Unter Korsaren verschollen - Werner Legère - E-Book

Unter Korsaren verschollen E-Book

Werner Legère

3,8

Beschreibung

Anfang des 19. Jahrhunderts beherrschen algerische Korsaren das Mittelmeer. Als der kleine Kaufmannssohn Livio von ihnen entführt wird, beginnt eine Odysee, die ihn schließlich vom Gefangenen zum Kapitän auf eigenem Schiff werden läßt. Erst nach vielen Jahren lüftet sich das Geheimnis um den gefürchteten Freibeuter Omar. Werner Legères erfolgreichster Roman! Nur noch als E-Book erhältlich!

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UNTER KORSAREN

VERSCHOLLEN

ROMAN

VON

WERNER LEGÈRE

Herausgegeben von Lothar und Bernhard Schmid

© 1997 Karl-May-Verlag

Der vorliegende Roman spielt am Anfang des 19. Jahrhunderts.

1. Der nächtliche Gast

Durch die nachtdunklen Straßen Genuas schleicht am 2. Februar 1813 ein Mann und biegt schließlich in ein Gässchen im Rücken der stolzen Kaufmannshäuser ein. Unhörbar ist sein Schritt; sorgsam vermeidet er die Stellen, wo aus den wenigen erleuchteten Fenstern ein Lichtstrahl auf das holprige Pflaster fällt. Der Weg scheint ihm bekannt zu sein; nirgends stößt sein Fuß an Kanten oder Steine. Von der San-Lorenzo-Kathedrale dringen Stundenschläge herüber. Auch San Dominicus an der Piazza Reale kündet die Zeit: elf Uhr nachts. Der Wanderer hat sich in den tiefen Schatten einer Tür gedrückt. Jetzt geht er weiter, bleibt endlich vor einem Häuschen stehen. Ohne zu suchen, findet er den Türklopfer. Ein kurzer, dumpfer Schlag. Pause. Ein stärkerer zweiter nun. Wieder Stille. Ein dritter, vierter folgen. Der Mann tritt zur Seite und wartet. Gespannt lauscht er die Gasse hinauf und hinab. Sie liegt einsam und verlassen da.

Trotz der angestrengten Aufmerksamkeit, mit der der nächtliche Besucher die Umgebung betrachtet, entgeht seinem Ohr nichts von dem, was im Innern des Hauses geschieht. Jetzt bemerkt er schlurfende Schritte, die sich der Haustür nähern. Ein Riegel wird zurückgeschoben, ein Schlüssel knarrt im Schloss. Quietschend bewegt sich die Tür in den Angeln. Durch einen Spalt fällt gedämpftes Licht ins Freie.

„Wer da?“, kommt aus dem Halbdunkel des Flurs eine Stimme.

Der Fremde murmelt etwas. Das Wort muss dem Öffnenden bekannt sein, denn er schließt die Tür nicht wieder.

Gelungen wäre es ihm sowieso nicht. Der Einlass Begehrende hatte sofort den Fuß dazwischengestellt. Die Sperrkette wird gelöst, der Fremde kann eintreten. Langsam und gewissenhaft schließt und verriegelt der Pförtner die Tür. Nach diesen Vorsichtsmaßnahmen schlägt er den langen mantelartigen Rock von der Laterne zurück und leuchtet dem Gast ins Gesicht. Er sieht nichts weiter als scharfe, stechende Augen. Sonst ist das Antlitz des Eingetretenen durch den breiten, tief in die Stirn gezogenen Hut und den malerisch hochgenommenen weiten Mantel verdeckt.

„Oh, Herr, Ihr!“ Unterwürfig verneigt sich der Diener vor dem Fremden. Das Licht in seiner Hand schwankt. Er hat Furcht.

„Seid ihr allein im Haus?“ Der kalte, herrische Ton lässt den Alten zusammenzucken.

„Wir sind es.“

„Dann führe mich zu deinem Herrn!“

„Ich – weiß nicht.“

„Vorwärts, leuchte! Ich habe keine Lust, lange im Flur zu stehen.“

„Verzeiht! Der Herr will nicht gestört sein.“

„Was kümmert’s mich!“

„Ich werde Euch melden. Geduldet Euch einen Augenblick.“

„Nichts da, leuchte! Oder soll ich mir meinen Weg allein suchen?“

Die Angst vor dem nächtlichen Besucher ist größer als die vor dem Hausherrn, deshalb fordert der Diener mit einem „So kommt, Herr!“ zum Folgen auf.

Im ungewissen Licht der Laterne wirkt das Innere des Hauses gespenstisch. Der Fremde nimmt keine Kenntnis davon. Er zuckt nicht für den Bruchteil einer Sekunde zurück, als ihn plötzlich aus dem Dunkel zwei Augen anblitzen. Es sind die Glasaugen einer ausgestopften Eule, die vom Licht getroffen aufleuchten. Würde der Diener sich einen Augenblick umdrehen, dann würde ihm lediglich auffallen, dass der Besucher spöttisch dreinblickt.

Endlich macht der Alte vor einer Tür Halt. Schon will er klopfen, da schiebt ihn der Fremde, dessen Gesicht noch immer unter dem Mantelkragen verborgen ist, zur Seite und öffnet.

Die Kerze im schweren silbernen Leuchter flackert auf, als der Luftzug durch die geöffnete Tür über sie streicht. Der Besucher kann nicht genau unterscheiden, wie viele Menschen in dem großen, so spärlich erhellten Raum sind. Wie er in der Tür steht, hinter sich den gebückten Diener mit der Laterne, deren Schein ihn umfängt, wirkt er furchterregend – ein unheimlicher Gast.

Lautlos hat der Alte die Tür geschlossen. Die Kerze brennt wieder ruhig und gleichmäßig. Dem Eingang gegenüber sitzt in einem hochlehnigen Sessel ein älterer, sorgfältig gepflegter Herr. Ein jüngerer stößt soeben den Stuhl von der Längsseite des Tisches zurück und springt auf. Er blickt verstört auf den Eindringling.

„Pietro!“ Der befehlende Ton des Alten mahnt den jungen Mann, Haltung zu bewahren. Zögernd nimmt dieser wieder Platz.

Die beiden Männer sind Agostino Gravelli, der einflussreichste Bankier Genuas, und sein Sohn Pietro.

Der Fremde hat den rechten Arm, der bisher den Mantel hochgehalten hat, gesenkt. Sein Gesicht ist frei. Gravelli schrickt zusammen; dann aber ist sein Antlitz ruhig, als seien niemals Schrecken und Furcht darüber gejagt. So hart und kalt ist es wie zu den großen Verhandlungen, die immer zu Gunsten des Bankiers auslaufen. Mühsam erhebt er sich aus dem Sessel. Ein kurzer Wink gebietet Pietro, das Zimmer zu verlassen. Der Sohn befolgt den Befehl sofort.

Ohne eine Einladung des Hausherrn abzuwarten, lässt sich der Fremde am Tisch nieder. Und als fühle er sich hier zu Hause, gießt er Wein in einen Kelch, dessen Rand er sorgfältig abwischt.

Aus des Bankiers Augen schießt ein Blitz. Er ist beleidigt, aber wieder beherrscht er sich. Schweigend nimmt er ebenfalls Platz.

„Gravelli, wir sind unzufrieden mit Euch“, beginnt der Mann im Mantel die Unterhaltung.

„Ich kenne den Grund nicht“, entgegnet der Bankier.

„In den letzten Monaten haben verschiedene Schiffe Genua und andere westitalienische Häfen verlassen, ohne dass wir von Euch Nachricht erhielten.“

„Bin ich allwissend?“, begehrt Gravelli auf.

Der Gast beachtet diesen Einwurf nicht. Er zieht ein Papier aus der Tasche und hält es absichtlich so, dass der Bankier es erkennen kann.

„Hm, hm“, murmelt er. „Ihr bekamt vom Dey[1] von Algier eine große Summe Geld geliehen. Eine große Summe. Ja, hier steht der Betrag genau. Wartet... Es war Rettung in höchster Not, als Euch der Dey beisprang. Ach, man wird alt, Gravelli, die Geisteskräfte lassen nach. Wie war es doch gleich? Ihr müsst Euch noch erinnern.“

„Schu...“ Gravelli kann das „Schurke“ gerade noch in ein Stöhnen verwandeln. Er ist sich nicht darüber im Unklaren, dass der Besucher es dennoch deutet – an die Gurgel möchte er dem Fremden springen.

„Nun, wenn Ihr nicht reden wollt, Gravelli, bitte. Als Gegenleistung verpflichtetet Ihr Euch, uns alle Schiffe zu melden, die Segel nach dem südlichen Mittelmeer setzen.“

Der Bankier schweigt. Er kennt den Vertrag, der ihn zwingt, den Raubschiffen, den Korsaren des Deys von Algier, Beute zuzutreiben.

„Lasst die Hand vom Leuchter, Gravelli!“, zischt plötzlich der Fremde scharf. Und spöttisch fährt er fort, als er die Wirkung seiner Worte auf den Hausherrn bemerkt: „Ihr seid mir nicht gewachsen, solltet es wissen, Mann. Ich sehe es Euch an, dass Ihr Lust habt, mir den Schädel einzuschlagen. Dann könntet Ihr seelenruhig das Dokument an Euch bringen und wäret aller Bindungen ledig. Gravelli, seid Ihr ein Kind? Fast muss ich es annehmen, denn Ihr benehmt Euch kindisch. Unsere Macht ist unendlich größer als die Eure, auch wenn Ihr inzwischen einer der reichsten und mächtigsten Männer Genuas geworden seid. Schade um jede Handbewegung.“

„Was wollt Ihr, Benelli?“ Gravelli lässt sich nicht einschüchtern. Der andere hatte seine Gedanken erraten, bevor die Hand sie ausführen konnte. Gut, vorbei. So ist seine Frage ganz sachlich und geschäftsmäßig.

„Keinen Namen, ich warne“, weist ihn der Besucher zurecht. „Zwar fühle ich mich in Eurem Hause sicher. Trotzdem ist es notwendig, mich niemals, selbst nicht in Gedanken, nicht im Traum, so anzureden. Euer Diener ist zweifellos gut geschult und wird nicht die Ohren an Ritzen und Spalten haben und auch kein Geheimnis seines Herrn ausplaudern, sollte es zu seiner Kenntnis gelangt sein; aber Ihr selbst könntet Euch einmal an einem anderen Ort vergessen. – Ich habe vom Dey zu bestellen, dass er Euch an Eure Pflicht gemahnt und – warnt. Die Nachrichten in der letzten Zeit sind mangelhaft gewesen.“

„Ich habe getan, was ich konnte“, verteidigt sich der Bankier.

„Bah, leere Worte! Die Verbindungen des Hauses Gravelli sind so weitreichend, dass es unglaubhaft ist, dass Euch die Reisen vieler Schiffe nicht bekannt geworden wären. Nein, nein, Ihr macht mir nichts weis. Ich kenne Eure großen Geschäfte, auch wenn sie noch so heimlich und unter Decknamen abgeschlossen werden. Sie haben Euch verführt, den Vertrag als überholt anzusehen. Mit dem Geld des Deys seid Ihr groß und mächtig geworden, vergesst das niemals. Einige Zeit ist Euch noch gewährt, den Vertrag zu erfüllen. Sagen wir: bis Ende Mai. Danach...“ Benelli schweigt. Dieses Schweigen aber kündet Gefahr.

Gravelli streckt noch immer nicht die Waffen. „Danach?“, fragt er zurück. Er möchte den Gegner verleiten, etwas von seinem Spiel zu zeigen. Eine Kleinigkeit schon würde ihm, dem klarsichtigen Finanzmann, genügen, von sich aus Maßnahmen zur Vereitelung des Vorhabens zu ergreifen.

Der unheimliche Gast lächelt hämisch. Er durchschaut den Bankier. Ganz unpersönlich, leicht plaudernd, wirft er hin:

„Was nützt einem toten Mann all sein ergaunertes Geld!“

Gravelli versteht. Er erhebt sich, geht, verfolgt von den Blicken Benellis, zu einem Schrank, dem er einige Bogen Papier und Schreibzeug entnimmt. Hastig schreibt er ein paar Zeilen, streut Sand darauf und schiebt dem Besucher das Blatt hin.

„Hier, bringt das dem Dey und gebt mir meinen Vertrag zurück.“

„Ein Wechsel! Ausgezeichnet.“ Benelli liest die Anweisung langsam Wort für Wort, nickt verschiedentlich zustimmend. „Das Haus, auf das er gezogen ist, ist eines der ersten und sichersten Italiens. Ihr habt Euch fest in den Sattel gesetzt, Freund, alle Hochachtung!“

„Erseht Ihr daraus, dass ich es ehrlich meine?“

„Niemals haben wir an der Ehrlichkeit Agostino Gravellis gezweifelt. Oh, Ihr braucht Euch nicht an dem Ton zu stoßen, den ich dem Wort ‚Ehrlichkeit‘ unterlegte. Über solche Kleinigkeiten wie den Sinn und Klang eines Wortes sind wir beide ja hinaus, nicht wahr?“

Der Bankier geht auch darüber hinweg, obwohl es ihm ist, als habe er eine Ohrfeige erhalten. „Wollt Ihr das Geschäft für den Dey in dieser Weise machen? – Für Eure Bemühungen dieses.“ Ein zweiter Wechsel wird hinübergeschoben.

„Zehntausend Lire italiane! Eine schöne runde Summe. Ihr seid großzügig, Gravelli!“

„Soll ich meine Freunde schäbig behandeln?“, fragt Gravelli gönnerhaft zurück. Er hätte noch hinzusetzen können, dass der Betrag eine Lächerlichkeit bei seinem Reichtum ist, aber er unterlässt es. Vielleicht ist Benelli doch nicht so tief in seine Geschäfte eingeweiht, und ihm selbst Fingerzeige für Rückschlüsse zu geben, dazu ist der alte Bankier zu vorsichtig und zu schlau. „Das Schicksal möge mich für alle Zukunft davor bewahren, geizig und undankbar zu sein. Bitte, gebt mir meinen Vertrag zurück.“

„Sofort, Gravelli. Gleich, gleich.“

Der Bankier atmet erleichtert auf, als er sein Gegenüber so freundlich und im leichten Unterhaltungston sprechen hört und ihn so friedlich im Sessel sitzen sieht. Umständlich kramt Benelli den Vertrag heraus, fächelt sich das Gesicht mit ihm. Das Kinn hat er in die Linke gestützt, der Zeigefinger liegt an der Nase.

Nach einer kleinen Pause spricht der Besucher weiter:

„Eins wundert mich. Ihr gestattet doch, dass ich einmal meine persönliche Ansicht äußere?“

Mit einer herablassenden Bewegung fordert Gravelli den Gast zum Weitersprechen auf. Er ist belustigt über Benelli. Aus dem gefährlichen Gegenspieler ist plötzlich ein Biedermann geworden. Das haben die zehntausend Lire bewirkt. Vor Geld werden alle klein und zahm. Unzählige Male hat er das schon erlebt, nie aber so wie jetzt. Wirklich, die Sache läuft besser, viel besser, als er zu hoffen gewagt hat. Und um den anderen noch sicherer zu machen, fügt er schnell hinzu: „Unter Freunden ist das doch eine Selbstverständlichkeit.“ Eine bloße Redewendung.

„Also, ich wundere mich“, – Benelli füllt den Kelch erneut mit dem köstlichen Wein – „dass Ihr Euer Leben nicht höher bewertet. Nur das Doppelte des vom Dey erhaltenen Betrags bietet Ihr dafür.“ Dabei hebt er, als habe er die Worte nur so für sich gesprochen, den Kelch gegen das Licht und dreht ihn spielerisch in der Hand, wie um den edlen Tropfen zu prüfen.

Gravelli erbleicht. Er sieht, dass die Augen des Besuchers nicht auf den Wein, sondern wie zwei Dolche auf ihn gerichtet sind.

„Ich – ich verstehe nicht“, stottert er.

„Euer Wortschatz ist klein, Signore Gravelli. Habt Ihr Ähnliches nicht schon einmal gesagt? Machen wir dem Spiel ein Ende!“ Benelli setzt den Kelch schroff zurück. „Ihr werdet uns wieder so mit Nachrichten bedienen wie in der Vergangenheit. Geschieht es nicht, dann wird man Euch zu finden wissen, und wenn Ihr Euch in die Bleikammern Venedigs flüchtetet. Eure Geschäfte als Bankier kümmern uns nicht. Macht da, was Ihr wollt. Von dem Vertrag könnt Ihr Euch niemals lösen, auch wenn Ihr das Hundert- oder Tausendfache bötet. – Da, nehmt Euren Wechsel zurück. Das andere Papierchen lasst Ihr mir doch als Andenken an diesen so gemütlichen Abend? – Gute Nacht!“

Gravelli erhebt sich ebenfalls. Für einen Augenblick war er zu Tode bestürzt über Benellis Blick, hatte sich aber schnell wieder gefasst. Er weiß, dass der Besucher kein Wort zu viel gesagt hat. Man wird die Drohung wahr machen. Die Macht dazu besitzt der Dey, dem genug Helfershelfer, Männer ohne Furcht und Gewissen, zur Seite stehen.

„Nein, nein, bemüht Euch nicht“, Benelli tritt lächelnd auf Gravelli zu und drückt ihn scheinbar ganz freundschaftlich, aber mit eisernen Muskeln in den Sessel zurück. „Ich finde mich allein in Eurem Hause zurecht. Der Schreck ist Euch in die Glieder gefahren. Wie leicht könnte es geschehen, dass Ihr auf der Treppe ins Stolpern kämt und mich mit Euch risset. Ich möchte nicht das Opfer eines Unfalls werden.“

„Teufel, Teufel.“ Gravelli stöhnt auf, als der gefährliche Besucher die Tür hinter sich geschlossen hat. Der Bankier ist ehrlich genug, anzuerkennen, dass er in Benelli einen ebenbürtigen Gegenspieler gefunden hat. Aber damit sind vorerst seine Gedanken auch mit dem Gesandten des Deys fertig. Sie kreisen nun um augenblicklich viel Wichtigeres: zehntausend Lire!

„Zehntausend Lire! Zehntausend“, so murmelt er wieder und wieder. Dass sein Leben durch den Vertrag an den Dey gebunden ist, darüber jammert er nicht. Es geht darum, den Verlust wieder einzubringen.

Durch Eilkurier die Auszahlung sperren lassen? Unmöglich. Man liefe Gefahr, Benelli morgen erneut hier in diesem Raum gegenübersitzen zu müssen. „Ich habe mich wie ein Tölpel, wie ein grüner Junge benommen“, stellt er abschließend fest.

Ein zaghaftes Klopfen an der Tür. Gravelli hört es wie aus weiter Ferne, aber er beachtet es nicht. Nach einer Weile tritt der Diener unaufgefordert ein.

„Verzeiht, Herr, der Mann hatte mir verboten, ihn anzumelden. Ich kann nichts dafür. Verzeiht.“

Lange blickt der Bankier den verhutzelten Alten an, der sich unter den Blicken des Herrn duckt. Gravelli bemerkt es nicht. Gedanken schießen ihm wie Blitze durch den Kopf. Endlich befiehlt er: „Rufe meinen Sohn.“

Als wenig später Pietro Gravelli dem Vater gegenübersteht, erschrickt er über dessen finsteres Gesicht, aus dem die Backenknochen hart hervortreten.

„Setz dich, Pietro – doch nein, gib erst Anweisung, dass wir unter keinen, hörst du, keinen Umständen gestört werden dürfen. Auch wenn der Fremde zurückkommen sollte: Ich bin nicht zu sprechen. – Wir haben ernstlich miteinander zu reden, mein Sohn“, hebt er dann mit dumpfer Stimme an. „Wir sind reich, du weißt es. Unser Vermögen – nein, nicht allein der Reichtum – mein Leben ist in Gefahr.“

„Dein Leben, Vater? Du jagst mir Angst ein!“

„Unterbrich mich nicht! Du musst mithelfen, die Gefahr zu bannen.“

„Zähle auf mich! Hängt es mit dem nächtlichen Besucher zusammen?“

„Schweig und höre!“ Gravelli überlegt, streicht sich mit der Hand über die Stirn. Die Augen sind geschlossen, als er fortfährt: „Ich war nicht immer der große Bankier Gravelli, sondern einer von den vielen armen Händlern, die den Unterhalt mit allen möglichen kleinen Geschäften verdienen mussten. Eines Tages hatte ich ein Geschäft mit dem Mann, der uns eben verlassen hat. Es war ein schöner, verlockender Handel und versprach einen für meine damalige Lage ansehnlichen Gewinn. Er missglückte. Ich habe lange nach den Gründen für das Scheitern gesucht, sie natürlich nicht gefunden; denn es war ein darauf angelegtes Spiel gewesen. Heute durchschaue ich derartige Sachen auf den ersten Blick. Kurzum: Man machte mich haftbar. Alles, was ich in jahrelanger mühseliger Arbeit zurückgelegt hatte – es war lächerlich wenig, dünkte mich aber ein Schatz –, wäre verloren gewesen, wenn... Aber das wollte man nicht. Was bedeuten solchen Menschen einige hundert zusammengekratzter Münzen? Nichts, denn sie verfügen über ganz andere Summen. Man schlug mir ein neues Geschäft vor. Ich sollte einen Vertrag unterschreiben. Etwas hatte ich aber bereits gelernt. Ich erkannte, dass man mich brauchte. Und ich habe mich nicht billig verkauft. ‚Einverstanden‘, habe ich gesagt, zugleich aber die Hand ausgestreckt, ‚wenn ihr mir eine gewisse Summe dafür zahlt.‘ Was ich nicht zu glauben wagte, geschah. Der Betrag wurde bewilligt. Ich unterschrieb – und war danach reich.“

„Und was besagt der Vertrag? Wozu musstest du dich verpflichten?“, fragt Pietro.

„Ich verpflichtete mich, da mir kein anderer Weg blieb, auch wenn meine Forderung abgelehnt worden wäre, dem Dey von Algier alle Schiffe zu melden, die Segel nach dem südlichen Mittelmeer setzen würden.“

Pietro springt auf. „Und du hast es getan, Vater? Du – hast – es getan? Hast den Korsaren die Beute in die Hände gespielt?“

„Ja!“ Jetzt erst hebt Gravelli die Augen von der kostbaren Tischdecke, deren Muster er die ganze Zeit stumpf betrachtet hat. Hart und fest bohren sie sich in die des Sohnes. Diesem zwingenden Blick weicht der Jüngere aus.

„Was weiter?“, fragt Pietro.

„Mit dem Gold des Deys als Grundstock habe ich meine großen Geschäfte angebahnt und ein Vermögen zusammengebracht, dessen Umfang du noch nicht kennst. Ich werde dir dann vielleicht mein Geheimbuch zeigen. Für jetzt aber wisse: Es ist aus mit deinen Tändeleien, mit deinem Nichtstun. Ich brauche dich. Man hat mir den Tod angedroht, wenn ich den Vertrag nicht weiter einhalte. In der letzten Zeit habe ich nur noch selten Meldungen gesandt. Der Dey und vor allem dieser Mann“, Gravelli deutet mit einer Kopfbewegung an, dass er von Benelli spricht, „sind jedoch keine Partner, die sich betrügen lassen. Ich muss meinem Versprechen wieder voll nachkommen. Das macht mir keine Sorgen, aber etwas anderes: Ich traue ihnen nicht mehr. Man hat mich in der Hand. Sollte es ihnen einfallen, mich zu Grunde richten zu wollen, dann gilt es größten Kampf; denn ich werde mich wehren. Und dabei musst du mir beistehen.“

Beängstigende Stille liegt über dem Raum. Nur das Ticken der Uhr, Schlag um Schlag, kündet das Fortschreiten der Zeit. Viele Male schwingt das Pendel.

Pietro schweigt.

Gravelli hat sich im Ohrensessel zurückgelehnt. Die rechte Hand liegt auf dem Herzen, wohl um das heftige Pochen zu dämpfen.

„Pietro!“

Der junge Mann richtet sich mühsam aus seiner zusammengesunkenen Haltung auf.

„Es ist furchtbar! Wie viele Menschen mögen durch deinen...“, er spricht das Wort „Verrat“ nicht aus, „durch deine Nachrichten in den Tod oder in die nicht minder grausame Sklaverei bei den Barbaresken geraten sein?“

„So verurteilst du mich, Sohn?“ Die Worte des Bankiers klingen hart, dennoch spürt Pietro den ausgeprägten Familiensinn des Alten.

„Ich verwerfe eine Zusammenarbeit mit den Seeräubern!“

„Die uns reich gemacht hat!“

„Die Unglück sät!“

„Die uns zur Macht führte! Nur dadurch war es möglich, dich auf die Hochschule zu schicken. Nur dadurch konntest du deinen kostspieligen künstlerischen Neigungen nachgehen. Nur dadurch vermochtest du große Reisen zu unternehmen, allen Liebhabereien zu frönen. Nur dadurch fandest du Zugang zu den reichsten und angesehensten Familien des Landes. Nur dadurch errangst du die Liebe der Tochter eines der ersten Häuser Italiens. Nur dadurch! Und durch mich, durch meine Verbindung mit dem Dey von Algier!“

„Und dennoch tatest du unrecht!“

„Ist das dein letztes Wort?“, fragt Gravelli lauernd.

„Wenn ich es nicht noch durch ‚Verrat‘ verstärken soll!“

„Verrat, Verrat! Das mir! Ich verfluche meine Liebe zu dir. Sie hat mich verführt, dir ein Leben zu bereiten wie keinem anderen jungen Mann in Genua und weit und breit. So bist du undankbar geworden und unfähig zu erkennen, dass jeder Tag Kampf heißt. Wie viel besser wäre es gewesen, dich zur Arbeit heranzuziehen, wie es der hochnäsige Andrea Parvisi mit seinem Sohn Luigi getan hat. Der junge Parvisi ist ein tüchtiger Kaufmann geworden, einer, der unter Umständen auch mir die Kreise stören kann. Luigi, den ich hasse wie keinen sonst, ist der Sohn seines Vaters. Er wird den Alten nicht verraten. Sein Mund spricht bestimmt niemals solche Worte, wie du sie eben für mich hattest. Luigi Parvisi, der dich und mich tödlich beleidigte, muss ich über den eigenen Sohn stellen. Welch ein Schlag! Aber das Leben ist oftmals unbarmherzig hart mit mir umgesprungen. Es wird mich auch jetzt nicht beugen, selbst wenn ein Mitglied meiner Familie mich in der Stunde der Entscheidung verrät.“

Der junge Mann beobachtet den Vater angestrengt. Er sieht das verzerrte Gesicht. Furcht befällt ihn. Was wird geschehen?

Da spricht der Alte wieder: „Du wirst morgen mit den Deinen Genua verlassen. Ich gebe dir ein kleines Vermögen mit. Nicht für dich ist es gedacht, sondern für meine Schwiegertochter und die Enkel, bis ihr Ernährer fähig geworden ist, sie vor dem Hungertod zu bewahren! Wage nicht, dich hilfesuchend an die Eltern deiner Frau zu wenden! Ein Gravelli bettelt nicht, er kämpft ohne Rücksicht auf sich selbst oder die Meinung der Menschen. Mein Haus ist dir für immer verschlossen. Ich habe keinen Sohn mehr. Und hüte dich, Pietro Gravelli, jemals auch nur ein Wort von dem heute Gehörten über die Lippen zu bringen. Man würde dich finden, wo immer du dich auch zu verbergen trachtetest.“

Gravelli ist aufgesprungen. Die Muskeln in seinem Gesicht arbeiten. Man hört das Knirschen der Zähne. Plötzlich schwankt er, kann sich gerade noch an dem schweren Tisch festhalten, sonst wäre er darüber gestürzt.

„Vater!“ Pietro schnellt herbei und will dem Alten aufhelfen.

„Rühr mich nicht an. Hinaus!“

Der Sohn prallt zurück. Stöhnend lässt sich der Bankier in den Sessel zurücksinken.

„Vater!“

„Hinaus, hinaus!“, brüllt Agostino Gravelli.

Erneut beginnt Pietro: „Vater...!“

In höchster Wut, bevor der Sohn ein weiteres Wort hervorbringt, ergreift der Bankier die schwere silberne Weinkanne, um sie auf ihn zu schleudern. Der junge Mann packt den erhobenen Arm, entwindet der Hand die gefährliche Waffe und drückt den Rasenden mit großer Kraft in den Sessel.

„Dann also ohne diese Anrede. Ich fürchte mich nicht vor dem Leben. Deinen Fluch und deine Drohung verlache ich. Wir sind nicht auf dem Theater. Ich bleibe bei meinem Urteil über deine Geschäfte mit dem Dey und gehe keinen Schritt davon ab. Wohl, du bist reich und mächtig geworden, aber ein Gefangener, einer, der springen muss, wie man es ihm befiehlt.“

„Was kümmert’s dich noch? Du wirst also deine Frau und deine Kinder von der Sonnenseite auf die Schattenseite des Lebens führen?“ Der alte Gravelli fragt es leichthin. Der Gegensatz zu seinen vorher gesagten harten Worten ist schneidend. Der Bankier ist gefürchtet wegen dieses Schillerns seiner Handlungen und Reden.

Pietro stutzt, erbleicht. Dann wirft er sich über den Tisch, vergräbt die Hände in die verschränkten Arme.

„Vater, Vater!“, stöhnt er gequält. „Vater, immer und ewig, auch wenn du die Bande zwischen uns als zerschnitten betrachtest, nichts kann uns trennen.“ Und nach einer Pause, während der Gravelli ungerührt, unbeteiligt dagesessen hat, fährt er, nun wieder fester sprechend, fort: „Du tatest unrecht. Ich kann nicht anders, muss es so nennen. Die Bildung, die du mir ermöglicht hast, lässt mich alles mit anderen Augen sehen. Ich konnte mich mit den großen Gedanken und Zielen, die die Menschheit bewegt haben, vertraut machen; ich habe vergangene und noch bestehende Kulturen studiert, habe Böses von Gutem unterscheiden gelernt. Menschen in die Sklaverei zu führen, ist ein Verbrechen – und Verbrechen, die Hand dazu zu bieten. Das weiß ich. Aber ich bin nicht dein Richter, Vater, sondern dein Sohn und kein Kind mehr, wenn du mich auch noch nie für voll genommen hast.“

Ein spöttischer Blick Gravellis streift den Sohn.

Wieder nur das Ticken der Uhr. Zermürbend, marternd.

Ein junger Mensch kämpft. Wird hin und her geworfen zwischen Gut und Böse, findet nicht aus noch ein.

Agostino Gravelli wartet.

Stumpf, müde, geschlagen entscheidet der Sohn: „Ich bin ein Gravelli.“

„Das heißt?“ Überflüssig die Frage. Der Vater hat gesiegt.

„Dass ich für meine Familie das Gleiche zu tun bereit bin wie du. Wider besseres Wissen.“ Und fiebernd, um jede Sinnesänderung unmöglich zu machen: „Was wollte der Fremde im Einzelnen? Berichte, erzähle, Wort für Wort. Ich muss alles wissen. Nichts verschweige, nichts beschönige!“

Der Bankier berichtet. Es gibt keine Geheimnisse mehr zwischen den beiden.

„Und du glaubst, dass es dem Fremden ernst mit der Drohung ist?“, fragt Pietro am Ende.

„Unbedingt. Nichts wird mich vor der Rache dieser Menschen schützen können, wenn ich ihnen nicht willfährig bin. Seit einiger Zeit habe ich den Vertrag lässig erfüllt. Nicht aus den von dir angegebenen Gründen. Die kümmern mich nicht. Mich drückten die Fesseln. Der Dey hat mich damals in den Sattel gesetzt, reiten habe ich selbst gelernt, aber leider meine Kraft überschätzt. Seit heute weiß ich, dass ich nicht gegen ihn ankomme.“

„Was gedenkst du zu tun?“

„Ich suche nach einer Möglichkeit, wenigstens das Vermögen zu sichern. Um mein Leben ist mir nicht bange, wenn ich Algier weiter mit Nachrichten bediene. Aber ich fürchte unseren nächtlichen Besucher. Bisher hat er nur für den Dey gearbeitet. Lass den Fall eintreten, er entzweit sich mit ihm oder der jetzige Herrscher wird gestürzt, wie das da unten so schnell geschieht, und der neue verschmäht die Hilfe dieses Gauners; dann besteht die Gefahr, dass der Mann sich an mich hält. Sicher bin ich vor ihm niemals. Es kommt darauf an, wer von uns beiden schneller und rücksichtsloser ist. Ich werde mich bemühen, beides zu sein. – Ah – vielleicht geht es so. – Pietro, du musst in den nächsten Tagen Genua verlassen. Ich werde dir alle verfügbaren Mittel geben und eine weitere Verschiebung unseres Vermögens folgen lassen.“

„Wohin?“

„Weg aus Italien. Doch nicht zu weit. Napoleon ist in Russland geschlagen worden. Das bedeutet natürlich noch nicht, dass die Herrschaft des Korsen zu Ende geht, aber ich möchte nicht mehr auf ihn bauen. Die politische Lage Europas ist verwirrt. Nirgends, wenn wir von den kleinen Staaten absehen, die kein Betätigungsfeld für uns sein können, besteht absolute Sicherheit. Gehe nach Wien. Du bekommst von mir laufend Anweisungen, wie du dort die Geschäfte zu führen hast. Ich habe das Gefühl, dass einmal über kurz oder lang eine vollkommene Änderung eintreten wird; vielleicht löscht der Hass der Völker den Tyrannen aus. Die mir von allen Seiten zugehenden Nachrichten lassen es erhoffen. Gut, es bleibt bei Wien. Ich diene dem Dey hier weiter.“

„Komm mit uns, Vater!“

„Zwecklos und unmöglich. Benelli, dieser italienische Renegat[2], überwacht sicherlich alle meine Schritte. Hier geschieht mir vielleicht nichts. In Wien aber würde mich der Dolch eines bezahlten Mörders treffen, denn ich könnte von dort aus meinen Vertrag nicht erfüllen. Jetzt erbitte ich, was ich vordem forderte: Schweige gegen jedermann, selbst gegen deine Frau, über diese Unterhaltung. Und erwähne niemals den Namen Benelli in Verbindung mit den Korsaren. Nur drei Menschen kennen ihn so in Genua: ich, du und der alte Camillo.“

„Ich werde unverbrüchlich schweigen, Vater.“

„Gut, Pietro. Morgen sprechen wir weiter. Du wirst dich mit deiner Frau und den Kindern auf eine Vergnügungsreise begeben, sodass die Franzosen keinen Argwohn schöpfen können, wenn du die Stadt verlässt. Sie würden es auch anders nicht, denn sie kennen mich ja, aber es ist besser so. Ich freue mich, dass ich nicht mehr Luigi Parvisi über den eigenen Sohn stellen muss.“

Dass der Name des einstigen besten Freundes Pietros in dieser Stunde nochmals erwähnt wird, hat verhängnisvolle Folgen. Der junge Gravelli hasst Luigi mit gleicher Glut, wie er ihn früher geliebt hat. Langsam wie eine Katze beugt er sich weit über den Tisch zu dem Alten hin.

„Weißt du, dass Luigi Parvisi mit Raffaela und seinem Söhnchen Livio demnächst nach Malaga segeln wird? Er soll dort die Niederlassung des Hauses übernehmen.“

„Was sagst du?“

„Mit der ‚Astra‘ hörte ich.“

„Pietro, du bist ein Gravelli!“

„Wird die ‚Astra‘ den Bestimmungshafen erreichen?“

„Nein, wenn mir genug Zeit bleibt, meine Freunde davon zu unterrichten. Lass mich jetzt allein. Ich muss diese Nachricht auswerten und alles daransetzen, dem Geschlecht der Parvisi den Untergang zu bereiten.“

2. Das Ende der ‚Astra‘

Ein strahlend schöner Tag neigt sich seinem Ende entgegen. Die Sonne hat nur noch eine Handbreit ihres Laufes am Himmel zurückzulegen, ehe sie in den Weiten des Mittelländischen Meeres versinken kann. Breit, ruhig, gleichmäßig schwingen die Wogen, von deren Kämmen die Strahlen des Tagesgestirns wie feurige Pfeile davonhüpfen.

Bedächtig schiebt sich vor den riesigen, in rötlichem Gold flammenden Ball ein Schiff. Bald steht es in ganzer Breite vor ihm. Dunkel, schwer, massig, denn alle Segel sind gesetzt: ein herrliches Bild. Die Galionsfigur am Bug des Seglers ist von Feuer übergossen. Die goldenen Buchstaben ‚Astra‘ am Heck künden den Namen des Kauffahrers, das darunter stehende ‚Genova‘ – Genua – den Heimathafen des Schiffes.

Drei glückliche Menschen liegen in bequemen Stühlen auf Deck: Luigi Parvisi, seine Frau Raffaela und das Bübchen Livio.

Kein Wölkchen im satten Blau des Himmels. Da und dort lugen schon schüchtern einige Sterne hervor. Blass noch und unendlich fern sind sie.

Kapitän Civone hat soeben mit dem Glas den Horizont abgesucht. Keine Mastspitze war zu sehen. Ein Wetterumschlag ist auch nicht zu befürchten. Es wird schön bleiben. Der Schiffsführer atmet erleichtert auf. So kann er sich also sein tägliches Plauderstündchen mit den Parvisis gönnen. Er braucht ihr unbeschwertes Geplauder, denn schwere Sorgen belasten ihn.

Viele Male ist er den Kurs, den das Schiff jetzt nimmt, schon gefahren und dennoch fürchtet er sich immer von Neuem. Man würde Signor Civone unrecht tun, ihn gänzlich verkennen, wollte man in ihm einen Feigling sehen, aber das Mittelländische Meer, eines der schönsten der Erde, ist zugleich das gefährlichste. Nicht seiner natürlichen Tücken wegen; nicht, weil es ab und zu von gewaltigen Stürmen aufgewühlt wird, dass die Wellen das Deck zu vernichten drohen; auch nicht, weil Untiefen, Klippen und Riffe in Küstennähe die Reise gefährlich machen. Mit all dem weiß er fertig zu werden, denn er ist ein guter Seemann. Nein, nicht deshalb. Wegen der Menschen, die es beherrschen. Das Mittelländische Meer vom Frühling bis in den Herbst hinein zu kreuzen, ist ein Wagnis sondergleichen, ein Lotteriespiel. Nie weiß man, ob die Reise nicht in Tod oder Sklaverei endet. Herren auf dem Meer sind nicht die anliegenden europäischen Staaten – Frankreich, Spanien oder die italienischen Fürstentümer –, sondern die nordafrikanischen Herrscher, der Dey von Algier – Türke –, der Pascha[3] von Tunis – Türke –, der Pascha von Tripolis – Türke. Mit ihren Piratenschiffen machen diese Fremden, deren Heimat der Osten des Meeres ist, Jagd auf jeden Segler, dessen Staat nicht jährlich durch riesige Tribute die Schiffe vor dem Zugriff der Korsaren geschützt hat. Genua ist seit Jahren Teil des französischen Kaiserreichs, es genießt für sich und seine Schiffe den gleichen Schutz wie die echten französischen Kauffahrer.

Aber – des Kaisers unantastbar scheinende Macht ist durch die Schläge des russischen Generals Kutusow ins Wanken geraten. Der Korse muss alle Anstrengungen machen, die überall aufflammenden Gärungen niederzuhalten. Das Mittelmeer wird ihm im Augenblick unwichtig erscheinen. Wenn die Korsaren die Lage auszunützen verstehen...

Civone spuckt verärgert aus.

Raffaela Parvisi nimmt gerade den kleinen Livio auf den Schoß. Der Junge, der vor Kurzem noch so munter schwatzte, ist eingeschlafen. Er lächelt. Sicherlich träumt der kleine Mann. Luigi Parvisi betrachtet liebevoll die beiden Menschen, die ihm die nächsten und teuersten sind. Auf den Knien hält er ein dünnes Brett mit einem Stück Zeichenpapier.

Der Schiffsführer tritt hinzu. Er blickt Parvisi, der ihn noch nicht bemerkt hat, über die Schulter. „Ausgezeichnet, Signore Parvisi! Sie sind ein Künstler!“

„Meinen Sie?“, entgegnet Luigi lächelnd und wendet sich dem Kapitän zu.

„Im Ernst! Ich verstehe zwar nur wenig von der Kunst, aber es will mir scheinen, als ob nur ein wahrer Künstler solch ein Bild malen kann.“

„Wollen Sie sich nicht wie immer ein wenig zu uns setzen?“, fordert die junge Frau den alten Seemann auf. „Das Licht nimmt sowieso ab, sodass mein Mann den Stift zur Seite legen muss. Wir würden uns freuen, ein Stündchen in Ihrer Gesellschaft verbringen zu können.“

„Ich danke Ihnen. Sie haben meinen Wunsch erraten.“ Civone zieht den Stuhl, auf dem vorher der kleine Livio gesessen hat, heran und holt seine Pfeife hervor. Verlegen dreht er sie in der Hand. Bevor er die Frau um die Erlaubnis bitten kann, rauchen zu dürfen, gibt sie ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie nichts dagegen habe.

Luigi hat unter der fertigen Skizze ein neues Blatt hervorgeholt. Mit schnellen, sicheren Strichen hält er den schlafenden Jungen fest. Es ist nur ein Entwurf. Morgen wird er ihn ausführen.

Nur wenige Minuten sind seitdem vergangen. Kapitän Civone ist inzwischen mit dem Stopfen der Pfeife fertig geworden und stößt die ersten Rauchwolken heraus. Luigi legt sein Zeichengerät zur Seite.

„Ich möchte eine Bitte aussprechen, Herr Kapitän“, beginnt Parvisi die Unterhaltung.

„Lassen Sie hören. Wenn möglich, werde ich sie gern erfüllen.“

„Könnten Sie sich morgen einmal ein Stündchen freimachen, um mir Modell zu sitzen? Ich möchte ihnen gern unseren Dank für die schönen Stunden, die Sie uns auf der ‚Astra‘ bereitet haben, durch ein Bild abstatten.“

„Das klingt, als fühlten Sie sich in meiner Schuld. Ganz im Gegenteil, Signore Parvisi. Ich bin es, der für so manchen netten Abend zu danken hat. Es ist immer mein Bestreben gewesen, den Fahrgästen meines Schiffes alle nur mögliche Bequemlichkeit zu bieten. Dass ich selbst kein besonders guter Gesellschafter bin, wurmt mich und ich bitte um Nachsicht. Doch zu Ihrer Bitte zurück. Ich werde sie selbstverständlich erfüllen. – Verzeihen Sie, wenn ich meiner Verwunderung Worte verleihe: Sie sind doch Kaufmann – und gleichzeitig auch Künstler? Das erscheint mir ungewöhnlich.“

Da Parvisi nicht antwortet, lenkt Civone das Gespräch in andere Bahnen. „Wenn nicht irgendwelche Zwischenfälle auftreten, werden wir morgen Abend in Malaga sein.“

„So bald schon? Das freut mich. – Aber ich bin Ihnen noch eine Antwort schuldig. – Jeder Mensch braucht nach der Erfüllung der täglichen Aufgaben und Pflichten eine Abwechslung, einen Ausgleich. Manche suchen und finden ihn in geselligen Vergnügungen, andere in der Natur, dritte über Bücher gebeugt. Ich nehme dann Papier und den Stift und bin glücklich.“

„Sie werden mit Ihrer Kunst viel Freude bereiten.“

Bei diesen Worten des Kapitäns huscht ein Schatten über Parvisis Gesicht.

„Im Allgemeinen ja“, entgegnet er. „Nur einmal ist meine Begabung Anlass zu Ärger und Verdruss geworden.“

„Sie machen mich neugierig.“

Raffaela hat sich bei den Worten des Gatten erstaunt aufgerichtet. „Mich auch, Liebster. Ich kann kaum glauben, dass dein Zeichentalent jemand verärgert haben soll.“

„Und doch war es der Fall. – Sie müssen wissen, Kapitän, dass ich schon als Kind besser mit dem Zeichenstift umgehen konnte als gleichaltrige Spielgefährten mit der Sprache. Mit elf Jahren vermochte ich bereits Tiere richtig zu zeichnen. Nicht nur, dass der Betrachter eines meiner Kunstwerke“ – Luigi betont das Wort besonders, um anzudeuten, dass es sich um alles andere als solche gehandelt hat – „sofort erkannte, welche Gattung Tier dargestellt war, sondern darüber hinaus verstand ich manchmal meinen Zeichnungen etwas Überraschendes einzufügen.“ Er streicht sich mit der Hand über die Stirn und fährt dann fort: „Damals hatte ich einen Freund, mit dem ich die meiste Zeit spielte. Nun, Kinderfreundschaften verlaufen nicht immer ungetrübt. In dem einen Augenblick geht man noch miteinander durch dick und dünn, im nächsten schon scheinen alle Bande unheilbar zerrissen zu sein. Scheinen – sind es glücklicherweise aber nicht. Auch wir hatten uns wieder einmal gezankt. Worüber, das kann ich nicht mehr sagen; es spielt auch jetzt keine Rolle mehr. Ich weiß nur noch, wie unübersehbar mir mein Freund zu verstehen gab, dass es aus zwischen uns sei. Ich könnte sofort zeichnen, wie er so – randvoll von Verachtung mir gegenüber – in der Ecke unseres Hofs saß. Sein dummes Benehmen ärgerte mich. So viel ich auch bat und bettelte, er möge zu unserem Spiel zurückkehren, es half nichts, er trotzte weiter. Eine Weile stand ich ratlos, schob dann die Hände wütend in die Taschen, um möglichst forsch den Schauplatz der Tragödie zu verlassen. In den Taschen berührten die Finger ein Stückchen Papier und ein Ende Zeichenkohle. Solche Dinge trug ich immer mit mir wie andere Bindfaden, Messer, Fruchtkerne, eigenartig geformte Steine und was so das Übliche in Jungentaschen ist. Als meine Finger das Papier und die Kohle fühlten, kam mir ein Gedanke. Ich müsste meinen kleinen Freund in seiner jetzigen Haltung zeichnen. Schade, dass ich es getan habe. Er trotzte und ich quoll über vor Zorn und Wut. Dem wischst du jetzt aber eins aus, beschloss ich. Mein Spielkamerad blieb ruhig wie ein richtiges Modell sitzen, als er bemerkt hatte, was ich tat. Wahrscheinlich hat es ihm geschmeichelt, dass ich ihn zeichnete. Ja, da malte ich ihn also, aber nicht so wie er war, nicht meinen langjährigen Freund, sondern ein hockendes Kind mit einem Eselskopf mit langen Ohren und hervorquellenden Augen, die stumpf vor sich hin blickten. Um das Maß meiner Dummheit voll zu machen, steckte ich ihn obendrein noch in ein zerschlissenes Räuberkostüm. Ich wollte ihm zu verstehen geben, dass er dumm und ein Bösewicht sei. Meine Skizze war natürlich alles andere als gut, wenn richtige Maßstäbe angelegt worden wären, aber der Eselskopf stimmte und mit einiger Fantasie ließ sich auch das Räuberkostüm erkennen. Da ich nicht ganz zufrieden mit meiner Arbeit war, aber auch nicht wusste, was ich tun könnte, um den anderen noch mehr zu verletzen, schrieb ich kurzerhand dazu: ‚Das bist du! So dumm wie ein Esel und bös wie ein Räuber.‘ Dann warf ich ihm das Blatt hin. Sein Trotz war verflogen, meine Wut hatte sich besänftigt. Er lachte, griff nach dem Papier und sah es an. Plötzlich sprang er auf und stürzte sich auf mich, um mich zu verprügeln. Darauf hatte ich gewartet, denn eine herzhafte Prügelei unter Jungen gleicht einem reinigenden Gewitter. Leider kam es nicht soweit. Er mochte sich besonnen haben, dass ich der Stärkere war. Mit der Skizze in der Hand rannte er davon und drohte, dass er sie seinem Vater zeigen werde, und dann würde ich schon sehen.“

„Der alte Herr hat sich auch prompt ins Mittel gelegt?“, fragt Civone lächelnd.

„Gewiss. Mein Freund durfte nicht mehr mit mir spielen. Unsere Freundschaft war in die Brüche gegangen. Wenn wir uns heute sehen, kennt einer den anderen nicht.“

„Aber Luigi, hast du denn später nie den Versuch gemacht, deine damalige Stimmung zu erklären und alles wieder einzurenken?“

„Ich hatte andere Freundschaften geschlossen und dann ja auch dich gefunden, Liebes. Eins habe ich aber aus der Sache gelernt: meinem Stift Zügel anzulegen. Ein falsches Wort kann einem einmal entschlüpfen. Es verhallt. Anders ist es dagegen mit dem niedergeschriebenen Wort oder der Zeichnung. Sie stehen da und können durch nichts bemäntelt werden. – Ja, das war’s, Signore Civone. Der Streich eines dummen Jungen, der noch jetzt nachwirkt. Es tut mir schon leid, den Vorfall überhaupt erzählt zu haben. – Kapitän, Sie würden mich zu Dank verpflichten, wenn Sie das Gehörte vergessen wollten. Ich möchte nicht, dass davon gesprochen wird.“

„Gern, Signore Parvisi.“

Der Kapitän fühlt die Erregung des jungen Landsmanns, spürt, dass es jetzt nicht mehr zu dem üblichen Plauderstündchen kommen wird. So verabschiedet er sich bald.

„Und deine Zeichnung ist wirklich der Grund der Feindschaft zwischen den“, sie zögert einen Augenblick, „den Gravelli und uns?“

Luigi blickt sie verwundert, überrascht an, antwortet aber nicht.

Da spricht sie einen Gedanken aus, der ihr im Laufe der Erzählung gekommen ist: „Eigentlich nicht ganz glaubhaft, zu geringfügig. Wegen einer Anspielung auf Vergangenes lässt man doch eine gute Bekanntschaft, eine Freundschaft nicht zerbrechen. Entweder hast du etwas verschwiegen, absichtlich nicht davon sprechen wollen – denn Kapitän Civone ist ein Fremder, der es nicht zu wissen braucht – oder auch dir ist nicht alles bekannt. Jedoch, das glaube ich nicht.“

„Ganz recht, Raffaela. Du bist eine verteufelt kluge Frau. Meine Kinderzeichnung hat aber wirklich mit dazu beigetragen, eine Kluft zwischen den Häusern Gravelli und Parvisi aufzureißen. Hör zu, denn vor dir habe ich ja keine Geheimnisse. Dass ich dem Kapitän nicht alles erzählte, liegt auf der Hand. Er ist zwar ein alter Vertrauter meines Vaters, aber was in Wirklichkeit zwischen Agostino Gravelli und uns stattgefunden hat, weiß er nicht und wird es auch nie erfahren, denn beide Partner schweigen. Der eine aus Anständigkeit, der andere aus Furcht. Der Eselskopf wäre belacht worden, das Räuberkostüm vielleicht weniger, aber auch darüber hätte man ein Auge zugedrückt und den Streich meiner Jugend zugutegehalten. Leider war aber kurz vorher etwas geschehen, was nun schwer ins Gewicht fiel. Wir, Pietro ebenso wie ich, zählten damals elf Jahre und wussten beide nichts von vergangenen Zeiten. Agostino Gravelli begann seine Laufbahn als Trödler. Oft kam er zu uns, um nachzufragen, ob wir irgendein altes Kleidungsstück nicht mehr benötigten, das er dann weiterverkaufen konnte.“

„Das hat dir Vater erzählt?“

„Ja. – Wenn sich Gelegenheit bot, dass Vater gerade während der Anwesenheit Gravellis im Packhof nach dem Rechten sah, unterhielten sich die beiden Männer manchmal lange miteinander. Der heutige Bankier muss zu dieser Zeit ein umgänglicher Kerl gewesen sein, der wohl nur deshalb nicht hochkam, weil seine Frau kränkelte und aller Verdienst in die unergründlichen Taschen der Ärzte und Quacksalber wanderte. Er liebte seine Frau abgöttisch und rackerte sich ab, um sie gesund machen zu lassen. Es war alles umsonst. Sie starb, als Pietro noch nicht ganz sicher auf seinen Füßen stand. Gravelli verließ Genua. Als er ein Jahr später zurückkehrte, besaß er einiges Vermögen und konnte sich als Kaufmann niederlassen. Gerüchte gingen um, dass er zeitweilig Mitglied einer Brigantenbande[4] gewesen wäre und dort sein ‚Glück‘ gemacht hätte.“

„Ich beginne zu verstehen, Luigi. Gravelli fühlte sich durch das Räuberkostüm beleidigt und ließ es zum Bruch kommen.“

Parvisi lässt offen, ob diese Vermutung stimmt. „Man konnte ihm nichts nachweisen. Vater glaubte nicht an das Gerede, denn er hatte ja gesehen, wie ehrlich besorgt der Mann um seine Frau gewesen war. Gravelli als Strauchdieb? Das passte nicht in das Bild, das sich Vater von ihm gemacht hatte. Wieder kam Agostino zu uns, diesmal natürlich nicht als halber Bettler, sondern seiner kleinen Geschäfte wegen. Eigenartigerweise versuchte er nur mit uns zu verkehren; er unterließ es auch, wieder zu heiraten. Den Grund dafür kenne ich nicht. Oft, auch wenn er geschäftlich kam, brachte er den kleinen Pietro mit, um den er so besorgt war wie vordem um die Frau. Wir Buben schlossen Freundschaft, wurden gute, ja die besten Spielgefährten. So vergingen die Jahre. Viel hatte Gravelli nicht erreicht; er gehörte immer zur Masse der kleinen Kaufleute. Eines Tages bat er meinen Vater, mit ihm gemeinsam ein Geschäft auszuführen. Es war klug angelegt, bis in alle Einzelheiten durchdacht, sozusagen ein Meisterwerk, und versprach ansehnlichen Gewinn. Die wesentlich größeren Mittel des Hauses Parvisi freilich gehörten dazu – und ein Freund. Die Gewinnaussichten waren so ungewöhnlich günstig und das Risiko war so klein, dass mein Vater stutzte und sich die Papiere ausbat. Lange hat er über ihnen gesessen, ehe er erkannte, dass er in ein großangelegtes Betrugsmanöver verwickelt werden sollte. Worum es ging, kann ich dir nicht so schnell erklären. Natürlich lehnte Vater ab. Noch hatte er Gravelli die Papiere nicht zurückgegeben, da riss der sie an sich und zerfetzte sie, die Schnipsel in den verschiedenen Taschen seines Anzugs bergend. Nun konnte ihm niemand einen Betrugsversuch nachweisen.

Wie die Unterredung der Männer im Einzelnen verlief, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls wurde der freundschaftliche Verkehr sofort abgebrochen. Wir haben später, soweit es uns möglich war – Gravelli ging von da an und mit erstaunlichem Erfolg ins reine Geldgeschäft über –, verschiedene seiner Unternehmungen geprüft, aber nicht entdecken können, dass er seinen ersten, gescheiterten Versuch wiederholt hätte. Lediglich die verblüffende Schlauheit, mit der er arbeitete, überraschte uns immer wieder.“

„Wann hattest du Pietro gezeichnet? Irgendwie spielt ja wohl die Zeichnung in die ganze Sache hinein.“

„Am Tage nach dem Bruch. Gravelli, so erzählte mir Pietro, als wir noch einträchtig miteinander spielten, wäre, als er von uns kam, im Haus zusammengebrochen und hätte sich mit seinen letzten Kräften ins Bett geschleppt, wo er noch immer liege. Er hatte demnach seinem Sohn noch nicht verboten, zu mir zu laufen. Mein Vater hatte sich an diesem Tag sehr früh zum Hafen begeben, weil die ‚Astra‘ mit Waren aus Livorno gekommen war. Also auch ich wusste nichts von der Sache. Der Zufall hat die Hände im Spiel gehabt. Ich denke mir, dass Agostino angenommen hat, Vater habe sein Wissen bekanntgegeben, sich sogar mit mir elfjährigem Buben darüber unterhalten, und ich hätte mit meiner Zeichnung die ganze Verachtung, die wir gegen die Gravellis hegen mussten, ausdrücken wollen.“

„Nach außen hin tut ihr aber doch so, als sei nichts geschehen.“

„Die Väter grüßen sich, wenn sie einander in den Straßen oder auf der Börse begegnen, wechseln wohl auch einmal ein paar belanglose Worte, wenn Dritte zugegen sind, aber das geschieht nur der Menschen wegen. Wenn es nach Agostino Gravelli ginge, hätte er uns wahrscheinlich längst ruiniert. Doch wir sind stark und arbeiten auf einem Gebiet, von dem sich der Bankier zurückgezogen hat. – Das ist alles. Komm nun, Raffaela, Livio muss ins Bett. Ich wundere mich, dass er dir nicht schon zu schwer geworden ist. Gib ihn mir.“

Parvisi hat Frau und Kind hinuntergleitet. Jetzt steht er noch einmal auf Deck. Die Erinnerung an die Jugendfreundschaft mit Pietro Gravelli klingt ab. Mit den Augen des Malers betrachtet er den Himmel, der sich vom tiefdunklen Blau im Osten bis zum feurigen Violett im Westen über dem Meer wölbt.

Die ‚Astra‘ hat eine schöne Fahrt gehabt. Wind und Wogen waren ihr günstig gesinnt. Weder Raffaela noch Livio oder er, Luigi, sind seekrank gewesen. Lediglich Benedetto Mezzo, der langjährige Diener der Familie Parvisi, der den jungen Herrn jetzt nach Malaga begleitet, ist von der Krankheit gepackt.

Benedetto geht es nicht gut. Leichenblass und zu keinem Handgriff fähig, ohne Willen, etwas zu tun, liegt er in der Matte, als Luigi bei ihm eintritt. Er ist ein Mann Anfang der Vierziger und hängt mit Liebe an der jungen Herrschaft. Der kleine Livio nennt ihn seinen besten Freund. Immer findet Benedetto Zeit, mit dem Kind zu spielen. Und wie Benedetto spielen kann! Alle Spiele, die siebenjährige Jungen fesseln, weiß er und ist geschickt im Basteln und Erfinden; kurzum: für Livio unentbehrlich. Vor zwanzig Jahren hat er sich auch mit Luigi Parvisi so beschäftigt. Signore Andrea hat nur verstehend gelächelt, als der Diener sich sofort bereit erklärte, die Heimat gegen die Fremde zu vertauschen, nur um in der Nähe des Jungen bleiben zu können.

„Schläft er?“

„Ja, Benedetto.“ Für die beiden Menschen besteht kein Zweifel, dass ‚er‘ nur Livio sein kann. „Und wie fühlst du dich heute?“

„Ich werde bald wieder auf dem Posten sein. Ganz bestimmt!“

„Kapitän Civone meint, dass wir bereits morgen Abend in die Mündung des Guadalmedina, des Flusses, an dem Malaga liegt, einlaufen werden. Dann wirst du dich schnell erholen. Sorge dich nicht, Alter. Brauchst du etwas?“

„Danke, nein.“

„Gute Nacht, Benedetto.“ –

Der Schiffsführer denkt während der nächsten Stunden oft an das Gehörte. Wahrscheinlich hat der junge Parvisi von Pietro Gravelli gesprochen. Eine kindliche Dummheit ist also der Grund, dass diese zwei bedeutenden bürgerlichen Familien Genuas verfeindet sind. Er ist nicht sonderlich erfreut darüber, dass Parvisi davon sprach. Für einen Außenstehenden wie ihn, den Kapitän, ist es manchmal besser, nicht eingeweiht zu sein. Man kann plötzlich, ohne das Geringste mit der Sache zu tun zu haben, in einen Strudel gezerrt und, während sich die Großen nur aneinander reiben, wie zwischen Mühlsteinen zermalmt werden.

Noch einmal prüft er den Himmel. Kein Anlass, Befürchtungen wegen des Wetters zu hegen. Es sind ja nur noch wenige Stunden, bis man die spanische Küste sichten wird. Ein Tag Fahrt über offenes Meer, das ist alles.

Civone bespricht sich noch kurz mit dem Ersten Offizier und mit dem Steuermann und zieht sich dann zurück. –

Stunden später, an der Schwelle zwischen Nacht und Tag. Der Offizier hat soeben den ersten Teil seiner Eintragungen ins Logbuch beendet, als ein Ruf aus dem Mastkorb ertönt:

„Schiff in Sicht!“

„Standort?“, fragt der Offizier zurück.

„Westsüdwest!“

„Was für ein Schiff?“

„Noch nicht zu erkennen!“, kommt es nach einer Weile von oben.

„Einzelheiten sofort melden!“

„Jawohl, Herr!“

Aufgeregt geht der Diensthabende an Deck auf und ab. Er ärgert sich, dass ihn die Meldung so bewegt. An sich ist es doch eine Alltäglichkeit, Schiffen zu begegnen. Und vor allem in Küstennähe, wo der Verkehr ohnehin stärker ist als auf offener See. Aber er kann das unruhig schlagende Herz nicht beschwichtigen.

„Wie stehts?“, fragt er wieder hinauf.

„Scheint ein Schnellsegler zu sein. Ich kann noch nichts Bestimmtes sagen.“

„Mann, du musst doch einen Schnellsegler von einem gewöhnlichen Schiff unterscheiden können! Reib dir die Müdigkeit aus den Augen! Ich komme selbst!“ Der Offizier nimmt das Teleskop und entert auf.

„Dort, Herr!“ Der Mann im Ausguck gibt die Richtung an und fügt entschuldigend hinzu: „Das Licht ist sehr ungünstig.“

Lange beobachtet der Offizier das noch weit entfernte Schiff. Ein Schnellsegler, das steht außer Zweifel. Mehr aber kann auch er noch nicht feststellen. Vielleicht ein spanisches Kriegsschiff oder ein Franzose. Gut wärs; dann liefe man nicht Gefahr, etwa in letzter Minute noch mit einem Korsaren Bekanntschaft zu machen.

„Also, lass den Kerl nicht aus den Augen, Mann. Ein flinker Bursche ist es.“

Der Offizier begibt sich zurück auf Deck.

Wenig später kann er von hier aus das Schiff sehen. Er stößt einen handfesten Fluch aus. Der Fremde hält auf die ‚Astra‘ zu.

„Korvette[5] in Sicht!“, kommt die Meldung vom Ausguck.

„Spanier, Franzose?“

„Führt keine Flagge!“

„Verdammt! Segelmeister! Junge!“

Die Gerufenen eilen herbei.

„Alle Mann auf Deck!“, befiehlt er dem einen, „Wecke den Kapitän!“, dem anderen.

Die Pfeife des Segelmeisters schrillt in den stillen Morgen. Der Schiffsjunge rennt davon.

„Waffenmeister!“

Ein vierschrötiger alter Seemann tritt zu dem Offizier.

„Eure Leute an die Geschütze. Der Tag kann heiß werden!“

„Was gibt es, Herr?“, fragt der Alte.

„Da, nehmt das Glas! Westsüdwest!“

„Bei allen Heiligen! Ich will geteert und gefedert werden, wenn das nicht...“

„...ein Korsar ist! Könnt Euch drauf verlassen: Es ist ein Korsar! Gott sei uns gnädig! Ihr wisst, was uns blüht, wenn die Leute auch nur einen Augenblick die Hände sinken lassen. Treibt sie an. Der Kerl muss auf den Grund – oder wir alle sind verloren.“

Da kommt der Kapitän. Nur wenige Worte braucht es, um dem erfahrenen Schiffsführer die Gefahr klarzumachen, in der sich die ‚Astra‘ befindet.

„Segelmannschaft in die Wanten!“, befiehlt er.

Der Segelmeister wiederholt den Befehl mit gewaltiger Stimme.

„Legt um auf West!“ Die Anweisung wird ausgeführt. Die ‚Astra‘ legt sich nach Luv und richtet sich dann wieder auf.

„Geschütze fertig!“, meldet der Waffenmeister.

„Abwarten!“

Der Schnellsegler ist nun mit bloßem Auge zu erkennen. Es ist ein schmuckes Schiff. Viel schnittiger gebaut als der Handelssegler, der im Vergleich mit ihm wie eine Schnecke dahinkriecht.

Ein Kampf wird unvermeidlich sein, wenn sich die Vermutung als richtig erweist, dass es ein Pirat ist, ein Korsar, vielleicht gar noch ein algerischer, und die ‚Astra‘ nicht als französisches, sondern als genuesisches Schiff betrachtet wird. Dann wird man sie als Prise aufbringen. Das bedeutet für die Menschen Sklaverei oder Tod. Oft ist ein schneller Tod das kleinere Übel, denn die Qualen und Leiden in der Sklaverei sind unmenschlich. Wohl besteht die Möglichkeit, nach Jahren freigekauft zu werden, aber was inzwischen ausgestanden werden muss, ist die neue Freiheit nicht wert. Viele gehen unter Hunger und Schlägen zu Grunde, andere werden von wilden Tieren zerrissen oder verfallen dem Wahnsinn.

Die ‚Astra‘ ist zum Kampf gerüstet. Jeder steht abwartend auf seinem Posten. Noch ist außer der Tatsache, dass sich das fremde Schiff schnell nähert, nichts Ungewöhnliches festzustellen, wenn man davon absieht, dass der Schnellsegler keine Flagge führt.

Kapitän Civone hat im Voraus gewusst, dass sein Kurswechsel, der ihn näher an die Küste bringen sollte, zwecklos ist. Die Korvette segelt viel schneller. In kurzer Zeit werden beide Schiffe auf gleicher Höhe stehen. Wenn der Fremde wider Erwarten keine bösen Absichten hegt, wird der ganze Spuk in einigen Stunden am Horizont verschwunden sein.

Wieder mustert Civone den Unbekannten durch das Teleskop.

Da blitzt es auf der Korvette auf. Ein Donnerschlag zerreißt die Morgenstille. Das fremde Schiff hat die ‚Astra‘ zum Beidrehen aufgefordert. Schaden ist nicht entstanden, da der Schuss als Warnung vor den Bug gesetzt worden war.

Im Topp der ‚Astra‘ flattert neben der französischen die genuesische Flagge. Und die Ligurische Republik Genua hat keinen Vertrag mit den Barbareskenstaaten[6]. Auch wenn einer bestände, ist es unangenehm, von einem Korsaren angehalten und durchsucht zu werden. Die Räuber sind unberechenbar. Da hat es vielleicht eine Unterredung mit dem französischen Konsul gegeben, die dem Dey nicht gefiel. „Bringt mir ein Schiff seines Landes“, lässt daraufhin der türkische Herrscher seine Kapitäne wissen. – „Ein Schiff geraubt? Ja, wir lassen nicht mit uns spaßen! Was fällt eurem Konsul ein, sich nicht mit mir einverstanden zu erklären! Ihr könnt die Prise freikaufen, den Preis bestimme ich. Im Übrigen sind wir natürlich nach wie vor die besten Freunde. Allah segne dich, großmächtiger Freund, und gebe dir eine glückliche Hand in allen deinen Unternehmungen!“ So geschieht es oftmals trotz des bestehenden Vertrags. Und Genua hat keinen Vertrag. Der Kapitän oder ein Offizier des Korsaren, begleitet von einem zweiten Mann, wird an Bord der ‚Astra‘ kommen und das Schiff als Prise erklären. Die Menschen werden zu Sklaven gemacht.

Civones Befehle überstürzen sich. Die gut geschulte Mannschaft führt sie schnell und sachgemäß aus.

Der Korsar, denn als solcher hat er sich durch den Schuss zu erkennen gegeben, ist näher herangekommen. Beide Schiffe liegen sich breitseits gegenüber. Die Entfernung ist aber noch bedeutend.

Gleich nachdem drüben der Schuss gelöst worden war, wurde es auf dem Raubschiff lebendig. Plötzlich wimmelt es auf dem bisher wie tot erscheinenden Deck von Menschen. Waffen glänzen in den ersten Strahlen der Sonne.

Der genuesische Kapitän weiß, dass sein Schiff nicht gegen den wohl kleineren, aber in allem überlegenen Segler aufkommen kann, obwohl es, wie alle Kauffahrteischiffe, zum Schutz gegen die Korsaren stark bestückt ist. Flucht ist unmöglich. Eine schwere Entscheidung ist zu fällen. Soll man kämpfen, das Leben einsetzen oder das Schiff einfach übergeben? Gnade ist so oder so von den Piraten nicht zu erwarten. Lediglich die ungewisse Möglichkeit besteht, nach jahrelanger Sklaverei freigekauft zu werden. Noch ist nichts entschieden. Für den Augenblick gilt es, die Breitseite der ‚Astra‘ dem Seeräuberschiff zu entziehen.

Der Segler gehorcht dem Steuer.

„Elende Ente!“, zischt Civone bei der Ausführung des Manövers durch die Zähne. Mit welcher Leichtigkeit kann dagegen die Korvette jede Kursänderung vornehmen.

„Feuer! Aus allen Rohren! Feuer!“

Mit Jubel begrüßt die Mannschaft die Entscheidung des Kapitäns.

Die ‚Astra‘ beginnt einen ungleichen Kampf.

Mit grollender Stimme hat der Waffenmeister die Befehle wiederholt. Das Kauffahrteischiff schwankt, als die Kanonen aufbrüllen. Inzwischen hat der Kapitän neue Befehle erteilt. Wieder wird der Kurs gewechselt.

Auf dem Korsarenschiff scheint man allwissend zu sein. Die Kugeln der ‚Astra‘ verursachen zwar einigen Schaden in seinem Takelwerk, aber nicht den, der erwartet worden war. Kurz vor Abgabe der Schüsse hatte der Pirat ebenfalls zu einer Schwenkung angesetzt. Ein Teil der Geschosse ist unschädlich ins Wasser gefallen.

Die Schiffe segeln im Zickzack: die plumpe ‚Astra‘ schwer und behäbig mit den großen Lasten, die in ihr verstaut sind; der schlanke Korsar flink und behände.

Dabei nähert sich das Raubschiff immer mehr dem genuesischen Segler. Auf beiden Seiten wird jede Möglichkeit genutzt, den Gegner durch eine gut liegende Kanonade außer Gefecht zu setzen.

Die Matrosen an den Geschützen der ‚Astra‘ arbeiten wie die Besessenen. Die Rohre sind glühend heiß. Man achtet der Brandblasen an den Händen nicht. Brandblasen? Es gilt das Leben und die Freiheit! Kugeln herbei, Pulver heran! Schneller, schneller!

„Geschütz fertig!“ – „Geschütz fertig!“

Kugeln fliegen hinüber zu dem Korsaren.

Kanonen werden durchgezogen, von Neuem geladen. Meldung wird erstattet.

„Feuer!“ Wieder rasen Donnerschläge über das Deck der ‚Astra‘. „Feuer, Feuer!“ Schuss auf Schuss fällt.

Es geht um das Leben, um die Freiheit! Die Geschützbedienungen merken nicht, was um sie her geschieht. Sie kennen nur einen Gedanken: Feuern, feuern, bis der Gegner zur Strecke gebracht ist.

„Feuer!“ Die Lunte glimmt auf, trifft das Pulver. Ein markerschütterndes Geschrei ertönt. Das Rohr ist geplatzt. Die dem Geschütz am nächsten standen, sind tot, andere, die sich in diesem Augenblick gerade zur Seite gebückt hatten, um eine neue Kugel, den Wischer, Pulver oder sonst etwas aufzunehmen, werden als Schwerverwundete davongetragen.

Luigi Parvisi kommt die Treppe heraufgehetzt. Dicker, beißender Qualm und Rauch schlägt ihm in schweren Schwaden entgegen. Die ‚Astra‘ brennt an vielen Stellen. Dort züngeln Flammen an herabhängenden Segeln empor, da frisst sich das Feuer in das Deck. Das Schiff ist nicht mehr als ein schwimmender Trümmerhaufen. – Es gilt das Leben!

Nur noch wenige Meter von der ‚Astra‘ entfernt der fremde Segler. Auch er schwer beschädigt. Ein – Korsar! Und die ‚Astra‘ gehorcht dem Steuer nicht mehr. Das Rad ist zertrümmert.

In den Wanten des Piratenschiffes hängen wie Trauben dunkelhäutige Menschen: Türken, Araber, Mauren, Neger. In den Händen halten sie schwere Enterhaken. Wenige Minuten noch, dann wird sich die blutgierige Meute auf das Handelsschiff stürzen und Tod und Verderben verbreiten.

Luigi Parvisi weiß, dass von den Korsaren keine Gnade zu erwarten ist.

„Leichten Kaufs soll man mich nicht bekommen“, murmelt er. Plötzlich durchzuckt ihn der Gedanke an sein Kind und seine Frau.

Parvisi brüllt auf wie ein Stier: „Genuesen, Italiener, Landsleute! Kämpft um die Freiheit, um das Leben!“ Der Aufschrei verhallt ungehört. Auch Civones Befehl: „Feuer einstellen. Alles zwecklos. Nehmt die Handwaffen, Leute!“, dringt nicht mehr ins Bewusstsein der Mannschaft. Jeder weiß, dass er nun auf sich allein gestellt ist.

Der Kaufmann blickt um sich.

„Eine Waffe, eine Waffe“, stöhnt er.

Da liegt eine Axt. Einem toten Matrosen zieht er die Pistole und den Kugelbeutel aus dem Gürtel. Der arme Kerl braucht beides nicht mehr.

Ein letzter Donnerschlag ertönt. Ein Verwundeter hat sich aufgerichtet, die Lunte mit zitterndem Arm an das Pulver gelegt, die Ladung aus dem Rohr gejagt, einen Augenblick, bevor die Enterhaken der Piraten in das Tauwerk der ‚Astra‘ greifen konnten. Die Wirkung des Schusses ist verheerend. Die Hälfte der Aufbauten des Korsaren stürzt zusammen, zum Teil herüber auf den genuesischen Segler. Beide Schiffe sind unlösbar miteinander verbunden. Die Schar der Räuber ergießt sich auf das unglückliche Schiff.

Fremde Laute quirlen aus heiseren Kehlen. Wutentstellte Fratzen tauchen plötzlich überall auf. Zu dritt, zu viert, zu fünft stürzen sich die grausamen Gesellen auf jeden Mann der ‚Astra‘. Ein kurzer, ungleicher Kampf entbrennt. Die furchtbaren Jatagans, die kurzen Krummschwerter der Korsaren, halten reiche Ernte.

An einigen Stellen finden die Piraten unverhofften erbitterten Widerstand. Dorthin stürzen nun alle, die ihr blutiges Werk bereits vollbracht haben.

Luigi hat einen großen Splitter des Hauptmastes der ‚Astra‘ gepackt und wirbelt ihn um sich. Die Gegner können wegen dieses gleichsam verlängerten Armes nicht bis zu ihm gelangen. Einige der Mauren und Türken hat er bereits mit dieser Waffe außer Gefecht gesetzt.

Wenige Schritte von ihm entfernt kämpft der alte Waffenmeister um sein Leben. Bei jedem Hieb, den der Mann austeilt, schießt ihm vor Anstrengung das Blut aus vielen kleinen Wunden. Noch kann er aber mit voller Wucht um sich schlagen. Der Alte weiß, dass ihm nur noch wenige Minuten bleiben, während denen er Widerstand leisten kann, und das gibt ihm übermenschliche Kräfte.

Ein Tau zischt durch die Luft. Eine Schlinge schließt sich um den Hals des Hünen. Ein Ruck. Der Waffenmeister stürzt zu Boden.

Schon sind die Unmenschen über ihm. Mit letzter Kraft bäumt er sich auf, schüttelt zwei der Piraten von sich ab. Ein Hilferuf wälzt sich über das Schiff, so schrill, fordernd, dass selbst die Korsaren zusammenfahren. Zwecklos. Niemand kann ja dem schwer Bedrängten Hilfe bringen. Ein Säbel blitzt in der Sonne auf.

Auch Parvisi ist bei dem Ruf zusammengezuckt. Ein schneller Blick hinüber. Er sieht das Ende des braven Waffenmeisters. Ein gleiches wird ihm, vielleicht schon in dieser Minute, bereitet werden.

Soll er weiterkämpfen oder sich ergeben? Würde man ihm das Leben lassen, wenn er sich still hinsetzte und sich nicht mehr wehrte? Nein, die vertierten Menschen werden kein Mitleid haben. Sie sind im Blutrausch; sie müssen töten, selbst wenn man keine Hand mehr gegen sie erhöbe.

Tigern gleich nähern sich die Bezwinger des Waffenmeisters jetzt dem jungen Mann, der zuletzt nur die gefährlichsten Gegner abgewehrt, nicht mehr angegriffen hat. Er ist unschlüssig, wie er sich weiter verhalten soll.

„Luigi, zu Hilfe!“ Raffaela stößt den Schrei in höchster Not aus. Zwei Neger schleifen die Unglückliche an Armen und Haaren über das Deck.

Ein Mann wirft sich dazwischen: Benedetto. Irgendwer schlägt ihn nieder.

„Lasst die Hände von der Frau! Ihr Hunde! Ich komme, Raffaela!“ Mit einer Kraft, die der von zehn Männern gleicht, schwingt Luigi seine todbringende Waffe. Die ihm zunächst Stehenden sinken getroffen zusammen. Für einen Augenblick weicht die Menge zurück. „Hunde!“ Eine andere Stimme ist es, die sich des gleichen Worts bedient. Die Angreifer ducken sich, drängen wieder vor.