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Uropa aus Bochum-Stiepel erzählt seinem Urenkel Familiengeschichten, für jede Generation hat er eine Erzählung parat. Natürlich waren die Vorfahren maßgeblich an der Entwicklung des Ruhrgebietes, der Stadt Bochum und dem Bau der 1000-jährigen Stiepeler Dorfkirche beteiligt.
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Seitenzahl: 114
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Titelbild:
‚Prinzen’
Hommage an Lukas Cranach/ Porträt Felix
Öl auf Leinwand 65 x 50 2004
Carola Mehring
Für
Felix,
Charlotte,
Maya,
Sofia,
Sajan
und meinen Vater,
der sich so auf seine Urenkelin Maya gefreut hat;
aber nicht mehr erlebt hat,
Uropa zu werden
Ein Gräfin-Emma-Denkmal (Christa Baumgärtel 2009) steht am Rand des Marktplatzes von Lesum.
Der verregnete Sonntagnachmittag
1996 Mathes DM - €
1971 Papa Wiedervereinigung
1946 Opa Bau der Uni
1921 Uropa 2.Weltkrieg
1896 2 x Ur Kaiser Wilhelm II
.
1871 3 x Ur 1.Auto
1846 4 x Ur 1.Eisenbahn in Bochum
1821 5 x Ur Straßenlaternen in Bochum
1796 6 x Ur Königreich Stiepel
1771 7 x Ur Kriminalfall / C. A. Kortum
1746 8 x Ur H. von Ostermann
1721 9 x Ur Friedrich II. und die Kartoffeln/ Madonnenfigur
1696 10 x Ur Übermalung der Bilder in der Dorfkirche
1671 11x Ur Renovierungsarbeiten
1646 12x Ur Kohle / Bau von Kemnade
1621 13x Ur 30-jähriger Krieg
1596 14x Ur Reformation
1571 15x Ur Brand auf Kemnade
1546 16x Ur Bemalung der Dorfkirche
1521 17x Ur Pest
1496 18x Ur Brand in Bochum / 95 Thesen von M. Luther
1471 19x Ur Flusslauf der Ruhr/ Bemalung der Dorfkirche
1446 20x Ur Erfindung des Buchdrucks/ Ausbau der Dorfkirche
1421 21x Ur Sagen und Erzählungen
1396 22x Ur Die Herren von der Recke
1371 23x Ur Das Maiabendfest
1346 24x Ur 7 Kurfürsten
1321 25x Ur Verleihung der Stadtrechte
1296 26x Ur Erfindung des Spinnrads
1271 27x Ur Schlacht bei Worringen
1246 28x Ur Baubeginn des Kölner Doms / Erfindung der Schubkarre
1221 29x Ur Franz v. Assisi
1196 30x Ur Schicksal der Isenburg und ihrer Bewohner
1171 31x Ur Erfindung des Flachwebstuhls
1146 32x Ur Bemalung der Dorfkirche
1121 33x Ur Erweiterungsbau der Dorfkirche
1096 34x Ur Drei-Felder-Wirtschaft
1071 35x Ur Erfindung des Kummets
1046 36x Ur Heinrich IV
.
1021 37x Ur Gräfin Imma in Bremen
996 38x Ur Stiftung der Dorfkirche
Uropa hatte an einem verregneten Sonntagnachmittag mal wieder Dönekes erzählt. Mathes hörte sie liebend gerne, er stellte sich dann immer die vergangene Zeit vor. Anlass für diese alten Geschichten, die Uropa nicht zum ersten Mal erzählte, war die 1000-Jahr-Feier der Stiepeler Dorfkirche. Uropa stammte aus Stiepel, und er war sehr stolz darauf. „Alter Stiepeler Landadel sind wir“, erzählte er jedem, der es hören wollte – oder auch nicht. Doch an diesem Sonntag setzte er seinen Geschichten die Krone auf. Einer ihrer Vorfahren, da war er sich heute ganz sicher, hatte die Gräfin Imma persönlich gekannt und beim Bau der Dorfkirche entscheidend mitgeholfen. Mathes staunte. Woher der Uropa das wohl wusste?
„Alte Familiengeschichten“, schmunzelte der Uropa.
„Und warum hast du mir das bis jetzt noch nie erzählt?“, fragte Mathes etwas misstrauisch. „Ich musste erst warten, bis du alt genug für unsere Geschichten bist“, sagte der Uropa. der nie um eine Antwort verlegen war. „Das Besondere an unserer Familie ist, dass – immer, wenn der älteste Sohn 25 Jahre alt ist- er einen kleinen Jungen bekommt.“
„Du meinst wohl: Seine Frau!“, verbesserte Mathes.
„Natürlich“, brummelte der Uropa unwirsch, „wer sonst? Da kannst du ja mal ausrechnen, welcher Vorfahre das war!“ Das war 'was für Mathes, in Mathe ist er ein Ass. Er holte Zettel und Stift und legte los. Er selbst ist 1996 geboren. Sein Vater ist 1971 auf die Welt gekommen, sein Opa sprang seit 1946 in Bochum herum, sein Uropa lebte seit 1921.
Schnell merkte Mathes, dass die Endzahlen sich wiederholten: 1896, 1871, 1846, 1821, 1796, 1771, 1746, 1721,…….Der Vorfahre mit der Nummer 40 könnte also beim Bau der kleinen Kirche mitgeholfen haben.
Als er die Liste nach einer halben Stunde fertig hatte, legte er sie Uropa vor.
„Weißt du denn die ganzen Geschichten von unseren Vorfahren?“, fragte Mathes neugierig.
„Tja“, sagte der Uropa, „unsere Ahnen haben schon immer viel erlebt! Einer ist mit Carl Benz zusammen im ersten Auto gefahren, einer war mit Kolumbus in Amerika, einer hat Luther mit den Nägeln geholfen, als er sein Plakat mit den 95 Thesen an die Kirchentür genagelt hat, einer……..“
“O je“, stöhnte der Vater, der im Türrahmen lehnte, „gegen unseren Uropa ist der Lügenbaron von Münchhausen ein kleiner Flunkerwicht.“
Der Uropa lachte, und Mathes, der so gerne Uropas Geschichten hörte, meinte: “Könnte doch alles wahr sein!
Unsere Vorfahren könnten doch mit der 1. Eisenbahn gefahren sein, sie könnten doch die Elektrizität entdeckt haben, sie könnten doch……..“
„O je“, stöhnte der Vater noch lauter als vorhin, „der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!“, und verschwand in der Küche.
Doch für Uropa und Mathes war klar, ihre Vorfahren waren bei den interessantesten Ereignissen der Geschichte mit dabei gewesen, oder wenigstens hatten sie davon gehört.
Die beiden knöpften sich Mathes Urahnenliste vor. Sie war ziemlich lang. Sie wollten für jeden Vorfahren ein Männchen ausschneiden und sie nebeneinander stellen. Wie lang würde die Reihe wohl? Sie nahmen Papier von Mathes Zeichenblock, falteten es im Zickzack, zeichneten ein Männchen auf und schnitten es aus. Schon hatten sie 6 Stück auf einmal.
„Malen musst du!“, sagte der Uropa.
„Erzählen musst du!“, sagte Mathes.
„Aufschreiben muss der Papa!“, sagten beide gleichzeitig.
Das Abenteuer 'Vorfahren-Geschichten' begann.
„Als 1. Familienmitglied bist du dran, du bist 1996 geboren. In deiner Zeit ist auch schon einiges passiert. 2008 ist unsere Dorfkirche 1000 Jahre alt geworden! Da kannst du mal sehen, wie solide unsere Vorfahren gebaut haben! Nicht so, wie die Bauleute heute, wo Schulen schon nach 30 Jahren abgerissen werden müssen!“ Uropa warf einen schrägen Blick auf Papa, der Bauleiter ist. Doch Papa ließ sich nichts anmerken, er kannte ja die kleinen Scharmützel mit Opa. Uropa war etwas enttäuscht, dass seine kleine Stichelei nicht gewirkt hatte und fuhr dann mit seinen Überlegungen fort. „Die D-Mark wurde in Euros umgetauscht. Die CD hat die Schallplatten fast völlig abgelöst. Und jeder hat ein Handy! Jeder kann jedem erzählen, dass er sich in der Schlange an der Kasse befindet! Oder der Angerufene befindet sich gerade in der Umkleidekabine und will eine neue Hose anprobieren!
Furchtbar, nirgendwo hat man seine Ruhe!“
„Aber Opa“, warf Papa ein, „die Dinger sind manchmal ganz schön nützlich! Denk mal an den Spaziergang, bei dem du gestürzt bist!“ An diesen schrecklichen Tag wollte Uropa jetzt nicht erinnert werden.
„Schreib“, sagte er, „nun bist du nämlich an der Reihe!“
"Du bist 1971 geboren. Mein Gott, was in der Zeit alles passiert ist! West- und Ostdeutschland wurden wieder vereinigt! Junge, Junge, ich hätte nie geglaubt, dass das passiert! Außerdem wurde 1975 Bochum und Wattenscheid vereinigt. Mann o Mann, hat das Ärger gegeben!
Inzwischen hat der Computer die Schreibmaschine abgelöst, die wurden im Müll entsorgt.“
"Und die Spülmaschine ersetzte den blöden Abwasch und die Mikrowelle eroberte die Küche“, sinnierte Papa. „Apropos Mikrowelle - was haltet ihr von einem heißen Kakao?“, und - ohne eine Antwort abzuwarten - flitzte Papa in die Küche.
Nach 5 Minuten kam er mit 3 dampfenden Bechern Kakao wieder.
"Opa ist 1946 geboren, direkt nach dem Krieg. Das war gar nicht so einfach, ein Baby groß zu kriegen - in diesen Zeiten!
Aber Stiepel war ja noch Bauernland, da gab es doch schon mal das ein oder andere zu essen. Aber dann, nach dem Katholikentag, ab dann ging's aufwärts. Langsam füllten sich die Geschäfte mit Waren.
In Stiepel gab es den Konsum, da kaufte man seine Lebensmittel. Und in Stiepel-Dorf existierte sogar ein Textilgeschäft! 'Nattkemper' hieß es, man konnte dort Stoffe und Kurzwaren kaufen. Damals wurde ja noch viel zu Hause genäht und gestopft. Das Haus stand neben der Dorfkirche. Etwas später wurde dieses Haus 'Gemeindehaus', doch das war zu viel für das alte Gemäuer, es wurde abgerissen, und jetzt stehen da neue Häuser.
Dann wurde in den 60-er Jahren in Querenburg die Uni gebaut, das hatte Auswirkungen auf Stiepel, aus dem Dorf wurde eine Wohngegend mit vielen neuen Straßen und Häusern." Uropa versank in melancholischen Träumereien.
"Uropa, was gab's noch?", bohrte Mathes.
"Ach ja", fuhr Uropa fort, "1953 wurde das Schauspielhaus wieder aufgebaut, das schönste Schauspielhaus weit und breit!", sagte Uropa nicht ohne Stolz.
"Und mit einer der besten Bühnen weit und breit", ergänzte der Papa – auch nicht ohne Stolz.
"Und mit den schönsten Kinderstücken!", fügte Mathes hinzu, auch er war von Lokalpatriotismus erfüllt.
"Außerdem entdeckte man zu der Zeit die ersten alten Wandmalereien in der Dorfkirche! Bis dahin kannte ich sie nur schmuddelig-weiß. Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, dass die Kirche jemals anders ausgesehen haben könnte."
"Und jetzt zu mir höchstpersönlich", holte Uropa aus. "Ich bin – wie euch ja bekannt ist – 1921 auf die Welt gekommen.
Eine schlimme Zeit für die Erwachsenen: Inflation – das Geld war nichts mehr wert -, Arbeitslosigkeit, Trauer und Not in den Familien, bei denen Väter und Söhne im 1.Weltkrieg gefallen waren.
10 Millionen Menschen sind getötet worden! In Stiepel fehlten auch etliche Männer. Als Kind habe ich allerdings nicht viel davon gemerkt. Wir streiften durch die Felder, spielten, bauten Buden, klauten Äppel, in den Herbstferien – die damals noch Kartoffelferien, hießen –machten wir Kartoffeln aus, und abends gab's ein Kartoffelfeuer.
Zur Schule bin ich übrigens in die alte Schulvikarie gegangen.
Es gab nur einen Klassenraum für alle 8 Jahrgänge. Die Volksschule, wie sie damals noch hieß, war bis 1950 in Betrieb, und das Haus steht immer noch: Brockhauser Str. 65.
1929 wurde Stiepel nach Bochum eingemeindet. Wir haben aber nicht so ein Geschrei wie die Wattenscheider gemacht.
Dann kam 1933 Hitler an die Macht und hat so schreckliche Dinge angerichtet! Er ließ unglaublich viele jüdische Menschen töten, Behinderte durften bei ihm auch nicht leben. Ich war ja erst 12 Jahre alt und habe das gar nicht richtig bemerkt, wir hatten zudem keine Zeitung und kein Radio. Genützt hätte uns das allerdings auch nicht viel, es durfte nur das geschrieben oder gesendet werden, was Hitler passte.
So langsam sickerte die eine oder andere Information durch, jüdische Leute flüchteten ins Ausland, Behinderte verschwanden in Heimen und kamen nie wieder, aber da war es schon zu spät. Mit uns 'Blagen' wurde nicht darüber geredet, wir bekamen nur Andeutungen oder Getuschel mit, alle hatten Angst.
Viel später habe ich erfahren, dass sogar in Stiepel in der stillgelegten Zeche Gibraltar ein provisorisches Konzentrationslager war. Dann zettelte Hitler zu allem Überfluss noch den 2.Weltkrieg an, und ich musste Soldat werden.
Auch die Stiepeler Gemeinde traf es hart. Nicht nur, dass 1943 eine Luftmine auf die Kirche fiel und den Turm zum Einsturz brachte, in der Gemeinde gab es nur noch Zank und Streit. Die Christen sollten für Hitler sein, sonst wurden sie bedroht."
"Und wie?", fragte Mathes ungläubig.
"Tja, das ist ziemlich einfach. Die, die zu Hitler halten wollten, sollten nicht mehr bei den anderen einkaufen oder bei den Handwerkern nichts mehr in Auftrag geben. Dann drohte diesen Leuten schnell die Pleite, und dann?", fragte Uropa. Mathes war sehr nachdenklich. Auch er fand: "Eine schreckliche Zeit!"
Nach einer Weile der Stille, in der alle ihren eigenen Gedanken nachhingen, fragte Mathes: "Und was hat Ururopa erlebt? Er ist 100 Jahre vor mir auf die Welt gekommen, also 1896!"
"Rechnen kannst du", grinste Uropa, froh, aus seinen trüben Erinnerungen herausgerissen zu werden.
Dein Ururopa – also mein Vater – hat sogar noch den Kaiser Wilhelm II. erlebt!"
"Hat er ihn gesehen?", fragte Mathes aufgeregt.
"Könnte sein", antwortete Uropa, "der Kaiser kam öfter ins Ruhrgebiet.“
"Dann hat er sich jedes Mal in das kleine Kötterhäuschen von Urururgroßmutter begeben und sich einen Muckefuck servieren lassen", erzählte Papa mit Ironie in der Stimme und einem breiten Grinsen auf dem Gesicht. Uropa funkelte ihn wütend an und Mathes ahnte, dass Uropa eine ähnliche Geschichte im Sinn gehabt hatte. Und – wie zur Bestätigung – verteidigte sich Uropa: "Mit den Kindern der Familie Krupp hat der Kaiser aber tatsächlich in der Villa Hügel Tee getrunken, sie hatten für die Kinder extra ein kleines Häuschen zum Spielen bauen lassen. Das kann man heute noch besichtigen!"
"Die Familie Krupp kann man aber nun nicht mit unserer Familie vergleichen, das waren doch Multimillionäre und wir waren arme Schlucker!", warf Papa ein.
"Aber es hätte sicherlich 'was genützt; Oma war eine resolute Frau, die hätte dem Kaiser schon die Meinung gesagt!", behauptete Uropa, und Papa seufzte leise: "Er muss immer das letzte Wort haben!" Uropa tat so, als wenn er nichts gehört hätte und erzählte weiter: "Der Arzt hatte das 1.Auto in Stiepel. Er hat meinen Vater auf einer der ersten Fahrten 'mal mitgenommen. Das muss sehr aufregend gewesen sein. Man musste ja erst mit einer Kurbel den Motor anwerfen! Und dann die Straßen damals!
Kopfsteinpflaster und in Stiepel Feldwege!"
"Na, viel besser ist das heute immer noch nicht!", empörte sich Mathes, "kein Bürgersteig an der Kemnader Straße und dann diese Schwellen, die den Verkehr beruhigen sollen!" Er dachte voller Wut an die schmerzliche Bekanntschaft, die sein Knie mit diesen Schwellen bei einem Sturz mit dem Fahrrad gemacht hatte.
"Zum Glück musste mein Vater nicht in den 1.Weltkrieg als Soldat ziehen, er hatte Glück im Unglück. Als Kind hatte er sich ein Bein gebrochen, der Bruch war nie wieder richtig zusammengewachsen, und er humpelte Zeit seines Lebens.
Aber deswegen wurde er nicht eingezogen.
Eingezogen wurde aber eine der Glocken der Dorfkirche.
1917 wurde sie eingeschmolzen und das Metall zu Kanonen verarbeitet.
Am 11.11.1918 war der Krieg endlich zu Ende.
2 Tage vorher hatte Kaiser Wilhelm II. abgedankt und war nach Doorn