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Auch dieser Sammelband enthält interessante Erzählungen aus dem umfangreichen Werk des Weitgereisten. Neben einer weiteren, unheimlichen Geschichte und einigen anderen Kurzgeschichten bietet uns Friedrich Gerstäcker einen Einblick in die gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit. Als ein Auswanderer in die Heimat zurückkehrt und später seine nicht standesgemäße Ehefrau heimlich nachkommt, wird es kompliziert im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Aber auch eine Kriminalgeschichte ist darunter, die Novelle 'Der Polizeiagent' ist eine der frühen Geschichten des Genres in Deutschland mit einem eigenen Ermittler...
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Seitenzahl: 891
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Friedrich Gerstäcker
Unter Palmen und Buchen
Volks- und Familien-Ausgabe, 2. Serie, Band Achtzehn
der Ausgabe Hermann Costenoble, Jena
Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V., Braunschweig
Ungekürzte Ausgabe nach der von Friedrich Gerstäcker für die Gesammelten Schriften, H. Costenoble Verlag, Jena, eingerichteten Ausgabe „letzter Hand“, herausgegeben von Thomas Ostwald für die Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V., Braunschweig
Unterstützt durch die Richard-Borek-Stiftung und
die Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz, beide Braunschweig
Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V. u. Edition Corsar
Braunschweig. Geschäftsstelle Am Uhlenbusch 17
38108 Braunschweig
Alle Rechte vorbehalten. © 2005 / 2024
1. Eine alltägliche Geschichte.
Erstveröffentlichung1863: Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt, Leipzig, Ernst Keil
Nr. 41, Seiten 648-649
Es war auf einem Balle in der Erholung, daß Doctor Kuno Brethammer Fräulein Bertha Wollmer kennen lernte - oder vielmehr zum ersten Mal sah, und sich sterblich in sie verliebte.
Bertha Wollmer trug ein einfaches weißes Kleid, einen sehr hübschen Kornblumenkranz im blonden Haar und sah wirklich allerliebst aus. Aber es bleibt immer ein gefährlich Ding, wenn sich ein Mann eine Hausfrau auf einem Balle sucht. Der Ballsaal sollte der letzte Ort dazu sein, denn dort ist Alles in Licht gehüllt, und er wird geblendet und berauscht, wo er gerade Augen und Verstand nüchtern und besonnen auf dem rechten Fleck haben müßte.
Diesmal hatte aber Doctor Brethammer seine Wahl nicht zu bereuen, denn Bertha Wollmer war nicht allein ein sehr hübsches Mädchen, das sich mit Geschmack zu kleiden wußte, sondern auch außerdem wacker und brav, ein wirklich edler Charakter und eine, wie sich später herausstellte, vortreffliche Wirtschaftern. - Der Doctor hätte auf der Welt keine bessere Lebensgefährtin finden können.
Gegen ihn selber ließ sich eben so wenig einwenden. Er war etwa vierunddreißig Jahre alt, Advocat mit einer recht guten Praxis, hatte also sein Auskommen, galt in der ganzen Stadt für einen braven, rechtschaffenen Mann, schuldete keinem Menschen einen Pfennig, und als er vierzehn Tage später /2/ um Bertha Wollmer anhielt, sagte das Mädchen nicht N e i n , und Vater und Mutter sagten J a, worauf dann noch in der nächsten Woche die Verlobungskarten ausgeschickt wurden. Zwei Monate später fand die Hochzeit statt.
So lebten die beiden Leute viele Jahre glücklich mit einander, und Doctor Brethammer sah mit jedem Tage mehr ein, daß er eine außerordentlich glückliche Wahl getroffen und Gott nicht genug für sein braves Weib danken könne. Er liebte sie auch wirklich recht von Herzen, aber - wie das oft so im Leben geht - das, was sein ganzes Glück hier bildete, wurde ihm durch nichts gestört - endlich zur Gewohnheit, und er vernachlässigte, was er hätte hegen und pflegen sollen.
Es mag sein, daß seine Liebe zu der Gattin deshalb nie geringer wurde, aber er vernachlässigte die Form, die in einem gewissen Grade in allen Lebensverhältnissen nöthig ist: er war oft rauh mit seiner Frau, ja heftig, und wenn er auch dabei nicht die Grenzen überschritt, die jeder gebildete Mensch inne halten wird, that er ihr doch oft - gewiß unabsichtlich - recht wehe. Ja manchmal, wenn ihm ein heftiges Wort entfahren war, hätte er es von Herzen gern widerrufen mögen, aber - das ging leider nicht an, denn - er durfte sich an seiner Autorität nichts vergeben.
Nur zu einer Entschuldigung ließ er sich herbei. „Du weißt, ich bin jähzornig," sagte er, „wenn's aber auch oft ein bischen rauh herauskommt, so ist es ja doch nicht so schlimm gemeint und eben so rasch vergessen."
Ja, das war allerdings der Fall; er hatte es eben so rasch vergessen, aber sie nicht, und wenn sie ihm auch nie ein unfreundlich Gesicht zeigte, wenn sie ihn immer bei sich entschuldigte und sein oft mürrisches Wesen auf die Sorgen und den Aerger schob, den er außer dem Hause gehabt - ein kleiner Stachel blieb von jeder dieser Scenen in ihrem Herzen zurück, so viel Mühe sie sich selber gab, die Erinnerung daran zu bannen; einen kleinen Nebelpunkt ließ jede solche Wolke zurück, die an der Sonne ihres häuslichen Glücks, sei es noch so schnell, vorübergezogen, und in einsamen Stunden konnte sie oft recht traurig darüber werden. /3/
Sie hatten zwei Kinder mitsammen, an denen der Vater mit großer und wirklich inniger Liebe hing - und doch, wie wenig gab er sich mit ihnen ab! - Es ist wahr, am Tage war er sehr viel beschäftigt und mußte sich oft gewaltsam die Zeit abringen, um nur zum Mittagessen zu kommen, aber Abends um sechs Uhr hatte er dafür auch jedes Geschäft abgeschüttelt, und dann wäre ihm allerdings Zeit genug geblieben, bei Frau und Kindern zu sitzen, um sich seines häuslichen Glückes zu freuen, aber - „er mußte dann doch ein wenig Zerstreuung haben" - wie er sich selbst vorlog - er mußte den Geschäftsstaub abschütteln und mit einem „Glas Bier" hinunterspülen, und das geschah am besten im Wirthshaus, wo man nicht gezwungen war zu reden - wenn man nicht reden wollte wo man einmal eine Partie Scat oder Billard spielte, um die ärgerlichen Geschäftsgedanken aus dem Kopf zu bringen - und wie die Ausreden alle hießen, mit denen er allein sich selber betrog, denn seine Frau fühlte besser den wahren Grund.
Er amüsirte sich nicht zu Hause. Er hatte seine Frau und Kinder unendlich lieb und würde alles für sie gethan, jedes wirklich große Opfer für sie gebracht haben, aber - er verstand nicht, sich mit ihnen zu beschäftigen, und suchte deshalb Unterhaltung bei Karten und Billard. - Und wie verständig und lieb betrug sich seine Frau dabei! Er mochte noch so spät Abends zum Essen kommen, nie zeigte sie ihm ein unfreundliches Gesicht, nie frug sie ihn, wo er heute so lange gewesen. Die Kinder - wenigstens das jüngste - waren dann schon meist zu Bett gebracht; er konnte ihnen nicht einmal mehr „gute Nacht" sagen, und ärgerlich über sich selber - so sehr er auch vermied es sich selber einzugestehen - verzehrte er schweigend sein Abendbrod.
Das waren die Momente, wo ihm der älteste Knabe ängstlich aus dem Wege ging, denn hatte er irgend etwas versäumt, und der Vater erfuhr es in einer solchen Stunde, dann konnte er sehr böse und sehr heftig werden - und die arme Mutter litt besonders schwer darunter.
Wie oft nahm er sich von, die Abende in seiner Familie, bei den Seinen zuzubringen, und er wußte ja, wie sich seine /4/ Frau darüber gefreut haben würde. So lieb und gut sie dabei mit den Kindern war, so sorgsam sie auf alles achtete, was dem Gatten eine Freude machen oder zu seiner Bequemlichkeit dienen konnte, so verständig war sie in jeder andern Hinsicht, und es gab nichts, worüber sich nicht ihr Mann hätte mit ihr unterhalten mögen, nichts, worin sie nicht im Stande gewesen wäre, einen vernünftigen Rath zu ertheilen.
Er kannte und schätzte diese Eigenschaften an ihr - er liebte sie dafür nur desto mehr, aber - wenn der Abend, wenn die Zeit kam, wo er wußte, daß sich die Spieltische besetzten oder die gewöhnliche quatre tour zusammenkam, dann ließ es ihn nicht länger zu Hause ruhen.
Seine Frau war die letzten Jahre kränklich geworden; da sie aber nie gegen ihn klagte und ein häufiger wiederkehrendes Unwohlsein stets soviel als möglich vor ihm verbarg, um ihm die wenigen kurzen Stunden nicht zu verbittern, die er bei ihnen zubrachte, achtete er selber nicht viel darauf, oder hielt es doch keineswegs für gefährlich. Er hatte in der That sehr viel zu thun und den Kopf zu Zeiten voll genug - nur seine Frau daheim hätte er es nicht sollen entgelten lassen. Sobald er das aber ja einmal fühlte, wollte er es auch stets wieder gut machen, und überhäufte sie mit Geschenken - ja, wo er einen Wunsch an ihren Augen ablesen mochte, erfüllte er ihn - so weit er eben mit Geld erfüllt werden konnte - nur seine Abende widmete er ihr nicht. - Er wollte auch eine Erholung haben, wie er meinte, und in seiner Heftigkeit gegen die Seinen mäßigte er sich eben so wenig. - „Ihr müßt mich nehmen, wie ich nun einmal bin," sagte er in einer halben Abwehr, in halber Entschuldigung; „Ihr wißt, wie's gemeint ist," und damit war die Sache für ihn abgemacht, aber nicht für die Frau.
Er war auch jetzt zu Zeiten in Gegenwart Fremder heftig - gegen sie und fuhr sie rauh an. Er meinte es wirklich nicht so bös, wie die Worte klangen, aber es trieb ihr doch manchmal die Thränen in die Augen, so sehr sie sich auch dagegen stemmte, ihm zu zeigen, wie weh er ihr gethan.
So verging der Winter. Es war eine neue Gesellschaft /5/ in X. gegründet worden und Brethammer Vorstand dabei. Das Local wurde mit einem Ball eröffnet, und er hätte seine Frau gern dort mit eingeführt, ja er kaufte ihr ein ganz prachtvolles Ballkleid und that wirklich alles, um sie zu überreden, ihm die Freude zu machen. Sie sagte ihm jetzt, daß sie unwohl sei, aber er wollte es ihr nicht glauben, und erst als sie ihm mittheilte, wie viel sie den letzten Herbst gelitten und wie große Mühe sie sich gegeben, es nicht zu zeigen, erschrak er, und jetzt fiel ihm auch ihr bleicheres Aussehen, fielen ihm die eingefallenen Wangen auf. Aber er nahm es trotzdem leicht. Sie war schon oft unwohl gewesen und hatte sich immer wieder erholt, auch diesmal würde es sicher vorübergehen, wenn sie sich nur schonte. Es war unter solchen Umständen jedenfalls das Vernünftigste, daß sie nicht auf den Ball ging.
Der Winter verging, Bertha wurde in der That nicht kränker, aber sie blieb leidend, und ihr Gatte gewöhnte sich zuletzt an diesen Zustand. Er hatte anfangs seine Heftigkeit gemäßigt und sich Gewalt angethan - und ach, wie dankbar war ihm Bertha dafür! - auf die Länge der Zeit aber vergaß er das wieder - es war ja nicht mehr nöthig. Seine guatro tour und Scatpartie versäumte er aber nie und amüsirte sich ganz vortrefflich dabei. Kam er dann Abends nach Hause, - ob er sich auch einmal um eine halbe oder ganze Stunde verspätet hatte - fand er den Tisch gedeckt, und war es so spät geworden, daß die Kinder zu Bett geschickt werden mußten, so setzte sich sein Weib mit ihm allein zum Essen nieder.
Im Frühjahr schienen Bertha's Leiden heftiger wiederzukehren, und der Arzt kam fast täglich, aber auch er sah keine Gefahr darin. Er wußte selber nicht, daß Bertha ihr Leiden leichter nahm, als sie hätte thun sollen; aber sie fürchtete, dem Gatten das Haus dadurch noch ungemüthlicher zu machen, und trug deshalb lieber alles allein.Eines Abends, im Mai, saß Doctor Brethammer wieder am Kartentisch und zwar in einem Garten, etwa drei Viertelstunden Wegs von X. entfernt, wohin die kleine Gesellschaft /6/ bei schönem Wetter allabendlich auswanderte, als ein Bote hereingestürzt kam und ihm einen kleinen Zettel überreichte. Es standen nur wenige Worte darauf: „Komm zu mir. - Bertha." Aber die Worte waren mit zitternder Hand geschrieben, und den Mann überkam, als er sie gelesen, eine ganz sonderbare Angst.
Was konnte da vorgefallen sein? war Bertha krank geworden? Daß sie fortwährend krank gewesen, wollte er sich gar nicht gestehen, aber der Bote wußte weiter nichts. Man hatte ihn auf der Straße angerufen und gut bezahlt, damit er so schnell wie möglich diesen Brief übergeben sollte. - Mitten im Spiel hörte der Doctor auf, ein Beisitzender mußte dasselbe übernehmen, und so rasch ihn seine Füße trugen, eilte er in die Stadt zurück. Und er hatte nicht zu sehr geeilt - unten im Hause traf er sein Mädchen, die eben aus der Apotheke kam und verweinte Augen hatte.
„Was um Gottes willen ist vorgefallen - meine Frau -?"
„Oh, gehen Sie hinauf, gehen Sie hinauf!" rief das Mädchen. „Sie hat so danach verlangt, Sie noch einmal zu sehen."
Der Mann wußte nicht, wie er die Treppe hinauf kam. Der Arzt stand neben dem Bett, streckte ihm die Hand entgegen, drückte sie leise und verließ das Zimmer, und neben dem Bett kniete der Unglückliche, die kalte Hand seines treuen Weibes mit Küssen und Thränen bedeckend.
„Mein Kuno," flüsterte die zitternde Stimme, „oh wie lieb das von Dir ist, daß Du noch einmal gekommen bist - mir ist nur so kurze Zeit geblieben - das alles brach so schnell herein."
„Bertha, Bertha, Du kannst - Du darfst mich nicht verlassen," schluchzte der Mann und schlang seinen Arm krampfhaft um sie.
„Du thust mir weh," bat sie leise, „fasse Dich, Kuno, es muß sein - ich muß fort von Dir und den Kindern oh, sei gut mit ihnen, Kuno - sei nicht so rauh und heftig mehr - sie sind ja lieb und brav, und Du - hast sie ja auch so lieb."
Der Mann konnte nicht sprechen. In der leisen, mit /7/ bebender Stimme gesprochenen Bitte lag ein so furchtbarer Vorwurf für ihn, daß er seinen Gefühlen, seiner Reue, seiner Zerknirschung nicht mehr Worte geben konnte. Nur seine Stirn preßte er neben die Sterbende auf das Bett, und ihre Hand lag auf seinem Haupt und drückte es leise an sich.
„Kuno," hauchte ihre Stimme nach einer langen Pause wieder.
„Bertha, meine Bertha!" rief der Mann, sein Antlitz zu ihr hebend, „fühlst Du Dich besser?"
„Leb' wohl!"
„Bertha!" stöhnte der Unglückliche, „Bertha!"
„Mach' mir den Abschied nicht schwer," bat die Frau, „die Kinder habe ich schon geküßt, ehe Du kamst - ich wollte noch mit Dir allein sein. Laß mich ausreden," flehte sie, „mir bleibt nicht mehr viel Zeit und das Sprechen wird mir schwer - leb' wohl, Kuno - habe noch Dank - tausend Dank für all' das Liebe und Gute, was Du mir gethan -- sei mir nicht böse, wenn ich vielleicht -"
„Bertha, um Gottes willen, Du brichst mir das Herz - "
„Es ist gut - es ist vorbei - es wird Licht um mich - leb wohl, Kuno - sei gut mit den Kindern - auf Wiedersehen!"
„Bertha!" - Es war vorbei Der Mann kniete neben der Leiche seiner Frau, und es war ihm, als ob das Weltall ausgestorben wäre und er allein und trostlos in einer Wüste stände.
Die nächsten drei Tage vergingen ihm wie im Traum, fremde Leute kamen und gingen ein und aus im Hause; er sah sie, wie man gleichgültige Menschen auf offener Straße vorbeipassiren sieht, und selbst, als sie die Leiche in den Sarg legten, blieb er still und theilnahmlos. Die Kinder kamen über Tag zu ihm, hingen an seinem Halse und weinten; er preßte sie an sich und küßte sie und blieb dann wieder allein bei der Geschiedenen.
Endlich kam die Stunde, wo der Sarg fortgeschafft werden mußte, und jetzt war es, als ob er sich dem widersetzen wolle. Aber es traten eine Masse Leute in's Zimmer; Freunde von ihm dazu, die herzlich mit ihm sprachen und ihm zuredeten, /8/ daß er sich den Unglücksfall nicht so schwer zu Herzen nehmen solle. Er hörte ihre Trostgründe gar nicht, aber er fühlte, daß, was hier geschah - eben geschehen mußte, und duldete alles.
Nach dem Begräbniß kehrte er mit seinen Kindern nach Hause zurück, schloß sich hier in sein Zimmer ein und weinte sich recht von Herzen aus. Danach wurde ihm etwas leichter und es ist ein altes und wahres Sprüchwort - die Zeit mildert jeden Schmerz, denn das Menschenherz wäre sonst nicht im Stande zu tragen, was nach und nach ihm aufgehoben bleibt. Die Zeit mildert jeden Schmerz, aber - die Zeit mildert und sühnt keine Schuld.
Den Verlust der Gattin hätte er ertragen - mit bitterem Weh wohl, es ist wahr, denn er hatte sie treu und innig geliebt, aber mit Jahr und Tag wäre die schwere Stunde des Verlustes, das Gefühl, nie mehr ihr treues Auge wieder schauen zu können, mehr in den Hintergrund getreten, und ihm nur die Erinnerung an ihre Liebe und Treue geblieben. Jetzt aber nagte ein anderes Gefühl an seinem Herzen, nicht allein das Gefühl der Schuld, nein auch die Reue über vergangene Zeit mit dem Bewußtsein, diese nie zurückbringen, das Versäumte nie, nie wieder nachholen oder ungeschehen machen zu können, und das bohrte sich ihm in's Herz, nicht mit der Zeit weichend, nein, mit den wachsenden Jahren fester und fester und unzerstörbarer.
Draußen die Welt merkte nichts davon; er war immer ernst und abgeschlossen für sich gewesen, und daß er sich jetzt vielleicht noch etwas zurückgezogener hielt, konnte nicht auffallen, aber daheim in seiner jetzt verödeten Klause, da stieg die Erinnerung an die Geschiedene mahnend vor ihm empor, und je weniger Vorwürfe sie ihm je im Leben gemacht hatte, desto mehr machte er sich jetzt selber.
Wieder und wieder malte er sich die Stunden aus, die er mit vollkommen gleichgültigen Menschen draußen bei den Karten oder hinter dem Wirthstische verbracht, während seine Bertha daheim mit einer wahren Engelsgeduld auf ihn wartete, und so lieb, so freundlich ihn empfing, wenn er endlich zurückkehrte. Wieder und wieder malte er sich die einzelnen Fälle /9/ aus, wo er rauh und heftig gegen sie gewesen, die nie ein rauhes und heftiges Wort zu irgend einer Erwiderung gehabt, und vor Scham und Reue hätte er in die Erde sinken mögen, wenn er sich jetzt überlegte, wie er damals immer - immer Unrecht gehabt, und das nur, wenn er es auch früher eingesehen, nicht früher hatte eingestehen mögen.
Aber das alles kam jetzt zu spät - zu spät für ihn wenigstens. Er hatte einen Schatz gehalten, und mißachtet, bis er von ihm genommen wurde - keine Reue brachte ihn je zurück, und daß er sich jetzt elend und unglücklich fühlte, war nur die Strafe für eine begangene Sünde.
Für ihn war es zu spät - aber noch nicht für Viele, die diese Zeilen lesen. Viele, Viele halten in gleicher Weise einen ähnlichen Schatz - vernachlässigen, mißhandeln ihn ebenso, und es war der Zweck dieser Zeilen, daß sie sich den Moment jetzt, da es noch für sie Zeit ist, ausmalen möchten, wo die Gattin plötzlich, unvorbereitet abgerufen wurde, und die Reue des Mannes dann zu spät kam, und nie, nie wieder gut gemacht werden konnte.
2. Die Vision
1. Die Sturmnacht.
In Alburg, einer nicht ganz unbedeutenden deutschen Stadt, lebte der Justizrath Bertling in glücklicher und zufriedener Ehe mit seiner jungen Frau.
Bertling war ein ruhiger, behäbiger Charakter, der die Welt gern an sich kommen ließ und nichts weniger liebte, als unnütze und unnöthige Aufregungen. Er hatte in der That besonders deshalb sein Junggesellenleben aufgegeben, um sein Haus gemüthlich zu machen und sich - bisher vermißte - Bequemlichkeiten zu verschaffen; aber er liebte nichtsdestoweniger seine Frau von ganzem Herzen und fühlte sich glücklich in ihrem Besitz.
Auguste paßte auch vortrefflich für ihn, und zwar nicht etwa durch eine Aehnlichkeit ihres Charakters, sondern eher durch einen Gegensatz, durch welchen sich die beiden Gatten vollständig ergänzten, denn man darf ja nicht glauben, daß zu einer glücklichen Ehe stets gleiche Neigungen und Ansichten, gleiche Tugenden und Fehler gehören. Auguste war denn auch, während ihr Mann ganz entschieden dem praktischen und realen Leben angehörte, weit mehr schwärmerischer Natur, ohne jedoch, im Geringsten überspannt zu sein. Unermüdlich thätig in ihrem Hausstand, beschäftigte sie sich aber auch gern mit Lectüre, und vorzüglich mit solcher, die einer ideellen Richtung angehörte. Sie phantasirte vortrefflich auf dem Piano, und liebte es sogar, selbst noch nach ihrer Verheirathung - was ihr Gatte ent/11/schieden mißbilligte - bei mondhellen Nächten im Garten zu sitzen.
Lebhaft und heiter dabei, mit einem warmen Gefühl für alles Schöne, wob sie bald mit diesen Tugenden und Vorzügen einen ganz eigenen Zauber um ihre Häuslichkeit, dem sich ihr Gatte nicht entziehen konnte und wollte, so daß er bald von anderen Frauen, ihren Männern gegenüber, als das Muster eines vortrefflichen Ehemannes aufgestellt wurde.
So hatten die jungen Leute - denn der Justizrath zählte kaum einunddreißig und seine Frau erst zwanzig Jahre - etwa zwei Jahre in glücklicher, durch nichts gestörte Ehe gelebt, als eine schwere Krankheit - ein damals in Alburg umgehendes Nervenfieber - die junge Frau erfaßte und lange Wochen auf das Lager warf.
Ihr Mann wich in dieser Zeit fast nicht von ihrer Seite und nur die wichtigsten Geschäfte konnten ihn abrufen - ja oft versäumte er selbst diese, und ganze Nächte hindurch wachte er neben ihrem Bett. Allerdings paßte ihm das nicht zu seinem sonst gewohnten, bequemen Leben, aber die Angst, sein Weib durch irgend eine Vernachlässigung zu verlieren, oder auch nur ihren Zustand gefährlicher zu machen, ließ ihn das alles nicht achten, und so ward ihm denn auch endlich die wohlverdiente Freude zu Theil, die schlimmste Krisis überstanden und die geliebte Frau nach und nach genesen zu sehen. Aber es dauerte lange - sehr lange, bis sie sich wieder vollständig von dem überstandenen Leiden erholen konnte.
Der Körper gewann dabei noch verhältnißmäßig am schnellsten die frühere Frische wieder, wenn auch die Wangen bleicher, die Augen glänzender schienen, als sie sonst gewesen. Sie hatte aber in ihrer Krankheit besonders viel phantasirt und dabei oft ganz laut und deutlich die tollsten, wunderlichsten Dinge gesprochen. Darum bedurfte es weit längerer Zeit, ehe der Geist wieder Herr über diese Träume wurde, die sich mit der Erinnerung früherer wirklich erlebter Scenen so vermischten daß sie oft anhaltend nachdenken mußte, um das Wahre von dem Falschen und Eingebildeten oder nur Geträumten zu sondern und auszuscheiden.
Auch das gab sich nach und nach oder stumpfte sich doch /12/ wenigstens ab. Die Erinnerungen an diese Träume wurden unbestimmter, wenn auch einzelne von ihnen noch manchmal wiederkehrten und sie oft, mitten in der Nacht, plötzlich und ängstlich auffahren machten, ja sogar wieder bestimmte Bilder und Eindrücke annahmen.
Bertling behagte das nicht recht, denn er wurde dadurch ein paar Mal sehr nutzloser Weise alarmirt. Einmal - und noch dazu in einer sehr kalten Nacht - behauptete seine Frau nämlich bei ihrem plötzlichen Erwachen, es wäre Jemand im Zimmer und unter das Sopha gekrochen - sie habe es deutlich gehört, ja sogar den Schatten durch das Zimmer gleiten sehen. Bertling protestirte gegen die Möglichkeit, aber es half ihm nichts; um seine Frau nur endlich zu beruhigen, mußte er aufstehen und die Sache untersuchen, was er denn gründlich mit Hülfe einer Elle that. Natürlich fand er nicht das geringste Verdächtige, vielweniger einen dort versteckten Menschen, und Beide lachten nachher über dies kleine Abenteuer, - aber der Justizrath trug doch einen Schnupfen davon, der ihn sogar auf ein paar Tage zwang das Bett zu hüten.
Das andere Mal wollte Auguste im Nebenzimmer ein verdächtiges Flüstern gehört haben, und wenn sich auch dieses nach sorgfältiger, nächtlicher Untersuchung, die der Justizrath im Schlafrock, in der Linken das Licht, in der Rechten den Feuerhaken, vornahm, als unbegründet herausstellte, so wurde der Mann doch durch diesen verschiedentlich erweckten Verdacht endlich selber so mißtrauisch gemacht, daß er sich für weitere derartige Fälle stillschweigend rüstete. Er holte nämlich ein paar alte, schon lange zur Rumpelkammer verurtheilte Sattelpistolen hervor, reinigte und lud sie und gab ihnen einen Platz in der obersten Schieblade seiner Kommode, um sie bei einer etwa wieder vorzunehmenden Patrouille wenigstens bei der Hand zu haben.
Wochen vergingen indeß, ohne daß sich eine derartige Scene wiederholt hätte, und Bertling beruhigte sich endlich vollständig mit dem Gedanken, daß jene Ideen nur die Nachwehen der überstandenen Krankheit gewesen seien, der jetzt kräftig gewordene Körper nun aber alle derartigen Phantasiebilder ausgestoßen und für die Zukunft unmöglich gemacht habe. /13/
Auguste war in der That wieder so frisch und lebenslustig als je geworden, wenn ihre Gesichtsfarbe auch etwas „interessanter" als früher geblieben sein mochte. Sie sah bleicher aus, als sie sonst gethan, aber keineswegs kränklich oder leidend, und besuchte auch wieder gern und oft Gesellschaften und Bälle, wobei es manchmal einige Schwierigkeiten hatte, den etwas phlegmatischen Gatten für solche Vergnügungen mit zu begeistern.
Auch gestern Abend war in der „Erholung" ein brillanter Ball gewesen, auf dem Auguste bis vier Uhr Morgens getanzt, während ihr Gatte, als treuer Gefährte, bis etwa um zwei Uhr Whist gespielt und noch ein paar Stunden in einer bequemen Sophaecke verträumt hatte. Heute sollte dafür recht früh zu Bett gegangen werden, und die beiden Eheleute saßen Abends allein zusammen in der Stube am Theetisch.
Es war im Februar, aber ein ganz entsetzlich naßkaltes und stürmisches Wetter. Noch vor wenigen Tagen hatte harter Frost die Erde gedeckt, heute peitschte der Regen die kaum aufgethauten Fenster, und die Windsbraut heulte zwischen den Giebeln und riß an Thüren und Fensterflügeln, wie zornig darüber, daß es einen Platz geben solle, in den man ihr, der Gewaltigen, den Eintritt verweigere.
Und wie das draußen durch die Straßen fegte! Der Justizrath war aufgestanden und an's Fenster getreten, denn die Unterhaltung wollte heute nicht recht fließen. Seine Frau war abgespannt, klagte über ein leichtes Kopfweh und Brennen in den Augen, und war schon ein Paar Mal wie krampfhaft zusammen gefahren - jedenfalls in Folge des gestrigen Balles.
Unten brannten die Gaslaternen, aber sie erleuchteten die Straße nicht, sondern warfen nur einen matten, flackernden Schein auf das schmutzige, von halbgeschmolzenem Eis bedeckte Pflaster, denn selbst die Glasscheiben schützten die Flammen nicht vor diesem Sturm, der sie rastlos hin und her wehte und manchmal auszulöschen drohte. Die Straße selbst war menschenleer, denn wer heute nicht nothgedrungen mußte, verließ wohl nicht das schützende Haus, um sich einem solchen Unwetter Preis zu geben. Nur dann und wann floh ein einzelner später Wanderer entweder mit dem Wind durch auf/14/spritzenden Schmutz und Schlamm dahin, oder kämpfte - den Oberkörper weit vornüber gebeugt - gegen den Sturm, und dem Wetter in die Zähne, seine beschwerliche Bahn.
In langen Zwischenpausen rollte auch wohl einmal ein festgeschlossener Wagen vorüber, aber das Geräusch desselben machte die gleich nachher wieder eintretende Oede nur noch fühlbarer, als daß es sie unterbrochen hätte.
Der Himmel war mit schweren jagenden Wolken bedeckt, und der hinter ihnen stehende Vollmond konnte nicht mehr thun, als daß er manchmal ihre riesigen, beweglichen Massen in einem matten Phosphorschimmer sichtbar werden ließ. Aber selbst dies geschah nur auf Momente, und jedesmal danach war es, als ob der Sturm nur Athem geholt und neue Kraft gewonnen hätte, um so viel rasender zum Kampf herbei zu eilen.
„Merkwürdig, wie das da draußen tobt und gießt," brach der Justizrath endlich das lange Schweigen, indem er den Rauch seiner Cigarre gegen die Fensterscheiben blies. „Das Februar mit Mondschein im Kalender, wo man eigentlich eine hellkalte, ruhige Winternacht zu fordern hätte, 's ist aber gerade, als ob die ganze Welt ihre Jahreszeiten umdrehte, werden sie wahrlich nicht mehr zur rechten Zeit.“
Er hatte sich dabei wieder dem Tische zugedreht und sah jetzt, wie seine Frau mit gespannter Aufmerksamkeit auf dem Sopha saß, als ob sie auf irgend etwas horche. Zu gleicher Zeit drang, durch die Wände und Decke aber gedämpft, der Ton einer Menschenstimme zu ihnen herüber, die jedenfalls ein geistliches Lied in lang gezogenen, schnarrenden Tönen sang. Der Justizrath lachte.
„Das ist der verrückte Schuhmacher über uns, der jedesmal bei einem Sturm, aber besonders bei einem Gewitter, den Herr Zebaoth anschreit und sich als größten Sünder des ganzen Weltalls denuncirt. Wenn diese Narrheit nicht auch ihre komische Seite hätte, könnte es Einem wirklich unheimlich dabei werden."
Der Justizrath hatte Recht. Die Stimme klang in der That unheimlich in diesem Aufruhr der Elemente, und wenn /15/ der Wind dazu durch den Schornstein heulte und in die Schlüssellöcher pfiff, gab es einen Dreiklang, der Einem hätte das Haar zu Berge treiben können. Die Frau schauderte auch in sich selbst zusammen, allein sie erwiderte kein Wort, und der Justizrath, dem ihr Zucken nicht entging, fuhr fort:
„Man kann nur gar nichts dagegen machen, nicht einmal polizeilich verbieten darf ich es ihm, denn geistliche Lieder zu singen ist eben nichts Strafbares, und daß der Mensch so eine gellende Stimme hat, lieber Gott, dafür kann er nichts; ich bezweifle sogar, daß er es selber weiß. Uebrigens - es ist ihm vielleicht in anderer Weise beizukommen, denn seine Frau soll sich auch mit Kartenschlagen und allem möglichen anderen abergläubischen Hocuspocus beschäftigen, und wenn ich darin einmal einen Halt dafür bekomme, dann wollen wir der Geschichte rasch ein Ende machen."
„Was war das?" flüsterte die Frau und fuhr wie erschreckt halb von ihrem Sitz empor.
„Was? - das Klappern?" sagte der Justizrath, „wahrscheinlich hat wieder Jemand die Hausthür unten aufgelassen, und was nicht festgenagelt ist, rasselt bei dem Sturm hin und her. Das wird eine vergnügte Nacht werden."
„Es war mir, als ob Jemand klopfe -"
„Nun jetzt kommt kein Besuch mehr," lachte der Mann, „und wenn -"
In dem Augenblick war es. als ob der Sturm seinen ganzen Angriff nur auf diesen Punkt concentrirt hätte. Mit einem wahren Wuthgeheul fuhr es den Schornstein herunter und riß draußen an den Fenstern. Zu gleicher Zeit flog die Stubenthür auf und der kalte Zug strömte voll in's Zimmer, daß die Lampe hoch und düster ausflackerte.
„Alle Wetter!" rief der Justizrath, erschreckt zur Thür springend und diese wieder schließend, „das wird denn doch beinah zu toll und das alte Nest so windschief, daß weder Fenster noch Thüren länger in ihren Fugen bleiben. Wenn der Wirth das nicht spätestens bis zum Frühjahr aus dem Grunde wieder herstellen läßt, kündige ich ihm wirklich das Logis. Man kann ja die Stuben auch fast gar nicht mehr erheizen." /16/
Die Frau war, als die Thür aufflog, allerdings erschreckt zusammengefahren, hatte sich aber nicht weiter gerührt und saß jetzt still und regungslos. Nur mit ihrem Blick strich sie langsam, als ob sie irgend Jemand mit den Augen folge, von der Thür fort, durch's Zimmer, bis zu dem Stuhl am Ofen, auf dem er stier und fest haften blieb.
Ihr Mann harte nicht gleich auf sie geachtet. Er zog die neben der Thür befindliche Klingel, um das Dienstmädchen herbei zu rufen, und befahl diesem dann, nach der Hausthür hinunter zu sehen, wie auch den Hausmann zu bitten, daß er dieselbe heut Abend verschlossen halte. Man konnte es ja wahrlich hier oben im Hause vor Zug nicht aushalten.
Danach trat er in die Stube zurück, und es fiel ihm jetzt auf, daß seine Frau noch keine Silbe über die Störung geäußert hatte. Wie er sich ihr aber zuwandte, konnte ihm auch unmöglich der stiere, staunende Blick entgehen, den Auguste noch Immer unverwandt auf den einen Punkt gerichtet hielt. Unwillkürlich sah er rasch dort hinüber, es ließ sich aber nicht das geringste Außergewöhnliche erkennen. Dort stand nur ein leerer Stuhl, und darüber hing ein alter Kupferstich, der eine Prügelscene ans irgend einer holländischen Dorfschenke darstellte.
„Nun?" sagte er endlich und jetzt selber erstaunt - „was hast Du nur?"
Statt aller Antwort und ohne den Blick von dem festgehaltenen Punkt zu nehmen, hob die junge Frau langsam den rechten Arm in die Höhe und deutete mit dem Zeigefinger ans die Stelle.
„Ja aber, mein Kind -" wiederholte der Mann bestürzt denn er konnte sich das wunderliche Betragen der Frau nicht erklären - „ich begreife noch immer nicht, was Du willst. Was ist denn dort, und weshalb deutest Du auf den Stuhl und siehst so bestürzt aus, als ob Dir ein Geist erschienen wäre?"
„Siehst Du ihn nicht?" sagte die Frau leise, ohne ihre Stellung auch nur um eines Haares Breite zu verändern.
„Wen denn?" rief Bertling halb ärgerlich und halb erschreckt, noch einmal den Kopf nach der bezeichneten Richtung zu drehend. /17/
„Den fremden Mann," erwiderte die Frau, die Worte aber viel mehr hauchend als sprechend, „der dort auf dem Stuhl am Ofen sitzt.",
„Den fremden Mann? - Aber, Kind, ich bitte Dich um Gottes willen!"
„Sprich nicht so laut. Wenn er die Augen zu mir hebt, ist es immer, als ob mir ein Messer durch die Seele ginge."
„Aber wie sollte denn der hierher gekommen sein," lachte Bertling gutmüthig - „sei doch vernünftig."
„Wie die Thür aufging," flüsterte die Frau, „trat er herein, ging still am Ofen vorüber und setzte sich dort nieder - aber siehst Du ihn denn nicht?"
„Mein liebes Herz," suchte sie der Justizrath zu beschwichtigen, „wenn dort irgend Jemand auf dem Stuhle säße, so müßte ich ihn allerdings auch sehen, nicht wahr? Aber ich sehe nichts als den leeren Stuhl. Komm, Schatz, das ist wieder einer von Deinen häßlichen Träumen - schüttle ihn ab.Nun? - ist er noch da?" setzte er lachend hinzu, als die Frau wie warnend die Hand gegen ihn hob.
„Bst! sei ruhig!" sagte sie tonlos - „jetzt regt er sich. Er sieht Dich an."
Bertling wurde es, dieser so bestimmt ausgesprochenen Ueberzeugung gegenüber, selber ein wenig unheimlich zu Muthe, wenn er auch recht gut wußte, daß das Ganze weiter nichts sein konnte als eins jener verworrenen Traumbilder, von denen er gehofft hatte, daß sie bei seiner Frau nie mehr wiederkehren würden. Möglicher Weise hatten aber hier verschiedene Faktoren zusammengewirkt, um den Geist der noch nicht vollständig Genesenen zu überreizen und krankhaft aufzuregen. Die Abspannung nach der gestern durchschwärmten, Nacht - das heutige Unwetter mit dem fatalen Klappern der Fenster und Thüren, der heulende Sturm, der da oben seine Gesangbuchsverse abwimmernde Schuhmacher, vielleicht ein flüchtiges Unwohlsein mit in den Kauf - wer konnte denn wissen, wie das alles auf sie eingewirkt hatte, und es blieb deshalb vor allen Dingen nöthig, sie von der Nichtexistenz ihres Traumbildes thatsächlich zu überzeugen - nachher beruhigte sich ihre Einbildungskraft schon von selber. /18/
„Aber, mein liebes Herz," sagte er endlich, „so mach' doch nur einmal diesem häßlichen Traum ein Ende -"
„Traum?" rief aber jetzt die Frau ungeduldig, wenn auch immer noch mit vorsichtig gedämpfter Stimme - „was Du nur mit Deinem Traum willst! Mau träumt doch nur, wenn man schläft, doch schlafe ich jetzt oder schläfst Du?"
„Aber ich selber sehe doch gar nichts!"
„Nichts? Siehst Du denn nicht den kleinen grauen Mann dort neben dem Ofen sitzen, wie er den rechten Arm auf der Stuhllehne liegen hat und hier herüber sieht? Was er nur will! -"
„Aber, meine liebe Auguste, so sei doch vernünftig," rief er Justizrath, durch den Zustand wirklich beängstigt. „So überzeuge Dich doch nur selber."
„Quäle mich nur nicht," bat die Frau - „von was soll ich mich denn überzeugen? Sehe ich ihn denn nicht da sitzen? — Daß sie ihn nur hereingelassen haben!"
„Nun gut," rief Bertling, der wohl einsah, daß bloße Vernunftgründe nicht das Geringste fruchten wurden, „dann will ich Dir beweisen, daß Du Dich irrst, und nachher wirst Du mir doch Recht geben. Sitzt er noch da?"
Die Frau nickte mit dem Kopf.
„Schön," sagte Bertling, indem er entschlossen um den Tisch herum ging und der bezeichneten Stelle zuschritt, „dann wollen wir doch einmal sehen, wie er sich jetzt benimmt."
Der Blick der Frau haftete aber nicht mehr auf dem Stuhl, sondern hob sich ein wenig und strich dann wieder langsam durch die Stube und zur Thür zurück. „Nun sieh," sagte ihr Mann jetzt, indem er sich - wenn auch mit einem unbehaglichen Gefühl auf denselben Stuhl niederließ, auf dem das Traumbild sitzen sollte - „Du wirst mir doch jetzt zugeben, daß der Stuhl vollkommen leer war, oder Dein grauer Herr müßte mich sonst auf dem Schooß haben. - Nun? - was siehst Du denn jetzt wieder nach der Thür?"
„Ja, er ist fort," lachte die Frau still vor sich hin. „Wie Du nur um den Tisch herumgingst, stand er auf, glitt wieder der Thür zu - und hinaus." /19/
„Aber die Thür ist ja noch fest zu. Er kann doch nicht -"
Bertling hatte kaum Zeit zuzuspringen und seine Frau aufzufangen, denn ihr gehobener Arm sank matt am Körper herab und die ganze Gestalt schien in sich selbst zusammen zu brechen. Sie konnte nicht ohnmächtig sein, aber es war, als ob nach der gehabten Aufregung eine völlige Erschlaffung ihrer Glieder eintrete. Er hatte sie auch kaum aufgehoben und. auf das Sopha gelegt, als sie in einen festen Schlaf fiel.
Der aber dauerte nicht lange. Schon nach kaum einer Viertelstunde wachte sie wieder auf und sah sich etwas verstört im Zimmer um.
„Hab' ich mich denn hier zum Schlafen niedergelegt?" sagte sie leise und sinnend - „es muß ja schon spät sein.“
Bertling hielt es für das Beste, von dem stattgefundenen Anfall heute Abend gar nichts zu erwähnen, da er nicht wissen konnte, wie es die Leidende aufnehmen wurde. Wenn sie morgen wieder frisch und munter war, wollte er es ihr erzählen, und sie lachte dann wahrscheinlich selbst darüber.
Es ist halb Zehn, mein Kind," sagte er, „und Du bist müde von der gestern durchschwärmten Nacht. Ich glaube es ist das Beste, wir gehen zur Ruhe.".
„Ja," sagte die Frau nach einer kleinen Pause, in der sie, wie überlegend, vor sich niedersah - „ich muß wirklich hier eingeschlafen sein, denn ich habe schon geträumt. - Was Einem doch dabei für wunderliche Dinge durch den Kopf ziehen! -Ich werde lieber schlafen gehen.“
2.
Die Kaffeegesellschaft.
Am nächsten Morgen schien Auguste die gestrige Erscheinung vollständig vergessen zu haben, sie erwähnte wenigstens kein /20/ Wort davon, und Bertling hatte sich in der Nacht ebenso überlegt, die ganze Sache weiter gar nicht zu berühren. Es würde sie nur beunruhigt haben, und konnte doch zu weiter nichts nützen. Er hätte freilich gern gewußt, ob ihr jede Erinnerung an die eingebildete Traumform verschwunden sei - und fast vermuthete er das Gegentheil, denn sie blieb an diesem Tag besonders nachdenkend, hörte manchmal mitten in ihrer Arbeit auf und sah eine Weile still vor sich nieder.
Aber er mochte sie auch nicht fragen, denn hatte sie es wirklich vergessen, so mußte sie dadurch nur mißtrauisch gemacht werden.
Auch der Arzt, mit dem er darüber sprach, rieth ihm, in keinerlei Weise auf jenen Zustand hinzudeuten. Solche Erscheinungen kämen - wie er meinte - im geistigen Leben der Frauen gar nicht so selten vor, stumpften sich aber, wenn man ihnen Ruhe ließe, gewöhnlich mit der Zeit von selber ab. Das einzige wirksame Mittel dagegen sei Zerstreuung - leichte, am besten humoristische Lektüre, geselliger Verkehr etc. - sie dürfte nicht zu viel allein gelassen werden, dann wichen diese Zustande auch von selber wieder.
Bertling irrte sich übrigens, wenn er glaubte, jene eingebildete Erscheinung wäre spurlos und vielleicht unbewußt an seiner Frau vorübergegangen. Unmittelbar nach ihrer halben Ohnmacht besann sie sich allerdings nicht gleich darauf und schlief in ihrer damaligen Abspannung auch bald ein. Aber selbst schon in der Nacht kam ihr die Erinnerung des scheinbar Erlebten, und am nächsten Morgen, als das schon fast verschwommene Bild wieder klarer und deutlicher vor ihre Seele trat, malte sie sich die Einzelheiten mehr und mehr im Stillen aus, bis sie auch die kleinsten, unbedeutendsten Umstände wieder scharf und bestimmt herausgefunden hatte. - Aber sie erwähnte gegen ihren Gatten nichts davon.
Einmal wollte sie ihn nicht ängstigen, weil er jenem Phantasiegebild vielleicht zu viel Wichtigkeit beigelegt hätte, und dann - war sie selber noch nicht einmal mit sich im Klaren, ob es wirklich ein Phantasiegebild gewesen sei oder nicht. Sie fürchtete auch den Spott ihres Mannes, wenn sie ihm nur eine Andeutung gemacht hätte, daß sie eine solche /21/ Erscheinung für möglich halte, und grübelte dabei im Stillen weiter über das Geschehene.
In dieser Zeit, in welcher sie sich auch immer noch etwas angegriffen fühlte, ging sie wenig aus, und da ihr Mann durch eine Masse dringender Geschäfte über Tag abgehalten wurde, ihr Gesellschaft zu leisten, las sie viel - jetzt aber am liebsten Bücher, die sich mit dem geistigen Leben des Menschen beschäftigten und oft Dinge besprachen, die ihr in ihrem überdies aufgeregten und reizbaren Zustand weit besser fern gehalten wären. So kam ihr auch das Buch der Seherin von Prevorst1 in die Hände, und gab ihrem schon außerdem zum Uebernatürlichcn neigenden Sinn nur noch mehr Nahrung. - Wenn es überhaupt auf Erden Menschen gab, die mit jener, von anderen Sterblichen nur geahnten Welt in unmittelbarer Verbindung standen, die mit ihren körperlichen Augen das sehen konnten, was um sie her bestand, während es der Masse verborgen und unsichtbar blieb, warum sollte sie dann nicht auch zu diesen gehören können? - warum sollte gerade das, was sie deutlich und klar geschaut hatte, nur allein bei ihr eine Täuschung der Sinne gewesen sein? Daß aber etwas Aehnliches nicht allein möglich, sondern schon wirklich an den verschiedensten Orten geschehen sei, davon lieferte ihr gerade die Seherin von Prevorst den sichersten Beweis, denn das Buch brachte beglaubigte Thatsachen, und immer fester wurzelte bei ihr die Ueberzeugung, daß auch sie zu jenen bevorzugten Wesen gehöre.
Keineswegs erweckte aber dies sich nach und nach bei ihr bildende Bewußtsein ihre Furcht vor dem, was ihr etwa noch begegnen könne. Im Gegentheil freute sie sich viel eher einer solchen Kraft, und beschloß sogar mit ruhigem kalten Blut alles zu prüfen, was ihr in solcher Art an übernatürlichen Gebilden auftauchen und sichtbar werden sollte.
Trotz dieser geistigen Stärke, die sie gewonnen zu haben glaubte, litt aber doch ihr Körper unter der fast gewaltsam hervorgerufenen Aufregung, und wenn auch Bertling den wahren Grund nicht ahnte, konnte ihm doch nicht entgehen, daß seine Frau in der letzten Zeit sichtbar bleicher und leidender geworden sei. Er schrieb das aber dem vielen Stuben/22/sitzen zu, und bat sie, mehr an die frische Luft zu gehen und sich Bewegung zu machen. Ja er drang sogar in sie, - was er sonst nie gethan - ihre verschiedenen Freundinnen einmal wieder aufzusuchen und dann und wann auch bei sich zu sehen, da er mit Recht von einer solchen Zerstreuung wohlthätige Wirkung für sie hoffte.
Auguste, wenn sie auch nicht das Bedürfniß darnach fühlte, beschloß doch seinen Wunsch zu erfüllen. Die langen Stunden, die sie daheim allein saß, wurden ihr selber zuletzt drückend, und außerdem hatte sie ja manche Bekannte, mit der sie recht gern verkehrte und wo sie wußte, daß sie gern gesehen war.
Am besten von allen hatte sie stets mit einer Jugendfreundin, der jetzigen Hofräthin Janisch, harmonirt; Pauline Janisch war eine prächtige junge Frau, aufgeweckt dabei und lebenslustig, und da sie in müßigen Stunden auch gern ein wenig schwärmte und ganz vorzüglich für alles Uebersinnliche leicht empfänglich war, - ohne sich aber davon beherrschen zu lassen - fühlte sie sich zu dieser besonders hingezogen.
Pauline wohnte in der nämlichen Straße mit ihr; als sie dieselbe aber heute aussuchte, bewegte sie sich in dem zwar kleinen, doch gewählten Kreis einer Kaffeegesellschaft, wo allerdings nichts Uebersinnliches gesprochen wurde. Nur über die allergebräuchlichsten Themata solcher Zusammenkünfte fand eine Verhandlung statt, als da sind: Theater und was dazu gehört - nämlich das Privatleben der Bühnenmitglieder -, Dienstboten-Noth, Sittengeschichte der Stadt mit Vorlage einzelner, besonders hervorzuhebender Beispiele, und Klagen über die Vergnügungen und Beschäftigungen der Männer außer dem Hause.
Erst das eintreffende Tageblatt gab der Unterhaltung - nachdem man zwei Verlobungsanzeigen und ein Heirathsgesuch gründlich betrachtet und erschöpft hatte - eine andere Wendung, und zwar durch einen wunderlichen Vorfall in der Stadt selber, der in dieser Nummer eine Erwähnung fand.
Ein in der äußersten Vorstadt gelegenes Haus nämlich, das früher einmal zu einer Knopffabrik benutzt worden, jetzt aber schon seit mehreren Jahren durch das Scheitern des Unternehmens leer und verödet stand, war vor Zeiten in den /23/ Ruf gekommen, daß es dort umgehe, und man hatte sich Monde lang die merkwürdigsten Geschichten davon erzählt. Anderes kam aber dazwischen, das ganze Gebäude wurde außerdem nicht mehr benutzt, und da Niemand darin wohnte, schlief auch das Gerücht endlich ein, bis der jetzige Eigenthümer vor ganz kurzer Zeit die ziemlich vom Wetter mitgenommenen Baulichkeiten an einen Fremden verkaufte, der dort eine Kammgarnspinnerei anlegen wollte.
Jetzt erinnerte man sich allerdings wieder lebhaft der früheren Gerüchte, die aber in den ersten Wochen auch nicht die geringste Bestätigung fanden. Der Fabrikant war mit zwölf oder sechszehn Arbeitern dort eingezogen, und die Leute, die größtentheils noch nicht einmal von den Gerüchten gehört haben konnten, hatten die Nächte, die sie dort zugebracht, vortrefflich und ungestört geschlafen. - Es dachte schon Niemand mehr an die früheren Spukgeschichten.
Da erzählte man sich in der Stadt, sämmtliche Arbeiter in der Fabrik hätten ihrem Brodherrn den Dienst gekündigt. Es wurde dem anfangs widersprochen, aber das Gerücht fand immer festeren Boden, bis denn das Tageblatt heute die Nachricht ganz sicher bestätigte. Es geschah das durch die Aufforderung des Fabrikherrn, um neue Arbeiter herbei zu rufen, da sich die bisherigen, wie hier gedruckt stand, „durch abergläubischen Unsinn hätten bewegen lassen, seinen Dienst zu quittiren".
Es blieb jetzt keinem Zweifel mehr unterworfen, daß die bisherigen Gerüchte nicht gelogen haben konnten, sondern etwas Wahres an der Sache sein müsse, und die Aufregung der kleinen Gesellschaft wurde noch erhöht, als sich plötzlich herausstellte, daß sie selbst in ihrer Mitte ein Individuum entdeckten, das ihnen von dem, jetzt jedes andere Interesse verschlingenden Platz die genauesten und direktesten Nachrichten geben konnte.
Es war das die Frau Präsident Cossel, eine schon ältliche Dame mit etwas rother Nase, aber einem sehr entschieden energischen Zug um den Mund. Die Dame hielt sich in der That nie bei Vermuthungen auf, sondern sprach stets was sie wußte oder nicht wußte auf das Allerbestimmteste aus. Widerspruch duldete sie nie, und wenn man behauptet, /24/ daß die Haare den Charakter des Menschen darthun, so mochte i>as recht gut auch bei der Frau Präsidentin ihre Bestätigung finden, denn eben so starr und fest gerollt wie die vier falschen Locken, die sie vorgebunden trug, war ihr Gemüth.
„Es ist richtig - ich weiß es, es spukt drüben," sagte sie, indem sie ihre Tasse zum vierten Mal zum Füllen reichte, und ihre schönen Zuhörerinnen zweifelten viel weniger an der jetzt als unumstößlich festgestellten Thatsache, als daß sie sich wunderten, wie die Frau Präsidentin diesen doch sicher höchst interessanten Fall so lange still bei sich getragen und wirklich erst ans äußere Veranlassung von sich gegeben habe.
Die Frau Präsidentin wohnte aber dem besagten Fabrikgebäude schräg gegenüber, und konnte also, als allernächste Nachbarin desselben - wenn irgend Jemand, Näheres darüber wissen. Die Neugier der Damen war - hierbei sehr verzeihlich - auf das Höchste gespannt.
„Es ist richtig! Ich weiß es! Es spukt drüben!" - Gegen die Thatsache war nichts mehr einzuwenden, und es blieb jetzt nur noch übrig, die Einzelheiten derselben zu erfahren. Die Frau Präsidentin wußte alles.
Die ersten Nächte waren die neu eingezogenen Leute vollkommen unbelästigt geblieben, nur zu bald aber brach plötzlich - und natürlich genau um Mitternacht - ein donnerndes Getöse im ganzen Hause los, das den Insassen das Haar auf dem Kopfe sträubte. Ketten klirrten über die Treppen, die Balken krachten, als ob furchtbare Gewichte darauf geworfen würden, die Thüren schlugen auf und zu, die Fenster klapperten - und das bei sternenheller Nacht und todter Windstille und ein unheimlich flackernder Schein zuckte aus einer Stube in die andere durch das ganze Haus. Das Nämliche wiederholte sich in den folgenden Nächten, nur mit der Zugabe, daß den Schlafenden die Decken weggerissen wurden. Allerdings glaubten die Leute anfangs an einen Schabernack, den ihnen muthwillige Gesellen spielten, und um kein Aufsehen zu erregen, wurde die Polizei heimlich von dem Unfug in Kenntniß gesetzt und traf in einer der Nächte kurz vor zwölf Uhr dort ein, um die Urheber auf frischer That zu ertappen. Aber ihr Aufpassen half ihnen nichts, denn /25/ erwischen konnten sie Niemand, während gerade ihnen am tollsten mitgespielt wurde. Es schlug ihnen die Hüte vom Kopf und die Stöcke aus der Hand, und die Leute verließen - wie die Frau Präsidentin behauptete - in Entsetzen das Haus.
Von der Nacht an waren die übrigen Arbeiter aber auch nicht mehr zu halten, und obgleich der Fabrikherr - aus leicht zu errathenden Gründen - ein tiefes Stillschweigen über alles Vorgefallene beobachtete, und die Leute selber sich ebenfalls schienen das Wort gegeben zu haben, nichts über die Sache verlauten zu lassen, war doch das allein der wahre Thatbestand.
„Und woher es die Frau Präsidentin wußte?“ - wie die etwas muthwillige Frau Hofräthin Janisch frug. Die Dame blitzte sie zwischen den Locken hervor mit einem wahren Dolchblick an.
„Woher ich das weiß, Frau Hofräthin?" wiederholte sie, und absichtlich mit etwas gehobener Stimme - „ich denke, ich habe meine Quellen - selbst wenn mein Mann nicht Präsident wäre, Sie wissen doch wohl - oder sollten es wenigstens wissen, daß es zwischen Ehegatten kein Amtsgeheimniß giebt. - Aber noch mehr," setzte sie plötzlich mit geheimnißvollem Ton hinzu, „Sie wissen doch, daß sich der junge Belldan gestern Morgen um's Leben gebracht hat?"
„Ei gewiß," sagte die Frau Kreisräthin Barthels, „das ist ja stadtbekannt. Er soll ein Paar falsche Wechsel ausgestellt haben, und wie ihn sein Vater aus dem Hause stoßen wollte, ging er in das Holz und schoß sich eine Kugel durch den Kopf."
„Bah," sagte die Frau Präsidentin mit einer wegwerfenden Bewegung und ganz entschiedener Betonung der nächsten Worte, „der junge Mensch hat nie falsche Wechsel gemacht, aber aus Uebermuth die letzte Nacht in dem Spukhaus geschlafen und danach - konnte er nicht länger leben."
Was er dort gesehen hatte, vermochte die Frau freilich selber nicht zu sagen, aber schon die Andeutung war interessant genug, um eine weitere Besprechung derselben außer Frage zu stellen, und das Gespräch, einmal in die Bahn gelenkt, blieb nun natürlich in dem nämlichen Gleis und ging von dem /26/ Spukhaus auf Gespenstergeschichten und Erscheinungen im Allgemeinen über.
Der Abend rückte dabei heran, aber die Gesellschaft protestirte, von der kleinen lebhaften Hofräthin dabei warm unterstützt, gegen die Forderung der Präsidentin, Licht herbei zu schaffen. Es ging nichts über eine solche Unterhaltung in der Dämmerung, und als jetzt die Gaslaterne draußen auf der Straße angezündet wurde und ein ordentlich unheimliches Streiflicht in das düstere Zimmer warf, rückten die Damen nur desto näher zusammen, und die Frau Kreisräthin behauptete, es gäbe doch gar kein wonnigeres Gefühl in der Welt, als „wenn es Einen so ein bischen gruselte".
Nur Auguste, Bertling's Frau, hatte bis jetzt keinen Antheil an dem Gespräch genommen, als vielleicht hier oder da einmal eine Frage einzuwerfen, aber deshalb mit nicht weniger Aufmerksamkeit den verschiedenen Geschichten gelauscht, die bald von dieser, bald von jener Dame zum Besten gegeben wurden und natürlich alle mit jener übersinnlichen Welt in Verbindung standen.
In Alburg wurde auch noch das Tischklopfen und die Geisterschrift mit Hülfe einer besondern, mit Bleistift verbundenen Vorrichtung leidenschaftlich getrieben, und viele Damen beschäftigen sich heimlich damit - öffentlich durften sie es ja nicht, weil man das vollkommen Nutzlose dieser Experimente lange eingesehen hatte und die auslachte, die es trotzdem noch ausübten. Eine Masse von Beispielen wurden jetzt von entzifferten Briefen, von Zahlen, Nachrichten Entfernter, Schutzgeistern und all' derartigen Ergebnissen der Zauberkunst erwähnt, dann sprang das Gespräch auf Ahnungen, Doppelgänger, Erscheinungen über, und die Frau Präsidentin erklärte mit ihrer gewöhnlichen Bestimmtheit - was die Thatsache außer allen Zweifel stellte, - daß ihr erster Mann - Gott habe ihn selig - ihr zweimal schon erschienen sei: das erste Mal. als sie sich wieder verlobt habe - das zweite Mal bei einer andern Gelegenheit - sie sagte nicht welcher - und beide Male in seinem grauen Schlafrock mit rothem Futter und hellbauen Quasten, wie „der Selige“ immer daheim gekleidet gewesen. /27/
Auguste lehnte in ihrem Fauteuil, anscheinend theilnahmlos, aber mit ihrem Geist in reger Thätigkeit, und vor ihrem innern Auge stieg die Gestalt wieder empor die sie an jenem Abend gesehen. - Aber sie erwähnte kein Wort davon, es war das ihr eigenes Geheimniß, und es kam ihr der Gedanke, als ob sie jenes Wesen erzürnen müsse, wenn sie sein Dasein einem andern Menschen verrathe. So ganz mit sich selber beschäftigte sie sich dabei, daß sie ordentlich erschrak, als die kleine Gesellschaft plötzlich aufbrach, um m ihre eigenen Wohnungen zurückzukehren. Es war sieben Uhr und damit Zeit geworden, daheim den Herren Ehegatten das Abendbrod zu bereiten. Der Kaffee hatte überhaupt, durch solch Gespräch gewürzt, weit länger gedauert, als das sonst je der Fall gewesen.
Die lebhafte Scene des Ankleidens und Abschiednehmens verdrängte jetzt auch bald all' die düsteren Gedanken und Bilder, die den ganzen Abend über dem kleinen Kreis geschwebt. Es war Licht gebracht, und die Meisten hatten schon lange den ganzen heraufbeschworenen Spuk vergessen - Auguste nicht.
Sie nahm Abschied von der Frenndin und ging die wenigen Schritte nach ihrer eigenen Wohnung, kaum etwas mehr als über die Straße hinüber, - allein, immer war ihr Geist noch mit jenem Traumbild beschäftigt, das ihr durch die Unterhaltung da drüben wieder in seiner ganzen Schärfe vor der Seele
Still und schweigend stieg sie die Stufen hinan - die Vorsaalthür war offen - auf dem Vorsaal selbst brannte kein Licht, aber die Gasflamme der Treppe warf ihren Schein durch das über der Thür angebrachte Fenster. Sie wußte bestimmt, ihr Mann war jetzt zu Hause und in seiner Stube, wo er gewöhnlich bis zum Abendbrod allein arbeitete. Sie ging durch ihr eigenes Zimmer nach seiner Thür, öffnete dieselbe, stand einen Moment in sprachlosem Entsetzen auf der Schwelle, und brach dann mit einem halblauten Schrei, und ehe ihr Gatte zuspringen und sie halten konnte, bewußtlos in sich zusammen. /28/
3. Der unheimliche Besuch.
Der Justizrath war an dem Abend beschäftigt gewesen, eingelaufene Aktenstücke durchzusehen und zu erledigen. Die Zeit verging ihm dabei so rasch, daß er die Abwesenheit seiner Frau - die er überdies bei Freund Janisch gut aufgehoben wußte - gar nicht bemerkte.
Im Verlauf seiner Arbeit war er auch genöthigt gewesen, ein paar Briefe zu schreiben, die noch vor sieben Uhr auf die Post mußten. Er hatte das Mädchen damit fortgeschickt und saß wieder über seinen Papieren, als es draußen klingelte und er selber hingehen mußte, um zu öffnen.
Draußen stand ein Fremder - anständig angezogen, ein kleiner schmächtiger Mann in dunkler Kleidung, der mit dem Hute in der Hand sehr bescheiden frug, ob er die Ehre habe, den Herrn Justizrath Bertling zu sprechen.
„Mein Name ist Bertling, was steht zu Ihren Diensten?"
„Würden Sie mir gestatten, ein paar Worte allein an Sie zu richten?" frug der kleine Mann, wie schüchtern, und seine weiten, glänzenden Augen hasteten dabei fragend auf dem Justizrath.
Diesem war die Störung eben nicht besonders gelegen, aber der Fremde sah so bescheiden und anspruchslos aus, und seine Frage klang so dringend, daß er ihm die Bitte auch nicht abschlagen mochte.
„Dann seien Sie so gut und kommen Sie mit in mein Zimmer," sagte der Justizrath und ging seinem etwas späten Besuch voran, ohne jedoch die Vorsaalthür wieder zu schließen.
Im Studierzimmer Bertling's brannte die Lampe etwas düster, aber doch hell genug, um die Züge des Fremden ziemlich deutlich erkennen zu können. Er hatte eine hohe Stirn, von der er das schwarze, schon dünn gewordene Haar zurückgestrichen trug, und ein Paar große sprechende Augen; aber seine Züge /29/ sahen bleich und leidend aus, die Backenknochen traten auffallend hervor, und in dem ganzen Wesen des Mannes lag etwas Scheues und Gedrücktes. Der Justizrath nöthigte ihn durch eine Bewegung mit der Hand auf das Sopha, aber der Fremde schien diese Ehre abzulehnen, denn er ließ sich auf dem nächsten Stuhl am Ofen nieder, und zwar seitwärts, um dem Justizrath sein Gesicht zuzukehren, und dabei legte er den rechten Arm über die Lehne des nämlichen Stuhles.
Bertling entging übrigens nicht, daß sich sein Besuch durch irgend etwas gedrückt fühlte, und theils aus angeborener Gutmüthigkeit, theils mit dem Wunsche, die unwillkommene Störung soviel als möglich abzukürzen, sagte er freundlich:
„Und mit was kann ich Ihnen dienen?"
Der Fremde hatte noch keine Zeit zum Antworten gehabt, als nebenan eine Thür ging, und da Bertling, her recht gut wußte, daß das Mädchen kaum von der Post zurück sein konnte, eben aufstehen wollte, um nachzusehen, wer da wäre, öffnete sich die Seitenthür - seine Frau stand auf der Schwelle, hob langsam den rechten Arm, und brach dann, ohne weiter ein Wort, eben nur einen halblauten Schrei ausstoßend, besinnungslos zusammen. - In tödtlichem Schreck sprang ihr Gatte zu, hob ihren Kopf auf sein Knie, strich ihr in seiner Herzensangst die Stirn, rieb ihr die Schläfe und rief sie mit allen Liebesnamen, um sie zum Leben zurück zu bringen. Als das aber alles vergeblich blieb, hob er sie auf und trug sie auf ihr eigenes Sopha im nächsten Zimmer, und sprang dann zurück nach der Lampe. Er wollte dabei den Fremden bitten, ihm sein Anliegen ein andermal vorzutragen, aber der Stuhl war leer - der Fremde fort - er hatte ihn gar nicht weggehen sehen, aber auch jetzt wahrlich keine Zeit, sich weiter um ihn zu bekümmern. Er trug die Lampe hinüber und rieb Stirn und Schläfe seiner Frau mit Eau de Cologne.
Glücklicher Weise kam auch jetzt das Mädchen, das recht frisches Wasser bringen mußte, und nach wenigen Minuten schlug Auguste die Augen wieder auf. Anfangs freilich schaute sie noch scheu und wie furchtsam umher, als sie sich aber in /30/ihrem eigenen Zimmer fand, beruhigte sie sich bald und lehnte jetzt nur etwas bleich und erschöpft im Sopha.
„Aber ich bitte Dich um Gottes willen, liebes Kind, was hattest Du denn nur auf einmal?" frug jetzt Bertling, durch diese plötzliche Ohnmacht nicht wenig beunruhigt - „warst Du denn schon vorher unwohl?"
„Nein," sagte die Frau leise, „mir fehlte gar nichts, aber - als ich in Dein Zimmer kam -"
„Ich habe heute Nachmittag sehr viel geraucht," ergänzte Bertling, „und der rasche Wechsel aus der frischen Luft in den Tabaksqualm hat vielleicht den Unfall herbeigerufen."
„Nein," wiederholte die Frau, mit dem Kopfe schüttelnd, „das - das war es nicht - ich war vollkommen gesund - an den Tabaksgeruch bin ich ja auch gewöhnt, aber - als ich in Dein Zimmer trat, sah ich -"
„Aber was denn, mein süßes, liebes Herz?" bat der Mann, „so sprich doch nur, Du ängstigst mich ja noch viel mehr durch Dein Schweigen. - Was sahst Du denn?"
„Denselben grauen Mann," hauchte die Frau mit kaum hörbarer Stimme - „den ich bei dem Sturm in Deinem Zimmer sah -"
„Aber liebes, liebes Kind," bat der Mann erschreckt und zugleich beunruhigt, daß seine Frau jenes Traumbild, wie er im Stillen gehofft, nicht etwa vergessen habe, sondern noch voll und scharf im Gedächtniß trage - „sieh nur, was für einen tollen Streich Dir Deine Einbildungskraft gespielt hat. Das war ja doch kein Gespenst, was Du gesehen, sondern ein Mensch von Fleisch und Blut, der kurz vor Dir zu mir kam und mich zu sprechen wünschte."
„So hast Du ihn diesmal auch gesehen?" rief die Frau rasch und erschreckt.
„Gewiß," lächelte Bertling, „und er ist auch gar nicht wie ein Geist eingetreten, sondern hat draußen geklingelt, und ich habe ihm selber die Vorsaalthür aufgemacht."
„Und ist er noch bei Dir?" rief die Frau, sich rasch im Sopha aufrichtend.
„Nein," lautete die Antwort - „wie Du ohnmächtig /31/ wurdest, muß er fortgegangen sein, denn als ich nach der Lampe zurücksprang, war er verschwunden.“
„Verschwunden?"
„Nun hoffentlich nicht in die Luft," lachte Bertling, aber doch etwas verlegen, denn es fiel ihm jetzt auf einmal ein, daß der Fremde in seinem ganzen Wesen wirklich etwas Räthselhaftes gehabt habe, und dabei merkwürdig rasch aus dem Zimmer gewesen sei. Wie war er nur hinausgekommen? denn er erinnerte sich nicht, gesehen oder gehört zu haben, daß die Thür geöffnet wurde, was ihm doch kaum hätte entgehen können „er - er wird fortgegangen sein, als er sah, daß ich mich nicht weiter mit ihm abgeben konnte."
Seine Frau erwiderte nichts darauf. Sie schaute eine ganze Weile sinnend vor sich nieder, endlich sagte sie leise:
„Er saß auf dem nämlichen Stuhl, auf dem ich ihn damals gesehen habe - genau so wie in jener Nacht, mit dem rechten Arm auf der Lehne - er trug den nämlichen grauen Rock und sah eben so bleich aus und hatte dieselben großen geisterhaften Augen."
„Aber liebe, liebe Auguste," bat der Mann, jetzt wirklich beunruhigt, „so gieb Dich doch nur nicht solch' thörichten, kindischen Gedanken hin, und mische nicht eine wirklich menschliche, wahrscheinlich sehr unbedeutende Persönlichkeit mit Deinen Traumbildern zusammen. - „Uebrigens," setzte er rasch hinzu, „.muß ihm ja auch die Rieke auf der Treppe begegnet sein, denn sie kam unmittelbar nach Dir - Rieke!" rief er dann zur Thür hinaus - „Rieke!"
„Ja wohl -"
„Kommen Sie einmal einen Augenblick herein!"
Die Gerufene steckte den Kopf zur Thür herein.
„Soll ich 'was?"
„Wie Sie vorhin zurückkamen, ist Ihnen da Niemand im Haus begegnet?"
„Doch, Herr Justizrath -"
„Nun siehst Du, liebes Kind - und wie sah er aus?"
„Er?" sagte die Köchin etwas erstaunt - „es war die Heßbergern, dem Schuhmacher seine Frau von oben, die noch einmal unten in den Laden ging, um für ihren Mann Brannt/32/wein zu holen. Der kriegt Abends immer Durst, und sie trinkt dann auch mit."
„Unsinn," brummte der Justizrath - „was geht mich die Frau an - ich will wissen, ob Sie im Haus keinem Mann begegnet sind?" - „Einem Mann?" - „Einem anständig gekleideten Herrn in einem grauen oder dunkeln Rock, der hier oben bei mir war?" - „Ich habe Niemand gesehen," sagte das Mädchen, erstaunt mit dem Kopf schüttelnd, „und so lange ich hier oben bin, ist auch Niemand fortgegangen, denn ich habe die Thür gleich hinter mir zugeriegelt und die Kette vorgehangen."
Die Frau nickte leise vor sich hin, Bertling aber, ärgerlich darüber, daß er eine verfehlte Zeugenaussage veranlaßt, rief:
„Nun, dann ist er vorher gegangen; die Rieke kann ihm auch eigentlich gar nicht begegnet sein, denn er muß doch eine ganze Weile früher die Stube verlassen haben. So viel bleibt sicher, in den Boden hinein ist er nicht verschwunden - gehen Sie nur wieder an Ihre Arbeit Rieke - es ist gut."
Die Rieke zog sich an das Heiligthum ihres Herdes zurück, griff dort die Wassereimer auf und ging nach dem Brunnen hinunter, um frisches Wasser zu holen. Unten im Haus begegnete ihr des Schusters Frau, und das Mädchen, mit dem eben bestandenen Examen noch im Kopf, sagte zu dieser:
„Haben Sie denn vorhin einen Mann gesehen, Heßbergern, der von uns herunterkam, wie Sie aus dem Hause gingen?“
„Ich? - nein," sagte die Frau - „was für einen Mann?“
„Ja ich weiß es auch nicht, er soll einen grauen Rock angehabt haben."
„Und was ist mit dem?"