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Eine international tätige Nazigruppe hat sich zum Ziel gesetzt, in Deutschland eine neue Partei zu gründen und das Gedankengut des Nationalsozialismus wieder in die Gesellschaft zu bringen. Dazu stellen sie ein riesiges Vermögen zur Verfügung und versuchen mittels medienwirksamen Tötungsaktionen die politische Stimmung anzuheizen.
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Seitenzahl: 207
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1 Nigel Warner
2 Austauschstudenten
3 Nach dem Tod des Grossvaters
4 Druckauftrag
5 Belehnte Versicherungspolicen
6 Susan
7 Ortsleiter Breitner
8 Wer tötete Dr. Goldstein
9 Das Komplott
10 Die Eröffnung
11 Gerd und Sybille
12 Ein jüdischer Witz
13 Sabotage
14 Das verhinderte Attentat
15 Der Tod der Studenten
16 Kollateralschaden
17 Ein neuer Plan
18 Der erste Tote
19 Susan und Peter
20 Spaghetti Tonna
21 Der Scharfschütze
22 Breitner und Keller
23 In Vilnius – Litauen
24 Aufenthalt von Ben Hofer
25 Mossad erledigt Ben Hofer
26 Schröder als Ziel
27 Der Schütze lebt
28 Schutz des Kanzlers
29 Rügen, Magdeburg und Erfurt
30 Keller ist frei
31 Sozialistische Bewegung Deutschland
20. März 2003 / 14.00 Uhr
In einem Bürohaus in der Innenstadt von Chicago
Peter Norman lehnte, die Beine übereinander geschlagen, ja fast liegend in der Ecke eines bequemen Ledersessels und überblickte so das ganze Zimmer. In diesem Raum, einem repräsentativen Vorzimmer, schien die Zeit stillzustehen. Das leise Klappern der Computertastatur unterbrach in regelmässigen Abständen die Stille. Dazwischen gesellte sich ein quietschendes Geräusch, welches entstand, wenn sich Peter Norman in seinem Sessel rekelte. Ein einziges grosses Firmenlogo, kein sehr originelles, eben nur einfach gross, schmückte die übermächtig erscheinende Rückwand hinter dem Empfangstresen. Mobiliar und Empfangsdame waren eher von stattlicher, gediegen wirkender Erscheinung.
Norman griff aus Langeweile in seine Jackentasche und grübelte mit den Fingerkuppen eine Zigarette aus einer neuen Box. Wieder gesellte sich ein quietschendes Ledergeräusch zum Rhythmus der Tastatur. Er klemmte sich die Zigarette in den Mundwinkel, verstaute die Schachtel, klappte den Deckel eines dieser alten Benzinfeuerzeuge zurück und entzündete mit einer eleganten Daumendrehung eine Flamme. Bevor er die kleine, lodernde Flamme an seine Zigarette führen konnte, wurde er zurechtgewiesen.
„Rauchen verboten“, ermahnte ihn die ansonsten unauffällige und zum Mobiliar passende Vorzimmerdame. Sie blickte kurz von ihrer Arbeit auf, um sich danach wieder der rhythmischen Melodie des Tastaturenspiels zu widmen.
Ohne einen Kommentar klappte Norman sein Feuerzeug wieder zu, liess aber die Zigarette im Mundwinkel stecken. Zeitschriften und einige für die Öffentlichkeit bestimmte Geschäftsberichte lagen ausgerichtet auf einem Klubtisch. Sie interessierten ihn nicht.
„Was bedeutet eigentlich das S auf ihrem Namensschild, wenn ich fragen darf“, unterbrach Peter Norman seine Langeweile. Das Klingeln des Telefons liess die Frage im Raum verschwinden.
"Sie können jetzt eintreten, Herr Warner empfängt sie in diesem Büro". Die Vorzimmerdame zeigte zwar mit der Hand auf eine der drei Türen, welche vom Vorzimmer ausgehen, stand aber gleichzeitig auf und bewegte sich zu der betreffenden Türe und öffnete diese weit. Sie stellte sich seitlich unter die Türöffnung und wartete, bis sich Peter Norman an ihr vorbei zwängte. Er spürte das Schliessen der Türe hinter sich und blickte sich langsam um. Ein Raum voller Macht. Riesig in seinen Ausmassen, sehr hell, dank der raumhohen Verglasungen. Erdrückend schwere Möbel, ein Sitzungstisch aus edlem Holz mit massiven ledernen Drehstühlen. Norman zählte 29. Auch in diesem Raum keine Bilder an den Wänden nur wieder das übergrosse Firmensignet. Es gefiel im nicht. Nirgends Blumen, dafür elegante Zigarrenaschenbecher. Beim Zählen derselben – es befanden sich fünf Stück auf dem großen Tisch – glaubte er den kalten, bissigen Zigarrenrauch zu schmecken. Wenn es etwas gab, welches er ganz und gar nicht mochte, dann war es Zigarrenrauch. Vor allem kalter Rauch. Peter Norman begab sich zur Fensterfront und erfreute sich ob dem wunderbaren Panorama hoch über der City. Weiter im Hintergrund glaubte er, den Lake Michigan zu erkennen.
„Im 42-ten. Sie fragen sich sicher in welchem Stockwerk wir uns befinden müssen, um so eine prachtvolle Aussicht zu haben, das wollen alle wissen! Die Antwort lautet im 42-ten!“
Peter Norman drehte sich langsam um und erblickte eine stramme, männliche Figur welche im reflektierenden Sonnenlicht nur als Silhouette wahrnehmbar war. Er nahm die immer noch im Mundwinkel hängende Zigarette und steckte sie lose in die Jackettasche. Er streckte seine rechte Hand aus und schritt auf die Person zu.
„Mein Name ist Peter Norman“
„Ich weiss!“, erwiderte der Mann, „Sie sind gut angekommen?“
„Ja, vielen Dank, der Flug war lang, aber angenehm“.
Peter Normans Körper verhindertete den direkten Lichteinfall, sodass er sein Gegenüber nun deutlich erkennen konnte.
„Sie sehen genau so aus, wie sie mir beschrieben wurden. Sie sind Nigel Warner?“
Er nickte kurz, liess die zu ihm ausgestreckte Hand in der Luft verweilen und drehte sich ihn Richtung des übergrossen Konferenztisches.
„Setzen sie sich,“ forderte Nigel Warner. Eine flüchtige Handbewegung mit der linken Hand untermauert seine Aufforderung. Dabei bemerkte Peter Norman, dass die rechte Hand von Warner leblos an seinem Körper herunter hing. Was ihm nicht gesagt wurde, ist, dass er vor etwa einem Jahr einen schweren Schlaganfall erlitten hatte und nun die rechte Körperseite teilweise, aber für immer, gelähmt blieb. Norman bemerkte auch, dass Nigel Warner den rechten Fuss nachzog, als er langsam zur Stirnseite des Sitzungstisches ging. Im Gesicht schien er keine Lähmungen zu erkennen, vielleicht das rechte Auge, es war etwas kleiner.
Peter Norman setzte sich auf den für ihn bereit gestellten Stuhl und rückte erwartungsvoll näher an die Tischkante. Er legte seine beiden Ellenbogen auf den Tisch und beugte sich etwas vornüber, um dem quälenden Licht zu entkommen. Die Grösse des Raumes wirkte immer noch störend auf ihn. Auch blendete ihn die Sonne, was ihm wieder Mühe bereitete sein Gegenüber klar und deutlich zu sehen. Nigel Warner erschien ihm als eine im Nebel stehende, abstossende Skulptur, steif und kalt.
„Haben Sie die detaillierten Unterlagen und Verträge?“ fragte Nigel Warner.
„Ja, diese liegen bei <Marwin&Strauss>, unserem hiesigen Broker zur Unterzeichnung bereit. Es wurden sämtliche Änderungswünsche gutgeheissen und in die Verträge eingebracht.“
„Welches ist nun die definitive Summe in Euro, die wir bereitstellen müssen?“, fragte Warner zufrieden weiter. Er wusste genau, welche Summe es sein müsste, er wollte aber dennoch eine entsprechende Bestätigung.
„Diesmal sind es 200 Mio Euro, die per Ende des Monates auf dem Investmentkonto bei der Deutschen Bank eintreffen müssten. Weitere 300 Mio Euro sind fällig per Ende des folgenden Monates. Zusammen mit den bereits vor sechs Monaten ausgeführten Zahlungen beläuft sich die gesamte Investmentsumme auf 650 Mio Euro“, erklärte Norman. Gleichzeitig stand er auf und wechselte zu einem Stuhl, der nicht von Sonnenstrahlen getroffen wurde und der zudem näher bei Warner war, er ihn deutlicher sehen konnte. Nigel Warner schätzte Distanz über allem. Er meinte von sich selbst, dass er sogar eher schüchtern sei und eigentlich kein Interesse hat, anderen Menschen einen Einblick in sein Leben zu gewähren oder ihre Nähe zu spüren. Andererseits hatte er selbst kein Interesse an anderen. Zudem war er in den meisten Dingen auf seinen eigenen Vorteil bedacht und richtete seine Geschäfte auch in dieser Weise aus. Diesen Wesenszug musste er wohl, so meinte Warner, von seinem verstobenen Vater geerbt haben.
„Fühlen sie sich nicht wohl“, fragte Warner etwas gereizt.
„Keineswegs“, meinte Norman, „nur die Sonne, sie blendet stark“.
„Nun, dann können wir wohl jetzt weiter machen?“
„Wo waren wir stehen geblieben?“ , erwiderte Norman schnippisch, denn er kannte den Stand der Verhandlung sehr wohl. Da Norman das pure Gegenteil von Warner war und interessiert an Konversation, auch wenn diese belanglos und einfältig war, versuchte er Gespräche immer in die Länge zu ziehen. Er meinte damit mehr Informationen zu erhalten und machte dies zu einer richtigen Perversion, sehr zum Verdruss vieler seiner Geschäftspartner. Dies brachte ihm den Ruf ein, eher ein schwatzhafter Mensch zu sein. Doch gerade eben diese Eigenschaft und seine unbekümmerte Art im Umgang mit Menschen, prädestinierten ihn für seine Aufgabe. Zudem konnte er, und das war dann doch erstaunlich, Geheimnisse für sich behalten und war dementsprechend als absolut verlässlich bekannt.
Ohne auf eine Antwort von Nigel Warner zu warten, hackte er am letzten Verhandlungspunkt ein und erläuterte: „Wenn von ihrer Seite keine Probleme bei der Beschaffung des Kapitals auftauchen, können wir genau nach Zeitplan den deutschen Start-up weiter aufbauen.“
„Wir haben sämtliche Policen für die nächste Tranche. Die Belehnung derselben sollte kein Problem darstellen. Für die letzte Tranche haben wir noch nicht alle Policen von Lloyds, sodass wir den Belehnungsbetrag nicht vollständig beisammen haben. Ich meine aber es sollten da keine Probleme entstehen,“ erläuterte Warner.
„Ok“, schloss Norman die Ausführungen von Warner ab und meinte weiter, „die Verträge liegen wie gesagt bereit. Treffen wir uns morgen bei <Marwin&Strauss>, sagen wir um 09.00?“
Nigel Warner erhob sich von seinem Stuhl, schritt an Peter Norman vorbei, hin zur Ausgangstüre und erwiderte während des Verlassens des Raumes,
„OK, dann bis morgen.“
Peter Norman erstaunte sich ein wenig hinsichtlich dieses abrupten Endes, stiess seinen Stuhl zurück und drehte sich gegen die Ausgangstüre. Dabei war ihm wieder das Firmensignet aufgefallen, dass drohend über dem Raum schwebte. Es gefiel ihm immer noch nicht. Er versuchte aus den geschwungenen Linien und Kreisen einen Zusammenhang mit dem darunter stehenden, in feinen silbernen Grossbuchstaben geschriebenen Schriftzug <NEW VISION DEVELOPMENT LTD> herzustellen: Vergebens.
Susan Miller vernahm das Öffnen und Schliessen der Konferenzzimmertüre, unterbrach sofort ihr Telefonat und wendete sich Nigel Warner zu.
„Wie ist es gelaufen, gab es irgendwelche Probleme“, frage sie ihn.
„Nein, alles klar. Sind sie schon da?“ erwiderte Warner.
„Ja, sie warten im kleinen Konferenzzimmer, wie sie es angewiesen haben.“
„Gut, dann bringen sie uns bitte Tee, für alle.“
Susan öffnete die stehende Telefonleitung und beendete das Gespräch mit dem Hinweis zu einem späteren Zeitpunkt zurückzurufen. Dann bereitete sie in einem kleinen Nebenraum den gewünschten Tee zu.
„Sie schulden mir noch eine Antwort“, ertönte es fordernd hinter ihrem Rücken.
„Was meinen Sie damit?“
„Sie haben mir noch nicht verraten, was das S bedeutet“.
„Bitte entschuldigen sie mich“. Susan stellte die Zuckerdose auf das Tablett und drängte sich an Peter Norman vorbei. Er drehte sich um, schaute ihr nach und musterte ihren Körper langsam von unten nach oben. Es schien, als würde er sie durchleuchten. Dieses unheimliche Gefühl, im Nacken zu haben, von hinten beobachtet zu werden, die Gewissheit Spielball perverser Gedanken zu sein, hasste sie. Sie drehte ihren Kopf zurück und schickte einen verachtenden Blick.
Peter Norman griff in die Jackentasche, steckte sich die lose in der Tasche liegende Zigarette wieder in den Mundwinkel und begann das Ritual der Entflammung von Neuem. Diesmal war er alleine und niemand konnte ihm das Rauchen verbieten. Er zog genüsslich und langatmig an der Zigarette und beobachtete den austretenden Rauch. Er nahm die Zigarette nie aus dem Mund, wenn sie einmal brannte. Er liess sie im Mundwinkel hängen, bis die glühende Asche den Filter erreichte. Er sah diese Geste in einem Film. An den Namen konnte er sich nicht mehr erinnern, aber der coole Typ, hat ihm Eindruck gemacht. So sein wie er, dass wollte er nicht, aber das mit der Zigarette, das hatte ihm gefallen.
Bedächtig schritt er durch seine eigene Rauchwolke dem Empfangstresen entgegen. Er steht vor das Namensschild und versuchte sich einen Reim auf dieses allein stehende S zu machen.
Sondra, Sabrina, Selina..... Er meinte, wenn er hartnäckig genug wäre, er den Namen schon noch erfahren würde.
Susan Miller senkte ihren Kopf seitlich an das Ohr von Nigel Warner. Dieser schaute sie kurz an und erhob sich wieder aus dem ledernen Corbusier-Stuhl.
„Bitte entschuldigen sie uns einen kleinen Eigenblick“
„Kann ich noch etwas für sie tun Peter?“ fragte Nigel Warner schroff und blieb hinter Norman stehen. „Ich denke, wir sehen uns Morgen!“
Peter Norman drehte sich um, begriff die Situation und verliess den Empfangsraum durch die gläserne Flügeltüre, nicht ohne mit den beiden Mittelfingern grüssend an die Stirn zu tippen. Er sah Peter Norman nach, bis er im Lift verschwunden war. Er wartete sogar ein wenig länger, um sicher zu gehen, dass Peter mit dem Lift auch nach unten fahren würde.
Sichtlich verärgert über die aufdringliche Art Peter Normans und den penetranten Gestank parfümierten Zigarettenrauchs, eilte Nigel Warner in den kleinen Konferenzraum zurück.
20. März 2003 / 15.30 Uhr
Peter Norman stand an der Michigan Avenue und streckte seinen Kopf tief in den Nacken. Er sah ein wahnsinnig hohes Gebäude. Er liebte hohe Gebäude. Sie haben so etwas Majestätisches und Gutmütiges, als stünden sie an den Strassenrändern und wachten über die Tausenden von Menschen, die sich in den tiefen Schluchten durcheinander bewegen. Er zählte die Stockwerke, ...23,24,25.....und von Neuem 2,4,6......18,19 und wieder von Neuem. Immer wieder, nach einigen Zählschritten und je weiter die Stockwerke gegen den Himmel ragten, schienen sie vor seinen Augen zu verschmelzen, sodass er es nach erneuten Versuchen schliesslich aufgab. Er schlenderte die Michigan Avenue entlang zur nächsten Kreuzung Ecke Michigan Avenue und East Adams. Er überquerte die Strasse diagonal zwischen den Fussgängermarkierungen, obschon die Ampel auf Rot zeigte. Es gelang ihm erstaunlich gut, sich wendig hinter den vorbeifahrenden Autos und in kleinen Sprintabständen zu bewegen. Sichtlich zufrieden, den lärmenden Gegner besiegt zu haben, stand er vor einem Schaufenster still. Er drehte den Kopf langsam auf beide Seiten, als würde er nach etwas bestimmten Ausschau halten. Dann legte er seine Hand an die Glasscheibe und drückte sein Gesicht dagegen. Er winkte jemandem zu.
Sie legte Ihren Rock in die seitlichen Falten, dann sorgfällig auf das Bett. Sie griff sich mit beiden Händen hinter den Rücken, öffnete geschickt Ihren Büstenhalter und legte diesen neben den Rock. Sie hatte eine klare Vorstellung von Ordnung, die sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit umsetzte. Susan Miller liebte es schon als kleines Kind die Sachen immer in unterschiedlichster Weise, aber stets in geometrische Genauigkeit hinzulegen, oder in einen Schrank zu legen. Ihre Mutter, eine Südstaatenlady aus Knoxville im Staat Tennessee, meinte, dass ihre Tochter mit ihrer Angewohnheit jeden Mann vertreiben würde. Das störte Susan nicht, da sie sich zu keinem Mann hingezogen fühlte. Ihre Mutter erzählte viel aus ihrer Kindheit, wie sie mit den Jungs unterwegs war, Schulbälle besuchten oder mit einem bestimmten Jungen rumknutschte.
„Das war nicht dein Vater, präzisierte sie stets mit Stolz, nicht dein Vater.“ Susan schaute bei den Erzählungen der Mutter jeweils lange und tief in die Augen. Sie wollte auch so ein Glühen verspüren, so eine Begeisterung über das Leben. Doch immer wenn sie danach fragte, wie sie den Vater kennengelernt habe, wich ihre Mutter aus, schnappte sich irgend einen Gegenstand der gerade in ihrer Nähe lag und verliess den Raum. Sie müsse jetzt wirklich weiterarbeiten. Susan wusste, wenn sie jemals ein Problem mit einem Burschen haben sollte, sie jederzeit zu ihrer Mutter gehen konnte. Dies hatte sie ihr immer wieder gesagt und Susan vertraute ihr. Nicht so ihrem Vater, aber eben der Mutter. Sie hatte nie von diesem Angebot Gebrauch gemacht. Eigentlich weiss sie bis heute nicht warum. Gelegenheiten hätte es viele gegeben. Der Weg führte nie zur Mutter. Susan gewöhnte sich rasch an, ihre Probleme als die ihren zu betrachten und sie selber zu lösen. Also ihr eigenes Leben zu leben, mit all den Höhen und Tiefen. Darauf war sie stolz. Ihren Vater traf sie zuletzt an der Beerdigung ihres Bruders. Das war schon lange her. Er starb im ersten Irakkrieg, eine typische amerikanische Trauergeschichte aus den 90-zigern. Danach meinte sie ihn einmal auf einer Strasse gesehen zu haben. Sie erinnerte sich nicht, wo Vater heute wohnt. Es interessierte sie eigentlich nicht. Ihre ganze Liebe hatte sie von ihrer Mutter erhalten, obschon sie immer auch ein wenig Konkurrenz war. Sie schaute wunderbar aus, besonders ihr Leuchten. Wenn Susan ihre Augen schloss, sah sie es ganz deutlich vor sich.
An diesem Abend schien ihr irgendetwas nicht zu behagen. Ihre Gedanken waren schwerer als sonst. Sie schritt ans Fenster und öffnete es einen kleinen Spalt. Eine frische Frühlingsbrise fand den Weg in den Raum. Dieser Peter Norman hinterliess bei ihr einen ungewöhnlichen Beigeschmack. Sie mochte ihn nicht leiden. Sein Auftritt heute Mittag. Seine schleimige Anmache wegen ihres Namens. Und dann diese aufdringliche Arroganz. Überhaupt konnte sie mit derartigen Männern nichts anfangen. Sie ekelte sich vor ihnen. Sie konnte bei genauerem Hinterfragen nie sagen, an was es gelegen hätte. Sie verwendete bei der Beschreibung eines Mannes immer die gleichen Ausdrücke. 1. Schleimige Anmache 2. Aufdringliche Arroganz. Ihr Männerbild schien sich auf diese Attribute zu beschränken, was natürlich den Umgang mit diesem Geschlecht nicht vereinfachte. „Nun was soll’s“, dachte sie und bereitete sich in der Küche ihren abendlichen Tee zu. Ein Griff in den Kühlschrank. Das vorderste Erdbeerjoghurt auf dem oberen Fach. Ein zweiter Griff in die Schublade gleich daneben. Ein kleiner Teelöffel. Mit dem Fuss die Kühlschranktüre zutreten und mit der anderen Hand die Teetasse greifen. Nun schien sie sich sicher, sie mochte diesen Kerl nicht. Sie glaubte etwas zu erkennen, das an ihm, oder mit ihm nicht stimmte, nur definieren konnte sie es nicht. Noch nicht?
Seit dem Tode ihres Bruders hatte sie keinen Zugang mehr zu ihrem Vater. Vielleicht war es auch deshalb, weil sie nie einen richtigen Zugang zu ihm hatte. Vater konnte nie begreifen, dass Mädchen anders sind. Für ihn gab es nur Frauen – er meinte manchmal spöttisch, aber eben doch mit einer Prise Wahrheit - sie müssten schon als Frauen auf die Welt kommen. Aber in Sachen Frauen konnte Susan ihrem Vater wirklich nichts Schlechtes nachsagen. Er hatte sich stets um Mutter bemüht. Ihr manchmal sogar Blumen geschenkt. Sie sei seine einzige und wahre Liebe, sagte er immer zu ihr. Und sie strahlte dabei. Ihr Vater war ein guter Ehemann. Er hatte auch für die Kinder manchmal ein gutes Wort oder gar ein richtiges Kompliment übrig. Für den Bruder immer ein wenig mehr, immer ein grösseres. Das verzieh Susan ihrem Vater bis heute nicht. Sie wollte auch nicht schlecht über ihren Bruder reden. Schliesslich lag er ja unter der Erde. Und dennoch ertappte sich Susan hin und wieder bei dem Gedanken, dass sie sich ein wenig über das Nicht-mehr-auf-der-Welt-sein ihres Bruders freute.
Susan Miller befreite ihr Haar von diesem qualvollen Knoten am Hinterkopf, schüttelte ihre langen brünetten Strähnen und zupfte sich mit den Fingern eine neue Frisur zurecht. Eigentlich wollte sie heute früh zu Bett gehen. Sie legte ihre Kleider in der gleichen Reihenfolge in den Schrank, wie sie auf dem Bett lagen und schlenderte wieder zum geöffneten Fenster. Sie blickte melancholisch in die Ferne. Nichts Spezielles. Einfach nur so zum Fenster hinaus. Sie fasste einen Entschluss, der nicht zu ihrem klaren Abendprogramm gehörte. Sie meinte gerade heute Abend ein Anrecht auf diesen Glanz in den Augen zu haben.
Susan Miller schlenderte „draussen“ nie. Sie schritt mit Entschlossenheit und mit grossen Schritten. Sie dachte, dass Frauen die mit grossen Schritten gehen, den besseren Eindruck machten, sich näher zu den Männern gesellen, ja sogar gleichwertiger würden? Sie erschien dadurch aber auch älter. Wenn sie strammen Schrittes, mit dem hochgesteckten Haar und eher konservativen Kleidung auftritt, schien sie älter, viel älter. Dass sie so gesehen wurde, war ihr recht. Es gab ihr Freiheit. Die–jenige Freiheit die man erhält, wenn keine Begehrlichkeiten Dritter da sind. Wenn Anonymität zur Formel im Umgang wird. Sie liebte es nicht, beachtet zu werden. Nein das stimmte nicht. Wie gerne wäre sie beachtet worden. Oder hätte den Glanz gefunden, nachdem sie schon so lange suchte. Heute Abend fühlte sie sich frei. Wirklich frei.
Susans Appartement lag nur ein paar Häuserblocks weg von ihrem Arbeitsplatz. Inmitten des Banken- und Versicherungsviertels. Sie schätzte den kurzen Arbeitsweg. So konnte sie länger im Bett liegen bleiben und hatte die bessere Kontrolle über den zeitlichen Ablauf. Sie hasste es zu spät zur Arbeit zu kommen. Und doch, auch ihr war es schon einige Male passiert. Nur, dass ist das Wesentliche. Die Verspätung erweiterte sich nicht durch einen langen Anfahrtsweg oder Fussweg. Es ermöglichte ihr auch, zu später Stunde erst das Büro zu verlassen.
Sie träumte in den Abend hinein, schritt aber trotzdem mit grossen Schritten. Sie stellte sich vor, was ein Mann zu einer Frau sagen würde, die romantisch träumend aber mit grossen Schritten die Strasse entlang ging. Sie blickte vorbeigehenden Männern und Frauen in die Augen. Sie versuchte es zumindest. Denn es war nicht einfach, sich auf die Augen von vorbei eilenden Gesichtern zu konzentrieren und dabei etwas zu erkennen, dass der offenen Frage eine sinnvolle Antwort gäbe. Sie liess es bleiben und entschloss sich, noch einen Tee im nahe gelegenen Pub zu trinken.
Susan schwenkte ihr Haar im lauen Frühlingswind und bemerkte erst jetzt, dass sie die Haare nicht mehr hinter dem Kopf zusammengebunden hatte. Irgendwie war ihr das ein wenig peinlich. So einfach mit offenen Haaren, war sie schon seit vielen Jahren nicht mehr in der Öffentlichkeit unterwegs. Sie meinte es schicke sich nicht und vermittle einen lasziven Eindruck. Aber irgendwie mochte sie es. Heute Abend. Vor diesem Pub. Sie erblickte ihr Spiegelbild im Schaufenster und schien zufrieden zu sein mit sich. Sie gefiel sich ziemlich gut.
Susan setzte sich an einen freien Tisch, schnappte sich die Karte und legte sie gleich wieder weg. Sie wusste was sie wollte und bestellte einen Kamillentee. Sie trank immer diesen Tee. Nicht aus gesundheitlichen Gründen. Sie trank Kamillentee, weil er ihr schmeckte und auch ein bisschen, weil es wenige andere tun. Das meinte sie, sei entscheidend. Etwas zu tun, was nicht jede tat, etwas zu sein, das nicht jede war.
Sie liess ihren Blick verträumt durch den Raum schweifen, glaubte heute niemand zu kennen und trank den Tee in kleinen Schlucken. Er war ausgesprochen heiss. Sie ärgerte sich immer über zu heisse Getränke und Speisen. Die Hürde der Hitze ermöglichte ihr, nicht in ihrem gewohnten Tempo zu trinken. Zu Hause stellte sie den Wasserkocher stets etwas zu früh ab. Sie braute Teewasser immer in einem Elektrokocher. Dies wäre die beste Methode und gäbe weniger Aufwand meinte sie. Doch dieser Tee schien nicht abkühlen zu wollen. Sie legte den beigelegten Löffel an den Tassenrand, hob ein wenig Tee an und blies in kleinen Intervallen kühlen Atem darauf. Ja so war er trinkbar.
Zufrieden über den aussergewöhnlichen Verlauf des Abends, vielleicht schon ein wenig schwellend in Vorfreude auf das warme kuschelige Bett, erblickte sie plötzlich jemanden, das ihr gar nicht gefiel:
Peter Norman!
Er sass an einem Ecktisch mit zwei weiteren Männern. Hinten wo das Licht nicht mehr so hell war. In diesen Ecken sassen normalerweise eher schüchterne Gestalten, solche die nicht erkannt werden wollen. Was machte also Peter Norman an einem dieser Ecktische. Sie schienen sich angeregt zu unterhalten. Es sah auch so aus, als hätten sie alle etwas gegessen. Gebrauchte Papierservietten lagen in verschmierten Tellern. Spaghetti? Egal! Die beiden anderen Männer sassen mit dem Rücken zum Raum, sodass Susan diese nicht erkennen konnte. Sie konnte auch aufgrund der Haltung und der ganzen rückwärtigen Erscheinung keine Erkennung erzwingen. Susan rückte etwas weiter in die Sitzbank und versuchte mit gestrecktem Hals, Gesprächsbrocken zu erhaschen. Sie hasste sich dafür. Doch sie verblieb in dieser Stellung und konzentrierte sich auf die Mundbewegungen. Das hatte sie schon in vielen Filmen gesehen. Wie man von Lippen ablesen könne. Sie hatte es noch nie selber ausprobiert. So war es höchste Zeit, dies zu tun. Nichts, kein Wort konnte sie entziffern. Somit konzentrierte sie sich auf die Tatsache, dass es doch ungewöhnlich zu sein schien, dass Peter Norman um diese Zeit, so viel später wie die Besprechung in der Firma stattgefunden hatte, noch in diesem Pub verweilte. Sie konstruierte sich diverse Gründe und Möglichkeiten, blieb jedoch bei keiner länger als drei Minuten, da jene ihr zu fantasievoll erschienen. Sie ertappte sich dabei, dass sie diesen arroganten Kerl, den sie eigentlich nicht mochte, in ihre Gedanken liess und sie mit ihm viele Minuten verbrachte. Sie wandte sich der kühlen Fensterscheibe zu und blickte durch die Dunkelheit. Das Lichterspiel der Ampel gefiel ihr.
Peter Norman liess ihr keine Ruhe. Obwohl sie sich weigerte, kreisten ihre Gedanken immer wieder um ihn.
Sie schaute verkrampft aus dem Fenster, versuchte sich auf den Verkehr und das Strassentreiben zu konzentrieren. Und immer wieder, kehrte sie zu Peter Norman zurück, Sie ergab sich ihren Gedanken, drehte ihren Kopf wieder und versuchte abermals, das Gespräch zu erfassen. Peter Norman nahm keine Notiz vom Geschehen um ihn herum. Es musste wohl ein anstrengendes Gespräch sein. Keine Ablenkung schien möglich. Aber irgendwie spürte er, beobachtet zu werden. So ein Gefühl, nicht erklärbar. Peter liess seine Augen, während er sprach, durch den Raum gleiten. Nichts Verdächtiges war auszumachen. Das Gefühl aber blieb bestehen. Norman hatte viel Erfahrungen, auf seinen siebten Sinn zu achten. Er wurde beobachtet. Seine Augen streiften diejenigen von Susan und sie verweilten. Es scheint ein Spiel zu werden. Wer wird als Erstes den Augenkontakt unterbrechen? Norman liebte dieses Spiel. Susan hasst es. Sie fühlte sich ertappt und