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Beim Entrümpeln eines Schrankes auf dem Dachboden findet sich eine Dose mit alten Fotos, Zeitungsausschnitten und einem noch älteren Scherenschnitt mit dem Profil eines etwa 10-jährigen Mädchens: FRITZI. Fritzi lebte in der Biedermeierzeit in dem winzigen Städtchen Bochum. Sie entführt den Lesenden dreimal in ihre Welt und zeigt, wie sie als Tochter eines Möbelschreiners in einer großen Familie gelebt hat.
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Seitenzahl: 79
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Für meine Mutter, die uns immer Geschichten ‚von früher’ erzählt hat.
Marianne Mehring 1930-2020
Schon oft haben sich Menschen ausgedacht, was wohl wäre, wenn sie in einer anderen Zeit leben könnten. Doch meistens sind es Reisen in die Zukunft.
Was wäre aber, wenn man in die Vergangenheit reisen könnte?
Was wäre, wenn du Fritzi besuchen könntest – Fritzi, die im Jahr 1825 gerade 10 Jahre alt war und in Bochum lebte?
Es ist Juli.
Schon morgens ist es drückend warm und schwül.
Eigentlich wollten deine Mama und du den Schrank auf dem Dachboden aufräumen, doch so rechte Lust hat bei diesem Wetter keiner. Auf dem Dachboden ist die Luft noch schlechter als in der Wohnung.
Mama öffnet den großen, alten Schrank, den ihr Uropa, der Schreiner war, selbst hergestellt hat.
Schön ist er nicht mehr, er hat zu viel für einen Schrank mitgemacht: Umzüge, Auslagerung im Krieg, Standorte auf dem Dachboden und im Keller, nein, ein Schmuckstück ist es nicht.
Knatschend öffnet sich der rechte Türflügel, dann der linke. Als erstes zieht deine Mama eine Kiste mit alten Stoffresten aus dem obersten Fach.
„Lumpensammlung“, sagt sie kurz angebunden. In der nächsten großen Tüte sind alte Kopfkissen.
„Die kommen jetzt auch weg“, bestimmt Mama. So geht es weiter, Fach für Fach leert sich.
Da fällt euch eine alte Blechdose in die Hände, die angefüllt ist mit Bildern, die die Uroma verwahrt hat. Neugierig blättert ihr die bräunlichen Fotos, die vergilbten Zeitungsausschnitte, die Totenzettel und alte Postkarten durch.
„Komm“, sagt Mama, „das Aufräumen verschieben wir, wir gucken uns die alten Bilder an! Das interessiert mich jetzt mehr als ein unordentlicher Schrank auf dem Dachboden!“
Sie schließt energisch die alten Schranktüren, schnappt sich die Dose und geht nach unten.
Erleichtert flitzt du hinterher. Gott sei Dank, weg aus dieser tropischen Hitze! Im Wohnzimmer öffnet deine Mama vorsichtig die Dose und breitet die ganze Herrlichkeit aus. Dir fällt sofort ein kleiner Scherenschnitt ins Auge. Der Kopf eines etwa 10-jährigen Mädchens ist im Profil zu sehen, das Kind hatte eine lustige Stupsnase.
„Das Bild muss von circa 1830 sein, damals gab es noch keine Fotografien. Und Scherenschnitte waren auch für einfache Leute eine Möglichkeit, Bilder von ihren Kindern zu haben. Ich glaube, das war die Schwester deines Urururururopas – wenn mich nicht alles täuscht!
Hinten steht noch der Name drauf, aber leider kein Datum. Sie hieß Friederike, genannt ‚Fritzi’.“
Ihr beiden schaut euch das lustige Kindergesicht an, und jeder hängt seinen Gedanken nach.
Da klingelt auf einmal das Telefon. Mama sucht mal wieder den Apparat, doch dann freut sie sich, dass ihre Freundin anruft. Na, das kann dauern!
Du beguckst dir weiter den Scherenschnitt.
Auf einmal meinst du, dass das Kind sich bewegt hat! Du bist dir ganz sicher, Fritzi hat sich bewegt!
Jetzt hörst du auch ihre Flüsterstimme:
„Komm!
Komm mit mir!
Komm in mein Bochum!
Ich zeige dir meine Welt!“
Es rauscht kurz in deinem Kopf, die Farben und Formen des Wohnzimmers vermischen sich…
……und du sitzt in einer Postkutsche, die nach Bochum fährt!
Was wäre, wenn…
Wäre es vielleicht so?
1. Stippvisite
2. Stippvisite
3. Stippvisite
Wo spricht man noch plattdeutsch?
Aufgeregt wartet Fritzi vorm Haus auf die Postkutsche, die aus Düsseldorf kommt. Für sie bist du das Kind einer Großkusine, das die Bochumer Familie noch nie gesehen hat. Die Mutter hat Fritzi fein herausgeputzt, auf das Kind aus der vornehmen Stadt, die eine Kunst-Akademie und eine Stadt-Sparkasse hat und außerdem Sitz der Rheinischen Provinzialstände ist, wollen die Bochumer einen guten Eindruck machen. Endlich hört Fritzi in der Ferne das Posthorn erschallen. Sie rennt los, sie hat es nicht weit bis zur Haltestelle am Markt.
Fünf Minuten später klappern die Hufe der Pferde über das holperige Pflaster, die Pferde bleiben an der vorgesehenen Stelle stehen. Die Tür der Kutsche wird geöffnet, und du steigst heraus. Dir tut jeder Knochen weh, vor allen Dingen dein Popo!
Die Kutschen sind nämlich nicht sonderlich gut gefedert! Und eine Gummibereifung mit Luftpolster gibt es auch nicht. Der Postillion reicht dir deinen Koffer an. Schüchtern nähert sich Fritzi, sie hat vor Aufregung ganz rote Backen. Viele Fremde sind noch nicht bei ihnen zu Besuch gewesen, die meisten Besucher sind Verwandte und Nachbarn.
Natürlich kommen auch Kunden zu ihrem Vater, der ein guter Möbelschreiner ist, aber bei Verkaufsgesprächen haben Kinder nichts zu suchen.
Etwas unsicher bist du auch, aber der Gruß: „Hallo!“ hilft ja eigentlich immer.
Verdattert blickt dich Fritzi an, der nächste Fährmann ist doch unten an der Ruhr! Doch nicht hier, mitten auf dem Marktplatz! Erst später wird Fritzi dir erzählen, dass ‚Hallo’ der Ruf ist, um von einem Fährmann über einen Fluss gesetzt zu werden!
Na, da hast du aber schon gleich voll danebengelegen!
Fritzi begrüßt dich artig mit:
„Guen Tagch!“, und jetzt ist die Reihe an dir, sich zu wundern: Fritzi spricht plattdeutsch!
Au weia, das kann ja ‘was werden!
Inzwischen ist der Geselle des Vaters aufgetaucht, er hat eine Karre mitgebracht, um den schweren Reisekoffer zu transportieren. Aus Höflichkeit und um nicht gleich angeberisch zu wirken, erzählst du nicht, dass der Koffer Rollen und eine Zugstange hat. Nach ein paar Metern bist du sehr froh, nichts gesagt zu haben. Das Pflaster ist dermaßen holperig, ob das die Rollen ausgehalten hätten?
Außerdem sind Pferdeäppel in Mengen auf der Straße. Ihr biegt zweimal um die Ecke und dann steht ihr vor dem Haus von Fritzi.
Es ist ein Fachwerkhaus, etwa 10 m lang und 10 m tief. Zur Straße hin befindet sich das Deelentor, in dieses Tor ist für den täglichen Gebrauch eine normale Tür eingearbeitet. Das findest du sehr praktisch, aber warum gibt es das große Tor?
Auch dafür wirst du im Laufe deines Besuches die Antwort finden. Fritzi öffnet die Tür, sie ist nicht verschlossen. Sie wird nur abends mit dem riesigen Riegel – verriegelt.
Auf dem kurzen Weg hat sie dir schon erzählt, wo du schlafen wirst. Im Schlafzimmer der Mädchen könnte noch ein Bett dazugestellt werden, dann wärt ihr zu viert in dem Zimmer. Fritzi findet das ganz toll, dann könntet ihr euch abends noch Geschichten erzählen. Oder möchtest du lieber bei den beiden Brüdern schlafen? Das Baby schläft übrigens in der Wiege im Elternschlafzimmer und hält mit seinem Geschrei oft die ganze Familie wach. Sogar die schwerhörige Oma – auf Plattdeutsch: ‚Bessma’ - kann manchmal nicht schlafen!
Aber zuerst wirst du von der ganzen Familie empfangen. Sogar der Vater hat seine Arbeit in der Werkstatt unterbrochen, um dich zu begrüßen. Und so lernst du der Reihe nach Hilde, Franzi, Willi, Carl, die Oma und den Opa, Marie (das Dienstmädchen), Vater und Mutter mit dem friedlich am Daumen nuckelnden Georg kennen.
Fritzi und Anton (der Geselle) kennst du ja bereits.
Die Ähnlichkeit mit der Verwandten aus Düsseldorf (deine vermeintliche Mutter) und dir wird von allen staunend wahrgenommen.
„Wie aus dem Gesicht geschnitten!“, ruft die Oma etliche Male.
Alle nehmen in der guten Stube Platz. Du siehst dich um. An der einen Wand hängen etliche kleine, schwarz-weiße Bildchen: SCHERENSCHNITTE!
Eins erkennst du sofort wieder:
Fritzis Bild! Na, so was!
Aber bevor du etwas sagen kannst, bringt Marie Milch für die Kinder und Kaffee für die Erwachsenen. Dazu gibt es ein Stück süßen Stuten und Knappkouken. Die Oma stippt den Knappkouken in den Kaffee, er muss ziemlich hart sein. Die Kinder halten sich an den Stuten, das machst du genauso. Er schmeckt lecker.
Aber die Milch! Obendrauf schwimmt auch noch ein Stück Schmand! Du bemühst dich sehr, nicht so angeekelt zu gucken, wie du zuhause gucken würdest. Es scheint dir gut zu gelingen, denn Hilde sagt stolz: „Wir haben zwei gute Milchkühe, die werden von dem Kuhhirten der Stadt jeden Tag auf die Voede getrieben!“
„Habt ihr noch mehr Tiere?“, erkundigst du dich.
„Aber sicher! Wir brauchen doch Eier! Also haben wir Hühner und einen Hahn. Und damit es Wurst und Schinken gibt, halten wir auch noch zwei Schweine.
Außerdem haben wir einen Wachhund und etliche Katzen.“
Nach diesem freundlichen Empfang führt dich Fritzi durch das ganze Haus.
Die Deele ist so groß, weil hier der Erntewagen untergestellt werden muss.
Deswegen ist das Deelentor auch so hoch! Oben in der Decke ist eine Luke, durch die das Heu und das Stroh für die Winterfütterung auf den Dachboden gezogen werden kann. Von der großen Deele gehen alle Zimmer ab. Auf der rechten Seite befindet sich die gute Stube, die du ja schon kennengelernt hast. Voller Freude hast du den gemütlichen Ofen gesehen, doch Fritzi raubt dir sofort alle Illusionen von heimeligen Kaminabenden:
„Meistens sitzen wir abends noch in der Küche, die Stube wird nur zu besonderen Anlässen benutzt, so wie heute, weil du gekommen bist. Aber die Küche ist auch schön gemütlich!“
Was soll das denn bedeuten? Schnell geht dir auf, dass das die beiden einzigen Räume sind, die beheizt werden können! Gut, dass Sommer ist! Die Küche ist neben der Stube, daneben ist die Kammer für die Jungen. Für deine Begriffe ist sie kärglich eingerichtet:
2 Betten, eine Kommode, mehrere Haken an der Wand. Ja, wo ist denn das ganze Spielzeug? Also, hier schon mal nicht. Dafür stehen auf der Kommode eine große Schüssel und eine große Kanne.
„Ist da Saft drin?“, fragst du Fritzi.
„Saaaaaft?“, fragt Fritzi gedehnt und überaus erstaunt zurück.
„Nee!“, schüttelt sie den Kopf, „das ist nicht zum Trinken! Da ist Wasser zum Waschen drin!“