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China 2018 – Geburt der ersten gentechnisch veränderten Menschen. Eine Welt der Markenmenschen aus dem Gen-Design-Labor rückt immer näher. In einer solchen Welt schreibt die junge Simone, eine wildwüchsige "No name", ein Tagebuch, in dem sich eine von Körperkult, Markenfetischismus und Perfektionswahn beherrschte Gesellschaft offenbart. Sexualität wird als pragmatische Triebabfuhr organisiert, Kinder im Labor marktgerecht gestaltet – und die Liebe? Als in Simone, der verachteten Außenseiterin, ein genetisch nicht optimiertes Kind heranwächst, sieht sie sich ein einem schweren Konflikt gefangen. "Einfühlsam schildert das Buch, wie einsam sich jemand fühlt, der nicht gen-optimiert ist." Greenpeace-Magazin
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Seitenzahl: 141
Birgit RabischUnter MarkenmenschenRoman
für meine Freundin Brigittewildwüchsig, zum Glück
Der Roman Unter Markenmenschen ist kurz nach der Jahrtausendwende 2002 im Fischer-Verlag zum ersten Mal veröffentlicht worden.
Das Jahr 2002 nach Christus war das Jahr 24 nach Louise Brown, dem ersten „Retortenbaby“, und das Jahr 6 nach Schaf Dolly, dem ersten geklonten Säugetier. Dies waren Meilensteine für die Entwicklung der noch jungen Gentechnologie.
Ich erinnere mich gut an die Versicherung, man werde in vitro erzeugte menschliche Embryonen nur nutzen, um unfruchtbaren Frauen zu einem eigenen Kind zu verhelfen. Die Hoffnung auf diese Selbstbeschränkung erschien mir damals wenig realistisch, war doch der Embryo jetzt uneingeschränkt zugänglich. Heute werden in vielen Ländern Embryonen zu unterschiedlichsten Zwecken (Stammzellgewinnung, Forschungsklonen, Leihmutterschwangerschaften, Präimplantationsdiagnostik etc.) gezeugt, geklont, verbraucht. Ich erinnere mich auch gut, dass ich meinen Roman Duplik Jonas 7, der von geklonten Menschen handelt, zu einer Zeit schrieb, als es noch hieß, man werde Säugetiere noch auf unabsehbare Zeit nicht klonen können. Als mein Roman schließlich 1992 erschien, war diese unabsehbare Zeit auf gerade mal vier Jahre geschrumpft.
Auch Unter Markenmenschen handelt von einer Welt, die beim Erscheinen des Romans 2002 noch unabsehbar weit entfernt schien, die nur mein Hirngespinst war, eine zukünftige Welt, in der gentechnisch optimierte Menschen leben, Menschen aus dem Gen-Design-Labor. Ich nannte sie Markenmenschen.
So wurde der Roman folgerichtig als Science-Fiction klassifiziert und für den Deutschen Science-Fiction-Preis 2003 und den Kurd Laßwitz-Preis 2003 nominiert. Andererseits passte er nicht wirklich in dieses Genre, hatte so gar nichts von Star Wars und war von einer Frau geschrieben, noch dazu einer deutschen. Das war sehr untypisch in diesem männerdominierten und von der angelsächsischen SF geprägten Segment der Literatur. Zudem beschrieb der Roman die Welt aus der Sicht einer jungen Frau und enthielt auch noch eine Liebesgeschichte, in der die Erotik nicht zu kurz kam. Als wäre das nicht genug, war er in der Reihe Die Frau in der Gesellschaft erschienen, einer Frauenbuchreihe des Fischer-Verlages. Also wurde er flugs dem Genre Frauenliteratur zugeordnet. Kann es für einen Roman ein schlimmeres Etikett geben?
Gut zugekleistert mit den beiden Etiketten Science-Fiction und Frauenliteratur wurde es Menschen, die keine Fans dieser Genres waren, nicht leicht gemacht, auf Unter Markenmenschen aufmerksam zu werden.
Machen wir einen Sprung in das Jahr 2015. Die hauptsächlich von den beiden Forscherinnen Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna entwickelte Gen-Schere CRISPR/Cas wird als Breaktrough of the Year ausgezeichnet. Es gibt also jetzt das Werkzeug, mein Hirngespinst von genetisch optimierten Menschen in absehbarer Zeit Realität werden zu lassen.
2018 begeistert sich der Verlag duotincta für eine Neuveröffentlichung von Unter Markenmenschen und es gelingt mir, die Rechte vom Fischer Verlag zurückzuerhalten. Ich fange an, den Roman zu überarbeiten. Am 24.11.2018 kann ich ihn bei einer Lesung in der wunderbaren Alten Büdnerei in Kühlungsborn vorstellen, für die ich das Motto wähle Ist das noch Science-Fiction oder schon Realität? Nach der Lesung diskutiere ich mit dem Publikum über die Möglichkeit, das Genom des Menschen mit der CRISPR/Cas Methode zu verändern und stelle das Buch Eingriff in die Evolution von Jennifer Doudna vor. Sie musste mit Erschrecken feststellen, dass die Gen-Schere CRISPR heute schon für ca. 100 Dollar im Internet zu bestellen ist. Sie fordert ein Moratorium für den Eingriff in die Keimbahn des Menschen und warnt vor den Gefahren. Aber wird diese Tür wirklich geschlossen bleiben, frage ich das Publikum, und nicht nur ich sehe das skeptisch. Irgendwann wird die Tür mit dem Versprechen auf die Ausmerzung von Krankheiten geöffnet werden und dann wird in sehr absehbarer Zeit der genoptimierte Mensch sie durchschreiten. „Wird wohl am ehesten in China passieren“, vermutet ein Herr aus dem Publikum und das scheint auch mir wahrscheinlich.
Zwei Tage später, am 26.11.2108, geht die Nachricht von der Geburt der „CRISPR-Zwillinge“ in China um die Welt.
Das ist die Situation, in der ich Unter Markenmenschen für die Neuveröffentlichung überarbeitet habe. Ich habe nur sehr moderate Änderungen vorgenommen. Es ist mir wichtig, dass der Roman seine Uneindeutigkeit nicht verliert, dass er sich nicht einpasst in marktgängige Typisierungen, dass er sich weiter im Offenen bewegt, dem originären Raum der Literatur.
Ich bin sehr froh darüber, dass der Roman von duotincta neu aufgelegt wird, einem Verlag, der seine Bücher nicht mit Etiketten wie Frauenroman, Science-Fiction, Liebesroman, Erotische Literatur etc. zuklebt. Ich fühle mich sehr gut aufgehoben in diesem Verlag, der anspruchsvolle und unterhaltsame Belletristik jenseits der Schubladen macht und dabei versucht „die Pfade der vorherrschenden, ewiggleichen und algorithmengesteuerten Buchlandlandschaft zu verlassen“.
Und wenn die verzweifelte Buchhändlerin fragen sollte: „In welches Regal soll ich Unter Markenmenschen denn nun einordnen?“
Am besten in keines, sondern das Buch gut sichtbar auf dem Tisch mit den interessanten Neuerscheinungen platzieren!
Liebe Mama,
ja, so möchte ich dich nennen, obwohl kein Mädchen meines Alters sonst noch so ein Wort in den Mund nimmt. Aber ich möchte dich trotzdem nicht einfach Mutter nennen, obwohl ich von dir nicht viel mehr weiß, als dass mein Genom zur Hälfte von dir stammt. Solange ich lebe, bist du schon tot. Als ich deinen Körper verlassen musste, hast du mich verlassen. Warum schreibe ich an eine mir Unbekannte, die noch dazu tot ist und die keiner meiner Sätze erreichen kann? Ich weiß es nicht.
Als Benjamin mir zu meinem siebzehnten Geburtstag dieses Buch schenkte, das er bei einem seiner vielen Besuche in Antiquariaten aufgetrieben hat, habe ich zuerst nur das Äußere bewundert: den Leineneinband mit den aufgedruckten Rosen und dem in Goldbuchstaben eingeprägten Titel TAGEBUCH. Beim Blättern in den leeren Seiten fiel mir auf, wie angenehm sich das Papier anfühlte.
„Bütten!“, sagte Benjamin stolz.
Als Krönung des Ganzen empfand ich aber das kleine vergoldete Schloss mit dem winzigen Schlüssel – zwar absolut ungeeignet, Herzensergüsse sicher zu verwahren, aber einfach zu süß!
Ich legte das Buch in meinen Nachttisch und freute mich daran, wie an den vielen anderen schönen, nutzlosen Dingen, die mein Bruder aus den Antiquariaten anschleppt. Die Idee, es tatsächlich selbst als Tagebuch zu verwenden, kam mir zuerst gar nicht. Ich habe bisher nie etwas über mich geschrieben, und wenn, hätte ich es meinem Allphone diktiert.
Erst als Benjamin vor ein paar Tagen auch noch mit einem Füllfederhalter ankam, dazu königsblaue Tinte und ein Stapel sogenanntes Löschpapier, hatte ich die verrückte Eingebung, dieses Buch tatsächlich als Tagebuch zu benutzen, die weißen Büttenseiten mit blauen Worten zu bedecken – ganz wie die Menschen früher. Im Museum habe ich mal eine Reihe von Handschriften im Original gesehen. Man muss sich mal vorstellen, dass damals ganze Bücher von Hand geschrieben wurden! Ich bin es natürlich nicht gewohnt, irgendetwas, außer vielleicht mal ganz kurze Notizen, direkt niederzuschreiben. Aber ich habe es immerhin noch gelernt. Seit man alles ins Allphone diktieren kann, geht diese Fähigkeit zunehmend verloren und wird wohl auch bald aus dem Lehrplan der Schulen gestrichen. Ich war jedoch plötzlich davon fasziniert, mit diesem urtümlichen Schreibgerät Füllfederhalter meine Gedanken zu Papier zu bringen. Mir schien diese unzeitgemäße Art meinen unzeitgemäßen Gedanken angemessen.
Ich tunkte die Stahlfeder ins Tintenfass, drehte am Ende des Kolbens und saugte die tiefblaue Flüssigkeit in den Füllfederhalter. Ich nahm ein Blatt Papier und übte mich im Schreiben ein. Schließlich traute ich mich, das Tagebuch aufzuschlagen, und schrieb in großen Buchstaben auf die erste Seite: SIMONE.
Ich trocknete meinen Namen mit einem Blatt des Löschpapiers und betrachtete ihn. Er erschien mir vertraut und fremdartig zugleich, Gefühle, die ich auch mir selbst gegenüber habe: Mal bin ich mir ein offenes Buch und mal eins mit sieben Siegeln.
Mehr schrieb ich an diesem Tag nicht, nur meinen Namen. Doch jetzt habe ich also tatsächlich angefangen, ein Tagebuch zu schreiben. Drei Seiten sind schon mit den Auf- und Abschwüngen meiner Hand bedeckt, ich komme immer flotter voran, und vielleicht komme ich auf diese Weise ja auch der SIMONE vom Titelblatt ein wenig auf die Spur.
Wer ist sie?
Sie ist ein mutterloses Kind. Daher auch dieser merkwürdige Anfang, als könne sie sich an eine Frau wenden, die es seit siebzehn Jahren auf dieser Welt nicht mehr gibt, als könne sie einen Kontakt herstellen, der unmöglich ist, eine Antwort erhalten, wo ihr höchstens ihr eigenes Echo entgegenschallen kann. Lächerlich! Wie kann sie bei einer Toten Halt und Geborgenheit suchen? Einer Toten, die noch dazu schuld ist an ihrer Fremdheit in der Welt!
Du bist es doch gewesen, Mutter (nein, jetzt kann ich dich doch nicht Mama nennen), die mich als ungestaltetes Wesen, wie sie sonst nur in den Satellitenvierteln am Rand der Städte vegetieren, auf die Welt gestoßen hat! Du, die ihren Sohn Benjamin mit dem besten damals käuflichen Markengenom ausgestattet hat, hast mich wild empfangen und ausgetragen, so wie mich die Natur geschaffen hat! Du, eine reiche Frau, die ihrer Tochter mühelos ein erstklassiges Markengenom hätte finanzieren können, hast mich als No name geboren! Du hast wissen müssen, was du mir damit antust. Ich kann es dir nie verzeihen!
Ich konnte erstmal nicht weiterschreiben. Ich habe nicht gewusst, dass noch immer so viel Hass auf meine Mutter in mir steckt. Ich dachte, ich hätte diese Gefühle längst überwunden. In letzter Zeit habe ich eigentlich nur voll Sehnsucht an sie gedacht, ja, ich war sogar neidisch auf Benjamin, der unsere Mutter gekannt hat, ganze achtzehn Jahre seines Lebens. Wie oft habe ich ihn schon gefragt, an was er sich noch erinnert, wie er sich ihren ungeheuren Fehltritt erklärt, aus dem ich hervorgegangen bin. Seine Antworten sind leider immer ziemlich einsilbig, und so fällt es mir schwer, mir vorzustellen, was für ein Mensch meine Mutter war.
Eben habe ich noch einmal meine Aufzeichnungen unterbrochen, weil Benjamin mich zum Essen gerufen hat. Wir kochen beide gerne und lassen uns das Essen nur selten liefern. Heute hat er mich mit einer Création rouge überrascht, ein naturfarbenes Rindersteak mit einer Gemüserosette aus naturroten Möhren und Paprika sowie gentechnisch geröteten Auberginen und Zucchini in farblich fein abgestuften Rottönen. Seit praktisch alle Gemüse in allen Farbvarianten zu haben sind, kann man Menüs zaubern, die fast alten Gemälden gleichen. Mein Essen gestern habe ich Monets Seerosenteich getauft, eine Komposition in impressionistischem Blaugrün. Das reichte schon fast an die Kreationen hoch dotierter Menü-Designer heran, die für ihre Einfälle viel Geld kassieren.
Benjamin hat sich sehr darüber gefreut, als ich ihm erzählt habe, dass ich jetzt tatsächlich angefangen habe, Tagebuch zu schreiben. Er meinte, das werde mir gut tun. Ich hätte viel zu wenig Austausch mit anderen Menschen, und so wäre ich wenigstens gezwungen, meine Gedanken auszuformulieren anstatt immer nur dumpf vor mich hinzubrüten. Wahrscheinlich hat er Recht, mein großer Bruder. Eine Zeit lang habe ich mich an allen möglichen Chats im NET beteiligt, habe mich mal als Dike-Frau, mal als Idadis- oder Berok-Frau ausgegeben. Bei den Chats kannst du ja die sein, die du sein willst. Aber bald hat es mich nicht mehr interessiert, was da rumgechattet wird. Fast immer dreht es sich um Schönheit und Gesundheit, - wie man es vermeidet, die Gesetze der Ästhetik zu verletzen oder der Gesellschaft durch vermeidbare Krankheiten zur Last zu fallen. Als eine der blonden und blauäugigen Dike-Frauen anfing, darüber zu klagen, ihre Augen würden nicht mehr richtig blau strahlen, sie seien so nachgedunkelt, dass man sie für grau oder – schlimmer noch – für braun wie die Augen einer Idadis-Frau halten könne und dass nichts unästhetischer sei als so ein Markenmischmasch, habe ich mich endgültig ausgeklinkt.
Deren Probleme möchte ich haben!
Wenn ich mein Äußeres mit den drei beliebtesten Markengenomen vergleiche, kann ich fast nur Abweichungen feststellen. Am ähnlichsten bin ich noch dem Idadis-Genom mit den Leitmerkmalen brünett und braunäugig. Aber nur entfernt, denn meine Haare sind eben nicht brünett, sondern schwarz und noch dazu mandelförmig, meine Nase ist zu schmal und mein Mund zu breit, meine Wangenknochen sind zu hoch geschnitten. Ich erreiche nicht annähernd die für Markenfrauen gewählte Größe von 1,80 m, sondern bin nur 1,69 m groß, und mein ganzer Körperbau ist viel zu zart, um einen wohlproportionierten Eindruck zu machen. Ich bin und bleibe eben ein Kraut-und-Rüben-Mensch, eine No name eben. Und das habe ich in meinem bisherigen Leben reichlich zu spüren bekommen.
Eigentlich hätte ich gestern noch weiterschreiben wollen, aber mich überkam plötzlich eine große Unlust. Ich habe das Buch zugeklappt und bin ins Bett gegangen. Heute habe ich noch mal gelesen, was ich gestern geschrieben habe, und mir ist klar geworden, woher meine plötzliche Unlust kam. Ich war genau an meinem wunden Punkt angelangt – bei meiner Andersartigkeit, unter der ich von klein auf gelitten habe. Nein, von klein auf ist nicht richtig. An meine Kleinkindzeit habe ich noch unbeschwerte Erinnerungen. In der frühesten sitze ich auf Tante Isas Schoß, sie berührt nacheinander jeden meiner Finger und erklärt:
„Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen, der liest sie auf, der trägt sie ins Haus, und der Kleine isst sie alle, alle auf.“
Ich höre noch jetzt ihre jubelnde Stimme, wenn sie beim kleinen Finger angekommen war und mir im selben Moment eine saftige Pflaume in den Mund schob. Ich weiß genau, dass dies meine Erinnerungen sind, auch wenn ein Video existiert, in dem Benjamin als kleiner Junge auf dem Schoß unserer Mutter sitzt und sich genau die gleiche Szene abspielt. Benjamin glaubt, ich hätte diese Erinnerung vielleicht nachträglich konstruiert, aber ich bin mir völlig sicher, dass es Tante Isas Stimme ist, die ich höre, und ich fühle noch, wie mir der Pflaumensaft die Mundwinkel hinunterrinnt.
Ich erinnere mich nicht visuell an Tante Isa, nur an ihre Stimme und ihre Wärme. Von ihr existiert kein einziges Video und es gibt nur sehr wenige Fotos. Darauf sieht sie Mutter allerdings sehr ähnlich. Beiden war offenbar schon die in ihrer Generation bestmögliche Gen-Optimierung zuteil geworden. Von der dicken Nase ihrer Mutter oder den abstehenden Ohren ihres Vaters findet sich bei den beiden Schwestern jedenfalls nichts mehr. Soviel ich weiß, war zur Zeit meiner Großeltern die genetische Kontrolle noch auf die Ausmerzung von erblichen Krankheiten beschränkt. Wenn ich Bilder von ihnen betrachte, sehen sie so unästhetisch aus wie heute nur die wildwüchsigen No names.
Und ich.
Da bin ich wieder an dem Punkt angelangt, der mich zur Außenseiterin abstempelt. Ich erinnere mich mit Grausen an meine Einschulung. Da unsere Villa in einem der vornehmsten Viertel der Stadt liegt, waren in meiner Klasse außer mir nur Markenkinder. Einige wenige stammten aus nicht ganz so anerkannten Markenlabors, waren nicht ganz so perfekt im Design, aber wildwüchsig war außer mir niemand. Schon am ersten Tag spürte ich die abschätzigen Blicke, das verächtliche Tuscheln. Um mich herum bildete sich ein leerer Kreis, dessen Grenze niemand übertrat, als wäre er von einer hohen Mauer umgeben.
In diesem Kreis stehe ich heute noch.
Vor einigen Wochen hat mir Benjamin aus seinem Archiv der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts ein Buch mitgebracht, das zwar in einer längst vergangenen Zeit und an einen ganz anderen Ort spielt, aber ich hatte sofort das Gefühl: Dieses Buch handelt auch von mir. Ich will versuchen, es kurz zusammenzufassen:
Irgendwo im Süden der USA hat ein weißes Ehepaar nach einer In-vitro-Fertilisation (im Buch nennen sie es Retortenzeugung) ein schwarzes Baby bekommen. Ein ermüdeter Assistenzarzt hatte bei der Übertragung in die Gebärmutter die tiefgekühlten Embryonen verwechselt. Die Frau, der das Kind während der Schwangerschaft ans Herz gewachsen war, entschied sich, es trotzdem großzuziehen. Der Junge, der also versehentlich aus einem überzähligen Embryo, der für die verbrauchende Forschung bestimmt gewesen war, hervorging, wuchs nun in dem rein weißen Wohnviertel auf. Als ich von dem Hass, der Ablehnung und Ausgrenzung las, die er in seiner Kindheit erdulden musste, identifizierte ich mich so sehr mit ihm, dass ich oft nicht weiterlesen konnte, weil es mich einfach zu sehr mitnahm. Am Ende des Buches zieht er als junger Mann in eins der Schwarzen-Viertel, um endlich als Gleicher unter Gleichen zu leben, aber hier muss er erfahren, dass er von seinen Mitmenschen ebenfalls abgelehnt wird, weil er nicht ihren Slang spricht, nicht ihre Sitten und Gebräuche kennt und seine ausgezeichnete Bildung ihm als Hochmut angekreidet wird.