Fußballgedächtnis eingegangen, genauso wie Kochs Reportage vom ersten Bundesliga-Geisterspiel 2004 zwischen Alemannia Aachen und dem 1. FC Nürnberg. Jürgen Roth kennt Günther Koch seit mehr als zwanzig Jahren, er hat für dieses Buch intensive Gespräche mit ihm geführt, ihn zum Training des FCN und zu Stadionführungen begleitet. Und er hat auch die Stimmen der sogenannten normalen Fans und von vielen prominenten Weggefährten eingefangen.

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Zum Buch

»Ein genialer Solist«, »ein Poet am Ball«, »einzigartig« – kein anderer Fußballreporter ist so inständig mit Lob bedacht worden wie Günther Koch. »Wir melden uns vom Abgrund« ist eine Liebeserklärung an den Fußball und an die Sprache und das Zeugnis eines exemplarischen Lebens für den Sport.

Günther Kochs Radioreportagen von Champions-League-Spielen und seine Einsätze in der ARD-Bundesligaschlusskonferenz sind legendär. Selbst Köln-, HSV- und Hertha-Fans erkennen seine Stimme sofort. »Hallo, hier ist Nürnberg! Wir melden uns vom Abgrund!«: Diese zwei Sätze vom letzten Spieltag der Bundesligasaison 1998/99 sind ins kollektive Fußballgedächtnis eingegangen, genauso wie Kochs Reportage vom ersten Bundesliga-Geisterspiel 2004 zwischen Alemannia Aachen und dem 1. FC Nürnberg.

Jürgen Roth kennt Günther Koch seit mehr als zwanzig Jahren, er hat für dieses Buch intensive Gespräche mit ihm geführt, ihn zum Training des FCN und zu Stadionführungen begleitet. Und er hat auch die Stimmen der sogenannten normalen Fans und von vielen prominenten Weggefährten eingefangen.

So zeichnet »Wir melden uns vom Abgrund« das Leben eines Besessenen und Seiteneinsteigers des Fußballbetriebs nach und ist gleichzeitig ein Kaleidoskop unterschiedlicher Haltungen zu diesem Sport: ein Mosaik aus Lebensgeschichte, Reportage, Oral History und Medienhistorie, das ein plastisches Bild von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart vermittelt und ein für die Geschichte der Bundesrepublik exemplarisches Leben für den Fußball erzählt.

Über den Autor

Jürgen Roth, geb. 1968, studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft in Tübingen und Frankfurt am Main. Er lebt als Schriftsteller in Frankfurt am Main. Jüngst erschienen ist Vielleicht Hunsrück Jahresroman (Leipzig 2020).

 

 

 

 

© Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2021Redaktionsschluß: Ende März 2021Covergestaltung: Heidi Sorg & Christof Leistl© Titelphoto: bayernpressTypografie + Satz: frese-werkstatt.deDruck und Bindung:Pustet, RegensburgeBook-Produktion: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH

ISBN 978-3-95614-479-0

Jürgen Roth

WIR MELDEN UNS VOM ABGRUND

GÜNTHER KOCHEin Leben als Fußballreporter

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

 

 

 

 

Wenn ich die Wahrheit über das, was ich alles erlebt habe, schreiben würde, müßte man etwa zehn Bände machen – und ich müßte nach der Veröffentlichung nach Australien auswandern.Uli Hoeneß

Die Unabhängigkeit eines Menschen, die Freiheit zeigt sich in seiner überhaupt nicht vorhandenen Fremd bestimmung.Günther Koch, 2017

Ich […] bin so gesehen auch unberechenbar und muß nicht Türklinken putzen. Und das ist sicher mein Vorteil und mein Nachteil zugleich.Günther Koch, 2000

INHALT

Vorbemerkung

27. April 2018

Sportobsession, ab ovo

Außensprechstelle

Zwei Zwischenberichte

»Babbel!!! Babbel!!! Babbel!!! Bab-belll!«

Der sprudelnde Brunnen

Die Liebe zum Gimpel

Namenregister

Bildteil

VORBEMERKUNG

Ich bin befangen. Ich kenne Günther Koch persönlich seit 1996, und ich lehne mich vermutlich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte, daß wir eng befreundet sind und daß unsere Freundschaft die Grenzen des Fußballerischen weit überschreitet.

Das voranzustellen halte ich nicht nur für eine Frage des Anstands und der Fairneß dem Leser gegenüber, sondern zumal dieser Tage für zwingend geboten, da in der »Fußballindustrie« (Robert Musil) und im Sportjournalismus die Kungelei zwischen Akteuren und Berichterstattern seit einiger Zeit – wenige hochlöbliche Ausnahmen bleiben hiervon freilich unberührt – systemische Ausmaße angenommen hat. Wechselseitige, nie benannte Dienstbarkeiten und Interessen sind die Regel, man darf ruhig von korrupten Verhältnissen sprechen.

Ich mache also, noch mal, keinen Hehl daraus, daß dieses Buch auf Grund großer Sympathie, meinethalben aus Zuneigung entstanden ist, die durchaus auf Gegenseitigkeit beruhen mag. Und daß ich Günther Koch als Sportradioreporter für einen Solitär halte, dürfte bekannt sein, denn als Herausgeber beziehungsweise Kompilator zweier CDs mit Livemitschnitten seiner Arbeiten bin ich nicht gänzlich unschuldig an seiner medialen Karriere – wobei Helmut Böttiger das unbestreitbare Verdienst gebührt, Günther Koch Ende der achtziger Jahre »entdeckt« und fortan publizistisch unermüdlich gefördert zu haben.

Von Walter Benjamin stammt die Formulierung, der Gebrauch des Wortes »ich« verderbe den Stil. Ich mache dennoch hie und da von ihm Gebrauch, aus den erwähnten Gründen – und nicht zuletzt, weil sich ein Teil meiner eigenen Biographie mit der Stimme Günther Kochs, die aus dem Radio drang, verbindet.

Wir haben uns vor allem im Frühling und im Sommer 2018 in Franken zu langen Gesprächen getroffen und danach immer wieder ausführliche Telephonate geführt, in denen es auch um anderes als den Reporter Günther Koch ging, um den Familienmenschen, den Lehrer, den SPD-Politiker und den FCN-Aufsichtsrat Günther Koch.

Die an Hand dieses und anderweitigen Materials skizzierten Kapitel hätten insgesamt jeden Rahmen gesprengt (unter ihnen auch eines über die Geschichte Nürnbergs im Nationalsozialismus und die Geschichte des Max-Morlock-Stadions). Dieses Buch beschränkt sich daher bewußt auf jenen Teil seiner Biographie, der zuallererst von allgemeinem Interesse sein dürfte – auf den Mann am Mikrophon, den Homo rhetoricus, der eine Epoche des Radios und des Fußballs in den Medien geprägt hat.

27. APRIL 2018

Freitagnachmittag. Die Sonne über den Kiefernwäldern, die am ausfransenden Südrand Nürnbergs kleben und der Unersättlichkeit der indolenten Stadtplaner noch – noch – widerstehen, sticht auf alles Lebende und Wachsende ein, als sei sie gewillt, Nürnberg, das »Dürerhauptquartier« (Philipp Moll), in Málaga zu verwandeln.

Ich fahre mit Günther Koch vom grauslich anheimelnden Stadtteil Langwasser, von dieser einesteils human anmutenden, andernteils horribel verhauenen sozialdemokratischen Architekturwürfeleiassemblage, hinüber zum Vereinsgelände des 1. FC Nürnberg. Es sind nur ein paar Kilometer.

Die erste Mannschaft des Club trainiert heute. Vor vier Tagen hat sie bei Holstein Kiel, einem Konkurrenten um den Aufstieg in die erste Liga, voller Verve 3:1 gewonnen. Günther Koch ist hochgestimmt, vermutlich ist es auch die ganze Stadt Nürnberg – sofern Städte hochgestimmt oder, vice versa, niedergedrückt sein können. Ich hege da meine Zweifel, aber man lernt ja bekanntlich nie aus.

Günther Kochs Auto ist selbstverständlich weinrot-schwarz lackiert und mit dezenten Vereinsemblemen verziert.

Kurz vorm Spieltag ist dann also Geheimtraining.

Das haltet ihr wie die Bayern?

Ja. Aber nicht so oft.

Darfst du zum Geheimtraining gehen?

Ja, ja.

Als Aufsichtsrat darfst du schon …

Ja. Aber ich laß es nicht drauf ankommen. Als der [Hermann] Gerland bei uns

Trainer war, hab’ ich mal ein Geheimtraining beobachtet. Am Tag danach haben sie die Bayern mit einem Freistoßtrick überlistet, der zu einem Elfmeter führte. Da war ich dabei.

Und der Trick war von dir?

Nein. Leider nicht. Leider nicht.

Auf der CD Wir rufen Günther Koch! – Ausgewählte Radioreportagen (Rough Trade/I Saw Hans Walitza Kick That Ball Records 1997) findet sich die etwa zwanzigminütige Montage »Fahren Sie rechts raus! – Kleine Club-Geschichte«, in der auch der zweite Bundesligasieg in der Historie des FCN gegen den FC Bayern mit vier Toren Differenz gewürdigt wird (4:0, eben unter Hermann Gerland – gut vier Monate später schmiß ihn der in übler Nachrede und in psychischen Zermürbungstechniken geübte Präsident Gerd Schmelzer raus; der erste Sieg mit vier Toren Unterschied, das 7:3, datiert, wie man weiß, vom 2. Dezember 1967).

Am 25. November 1989 ist das Spielfeld schneebedeckt, der Ball ist rotorange, und Günther Koch hat das (verdiente) Glück, bei drei Treffern live drauf zu sein. Und er liefert wahre Kabinettstücke ab – rasant, makellos, begeistert, sämtliche Aspekte einer Livereportage mühelos und fließend miteinander verbindend: die furiose Schilderung, die Erläuterung, die objektive Einordnung, die geschichtliche Kontextualisierung, und weil diese Glanzvorstellung, die das aufregende Geschehen auf dem Platz spiegelt, weil diese Meisterleistung noch nicht zu genügen scheint, schreit er sogar ein Tor erfolgreich herbei.

In der 34. Minute fällt das 1:0, und Koch beschreibt seine Entstehung:

Freistoß für die Nürnberger, Torentfernung zum Bayern-Tor fünfundzwanzig Meter, da steht der Kristl, in der Mauer steht der Wirsching! Vielleicht lupfen s’ ihn über die Mauer, wer weiß, wer weiß, jetzt läuft einer an, jetzt wird er drübergelupft! Zum Wirsching! Da muß er Elfmeter geben!! Der ist gehalten worden!! Elfmeter für Nürnberg!! Vollkommen klar! Diese Variante des Freistoßes haben sie im Training geübt. In der Mauer der Bayern steht Wirsching. Am Ball, beim Freistoß, der ausgeführt wird, stehen drei Club-Spieler: Kristl und der, von dem man glaubte, daß er schießen würde, mit der Nummero 5 Thomas Brunner. Aber der, der schießt nicht, der hebt den Ball über die Mauer [das war Martin Schneider], Wirsching löst sich, das ham sie gestern am Neuen Zabo einige Male geübt, er löst sich aus der Mauer Richtung Bayern-Tor und wird umgerissen von Kohler. Strafstoß. Und jetzt aufpassen, liebe Leut’. Aufpassen, liebe Bayern-Fans, aufpassen, liebe Club-Fans, jetzt entscheidet sich’s. Wahrscheinlich schon die vorentscheidende Situation im Städtischen Stadion! [Wie er’s nur ahnt …] Vierunddreißig Minuten sind gespielt! Thomas Brunner, der Spielführer, für die Nürnberger läuft an gegen Aumann, jetzt haut er drauf! Tooor!! Eiins zu nuulll für Nürnberg! Und ausgerechnet gegen die Bayern aus München! Also, das kann ein farbiges, ein interessantes, ein schönes Spiel werden. Das war’s aus dem Städtischen Stadion, erste Direkteinblendung für Bayern 1, Rückruf ins Funkhaus.

Der Moderator im Studio, Siegfried Schuller, kommt nicht umhin, den Ball aufzunehmen: »Ja, das mag wohl ’n interessantes Spiel werden. Die Reportage, die war auf jeden Fall spannend und aufregend. Übrigens, wenn Sie es nicht ganz mitbekommen haben am Anfang: Da spiel’n zwei bayerische Mannschaften, aber das Herz des Reporters schlägt halt hörbar für die Cluberer, im Moment zumindest noch.«

Bayern 3 hatte am Tag vor dem »Lokalspiel« (Koch) in Sport aktuell einen gebauten Beitrag von Günther Koch übers Abschlußtraining des FCN gesendet. Kaum zu glauben, daß derlei mediale Mätzchen des sinnlosen Vorberichtens mit vor Banalität ächzenden O-Tönen ab und an schon Ende der Achtziger getrieben wurden. Koch servierte den Hörern denn auch zum Beispiel solchen Quark, der im kleinen vorwegnahm, mit welchen Nullitäten heute Gackerfiguren wie Uli Köhler und Torben Hoffmann (und wie sie alle heißen mögen) auf Sky Sport News HD vierundzwanzig Stunden am Tag die Welt verpesten: »Es ist kalt bei uns im schönen Nürnberg. Vereinzelt verirren sich sogar bereits Schneeflocken. Und der Boden im Städtischen Stadion ist drei Zentimeter tief gefroren.« Man denke: Der Boden ist exakt drei Zentimeter tief gefroren! »Ob das eventuell einen Vorteil für die Cluberer gegen die spieltechnisch sicher überlegenen Landeshauptstädter darstellen könnte?« Was für eine Frage. Es ließe sich gewißlich auch darüber sinnieren, ob die vereinzelt sich in Nürnberg verirrenden Schneeflocken einen Vorteil für die Landeshauptstädter darstellen könnten, weil die Landeshauptstädter entschieden öfter als die kümmerlichen Mittelfrankenhauptstädter zum Skifahren in die Alpen brummen und darob mit derartigen Wetterverhältnissen sehr viel besser klarkommen.

Ist Kochs Frage bereits gaga, so ist es die Überleitung zum nächsten Interviewschnipsel – die bedeutungsschwangere Rasenspökenkiekerei halb fortspinnend, halb sogleich in die Tonne tretend – erst recht: »Der kampfstarke Thomas Brunner, der Spielführer, hält allerdings nicht viel von harten Bodenspekulationen.« Den O-Ton sparen wir uns, genauso wie einen weiteren Vorbericht über den »lustigen Club-Kader« (Koch; Martin Schneider, erfahren wir da unter anderem, wolle seinem Sternzeichen Schütze alle Ehre machen). Jedenfalls sind Reflexionen über die Bodenbeschaffenheit während der Liveübertragung schließlich tatsächlich angebracht (»Der größte Gegner noch der harte Boden, ›noch‹ deshalb, weil er sich vielleicht bei entsprechender Behandlung durch die Fußballspieler im Laufe der Zeit aufweichen könnte. Die gefrorene Bodendecke ist etwa nur zwei, drei Zentimeter dick. Also, es könnte noch besser werden«), und Günther Koch beweist sehr früh, daß er ein unvergleichliches Gespür für die Latenz eines Spiels hat und daher in Jürgen Kohler den entscheidenden Schwachpunkt des FC Bayern ausmacht: »Wirsching wird gehalten [durch eine rüde Ringereinlage von Kohler]! An Wirsching merkt man ganz klar, daß die Bayern-Abwehr laufend Probleme hat« – nämlich vornehmlich, weil Kohler mit Wirsching nicht zu Rande kommt.

Es folgt die (obige) Schilderung des 1:0, kurz danach ein erstes Resümee: »So energisch und so kampfstark, wie der Club heute spielt, hat er wochenlang nicht mehr gespielt. Also, Bayern scheint die, das richtige Rezept zu sein, um die Cluberer wieder auf das zu besinnen, was sie können: kampfstarken, attraktiven Fußball zu bieten, auch wenn’s dann vielleicht schiefgehen sollte.« Die »55.000 Zuschauer«, die höchstens 47.000 sein können, sehen die »FCN-Akteure, die, wie gesagt, lange, lange Wochen zu Hause kein Tor mehr gespielt [sic!] haben« (dergleichen Versprecher sind einerseits läßlich und andererseits eben auch auf anheimelnde Weise der Hingerissenheit des Reporters geschuldet), und weil sich etwas Schönes anbahnt, interviewt Günther Koch vor der zweiten Hälfte wie aufgedreht und in Reporterkampfeslaune eine Runde gewichtiger Gestalten: den Präsidenten des FC Bayern, Fritz Scherer, den Vizepräsidenten des FCN, Sven Oberhof, den Nürnberger Oberbürgermeister Peter Schönlein »mit dem feschen Stirnbandl«, Dieter Hoeneß und andere – und den unsterblichen Max Morlock:

Das is’ doch selbstverständlich. Wenn Sie sog’n, ich soll ans Mikrophon, komm’ ich doch. Auf Grund des schweren Bodens is’ es ein sehr gutes Spiel beiderseits. – Und der Freistoß war raffiniert gemacht, der Trick über die Mauer. – Des war a sehr guter Trick und war Elfmeter. – Danke. Max Morlock, wie geht’s aus? – Ich glaub’, daß die Club-Mannschaft mit dem schweren Schneeboden besser zurechtkommt. Ich hoffe immer noch an mein’ Tip: 2:1.

Zehn Minuten nach der Pause – nachdem Günther Koch in der ersten Einblendung kaum Luft bekommen hat, ihm hat es regelrecht die Brust zugeschnürt, weil er nach den Gesprächen zur Reporterkabine unterm Dach hatte hochrennen müssen und sofort abgerufen worden war und dann trotz des wogenden Spielgeschehens voller Esprit en passant auf die erste Deutsche Meisterschaft des FC Bayern 1932, »hier auf diesem Rasen!«, und den ebenfalls im Städtischen Stadion gewonnenen Titel des Europapokals der Pokalsieger (1967, »da war’n mer alle dabei«, 1:0 gegen Glasgow Rangers) hinwies – erzielt Frank Türr, »der Superjoker der Bundesliga«, »mit der Cleverneß eines Max Morlock« das 2:0 »für die tapferen Cluberer«. Und eine Viertelstunde später schaltet Koch für die letzten fünfundzwanzig Minuten (Schuller: »Jetzt haben Sie Mikrophon frei bis zum Rest des Spiels«) wieder auf volle Fahrt um:

Die Nürnberger nicht zu halten! Das paßt ihnen einfach nicht: auf Halten spiel’n! Sie sind einfach zu unbekümmert. […] Der Stefan Reuter! Herrlich gemacht auf Wohlfarth! Wohlfarth oder Köpke?!! Der Wohlfarth ist da!! Und der Ball ist nicht über der Linie!! Der Wirsching!! Das gibt’s nicht!! Nein, der Thomas Brunner! Der Thomas Brunner kratzt ihn von der Linie! So wie damals in München. Er kratzt den Ball, den der Wohlfarth, nachdem er das Sprintsolo gewonnen hatte, ins Tor schubsen wollte, noch vor Überschreiten der Linie von der Linie, der war noch nicht mal auf der Linie, der hat sie noch nicht einmal geküßt, der war noch nicht einmal drauf, aber beinah’ halt das 2:1, und wär’ vielleicht ganz gut, nee? Schlagt’s mi’ net, aber es wär’ vielleicht ganz gut, dann würde es vielleicht noch mehr Farbe hier geben, wenn jetzt die Bayern in der 69. Minute zum Anschlußtor kämen. […] Aber zurück vom Konjunktiv zum Indikativ, denn die Nürnberger führen mit 2:0, können ein weiteres Tor schießen durch Türr! Türr auf Dusend!! Schußmöglichkeit!! Dusend im Strafraum!! Jetzt schießt er!! Toor!!! Tooooor!!! Durch die Haxen vom Aumann!!! Dreiii zu nuulll für Nürnberg!! Wenn das so weitergeht! Der Köpke kniet am Sechzehner, reißt die Arme hoch! Die Cluberer mi’m Klaus Majora und mi’m Kowarz, mi’m Ersatztorhüter, sie liegen sich in den Armen. Der Samy tanzt Samba, der Samy Sané! 3:0! Der Club führt mit 3:0! Auweh, auweh! Allmächd! Allmächd! Das kann was werden, liebe Leut’!

Hätte es das Radio nicht gegeben, man hätte es für diese wie auf eine Perlenkette gezogenen Augenblicke der Symbiose aus schierem Entzücken und dessen Schilderung durch den Sänger vom Valznerweiher erfinden müssen:

Sie bleiben also in jeder Hinsicht am laufenden und am Ball, und der Ball ist beim Kohler, und der Kohler muß zurücklaufen, der Aumann zehn Meter vorm Strafraum zum Kohler, der Kohler noch mal zu Steff [sic!] Reuter, was dem jetzt wohl durch den Kopf geht, daß er hier als ehemaliger Cluberer 3:0 mit seinen Bayern hinten liegt? Aber die Cluberer sollten vorsichtig sein mit ihren Gesängen. Erstens ham die Bayern keine Lederhosen an, dazu ist es viel zu kalt, zweitens ist das nicht sportlich fair. Das sollten zumindest die bayerischen Fußballnachbarn begreifen. Und sie sind auch schon wieder ruhig ’wor’n, als ob sie’s gehört hätten. Möglichkeit, Dusend klärt. Bayern noch ohne Treffer. Dusend aus dem Mittelfeld zu Metschies, der eine Riesenpartie macht! Der kann links oder rechts spiel’n! Spielt links auf Türr! Türr gegen Kohler! Wackelt a bißl! Spielt jetzt in die Mitte! Kein Abseits! Der Wirsching kann’s 4:0 machen!! Jetzt schießt der Wirsching!! Achtung – – –!! Und abgewehrt von Aumann!! Das gibt’s ja gar net! Also, das gibt’s nicht! Das hat der Wirsching selber nicht geglaubt. Die lassen den glatt schießen! Er hat’s mit rechts probiert, nicht voll getroffen, macht’s mit links, die ham alle zug’schaut! Und der Aumann klärt. Und der Wirsching kann sogar nachlaufen. Drei – zu – null. Wie g’sagt, es wird kein 7:3, jedenfalls glaub’ ich das nicht, wie am 12. [sic!] Dezember ’67, vor zweiundzwanzig Jahren. Wie g’sagt, mit fünf Toren vom Goldköpfchen, von Franz Brungs. Der tippte vor dem Spiel in einer kleinen Zeitung 1:1! Aber wie g’sagt: 3:0! Wirsching auf Bayerschmidt, der Libero! Frech! Auf Kristl!! Auf geht’s, Kristl!! Oh, zu steil!! Jetzt kann er schießen! Toor!! Tooor von Kristl!! Viiieer zuu nuulll!! Der is’ überhaupt nemmer zum Halten, der Kristl!! Von Regensburg über Türkgücü – wo ist er hingegangen? Nach Franken, zum 1. Fußball-Club Nürnberg. Die Bayern schütteln die Köpfe! Nicht zu fassen! Viiieer zu nuulll!! Er, der Kristl Thomas, haut die Kugel rein, als wär’s das leichteste. Ein tolles Solo, ein toller Konter. Wann sind die Bayern so auseinandergenommen worden in letzter Zeit? 4:0 für den Tabellenachten, für den 1. Fußball-Club Nürnberg! Und wenn dieses Stadion erst einmal vollendet sein wird, dann werden hier viele, viele tolle Spiele hoffentlich, in einem idealen Fußballstadion, über die Bühne geh’n, hoffentlich dann auch wieder mol gegen die Sechz’ger. Das wär’s Allerschönste, wenn wir wieder drei Vereine hätten. […] Viieer zu nuull. Man greift sich an den Kopf. Der Aumann greift sich ins Haar! Er kann’s nicht greif-, nicht greifen, nicht fassen, Entschuldigung. Er würd’ am liebsten rausgeh’n. Er steht auf halbem Weg zwischen Sechzehner und Mittellinie, hat immer noch die Hände vorm Kopf. Wann, wann ist ihm das passiert?! […] Und die Nürnberger warten auf die nächste Konterchance! Wirsching! Dr. Wirsching! Souverän vorbei am ersten! Wird gefoult, bleibt am Ballbesitz [sic!], am zweiten vorbei, legt auf auf den rechten Flügel! Besser geht’s nicht!! Besser kann man nicht spielen als der Wirsching! Das wird sich auch bis zu Herrn Beckenbauer herumsprechen. Besser kann man nicht spiel’n! […] Er macht hier das ganze Spiel. Gegen immerhin die Bayern. Der Kohler schüttelt den Kopf. Er steht jetzt beim Wirsching. Der Ball im Strafraum. Und jetzt kann der McInally a Goal machen! He didn’t. Mei o mei. Also, es läuft gar … McInally! Nachschuß. O ja. Unlucky, wird er sich denken. […] 4:0. Also, des muß ma’ immer wieder sagen.

Siegfried Schuller geht dazwischen: »Günther Koch, Sie sagen’s ja auch oft genug. 4:0 für den Nürnberger Club gegen den FC Bayern München und 3:0 inzwischen für Borussia Mönchengladbach gegen den 1. FC Kaiserslautern. […] Und jetzt geh’n wir wieder ins Nürnberger Stadion.«

Günther Koch legt gerade den tragbaren Sender an und wechselt den Kopfhörer, fährt aber nebenbei wie selbstverständlich fort. Gleich wird er sich von »unserer warmen Kabine« nach unten begeben und dabei einen seiner einzigartig souveränen rhetorischen Anschlüsse aus dem Ärmel schütteln:

(Zu einem Kollegen:) Ham mer alles? Wo ist der Schlüssel? Damit mer wieder rei’kommen. (Und weiter ohne Unterbrechung:) Der Schlüssel zum Erfolg, der lag heut’ im Mittelfeld bei den Nürnbergern, ganz klare Sache. […] (Im Aufbruch:) Jetzt geht’s wieder los mi’m Club! Auf den Türr müßt’ er [der Dusend] spiel’n! Da ist der Türr angespielt!! Kann gehen!! Unterwegs!! Auf Wirsching!! Wirsching im Strafraum, olalalala! A bißl zu weit nach rechts abgedreht, wird no’ nix ausm 5:0. Jetzt is’ er im Strafraum vorbei – und Handspiel von Wiggerl Kögl! Klare Sache, aber (generös:) muß nich’ sein, muß nicht sein. Muß ma’ kein’ Elfer pfeifen. Und jetzt geh’n mer ganz schnell … (Fan schreit Unverständliches.) (Zum Kollegen:) Haster’s? Jetzt geh’n mer ganz schnell da raus. Jetzt seh’n mer im Moment goar nix. Und jetzt sin’ mer hier vorbei. Und jetzt geh’n mer an die [sic!] Zuschauer vorbei. Was sag’n Sie zum Spiel? (Fan:) Subber! Subber! Subber! (Koch:) Sin’ a Club-Fan, nä? Okay. Jetzt geh’n mer mal weiter runter und schau’n mal, wie’s weidergeht. Er läßt mi’ goar nemmer los! 4:0 für Nürnberg, das hat es lange nicht mehr gegeben. Und Sie können sich vorstell’n, was hier in etwa los ist. Was sog’n S’ zum Spiel? (Fan:) Echt gut. Saugut. (Koch:) Der weiß goar net, was er sag’n soll, der arme Bursch’. Geh’n mer mal an den beiden Damen vorbei hier. Die Bayern nach wie vor in Richtung Nürnberger Strafraum, aber die Nürnberger machen ihr Spiel, und die Nürnberger lassen im Moment zumindest nichts anbrennen. Hier einer, der Radio hört! Rentiert sich das mi’m Radio im Stadion? (Fan:) Hervorragend, was Sie sprechen! (Koch:) Was sagen Sie zum Spiel, was sagen Sie zum …? (Fan:) Spitze! Spitze! (Koch:) Okay. Was sagt der Max Morlock? Max Morlock, was sog’n mer zum Spiel? (Max Morlock:) Hochverdient! (Koch:) Hochverdient, sagt der Max Morlock. Jetzt sin’ mer unten in der ersten Reihe, und der Club is’ über die Middellinie! Mi’m Wirsching! Oooh! Und etz könner s’ beinah’ wieder a Tor machen! Was sogt der Oberbürgermeister? 4:0? (Oberbürgermeister Schönlein:) Einfach phantastisch! Einmalig! (Koch:) Das war der Oberbürgermeister von Nürnberg, jetzt geh’n mer mal hier vorbei durchs Gitter, is’ alles a bißl eng bei uns, nä? Aber schee is’ bei uns in Nürnberg, jetzt geh’n mer durchs Gitter in den Innenraum, danke schön. Was sogt, was sogt der Uli Köhler vom Bayerischen Fernseh’n? Was sagt er zum 4 0? (Uli Köhler:) Da sag’ i nix mehr. (Koch:) Der sogt nix mehr. Der weiß überhaupt nicht mehr, was er sagen soll, denn dieses 4:0, das konnte man einfach nicht erwarten. Jetzt steh’n wir hier in der Baugrube, und ich sehe auf die Bank der Bayern, ein konsternierter, natürlich, Jupp Heynckes, Cordes flüstert ihm einiges zu. Und Augenthaler. Augenthaler leidet. Und Augenthaler leidet mit seinen Mannschaftsgefährten, weil er weiß, daß das eine bittere Stunde is’. Aber die Zuschauer bleiben fair. Sie schwenken ihre Fahnen, die schwarz-roten Cluberer-Fahnen. Erfreulicherweise, wie vorhin schon der eine Fanklubkoordinator gesagt hat, keine ordinären und keine gehässigen, äh, Gesänge, sondern nur Freude auf den Rängen, und die La-ola-Welle, obwohl’s ja kalt ist in Nürnberg, wird hier ausprobiert, und es gibt Freistoß für die Bayern. Dorfner macht die Geschichte. Dorfner von der rechten Strafraumseite hoooch! Kopfball. Nachschuß. Aber es kommt nicht einmal zum [sic!] Nachschußmöglichkeit! Und jetzt hat er geschoben, der Kohler, gegen den Wirsching! Sonst wär’ der Wirsching unter Umständen schon wieder los-, auf- und davongewesen. Etz frag’ mer mal aan andern, der hier rumhockt, aan ehemaligen Schiedsrichter. Und zwar den Bebbers aus Schweinau, des is’ so ein Humorist. Was sagt er zum Spiel? (Bebbers:) Subber! Die Bayern war’n scho’ lang amal fällig! (Koch:) Na ja. Sie war’n eben sofern, so meinen das die Nürnberger, scho’ lang amal fällig, als die Bayern oft gewonnen hatten, als der Club besser spielte und als es, wie gesagt, dann meistens gegen die Bayern ausgegangen war. Fällig waren sie heute sicher nicht. Denn die Bayern, und das darf ma’ als bayerischer Fußballfan nicht vergessen, haben Großes für die Bundes-

Hier bricht das Kassettenarchivband Nummer 119 ab.

Das indes tut nichts zur Sache. Denn: Was ist das für ein aus dem Stegreif geborenes Dokument fränkischer Kulturgeschichte! bin ich geneigt zu jauchzen, auch wenn ich dem zumal seit zehn, fünfzehn Jahren allerorten voreilig gebrauchten Begriff der Fußballkultur profund skeptisch gegenüberstehe (allerdings kursiert garantiert längst ebensosehr eine »Kirmeskultur«, eine »Aggressionskultur«, eine »Kultur des Autofahrens«, eine »Konsumkultur«, eine »Waffenkultur« und so fort). Man muß das hören: wie sich da aus der Kontingenz eine Art Volkstheaterstück herausschält, angeregt und inspiriert von dem vorurteilslosen, keinerlei Ziel verfolgenden und auf keinerlei selbstbezügliche Wirkung erpichten, ganz und gar das Ereignis selbst zu Wort kommen lassenden Regisseur Günther Koch. Wie ein Magier, der gar nicht weiß, was er tut, schlängelt er sich durch das Gewirr der Stimmen und Stimmungen, und das Jetzt, die Worte, die Gefühle, die Geräusche fallen mit der eigenen Hingabe in eins, und man könnte all dies in der Terminologie der idealistischen oder der romantischen Philosophie als einen Moment der Versöhnung von Begriff und Sein bezeichnen.

Keinem Fußballreporter vor Günther Koch wäre dergleichen jemals in den Sinn gekommen, und kein jüngerer Kollege von ihm hat ihm diesbezüglich hernach nachgeeifert. Gott sei Dank. Es hätte wie eine matte Kopie, es hätte nach einer lieblos geborgten Idee geklungen. Vorstellbar ist gleichwohl, daß die Programmverantwortlichen des Bayerischen Rundfunks den sogenannten Kurvenreporter, der irgendwann in den neunziger Jahren, sofern meine Erinnerung nicht trügt, plötzlich in Heute im Stadion auftauchte, auf Grund dieses »Auftritts« von Günther Koch ersonnen haben. Wer weiß. Ist wurscht. Jedenfalls sagt Manni Breuckmann im Mai 2018 während eines Gesprächs anläßlich der Recherchen zu diesem Buch: »Ich glaube – und das halte ich für wichtig –, daß der Günther echt ist. Er spielt nichts vor. Wenn er die neben ihm sitzende Marktfrau interviewt, muß man vielleicht mal einschreiten, zu bestimmten Zeitpunkten, aber egal. Das ist halt das Wahnsinnige. Er hat immer verrückte Sachen gemacht. Aber er hat sich auch nicht die ganze Woche hingesetzt und überlegt: Was kann ich denn jetzt mal für verrückte Sachen machen? Sondern das brach aus ihm raus.«

Zwei Tage später titelte die Abendzeitung: »Aufgetrumpft! – 4:0 – Der Coup von Nürnberg« – und widmete Günther Koch, dem »rührigen BR-Reporter«, beinahe den halben Artikel, weil er zum erstenmal aus der angestammten Rolle des Reporters gefallen war und noch vor dem Schlußpfiff seinen Platz verlassen hatte, um auch Hermann Gerland und Uli Hoeneß zu interviewen. »Die ›Stimme Frankens‹ überschlug sich […]. Das sensationelle Nürnberger 4:0 über die Bayern, im 151. Derby der höchste Club-Sieg über die Münchner seit zweiundzwanzig Jahren – da hielt es den gelernten Realschullehrer nicht mehr auf seinem Kommentatorenstuhl. Den Kopfhörer auf der Fliegermütze, kämpfte er sich durch die jubelnde Masse an den Spielfeldrand, um mit Pathos in der Stimme festzustellen: ›Ganz Franken tanzt.‹«

Und wann tanzen die Franken schon mal?

Also, das hier ist meine Gegend. Ich fahr’ natürlich auch oft – nicht oft genug – mit dem Fahrrad zum Club. Das Holz, das zu Hause in meinem Ofen brennt, hab’ ich hier aus dem Wald. (Günther hupt mit vollem Einsatz.) Da sind doch drei Arschlöcher nebeneinander jetzt gesessen und haben telephoniert, oder?!

Wahrscheinlich.

Ääähm, was wollt’ ich denn noch sagen? Ich kann dir ja so viel erzählen.

Deshalb bin ich ja da. Du redest den Leuten nicht nach dem Mund.

Nein, überhaupt nicht.

Und du schmierst ihnen keinen Honig um den Bart.

Nein, nein. Ich provozier’ ja gern.

Und du hast doch auch eine Freude daran, wenn es rumpelt.

Ja! Ich brauch’ den Streit. Ich komm’ heim von der Aufsichtsratssitzung und sag’: »Super, heut’ ham mer uns wieder g’stritt’n.«

Bist schon ein Streithansel.

Ja, ja! Sagt der OB [Ulrich Maly] auch. Aber ich liebe die Menschen erst dann, wenn ich mit ihnen streiten kann. Ich kann sie da erst richtig kennenlernen.

(Günther hupt energisch.)

Sag mal, die sind ja alle nur noch narrisch hier.

Ich bin kein Streithansel … Na, Idiot, du blöder! Alle müssen sie ihr Handy lesen, die Arschlöcher, die verfickten, du. Ja, es ist doch zum Kotzen! Jaaa! Also streite ich gerne um die Sache und will’s wissen und bohr’ nach und frag’ nach und so weiter. Es gibt ja Ultras, die mir nicht die Hand geben. Und es gibt Ultras, die ich in Kiel gesehen hab’, die mich am liebsten erstochen hätten und die mir ins Gesicht gelacht haben am Bahnsteig in Frankfurt, auf der Rückfahrt. Ich kenn’ die ja. Die wollen ja nicht erkannt werden, aber ich erkenn’ die. Ich weiß, wer die sind.

Woher kommt denn diese Aversion zwischen dir und den Ultras?

Weil ich halt auch in den Versammlungen gegen die red’ und weil die stocksauer sind, daß ich bei [Ex-Sportvorstand Martin] Bader recht hatte. Die haben ja mit Bader gemeinsame Politik gemacht, und ich hab’ dagegen gekämpft; und weil ich natürlich gegen Gewalt bin und des immer wieder sage; und weil sie wissen, daß der Koch eben nicht zu manipulieren ist. Weißt, die vereinnahmen den Verein.

Wir sind auf dem Vereinsgelände angekommen und gehen hinüber zum Trainingsplatz. Gemurmel unter den zahlreichen Kiebitzen, auf dem Feld ein lockeres Spiel zwischen zwei Teams in verschiedenfarbigen Leibchen.

Die Ultras haben uns halt auch viel Geld gekostet. Und die Ultras haben den Bader kassiert und haben die Mannschaft die Trikots ausziehen lassen [am 21. September 2014 forderten sie nach dem 0:3 beim Karlsruher SC noch im Stadion die Trikots der Spieler und stellten sie hernach in einem Forum wie Trophäen aus] und haben verlangt, die Mannschaft nach der 3:6-Niederlage in Freiburg zu sprechen.

Ich sag’ in Freiburg noch zum Bader: »Machen Sie’s nicht.« Dann macht er’s auf der Autobahn statt hier. [Ein einmaliger Vorfall in der Geschichte des deutschen Fußballs: Nach dem 3:6 am 27. Juli 2015 gegen den SC Freiburg hielt der Mannschaftsbus, verfolgt von etwa zweihundert Ultras, auf Anordnung von Martin Bader auf dem Rasthof Renchtal Ost an der A 5; daraufhin mußte sich das Team gewissermaßen einem etwa vierzigminütigen Verhör durch die Fans unterziehen.] Hier hat er Angst gehabt, daß es andere Leute mitkriegen. Ja, so ’ne Dummheit! Das ist der Margreitter. Das ist der Hanno Behrens, unser wichtigster Mann. Trainer haben wir zwei. Der da macht vor allem das Abwehrtraining.

Ist ja ordentlich was los hier.

Ja, ja. Ich zeig’ dir mal die Fans, die immer da sind.

Günther Koch ist eine Prominenz. Mit ihm hier am Valznerweiher kommt man sofort mit jedermann ins Gespräch, und er widmet sich alsbald seiner Mission: Vereinsmitglieder zu werben.

Haben Sie ’99 noch in Erinnerung, den 29. Mai?

Fan 1: Abstieg. Gegen Freiburg. Ja, do woar i heraßn. Mei Sohnemann hat gweint.

Da hat der Günther die beste Reportage aller Zeiten abgeliefert.

Fan 1: Alles scho aufgebaut fürs Fest, Klassenerholt, und dann war tote Hose.

Und im Stadion wußten das kaum Leute, weil damals wenige ein Radio dabeihatten, und die Zwischenstände von den anderen Plätzen durften nicht eingeblendet werden.

Fan 1: Der Baumann, no, der steht drei Meter vorm Tor und bringt nan net rein.

Danach ist er nach Bremen gegangen.

Fan 1: Mitm Vatter bin i scho da vorne in den Heim no ghockt, nachm Spuil halt immer d Sportschau angschaut. Da war ma a immer dringsessen. Des warn no Zeitn.

Tor in Nürnberg! Tor in Nürnberg! Ich pack’ das nicht!

Fan 1: Tor in Frankfurt, nä?

Und geht’s heuer schief? Nee, nä? Diesmal geht’s nicht schief.

Fan 1: Jo, ich soch mol, von Club, von Club is alles möglich.

Das muß ich noch fragen: Sind Sie Mitglied?

Fan 1: Naa, i bin …

G: Was, was, was, was? Kaa Mitglied?

Fan 1: Naa, ich bin zwoarafuffzich Joahr scho dabei.

G: Das Photo! Dann nehm ich das Photo zurück.

Fan 1: Sind immer fünf Stück [Mitgliedsanträge] dabei?

G: Dann nehm i des Photo zurück. Hey, das geht ja gar net!

Fan 1: Ich habs scho ins Auto eigschmissen. Ich hab die Simcard …

G: Hasters dabei?

Fan 1: Jo, jo. Im Auto liegts drin.

G: Wollmers net gleich machn?

Fan 1: Naa, naa.

G: Feigling, du feiger Hund, du feiger! Hätt i di fragn müssn, ich Depp. Ich mach kaa Photo mit Leutn, die kei Club-Mitglied sind. Ich gehe jetzt. Sollst dich schammer, wenn du kaa Mitglied bist. Für sechzig Euro, das sind sechzehn Cent am Tag. Soll ichs dir geben [das Formular]?

Fan 1: Sechzig Euro. Des mach mer scho.

G: Im Jahr. Das sind fünf Euro im Monat, das sind, wenn du jetzt Mitglied wirst, ab 1. Mai, ja, dann sind das nur noch sechs Monate, dann sind das dreißig Euro. Eigschlogn? Bei »Geworben durch …« hinschreiben: GüKo. Ich krieg nix dafür, aber ich will über dreihundert erreichen. Zweihundert hob i scho. GüKo, GüKo. Unten: GüKo.

Fan 2: Alles klar.

’94 war auch brutal – erst das Phantomtor, dann das Wiederholungsspiel. Verschießt der Schwabl noch den Elfmeter, und dann Wiederholungsspiel, 5:0 für Bayern, und dann letzter Spieltag, sie können noch die Klasse halten, verlieren in Dortmund 1:4. Das war auch eine seiner größten Reportagen.

Fan 2: Unvergessen natürlich.

Die bislang umfangreichste, von großem statistischen Recherchefleiß zeugende und opulent bebilderte vereinsgeschichtliche Darstellung Der Club – Die Chronik (Göttingen 2018) von Christoph Bausenwein, Harald Kaiser und Bernd Siegler wiegt 3,2 Kilogramm und stellt damit Jean-Paul Sartres theoretisches Hauptwerk Das Sein und das Nichts (ein Titel, unter dem die Historie des 1. FC Nürnberg recht treffend zusammengefaßt werden könnte) locker in den Schatten – diesen roten Ziegel, mit dem die Pariser Marktfrauen der Überlieferung nach die feilzubietenden Portionen taxiert haben sollen.

Schwerer als das physikalische Gewicht wiegt, was in der Chronik, zeitvernichtende Sucherei im Internet überflüssig machend, zur Saison 1993/94 nachzulesen ist, unter der Kapitelüberschrift »Schrecken ohne Ende«.

André Golke und Sergio Zárate waren zum Club zurückgekehrt, Alain Sutter, Manfred Schwabl und Michael Wiesinger (fest) verpflichtet worden. Trainer Willi Entenmann, »von Präsident [Gerhard] Voack trotz aller persönlichen Zwistigkeiten mit einem neuen Zweijahresvertrag ausgestattet«, sagte zu Beginn der Spielzeit: »Wir sind besser besetzt als im Vorjahr. Ein Mittelplatz wäre ein gutes Ergebnis für uns.« Voack, »›der JR von Lauf‹, alias Gerhard der Fürchterliche« (Günther Koch), machte klar, »daß ich einen einstelligen Tabellenplatz erwarte«.

Nach einem mißratenen Auftakt verscherbelt Voack den Torjäger Dieter Eckstein gegen dessen Willen an Schalke 04. Kapitän Andreas Köpke soll danach verlautbart haben: »Die Sache mit dem Dieter war eine Riesensauerei und lief ab wie Menschenhandel.«

Daß Voack Menschen wie Verschiebemasse oder – damals noch ein unbekannter Begriff – Humankapital, und sei es negatives, behandelt, wird endgültig deutlich, als er Entenmann am 6. November 1993 nach dem gloriosen 2:0-Heimsieg gegen den FC Bayern vor die Tür setzt – eine (von ihm) längst beschlossene Sache.

Günther Koch schreibt daraufhin einen pikant gewürzten Kommentar, den der Nachrichtenkanal B5 aktuell sendet. Kochs Gespür für angemaßte Autorität und grundloses Geltungsgehabe läßt ihn eine wütende Glosse verfassen, die dazumal in dieser Form höchstens noch von den ZDF-Sportredakteuren Günter-Peter Ploog und Thomas Wark hätte formuliert werden können. Da heißt es also, atmosphärisch ins Gesellschaftspolitische ausgreifend, das, medial befeuert, nach dem Zusammenbruch der Systemalternative die Aufplusterei der Kapitalgockel allerorten hofiert (und seien ebendiese halt fränkische Provinzialherrscher): »Einen Chef kann man sich nicht aussuchen – mit ihm muß man auskommen; so oder so. Einen Vereinsvorsitzenden kann man sich zwar theoretisch aussuchen – offiziell sogar demokratisch wählen –, doch auch hier schlagen die Zeichen der Zeit erbarmungslos zu.«

Man lasse dahingestellt sein, ob Zeichen der Zeit zuschlagen können – Günther Koch bettet, aus der Perspektive eines engagierten Bürgers argumentierend, Entenmanns schmählichen Rausschmiß gleich zu Beginn in eine soziologische Kurzanalyse ein: »So, wie allgemein die Politikverdrossenheit und damit eine Gesellschaftsverdrossenheit immer mehr um sich greift, was nun wirklich nicht [die] alleinige Schuld der Politiker ist – auch nicht der Kommunalpolitiker –, genauso wird es in den Vereinen immer schwieriger, verantwortungsvolle, ehrenamtlich arbeitende Mitarbeiter zu finden, die es um der Sache willen tun. Also muß man nehmen, was kommt.«

Der 1. FC Nürnberg hatte seit Anfang der achtziger Jahre bereits prangendste Erfahrungen mit gewissen Teppichhändlern und Immobilienmogulen und geschickten Schatzmeistern machen dürfen, doch 1992 hatte man im Zuge der Inthronisation Voacks noch eine Schippe draufgelegt und, so Koch weiter, einen »nach Höherem, Größerem strebenden Kommunalpolitiker und Geschäftsmann aus der Baubranche auf den Markt der Eitelkeiten« geworfen, »wie es leider bei den beiden Traditionsvereinen ohne sportliche Erfolge in der kommerziellen Fußballneuzeit«, bei Schalke und dem FCN, Usus geworden sei.

Voack nun »ahnte bauernschlau, daß er bei diesem führungslosen Club leichtes Spiel für seine egozentrischen, kleinkarierten, persönlichen Ambitionen haben würde«, und rasch »schnappte er über und maßregelte den ihm charakterlich und offensichtlich auch intellektuell überlegenen Fußballehrer Willi Entenmann in der Öffentlichkeit und sprang auch mit anderen Menschen auf sehr unfeine Art um – so, als ob sie Bausteine wären«.

Koch gibt alsdann seiner Hoffnung Ausdruck, daß die Mitglieder des »ehedem ruhmreichen 1. FC Nürnberg« den Intriganten, den »profilierungssüchtigen Gernegroß« (Die Zeit 23/1995), der für seine Winkelzüge regelmäßig die Boulevardpresse einspannt, vom Hof jagen werden. Am 1. Februar 1994 tritt Voack schließlich zurück und hinterläßt einen zerrütteten Verein und einen imposanten Schuldenberg in einer Höhe zwischen fünfundzwanzig und dreißig Millionen Mark. Der Club hat einen neuen Gipfel des Dilettantismus und der Peinlichkeit erklommen.

»Mit dem Weggang des sachverständigen Schwaben [Entenmann] ging der spielerische Kollaps der Mannschaft einher«, schrieb die Zeit ein Jahr danach. Unter Trainer Rainer Zobel würgt sich das Team jetzt durchs Restprogramm und scheint drei Spieltage vor Saisonende wider Erwarten gerettet.

Dann reist der 1. FC Nürnberg am 32. Spieltag, am 23. April 1994, nach München, und was Günther Koch nachschildern muß und schildern wird, ist mit dem Wort »denkwürdig« bloß matt bezeichnet. Die lange Passage, die sich der Tatsache verdankt, daß der Bayerische Rundfunk mit Heute im Stadion – Sportreporter berichten – Inbegriff der »Radioherrlichkeit« (tz) – die beste Rundfunksportsendung im deutschen Sprachraum pflegt, ein journalistisches Format, in dem Reporter Raum und Luft zur bisweilen virtuosen Entfaltung ihrer Fähigkeiten haben und der Fußball und nicht irgendein Programmschema regiert, sei ungekürzt wiedergegeben. Ohne Punkt und Komma und in hypotaktischen Konstruktionen, gespickt mit Appositionen, referiert und rekonstruiert Koch, was sich gerade zugetragen hat und parallel jetzt zuträgt, und wären die nachmaligen Konsequenzen für den Club nicht derart verheerend gewesen, man gäbe Thomas Helmer und seinen Mannschaftskameraden noch heute die Hand, weil sie diese Rhapsodie ermöglicht beziehungsweise nötig gemacht haben:

Es steht 1:0 in einem möglicherweise denkwürdigen Spiel, nicht, was die Klasse, was das Format dieser Begegnung anbetrifft, sondern ein Tor wurde gegeben, das kein Tor war. Sie werden sich wundern, wie ein Reporter das sagen kann, das sich zu sagen wagt, aber es war folgendes geschehen: In der etwa 25. Minute Ecke für den FC Bayern von der rechten Seite … Sutter alleine an zwei Münchnern vorbei!! Im Sechzehner!! Wird gelegt!! Strafstoß!! Das ist Strafstoß! Aber Schiedsrichter Osmers gibt, als Matthäus Sutter legt, Sutter hatte, man stelle sich vor, zwischen Helmer und Matthäus, als er noch hinter ihnen war, beiden in die Augen guckte, den Ball durchgelegt, war zwischen beiden durchgelaufen, als die das Laufen anfingen, war der Sutter schon weg, der langmähnige Blonde, und als der Matthäus mit der letzten Kraft, der alternde Veteran, hinterherhechelte, bringt er ihn zu Fall, und zwar für meine Begriffe bereits auf der Sechzehnmeterlinie, wenn nicht gar drin, und das wäre und das war dann für meine Begriffe Strafstoß, aber die Bayern führen mit einem Tor, das auf Kosten des Linienrichters und des Schiedsrichters geht, denn der Ball war neben das Tor gegangen, aber wegen ungünstiger Sichtverhältnisse muß man dem Linienrichter das verzeihen. Aber sportlich darf man das nicht akzeptieren. Dazu später mehr. Das werde ich Ihnen ganz genau schildern. Jetzt der Freistoß für die Cluberer! Kubik mit links! Und–?! Knapp am Tor vorbei! Das kann er ja, da hat er ja drei Freistoßtore gemacht, wunderbare Tore in den letzten Wochen, in Leipzig hat er ein Tor geschossen, dann gegen Gladbach zwei Tore, aber in diesem Fall braucht Aumann, der tapfere und der vorbildliche Sportsmann, der ja ins Morgenland weiterempfohlen wird, nicht mehr einzugreifen, denn der Ball ging am Dreieck vorbei. Vielleicht ham wir jetzt Zeit, Ihnen das zu schildern. Es war in der 25. Minute, ist auch egal, ob’s die 25. oder welche war, es wird eine Minute sein, die in die Bundesligageschichte eingeht [offiziell die 26.]. Ecke für die Bayern, die drückend überlegen waren, das muß man ganz klar sagen, die die bessere Mannschaft waren, die einen Großteil von Torchancen hatte, aber Köpke war besser, oder die Nürnberger standen besser bei den achtzig-, neunzig-, hundertprozentigen Torchancen, die hundertprozentigen übrigens durch Mehmet Scholl. Und dann kam diese ominöse Minute, Ecke der Bayern von rechts, von Scholl getreten, Kopfballverlängerung von Kreuzer, Spielerknäuel vor der Torlinie des Nürnberger Tores, Helmer stupst an den Ball, Köpke kann klären vor der Linie, das war ganz klar, das konnte jeder sehen, Helmer entschuldigt sich, weil er mit Köpke etwas zusammengerumpelt war, der Ball war mittlerweile bereits drei Sekunden im Aus, und dann sagt der Schiedsrichter: »Tor.« Alle wundern sich. Wer’s als erster begriffen, geglaubt und sich darüber gefreut hatte, das waren die Bayern-Fans, die jubelten, die Club-Fans dachten und die Club-Spieler: Das kann ja wohl nicht wahr sein! Denn der Ball war ja neben das Tor gegangen. Der Ball war tatsächlich neben das Außennetz, und zwar am linken Pfosten vorbeigegangen, und da die Ecke von rechts geschlagen wurde und der Linienrichter natürlich auf der Gegengerade steht, mußte er praktisch – durch zwei Pfosten kann er nicht durchschauen, aber durch zwei Außennetze sozusagen durchsehen, und er hat wohl gedacht, daß nach dem ersten Außennetz der Ball innen vom zweiten Außennetz drin war, aber da hat er sich getäuscht, der Ball, das hab’ ich ganz klar danach noch mal aufm Monitor mir angeguckt, er ist neben das Tor gegangen. Ob jetzt der Helmer hätte hingehen sollen und sagen sollen: »Schiedsrichter, das war kein Tor« – das lasse ich einmal offen.

Andreas Köpke sagte übrigens, so erinnert er sich, zu Thomas Helmer sofort: »Wie hast du denn das geschafft, den vorbeizuschießen?« »Das sinnloseste Tor in der Geschichte« (Jürgen Klopp), »der größte Brüller und größte Lacher aller Zeiten« (Rudi Assauer), ein Lacher natürlich auf Kosten des FCN, »dieses Scheißtor, das keins war« (Udo Lattek), hat den Bayern schließlich den Titel beschert. Ohne das Wiederholungsspiel, das sie 5:0 gewannen, wäre Kaiserslautern Meister geworden, und der Club hätte im Abstiegskampf gegen den – wohlgemerkt – SC Freiburg, mit dem den FCN offenbar etwas Mysteriöses oder immerhin Dubioses verbindet, nicht den kürzeren gezogen.

Günther Koch läßt in seiner Reportage später sinngemäß fallen, der Abiturient Helmer – den Harald Kaiser in seinem dürren Buch Ronaldo, Matthäus & ich – Mein Leben als kicker-Reporter (Göttingen 2018) kurioserweise als »sehr fairen Sportler« bezeichnet – wäre mit einem bayerischen Abschluß womöglich ehrlicher gewesen und auf den Schiedsrichter zugegangen (auch gegenüber Zeitungen fragt er sich hinterher, »warum eigentlich der so kluge Helmer den Irrtum nicht gleich selber aufgedeckt hat« – »Ich dachte, ich werde nicht mehr auf meinem Reporterplatz«). In der darauffolgenden Champions-League-Saison verweigert Helmer Koch in Göteborg deshalb ein Interview, und bis in diese Tage blockt er als Moderator des Doppelpasses auf Sport1 Gäste ab, die Kochs Namen in den Mund nehmen.

Allerdings gehört ebenso zur Wahrheit: Gute zehn Minuten nach Helmers regulärem 2:0 erzielt Sutter in der 79. Minute den Anschlußtreffer, und kurz darauf pfeift Osmers auf Grund eines Fouls von Helmer (!) an Christian Wück Elfmeter. Wir schalten um zu Günther Koch:

Tooor in München! Sutter! Der ungekrönte Märchenprinz auf dem saftigen grünen Rasen des Olympiastadions, mit den goldblonden langen Haaren, solo an drei Bayern vorbei, am Aumann vorbei, und dann schiiiebt er den Ball ins Tor! Es steht nur noch 2:1 für den FC Bayern München gegen die Cluberer, und davor hatte der Wück schon eine tolle Gelegenheit, ebenfalls durch den überragenden Alain Sutter ins Spiel gebracht. Vielleicht überlegen sich die Bayern: Warum kaufen wir nicht Alain Sutter statt Papin und so weiter? [Und das taten sie. Schon in der nächsten Saison stand Sutter beim FC Bayern unter Vertrag.] Aber Sie wollten sicher noch mehr sagen, Armin Hauffe. (Ein paar Wort von Armin Hauffe von einem anderen Platz, dann geht wieder Günther Koch dazwischen:) Strafstoß!! Strafstoß in München! Liebe Freunde, haltet die Luft an! Sutter, Wück! Ich werde von allen Seiten bedrängt, aber Freunde, warten wir’s ab! Strafstoß für den 1.FC Nürnberg. Ganz klar. Wück! Und das war eben dann doch richtig, daß Zobel Wück brachte! Der ist so schnell, den hält keiner! Und Helmer, der heute, nachdem er sechs Monate nicht mehr getroffen hatte, zwei Treffer erzielte, über den ersten reden wir jetzt mal lieber nicht, Helmer brachte hier Wück zu Fall, und Manni Schwabl legt sich den Ball hin!! Ouuu, das halt’ ich nicht für goud! Der Manni und Elfmeterschütze, das ist zwei Jahre her, daß der den letzten Strafstoß schoß! Gegen Aumann!! Manni Schwabl gegen Aumann!! Nürnberg gegen Bayern!! Jetzt geht’s um die Wurscht!! Manni Schuß – und – gehalten!!! Ich hab’s gewußt!!! Ich hab’s gewußt!!! Das habe ich gewußt!! Es bleibt beim 2:1 für den FC Bayern!

Andreas Köpke war als Schütze vorgesehen gewesen und aus seinem Strafraum herausgelaufen, und Schwabl hatte plötzlich keine Augen mehr im Kopf, oder keiner seiner Mitspieler hielt ihn zurück, und so verlor der FCN jenen Punkt, der zum Erhalt der Klasse gereicht hätte (die Club-Verantwortlichen hätten nach einem Unentschieden gewiß keinen Protest eingelegt). Zum Pech und zur Ungerechtigkeit (Koch: »um den gerechten Lohn betrogen«) gesellt sich beim Club nicht selten ein seltsames, wie mythisch verhängtes Unvermögen, das am 7. Mai, am letzten Spieltag in Dortmund, dann seine (tragisch-slapstickartige) Vollendung erfuhr.

Knapp dreieinhalb Jahre später, im September 1997, schrieb Günther Koch in der – notabene – Stadionzeitung der SpVgg Greuther Fürth, im Kleeblattmagazin, über ebenjenen Tag: »Es sollten die schlimmsten Minuten für mich als Reporter werden, weil ich instinktiv ahnte und auch laut sagte, was das womöglich für lange [Zeit], wenn nicht gar für immer für den Club bedeuten sollte.«

Er hat den grausamen Abstieg des Jahres 1994 bis heute nicht verwunden. Einen »Abstieg zum Weinen« nennt er ihn nach wie vor, und man glaubt ihm ohne Abstriche, daß ihm danach das Leben eine Zeitlang egal war, sofern man lediglich diese frühe Einblendung aus dem Westfalenstadion wiederhört – ein ins Herz fahrendes Lamento, ein grelles und zugleich an sich selbst erstickendes Klagelied, das jeden halbwegs empfindsamen Menschen zu Tränen rührt, mag ihm der 1. Fußball-Club Nürnberg auch durch und durch egal sein.

Es sind etwas mehr als zehn Minuten gespielt, und Günther Koch wird für Heute im Stadion zugeschaltet:

Edgar Endres, ganz schnell ’ne kurze Unterbrechung, wir gehen nach Dortmund gegen den Club! Günther Koch. – Über die linke Seite drohte Gefahr, ich deutete das vorhin an. Reinhardt hat sich wieder durchgesetzt, flankt nach innen, Golke soll mit der Hand und nicht mit der Stiefelspitze geklärt haben. Ach ja. Es gibt Strafstoß – und ausgerechnet das in diesem wichtigen Spiel in der 12. Minute, liebe Leute. Warten wir’s ab. Der Köpke dreht sich um! Er schaut überhaupt nicht hin. Strafstoß gegen Nürnberg im Westfalenstadion in Dortmund! Und jetzt, jetzt fällt eine Vorentscheidung. Michael Zorc gegen Andreas Köpke. Der Ball liegt nicht auf dem Punkt! Der liegt vor dem Punkt! Das sieht man ganz klar. Aber der Schiedsrichter gibt ihn frei! Jetzt kommt der Anlauf – und der Köpke – hat – ihn – gehalten!!! Super, Köppi!!!! Nachschuß!!!! Achtung!!!! Auf der Linie!!!! Tor!!!! Die ham ein Pech, die Jungs!!! Die haben so viel Pech!! Auf der Linie haut er ihn statt raus unter die Latte, der Uwe Wolf!! Und jetzt sitzt er da wie ein begossener Pudel!! Und was soll man da noch sagen?!! Der Club liegt hinten!! Köppi hat pariert!! Hat geklärt!! Dann der Nachschuß abgewehrt!! Und dann fällt er praktisch ins Tor, weil der Uwe Wolf auf der Linie stehend den Ball nicht raus-, sondern unter die Querlatte, nein, sogar hinter die Querlatte ins Tor gehämmert hat! [In den Chroniken wird allerdings Gerhard Poschner als Torschütze angegeben.] 0:1 gegen den 1. Fußball-Club Nürnberg, und, liebe Club-Fans, dennoch: Noch ist nichts verloren!

Am folgenden Montag, am 9. Mai, versuchen die Nürnberger Nachrichten, die Ursachen für den abermaligen »Alptraum« und Absturz, den vierten Abstieg nach 1969, 1979 und 1984, zu ergründen. Die Ressentiments gegenüber Günther Koch schwelen in der Lokalpresse seit einiger Zeit. Rudolf Pilous, der Autor des Beitrags auf der Seite drei, dem traditionell renommiertesten Platz jeder Tageszeitung, eröffnet seine Nachlese zu den Ereignissen der jüngeren Zeit deshalb auch mit einer Hakelei: »›Mein Gott, das ist der Untergang des 1. FC Nürnberg!‹ Rundfunksprecher [Rundfunksprecher …] Günther Koch, der sich gern als die ›Stimme Frankens‹ feiern läßt [als die ›Stimme Frankens‹ feiern läßt …], versuchte wie ein Trauerredner, den ›Weltschmerz‹, der eine ganze Region bewegte, in diesen einen Satz zu fassen. Der 1. FCN war wieder einmal gewogen und für die Erstliga als zu leicht empfunden worden.«

Ungeachtet dieser einigermaßen unverschämten Spitze konstatiert Pilous dann zu Recht: »Bei jedem Wechsel in der Vereinsführung wurde der Schuldenberg noch ein bißchen höher«, und fährt fort: »Was ist eigentlich dieser 1. FCN, der so viel Gesprächsstoff liefert? Ein Sportverein wohl nur noch für die Schwimmer, Handballer, Leichtathleten. Ansonsten aber ist er zum Geldbeschaffer für rund zwanzig Kicker degeneriert, die ihr Handwerk nur schlecht verrichten«, was unzweifelhaft maßgeblich an den wechselnden dummdreisten Hampelmännern, Lautsprechern und Spesenrittern auf der sogenannten Führungsetage liegt: »Warum der Club wieder einmal abgestiegen ist, hat viel mit der Großspurigkeit jener vom Valznerweiher zu tun, die oft genug das Fell des Bären verteilten, ohne ihn zuvor erlegt zu haben.«

Vielleicht ist es kein Zufall, daß sich 1994 angesichts der andauernden strukturellen Misere die erste Nürnberger Ultragruppierung gründet. Im Stadtteilzirkular Zabo-Nachrichten, in dem Koch regelmäßig kolumniert, merkt er in der Ausgabe Juni/Juli 1994 zum »Geistertor« an: »Daß der Club protestierte und eine Spielneuansetzung durch den routinierten Rechtsanwalt und Ex-Präsidenten Sven Oberhof beim DFB anstrengte und auch erreichte [notabene trotz der Drohungen der FIFA], war um der Gerechtigkeit und der Glaubwürdigkeit des Fußballs willen – falls es die überhaupt noch gibt – nötig. Dennoch: Gerade durch das Wiederholungsspiel mit der hohen Niederlage, obwohl der toll aufspielende Club in der ersten Halbzeit längst 1:0 oder 2:0 führen mußte, steckte den Cluberern in Dortmund einfach ein Spiel mehr in den Knochen. […] So gesehen hat das Geistertor von München dem Club das Genick gebrochen.«

Zuletzt sei erwähnt, daß Günther Koch in seinem Anekdotenbuch Der Ball spricht – Fußballgeschichten (Frankfurt/Main 2005) erzählt, wie er während der Einblendungen immer wieder »krampfhaft« versuchte, »einen anderen Ausdruck als den des abgegriffenen des Phantomtors zu finden. Ich sprach von dem ›Daneben-Tor‹, vom ›Geistertor‹, von dem ›Siebenmetersechzigtor‹, von dem ›Kein-Tor-Tor‹, von dem ›Von-wegen-Tor‹. Aber ich war nicht glücklich mit diesen Begriffen. Bis heute ist mir kein besseres Wort eingefallen. Aber wahrscheinlich muß eine schlechte Situation auch durch ein schlechtes Wort bezeichnet werden.«

Abgesehen davon, daß Kochs Stegreif-Neologismen allesamt alles andere als schlecht, ja regelrecht apart sind – sprechen wir doch fürderhin vielleicht einfach vom »Helmer-Tor«. Das klingt so lumpig, wie der Vorgang war, auf den das Kompositum verweist.

Fan 1: Der schöi Helmer, und jetz redt der schön.

Ich bin heute mit ’nem Oberpfälzer hierhergefahren, und der is’ kein Fußballfan, aber er interessiert sich schon für Fußball und sagt: Fußball is’ für mich Günther Koch im Radio.

Fan 2: Günther Koch is a Traum. Den amol überhaupt lebend zu sehen. Wir ham ja früher die Reporter, göi, die ganzen Reportagen gehört, aber wenn ma dös so sieht: mit Leib und Seele bei der Arbeit! A Traum!

Ich saß mal ein ganzes Spiel neben ihm auf der Tribüne. Ich war fix und fertig. Fan 2: Des glaub i.

Fan 1: Heint host bloß no Sky. Freiher sin mer halt in die Wirtschaft ganga um halb vier, Radio am Tisch, Bier getrunken und Heute im Stadion aghört, göi?

Tolle Sendung war das.

Fan 1: Du sigst a Spiel! So ham die dös rüberbracht.

Fan 2: Früher, dös woar halt a der Unterschied … Jetz sin ja die ganzen Spieltage zerrissen. Die spuin am Freitag scho und Samstag und Sonntag und Montag. Früher woar dös am Samstag um halbe viere.

G: Was wollt ihr wissen? Ach so …

Fan 2: Der Günther Koch woar Lehrer, oder, oder was war er?

G: Ja, ja.

Fan 2: Und dann?

G: Und dann hat er beides gemacht, aber er hat den Lehrer auf Teilzeit gemacht. War natürlich schwierig, weil du dann in beiden Berufen besser sein mußtest als die anderen, weil sonst hats gheißn: Der macht des ja nur nebenbei. Des is wirklich so.

Fan 2: Die Neider.

G: Die Neider.

Fan 2: Ja, genau.

G: Aber ich bin auf Teilzeit gangen. Hatte auch tolle Kolleginnen vor allem, aber auch Kollegen, die mich unterstützt haben, und hab wegen der Champions League Mittwoch freighabt, Montag sehr viel Stunden, weil da nie was los war, und Seminar. Und dann war ich Beratungslehrer und Seminarlehrer und hatte ne Radiogruppe, und da konnt ich die verbliebenen acht Stunden mehr oder weniger aufn Freitag und aufn Montag legen. Und einmal hob i meine Buam, meine Schüler, do hob i s’ verarscht. Die wußten, wenn Champions League is, kommt er erst am übernächsten Tag, is ja klar. Da hab i gsagt: »Leitl, i bin morgen in Neapel, aber am Donnerstag in der Früh bin i do«, aaahhh, aahh. Ich wußte, daß wir in Neapel nachm Spiel glei wegfliegen aus sicherheitstechnischen Gründen, weils Angst ghabt ham vor die Fans in Neapel und die Ultras und was waaß ich, und da hams a Sondergenehmigung ghabt vom Franz-Josef-Strauß-Flughafen, daß wir nachts um halb drei landen dürfen. Ey, und dann kumm ich am Donnerstag um halber achte in die Schul, und die ham kaa Englisch dabei. Da hab ich eine Schau abgezogen.

Fan 2: Hahaha. Ausgetrickst. Klasse. Der konn vuil erzähln, der goude Mann. Der konn vuil erzähln, der hot vuil erlebt. Der hot vuil erlebt.

Fan 1: Der weiß olles.

Günther stellt mir kurz Dave vor.

Dave (sitzt nach einer Beinamputation infolge eines Motorradunfalls seit etlichen Jahren im Rollstuhl): Ich bin der Dave, hallo.

Ich wollt’ einfach fragen: Günther Koch. Als Reporter. Als Aufsichtsrat. Was Ihnen dazu einfällt.

Dave: Ich persönlich bin a Fan von ihm. Ich hab ihn immer gemocht. Auch zu Baders Zeiten war er einer, der auf unserer Seite gestanden is, nämlich: Bader raus. Er läßt sich net verdreha. Er is für sei Alter immer noch a sehr agiler, lustiger Mensch und einer der letzten wenigen Club-Getreuen. Für mich einfach stets a sympathischer Mann, hat a immer a nettes Wort für jemanden, auch in seim Job als Aufsichtsrat. Mir gfällt er, ich moch nern, hab nern scho immer gmecht. Ich dät Ihnä auch sogn, wenns a Arschloch wär.

Es gibt Leute, die halten ihn für ’nen Deppen.

Dave: Ja. Eindeutig. Ja, ja. Da bin ich der erschde, der in die Bresche springt, weil der Günther für mich einfach a fürchterlich netter Mensch is. Ich komm wunderbar mit ihm klar, mach gern amol aan Blödsinn, und die Sachen, die er macht – er behält sei Linie bei. Er is kanner vo denne, die dann umfalln.

Er ist kein Anpasser.

Dave: Ganz genau – der dann, weil die anderen alle andersch reden: Etzala paß i mi besser do an. Der Günther behauptet sei Position, au wenns amol schwierig wird, und des is was, was mir imboniert hat, grad auch in der Zeit mit dem Bader. Mitm Club, also wirklich, da gehste durch sämtliche Höllen, die du in deim Leben erleben kannst. Und wenn ma erscht dou a jemand sieht wie n Günther, der so nah am Verein is und auch vor langen, seit langen Jahren so nah dran is, do hat mer scho einiges miterlebt.

In Der Ball spricht ist ein Kapitel mit dem Kofferwort »Nürnchenberger« überschrieben – einerseits eine Art Stigma, das sich Günther Koch selber verpaßt, andererseits ein Hinweis darauf, daß sich seine Lebensgeschichte – wie die Biographie vieler anderer – aus unterschiedlichen Erfahrungen, Umgebungen, Landschaften, politischen, sozialen und sprachlichen Prägungen speist und zusammensetzt. Wer nicht nur Flüchtlingskind, nicht nur Oberbayer, nicht nur Franke ist, ist vermutlich reicher an »Weltansichten« (Wilhelm von Humboldt) und geschmeidiger, freundlicher und nachsichtiger im Umgang mit dem anderen als jemand, der sich granitfest einzig und allein als Kölner, Saarländer oder Flensburger versteht. Zumal den Franken könnte das vor dem Hintergrund all der historischen, konfessionellen und machtstrategischen Wirrungen, die die Vielzahl dieser divergenten Gegenden geformt haben, unschwer einleuchten. Der Schriftsteller Hans Max von Aufseß brachte es auf eine griffige Formel: »Der Franke ist ein Gewürfelter.«

Unter dem Lemma »Verräter« ist in Der Ball spricht zu lesen: »Der Nürnberger und die Franken sind eigentlich liebe Menschen. Wenn man sie einmal für sich gewonnen hat. So legt man mir öfter mal im Stadion kleine Geschenke – Blumen, Kuchen, Zigarren, einen schwarzroten Taschenaschenbecher oder sogar mal ein Gedicht – auf meinen Arbeitsplatz. Aber sie können auch anders. Nachdem ich schon zwanzig Jahre Reporter war, so etwa nach dem vierten Abstieg der Cluberer, setzte mich der BR regelmäßiger als früher auch in München ein. Dort berichtete ich von den Löwen und durfte auch viele wichtige Spiele des FC Bayern übertragen. Eines Tages stand ich zum Brötchenholen beim Bäcker in Nürnberg-Altenfurt. Die Schlange war so lang wie immer. […] Ich stand in Gedanken versunken dort und dachte an meinen Einsatz am Nachmittag. Da ging ein gutgebauter Mann an mir vorbei aus dem Laden und zischte mir zu, so laut, daß es jeder in der Bäckerei hören konnte: ›Verräter! Bayern-Reporter!‹ Ganz anders, ja souveräner läuft das übrigens in München ab. Die Ordner und auch die Fans begrüßen mich dort immer mit liebevoller Ironie: ›Hi, Cluberer! Wia geht’s? Mogst wieder amoi a gscheits Spui seng?‹« [In einem Fernsehinterview sagt Koch übrigens, der nämliche Mann habe noch hinzugefügt: »Bayern-Sau! Jetzt überträgt er schon Bayern-Spiele!«]

Geändert hat sich diesbezüglich auch mehr als zwanzig Jahre danach offenbar wenig. Schon am 10. April 2011 erklärt Günther Koch in Helmut Marktworts BR-Fernsehtalkshow Der Sonntagsstammtisch, angesprochen auf Formen des etwas robusteren Gebarens bestimmter Fangruppen: »Das ist ein pädagogisches Problem. Der Fußballfan spinnt sowieso, wenn es um seinen Verein geht, jeder.« Und 2016 gibt er der von Bayern-Anhängern sorgsam betriebenen Podcast-Plattform erfolgsfans.com ein ausführliches Interview (auf YouTube unter dem Stichwort »Kamingespräch« zu finden), in dem er, die nämliche Problematik schärfer umreißend, bekennt: »Ich bedauere sehr, daß es diesen Haß gibt zwischen vornehmlich Club-Radikalen«, von denen er mehrmals bedroht worden sei, »und Bayern-Fans. Die Bayern sind da nicht so radikal, aber beim 1. FC Nürnberg gibt es leider eine Minderheit, die wünschen dem FC Bayern nichts Gutes. Und dagegen kämpfe ich. Das ist etwas, was mir sehr stinkt.«

Auf der Rückfahrt frage ich Günther nach seinem berühmten Riecher:

Wo hast ’n den her?

Ja, den hob i. Ja, des is eigenartig – aber nur, weil ich selber Fußball spiel. Auch zu Hause jetz, wenn ich fernseh und dann mei Frau irgendwo is, und da schrei ich: »Jetzt gibts glei a Tor!« Und nach zehn Sekunden scheppert’s. Des spürst du irgendwie, wenn die Abwehr untereinander streitet, wenn die jetzt zweimal aan Fehler gmacht ham und irgendwo Antipathien, kurzfristige, herrschen in der Abwehr. Des is der eine Punkt. Und wenn die andern grade wirklich geil sind, entschuldige, wenn ich das so sage. Und, äh, na, dann spürst du’s, daß bei der nächsten Ecke oder jetzt bald irgendwas passieren kann. Und dann passierts. Es is Wahnsinn.

Eines seiner vielen Spürnasentore wurde 1997 von den Hörern des Bayerischen Rundfunks zum »Radiotor des Jahres« gewählt (nachzuhören auf der zweiten CD mit »Ausgewählten Radioreportagen«, Wir hören Günther Koch!, Rough Trade/I Saw Hans Walitza Kick That Ball Records 1998). Es fällt am 4. Mai des Jahres:

Jetzt kriegen die Bayern aan Freistoß, noch besser als a Ecke, von der rechten Seite, zwei Meter vor der Grundlinie, fünf Meter nebern Eckfahndl. Von rechts Matthäus. Wenn jetzt der Klinsmann köpft, dann kracht’s aber. Kopfball von Klinsmann! Tor! Ja, ich hab’s Ihnen ja gesagt: Wenn der Klinsmann köpft, dann kracht’s. Der Ball kommt … Das ist unser Klinsi! Und hier kann geschrieben und gesagt werden, was Sache ist oder nicht Sache ist! Oft wird ja geschrieben, was nicht Sache ist! Der Mann, der nicht nur mit den Gegnern und mit den Neidern, sondern auch mit den Medien zu kämpfen hat. Ich hab’ Ihnen gesagt: Wenn der an den Kopf kommt und an den Ball kommt mitm Köpferl, dann klingelt’s. Jetzt hat’s geklingelt. Tor! Bravo, Jürgen Klinsmann! Bravo, Bayern! Sie haben den Anschlußtreffer erzielt. Und der Matthäus Lothar, nicht unbedingt das G’spusi vom Jürgen Klinsmann, macht diese Flanke, und das war schön angeschnitten, und es war mir klar, die geht auf den Klinsmann, und da sahen die Abwehrspieler der Sechz’ger gar nicht gut aus. Bedrängt, der Jürgen, von zwei Gegenspielern, springt er hoch. Kurze Drehung! Zack! Und der Ball war im Netz.

SPORTOBSESSION, AB OVO

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