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Ursian und seine Freunde Pia und Willi wachsen gemeinsam im friedlichen Dörfchen Bacus auf. Doch mit der Ruhe ist es vorbei, als Pia zufällig eine Höhle und in dieser Höhle dann auch den Drachen Zackobert von Zackenstein entdeckt. Zacko ist nicht nur der letzte seiner Art, sondern vermisst auch seine Freunde, die Zwerge und Elfen. Wie sich bald herausstellt, wurden diese von einer bösen Hexe mit einem Fluch belegt und so verbannt. Wird es den Kindern gelingen, Zwerge und Elfen zu befreien und die Hexen zu vertreiben?
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Seitenzahl: 240
Ursina Schmid
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2021 by R. G. Fischer Verlag
Orber Str. 30, D-60386 Frankfurt/Main
Alle Rechte vorbehalten
Titelbild: ioanacatalinae / Elena Kozyreva – © 123rf.com
Schriftart: Palatino 11 pt
Herstellung: rgf/bf/1B
ISBN 978-3-8301-1877-0 EPUB
Papa, Jürg, Elisabeth, Erika und Ines –herzlichen Dank für die Unterstützungbeim Schreiben meines Buches.
1. KAPITEL
2. KAPITELDie Hexen der Walpurgisnacht anno 1304, 30. April
3. KAPITEL700 Jahre später, das Jahr 2017
4. KAPITELIn der Schule
5. KAPITELDie Drachenkolonie
6. KAPITELZacko geht in die Schule
7. KAPITELDie unsichtbare Unterwelt
8. KAPITELDie sagenhafte Entdeckung
9. KAPITELDie Befreiung
10. KAPITELDas Zwergental
11. KAPITELXantippes Flucht
12. KAPITELXantippe trifft Crudelis
13. KAPITELLolalas Befreiung
14. KAPITELDas Freudenfest
15. KAPITELDie Verwandlung
16. KAPITELDie Erlösung
In der warmen Stube des Pfarrhauses von Bacus sitzen der Pfarrer Romuald Rommel, seine beiden Ziehkinder Ursian und Pia sowie ihr Freund Willi vor dem prasselnden Kaminfeuer. »Romuald«, fragt Pia, »erzählst du uns bitte die Geschichte, wie Ursian zu dir gekommen ist?«
Romuald Rommel hat eine füllige Figur und die wenigen grau-blonden Haare bilden einen Ring um den Kopf. Mit der Grösse von 183 cm ist er eine imposante Erscheinung, er hat eine gerade Haltung und einen wachsamen, jedoch sehr netten Blick.
Alle drei Kinder haben diese Geschichte bereits einhundert Mal gehört, können aber nie genug davon bekommen. »So, so, genau diese Geschichte wollt ihr wieder hören?«
»Au ja.«, antworten alle drei wie im Chor.
»Also gut, dann will ich mal nicht so sein.« Mit diesen Worten beginnt der Pfarrer, die Geschichte zu erzählen.
»Es trägt sich in einer bitter- und eiskalten Winternacht zu. Diese eine Nacht ist so bitterkalt, dass jedem Lebewesen, das sich im Freien aufhält, der Atem direkt vor dem Gesicht einfriert und mit einem leisen Klirren auf den Boden aufschlägt. In dieser eiskalten Nacht geht niemand freiwillig auf die Strasse, keine Menschenseele ist draussen anzutreffen. Unheimlich gleitet der Bodennebel erst über die Strassen, danach über den Gehsteig an den Schaufenstern vorbei, bis er die kalten Fassaden erklommen hat, kriecht hinauf zu den Fenstern und seine Reise endet erst am Giebel der Häuser und die ganze Gegend ist in dicken, undurchdringlichen Nebel eingehüllt. Dieser Nebel ist feucht, kalt und so dicht, dass die Hand vor den eigenen Augen kaum erkannt werden kann. In solch trüben Winternächten bleiben die Menschen gerne in der warmen Stube. Wenn jemand doch das Haus verlassen muss, kleben demjenigen schon nach wenigen Metern die Kleider auf der Haut und die feuchtkalte Nässe beginnt sich im Körper auszubreiten. Eine Eiseskälte erfasst langsam und schleichend sämtliche Glieder.
Jedoch genau in dieser bitterkalten Nacht tragen sich die merkwürdigsten Dinge zu.
Ganz an den Rand einer Häuserreihe gedrückt, bewegt sich ein ganz in schwarz gekleideter Mensch. Man kann an der Art, wie sich dieser Mensch vorwärts bewegt, nicht erkennen, ob es sich um eine Frau oder um einen Mann handelt. Diese Gestalt geht in einer gebückten, ja fast krummen Haltung ganz langsam, gerade so, als würde die Gestalt über Eier oder brennende Kohlen gehen, vorwärts.
Nur sehr gute Beobachter können diese dunkel gekleidete Gestalt überhaupt wahrnehmen, sie schiebt sich ganz eng an den Häusern vorwärts und bleibt immer wieder stehen, um sich umzusehen. Es schneit grosse dicke Flocken, die Gestalt kommt nur langsam, sehr bedächtig vorwärts, ganz sachte bewegt sie sich, sie macht den Eindruck als wenn sie eine schwere, sehr schwere Last mit sich herumschleppen würde und diese Last scheint die Gestalt zu Boden zu drücken. Bei näherem Betrachten kann man ein kleines schmächtiges Bündel in den Armen der Gestalt erkennen, geschützt durch eine lumpige, ebenfalls ganz schwarze Decke.
Unvorstellbar, was die Gestalt bei diesem unwirtlichen Wetter hier draussen macht. Träge und schleppend bewegt sie sich durch die Gassen, der Schritt verlangsamt sich, der Atem dringt nur noch stossweise aus der Lunge. Sie bleibt stehen und wickelt den Umhang noch fester um sich, nur so ist es ihr möglich, ein wenig schützende Wärme zu erhalten und nicht von der klirrenden Kälte erfasst und direkt eingefroren zu werden. Weiter bewegt sich die dunkle, schwarz gekleidete Person durch das ganze Dorf, immer wieder innehaltend und sich nach allen Seiten umblickend, sie wirkt wie ein gehetztes Tier und dabei sehr träge. Erst als die Gestalt das Dorf verlässt, beschleunigt sie ihren Schritt und nähert sich langsam dem Friedhof mit der dahinterliegenden Kirche. Hier verlangsamt sich der Schritt der Gestalt.
Sie drückt sich durch das kleine Tor hindurch, geht vorsichtig, sich immer wieder nach allen Seiten umblickend, zur Pfarrhaustüre. Die Gestalt nimmt das kleine Bündel und legt es sorgfältig und sehr, sehr behutsam vor die Türe des hiesigen Dorfpfarrers.
Mit voller Kraft klopft die Gestalt an der Tür des Pfarrers, sie wiederholt das Klopfen zweimal. Letzte Blicke nach beiden Seiten, und schon entschwindet die Gestalt unbemerkt und ohne sich noch einmal umzuwenden.
Ich, Pfarrer Romuald Rommel, sitze gerade gemütlich vor meinem Kamin und freue mich, dass ich nicht mehr nach draussen muss. Wie ich solche Momente liebe! Nach meinen Tagesgeschäften bin ich froh, wenn ich mich einem guten Buch widmen kann.
Gerade schön in meine geliebte Wolldecke eingewickelt, das Kaminfeuer prasselt, lege ich die Füsse hoch und greife nach meinem Buch. Mit einem lauten Seufzer der Erleichterung schlage ich die Seite auf, auf der ich zuletzt gelesen hatte. Doch auf einmal höre ich ein kratzendes Geräusch an meiner Tür. ›Ach, wird bloss eine Katze sein, bei diesem unwirtlichen Wetter wird wohl niemand mehr unterwegs sein‹, sage ich zu mir selbst. Also lehne ich mich erneut zurück und schlage die Seite in meinem Buch auf. Jetzt widme ich mich wieder voll und ganz meinem Buch.
Da, erneut höre ich ein Geräusch diesmal ist es aber ein lautes Klopfen. ›Was zum T…, oh, Entschuldigung‹, sage ich und werfe einen demütigen Blick nach oben. ›Muss ich wirklich nachschauen?‹ Also lege ich schweren Herzens meine heiss geliebte Wolldecke zur Seite und mache mich auf den Weg zur Tür.
Da, wieder … das Klopfen wiederholt sich und wird lauter und heftiger, auf einmal läuft mir der kalte Schweiss den Rücken hinunter. Vorsichtshalber schaue ich zuerst durch das kleine Fenster neben der Tür. Ich kann beim besten Willen nichts erkennen. Also schliesse ich sehr langsam die Tür auf. Da! Ich höre dieses Wimmern wieder, langsam macht sich bei mir die Furcht breit. Doch jetzt lasse ich mich nicht mehr aufhalten.
Mit einem Ruck ziehe ich die Tür schwungvoll auf. Nichts! Einfach nichts ist zu sehen! Schon auf dem Weg, die Tür wieder zu schliessen, wimmert es wieder, diesmal direkt zu meinen Füssen. Als ich nach unten schaue, entdecke ich ein kleines Bündel. Eine etwas fadenscheinige Wolldecke und darin eingewickelt – ich kann es kaum glauben, dass ausgerechnet mir so etwas zustösst. In Büchern habe ich ja schon davon gelesen, aber dass es so etwas wirklich gibt! Und dann noch bei mir, das hätte ich mir wirklich nicht träumen lassen.
Sofort packe ich das Bündel und lege es behutsam, schon fast ehrfürchtig auf meine grossen starken Arme. Sofort beginnt mein Herz zu klopfen, was mache ich jetzt nur? Also, zuerst muss ich es aufwärmen, bei dieser Kälte draussen, dass hält ja niemand aus. Ich wickle das Bündel sofort aus seiner schäbigen Wolldecke. Ganz erstaunt schaue ich zu dem Bündel hinunter und es verschlägt mir, Romuald Rommel, erstmal die Sprache. Wie angewurzelt stehe ich da und starre auf das von mir Entdeckte hinab.
Aus grossen Kulleraugen lächelt mir ein kleiner Knabe entgegen, aber schon verzieht er wieder sein winziges Gesicht und beginnt von Neuem zu weinen. ›Na, du kleiner Racker, wirst wohl Hunger haben? Aber zuerst muss ich dich mal richtig aufwärmen.‹ Nicht mal eine Windel hat der kleine Knabe an. Schnell packe ich meine eigene Wolldecke und wickle den Knaben fest darin ein. Die Decke reibe ich ein bisschen über den kalten Körper. Der Kleine soll es schnell wieder ganz warm haben. Als ich die schwarze fadenscheinige Decke wegstreife, fällt ein winziges Stück Papier zu Boden. Ich, Romuald sehe es, kümmere mich jedoch zuerst um den Jungen. Jetzt kann ich erkennen, dass der Junge lächelt und gähnend fallen ihm vor Erschöpfung die Augenlider zu. Jetzt erst lege ich den Jungen hin, gerade so, dass er ja nicht zu Boden fallen kann. Als ich sicher bin, dass er in Sicherheit ist, hebe ich den kleinen Zettel auf. Darauf steht ganz krakelig und fast unleserlich etwas geschrieben. ›Das muss jetzt warten‹, sage ich mehr zu mir selbst.
Zuerst will ich mich um den Kleinen kümmern. Danach kümmere ich mich um diesen Zettel und um alles Weitere. Der Knabe hat bereits wieder eine leicht rosige Gesichtsfarbe angenommen und döst friedlich vor sich hin. Wie aus heiterem Himmel schiesst mir der Gedanke durch den Kopf, dass der Junge eben erst vor der Türe niedergelegt wurde. Sofort mache ich kehrt und schiesse wie vom Blitz getroffen aus der Tür, direkt hinaus in die Eiseskälte. Wieder umgekehrt und eine warme Jacke und richtiges Schuhwerk angezogen, renne ich den Weg über den Friedhof hinunter, um die Person, die das Kind hierhergebracht hat, einzuholen. Also eile ich an der Kirche vorbei über den Friedhof bis zum Törchen, das in die Kirchenanlage hineinführt.
Ich schaue nach rechts, dann nach links. Einfach nach allen Seiten, danach gehe noch ein Stückchen den Weg hinunter, doch nichts, niemand ist zu sehen. Der dicke Nebel erschwert die Sicht gewaltig, ich kann beim besten Willen nichts erkennen. Also mache ich kurzum kehrt und gehe schnurstracks ins Haus zurück. Der kleine Wurm braucht mich jetzt, um alles andere kann ich mich auch noch morgen kümmern.
Wieder im Pfarrhaus. Der Junge ist eingeschlafen, so kann ich also in Ruhe nachsehen, was auf dem Zettel steht. Ich begebe mich zu meiner Leselampe und halte den Zettel ans Licht.
Ursian der Bärenstarke?? Jetzt wissen wir’s!‹, sage ich zu mir selber. Jetzt kommt aber Leben in meine gefrorenen Glieder. Ich lege Ursian auf weitere warme Wolldecken und reibe ihn damit ab, bis sein kleiner Körper feuerrot ist.
Dann suche ich alte Tücher, welche ich als Windeln benutze. Ungelenk wickle ich Ursian in diese ein. ›Hunger hast du auch, also wollen wir mal sehen, ob ich noch etwas frische Milch im Haus habe.‹ Mit diesen Worten entschwinde ich in die kleine Küche, schon wieder, am liebsten würde ich einen gottserbärmlichen Fluch ausstossen, aber stattdessen schaue ich nur ehrfürchtig zum Himmel.
Kurz schaue ich nach dem Kleinen, der vor lauter Hunger angefangen hat zu weinen. Jetzt greife ich sofort zum Telefon und rufe meine Haushälterin Wilhelmina Willibald an.
›Ich weiss, es ist etwas spät und eine grauenvolle Nacht, aber ich weiss nicht mehr weiter. Vor allem habe ich keinen Tropfen Milch oder sonst etwas, das für Babys geeignet wäre, im Hause.‹ So schildere ich ihr die Situation.
Nach diesem Anruf macht sich die Haushälterin schnurstracks auf den Weg, um dem armen Pfarrer in seiner Not beizustehen. Um schneller mit der Milch zum Pfarrhaus zu kommen, macht sich die gute Wilhelmine mit dem alten klapprigen Fahrrad auf den Weg durch das Schneegestöber, sie fährt so schnell sie nur kann.
Zum Glück kennt sie den Weg wie ihre eigene Hosentasche, denn sonst würde sie sich in dem Schneegestöber nicht mehr zurechtfinden. Ich erwarte sie bereits an der Tür, nehme ihr die Milch ab, um sie sofort für den Kleinen zu erwärmen. Wilhelmine Willibald bleibt über Nacht bei dem Neugeborenen im Gästezimmer, damit ich meine verdiente Ruhe finden kann. Was nicht heisst, dass ich etwa geschlafen hätte, ich konnte kein Auge zu machen, so sehr beschäftigte mich das Schicksal des kleinen Ursian und dessen Mutter und Vater. Ich möchte heute noch gerne wissen, wer dich, Ursian, damals vor meiner Tür abgelegt hat.
Ja, den Rest der Geschichte kennt ihr ja.« Mit diesen Worten beendet Romuald die Geschichte. »Es ist schon spät, jetzt gehen wir zu Bett.« Die Kinder begeben sich in ihre Zimmer und Pia und Willi schlafen auch gleich ein.
Anders Ursian. Ursian ist 7 Jahre alt und bereits 160 cm gross. Seine schlanke, starke Statur wird durch die dunkelbraunen, ja fast schwarzen Haare betont. Seine Hände sind der Körpergrösse entsprechend gross und stark. Ursian trägt immer ein rotes Halstuch mit weissen Edelweissen.
Er denkt darüber nach, was sich heute alles zugetragen hat.
Ursian und Pia spielen mit ihrem Freund Willi in der alten Dorfkirche. Romuald Rommel, der Pfarrer, hätte bestimmt keine Freude, würde er davon erfahren.
»Also ich zähle bis 10 und dann komme ich euch suchen«, ruft Willi, so laut, dass es in der Kirche von all den alten Wänden zurück hallt. Etwas mystisch mutet die Stimme von Willi an, wie sie so von den hohen Wänden zurückprallt. Ursian und Pia springen in zwei verschiedene Richtungen, um sich zu verstecken.
Eine lange Weile sehen sie sich schweigend an, dann suchen sie weiter nach einem geeigneten Versteck.
Pia ist sehr schnell, sie versteckt sich in dem alten morschen Beichtstuhl. Sie hat Glück, denn kein Ton verrät, dass sie dort ihr Versteck gefunden hat.
Pia Pippig ist 7 Jahre alt, hat lange blonde Zöpfe, ihre kindliche, für ihr Alter hochgewachsene, schlaksige Statur verrät bereits jetzt, dass sie sich zu einer Schönheit mausern wird. Sie trägt ein Halstuch mit einem Muster, das aus Edelweissen besteht, allerdings ein blaues, sie hat es von Ursian geschenkt bekommen.
Jetzt bemerkt Pia, dass sie durch den löchrigen Vorhang die gesamte Kirche überblicken kann. Also sieht sie Willi in der Ecke stehen und zählen. Ursian kann sie nirgends sehen, also hat auch er ein Versteck gefunden, denkt sie bei sich. Sie schaut sich weiter um, dabei fällt ihr Blick in den langen Gang der Kirche. Ein langer Schatten zieht sich dort durch das Kirchenschiff. Als Pia aufsieht, kann sie erkennen, wie eine Person vor der offenen Kirchentür steht. Diese Person ist riesengross und ganz schwarz gekleidet.
Weil die Sonne so blendet, kann Pia ausser dem Schatten nichts erkennen. Jetzt wird sie wieder abgelenkt, ihr Freund Willi ist eifrig am Zählen. Pia drückt sich noch tiefer in den Beichtstuhl zurück.
»Zwanzig, einundzwanzig …«, so hört sie, wie ihr Freund Willi zählt. »Neunundzwanzig, dreissig …« Willi hat braune Haare, keine besondere Farbe, eher langweilig und unauffällig wie auch sein ganzes Verhalten. Willi ist sehr ängstlich und gerät nur durch Pia und Ursian immer wieder in die phantastischen Geschichten hinein. Er trägt ein moosgrünes Halstuch mit Edelweissen darauf.
Bereits als Pia in einem der alten Beichtstühle verschwunden ist, versucht Ursian die alte knorrige Treppe, die zur Empore führt, ohne dass sie knarrt hochzugehen.
»Dreiundzwanzig, vierundzwanzig.« Als der erste Tritt und die nächsten beiden jedoch so fest knarren, dass Willi sicher schon im Vornherein weiss, wo er sich versteckt, macht Ursian auf den Zehenspitzen kehrt und sucht sich ein anderes Versteck. »Vierunddreissig, fünfunddreissig.«
Er schleicht sich ins Seitenschiff und nimmt den hinteren Treppenaufgang zu den oberen Zimmern. »Neununddreissig, vierzig …«
Eins der Zimmer dient dem Pfarrer als Umkleide und Ruheraum, das andere der zwei Zimmer beinhaltet alte Kirchenstücke, die zu verschiedenen Anlässen immer wieder gebraucht werden.
Ursian entscheidet sich für den Ruheraum. Er versteckt sich hinter einem grossen Banner, das immer um die Osterzeit in der Kirche aufgehängt wird. »Fünfundsechzig, sechsundsechzig.« Ursian hört Willi nur noch sehr leise durch den Treppenaufgang.
»Neunundneunzig, einhundert!! Ich komme! So schnell wurdet ihr noch nie gefunden!« Zielstrebig begibt sich Willi zu den alten Beichtstühlen. Er reisst einen Vorhang nach dem anderen auf, bis er schliesslich mit einem triumphierenden Lächeln Pia direkt in die Augen schaut.
»So, so, das war der erste Streich, der zweite folgt sogleich.« Mit diesen Worten packt er Pia am Handgelenk und bedeutet ihr, dass sie sich ruhig verhalten soll.
Als sich die zwei wieder der Kirche zuwenden, steht mitten im Raum ein Hüne von einem Mann. Er trägt schwarze, vollkommen verdreckte Kleidung. Auf dem Kopf einen breitkrempigen Hut, der fast das ganze Gesicht verdeckt. Ein langer schwarzer Mantel hängt lose über ein paar schwarzen zerrissenen Hosen und ein schwarzes T-Shirt.
Gerade als sie einander sprachlos ansehen, bemerkt der Fremde die beiden Kinder und dreht sich zu ihnen um. Er rückt vor, dabei können die Kinder erkennen, dass er nur noch einen Zahn hat. Den Mund zu einem grässlichen Lächeln verzogen, mustert er die Kinder, bevor er mit einer dunklen tiefen Stimme fragt: »Was macht ihr hier?«
Unentschlossen, was sie darauf antworten sollen, sehen sich die beiden Kinder ängstlich an. »He, ich habe euch was gefragt!«, sagt der Fremde in einem dunklen, sehr, sehr lauten und tiefen Ton.
Ursian hört irgendwelche Geräusche, die durch sein Versteck hinter dem Vorhang gedämpft werden. Er geht noch weiter zurück. »Die werden mich nie finden.«
Pia und Willi sind so erschrocken, dass sie einander nur verdutzt ansehen. Dann fasst Willi sich ein Herz: »Wer sind Sie und was machen Sie hier?«
»Na warte, du frecher Lümmel!« Mit diesen Worten stürzt sich der Fremde auf Willi und versucht ihn zu fassen. Pia bekommt einen riesigen Schrecken und schreit laut auf, rennt dabei in die obere Etage.
Den Schrei hat nun Ursian auch gehört und er spurtet aus seinem Versteck, um zu sehen, was da unten los ist. Noch nie hat er Pia so entsetzt schreien hören, er weiss nicht, was ihn erwartet. Als er auf die Treppe zustürmt, läuft ihm Pia direkt in die Arme. »Was ist denn los? Du siehst aus, als hättest du den Teufel persönlich gesehen.«
»Da unten ist ein Mann, er hat Willi angegriffen!«
Sofort rennt Ursian die Treppe hinunter und biegt um die Ecke. Doch als er ankommt, steht Willi ganz allein und verlassen mitten in der Kirche und schaut ganz verdutzt aus der Wäsche.
»Was ist denn los? Und wo ist der fremde Mann?«, fragt Ursian.
»Welcher Fremde Mann? Und wieso seid ihr beide nicht in euren Verstecken? Ich will euch doch suchen, jetzt ist der ganze Spass vorbei«, heult Willi.
»Pia, was war denn hier los?« Ursian scheint verzweifelt.
»Was? Ich weiss auch nicht, ich war soeben noch im Beichtstuhl. Ach ja, Willi hat mich gefunden, jetzt stehe ich hier, ich weiss nicht weshalb.« Fragend sieht Pia auf ihre beiden Freunde.
»Ja, ich war ebenfalls bei dem Beichtstuhl und jetzt stehe ich da?«
»Na, ich weiss es ganz genau.« Ursian will erzählen, was vorgefallen ist, behält es aber für sich und denkt eine Weile darüber nach.
»Was denn, Ursian, erzähl es uns«, sagt Pia, schaut Ursian mit bittenden Augen an. Doch diesmal kann er widerstehen, er sagt: »Es scheint auch mir entfallen zu sein. Lasst uns zu Romuald gehen, es ist bestimmt schon Nachtessenszeit.«
Imelda Proof ist gerade auf dem Friedhof, als sie einen herzzerreissenden Schrei aus der Kirche hört. Schon sieht sie einen Schatten aus der Kirche rennen. Wie der Blitz geht sie zur Kirche, sie sieht, dass eine Tür offensteht und tritt sofort ein. »Gott sei Dank, den Kindern ist nichts geschehen«, denkt sie für sich.
»Hallo Kinder, was ist denn hier passiert?« Besorgt sieht die nette alte Dame die Kinder der Reihe nach an.
»H…, h…, hallo Frau P…, P…, Proof«, sagt Willi und lässt jetzt endlich seinen Tränen freien Lauf, obwohl er keine Ahnung hat, aus welchem Grund er so verängstigt ist und weshalb sein Herz so laut schlägt. Pia geht sofort hin, um Willi zu trösten.
»Hallo, Frau Proof, wieso sind Sie um diese Zeit in der Kirche?«, fragt nun Ursian.
»Na, ich war auf dem Friedhof und hörte einen Tumult, da ging ich nachschauen. Jetzt sagt aber, was ist hier vorgefallen?«, meint Imelda Proof nachdrücklich.
Imelda Proof lebt schon seit Ewigkeiten im Dörfchen Bacus, niemand weiss so genau, wie alt die ältere Dame wirklich ist. Imelda Proof hat dichte graue Haare, welche zu einem Dutt zusammengebunden sind. Sie benötigt einen Gehstock, da ihr die Beine Schmerzen bereiten. Meistens trägt sie graue Kleidung.
»Was meinen Sie denn?«, fragt nun Willi nach.
»Ich habe dich, Pia, schreien gehört, da bin ich so schnell ich konnte hierher gelaufen.« Jetzt fällt den Kindern erst auf, dass Imelda Proof völlig ausser Atem ist.
»Was? Ich habe doch nicht geschrien, oder habt ihr beiden etwas gehört?« Mit diesen Worten blickt Pia auf ihre beiden Freunde. Beide schütteln die Köpfe. »Vielleicht war dieser Schrei von jemand anderem, oder?«, stellt nun Willi fest.
Ursian sieht seine beiden besten Freunde sprachlos an, denn er weiss haargenau, dass Pia geschrien hat. Auch Imelda Proof sieht einen Moment sehr nachdenklich aus. Doch dann erhellt sich ihre Miene und sie macht kehrt. »Also gut, Kinder, sagt mir einfach, wenn ich euch irgendwie helfen kann. Ich muss jetzt weiter, mein Garten wartet. Tschüss!« Gesagt, und schon ist Imelda zur Kirchentür raus und verschwunden, bevor die Kinder auf Wiedersehen sagen können.
Schnellstens macht sich Imelda Proof auf den Heimweg. »Das hätte ich nicht gedacht, woher kommt der denn nur? Ich habe ihn schon sehr, sehr lange Zeit nicht mehr gesehen.«
»Kinder wo seid ihr?« Mitten in ihrer Tätigkeit hören die drei, wie Romuald sie sucht. »Pia komm, Romuald sucht uns.«
»Ich komme.«
»Ach, ihr seid ja in der Kirche. Was tut ihr denn hier? Ja lasst nur, ich war früher auch immer in der Kirche und weiss schon, was man da so anstellt. Oh, Willi, willst du auch bei uns bleiben zum Nachtessen?«
»Ja, wenn ich darf?«
»Dann rufe geschwind deine Mutter an, du darfst gerne bleiben.«
»Oh, danke.«
Willi wohnt im Dörfchen Bacus bei seiner Mutter. Sein Vater ist schon vor längerer Zeit als verschollen erklärt worden, noch vor der Geburt von Willi. Seitdem arbeitet seine Mutter, Wilhelmina Willibald für den Pfarrer Romuald Rommel.
Das Kaminfeuer knistert und verbreitet eine warme, sehr gemütliche Atmosphäre. Immer abends, wenn es draussen kälter wird, entzündet Pfarrer Romuald Rommel ein Feuer im Kamin in der Pfarrhausstube.
Das Pfarrhaus befindet sich am nördlichen Ende des Dörfchens Bacus. Die uralte Kirche, von der selbst Kenner im Zweifel sind, aus welcher Epoche sie stammen könnte, dominiert das ganze Anwesen. Eine niedrige Mauer zieht sich grosszügig um das gesamte Areal, auf dem sich die Kirche, der Friedhof und das Pfarrhaus befinden. Das Pfarrhaus, in dem auch Ursian und Pia wohnen, liegt hinter der Kirche.
Als die zwei Kinder in ihren Betten liegen, denkt Ursian noch lange über die heutigen Vorkommnisse nach. »Warum kann sich Pia nicht erinnern? Sie hat so laut geschrien! Der Schrei ging mir durch Mark und Bein. Auch Imelda muss diesen Schrei gehört haben. Warum sonst sollte sie dermassen schnell in die Kirche rennen?« Das Grübeln bringt Ursian auch nicht weiter, trotzdem kann er seine Gedanken auf nichts anderes mehr lenken. Nach langer, sehr langer Zeit holt ihn die Müdigkeit ein und er schläft einen unruhigen, traumlosen Schlaf.
Genau wie Ursian liegt auch Imelda Proof noch lange wach. Sie lässt die Geschehnisse des heutigen Tages Revue passieren und muss dabei feststellen, dass es wirklich 700 Jahre her ist, seit sie ihn getroffen hat. »Woher ist er nur gekommen? Und wo ist er die ganze Zeit gewesen?«, denkt sie bei sich. Als wäre es gestern gewesen, kann sie sich an die folgenschwere Walpurgisnacht im Jahre 1304 sehr gut zurückerinnern.
Alljährlich treffen sich die Hexen aus der ganzen Welt, um zusammen die Nacht zu Walpurgis zu feiern. Wie jedes Jahr wird auch diesmal über die schaurigen Machenschaften der gesamten Hexenschar berichtet. Die Hexe jedoch, die den stärksten und mächtigsten Zauber anwenden kann, wird fortan die Hexenschar leiten und die Untaten der anderen überwachen. Dabei werden Bosheiten für das ganze nächste Jahr ausgeheckt. Seit nunmehr 150 Jahren ist es immer Crudelis, die den ehrenvollen Titel der Ober-Hexe der gesamten Hexenschar nicht mehr aus ihren Händen gibt. Nachdem Crudelis den Sieg errungen hatte, wurde ihr das Buch der sieben Todsünden ausgehändigt. Genau mit diesem Buch konnte sie ihre Macht noch verstärken, gerade so wie es noch keiner, auch nicht der schrecklichsten Hexe je gelungen ist.
Xantippe, die kleine nette, unscheinbare Hexe mit ihrer bunt geflickten Blümchenschürze und ihren auch für eine Hexe kleinen 140 cm ist die wohl zerstreuteste aller Hexen, sie liegt auf ihrer Wiese genau vor ihrer Höhle. Sie hat einen langen Grashalm im Mund und blickt verträumt den vorbeiziehenden Wolken nach. Sie bemerkt nicht einmal den langen Schatten, den ihre Freundin genau auf sie wirft, als sie neben ihr landet. Aurora betrachtet Xantippe eine Weile, doch dann kann sie nicht mehr an sich halten.
»Ha, ha, ha«, sprudelt es aus ihr heraus. »Du siehst aus, als ob du schon seit Wochen in diese Trance versunken wärst. Ha, ha, ha.«
Ganz Langsam und bedächtig kehrt Xantippe aus ihren Träumen in die Wirklichkeit zurück. »Oh, hallo, Aurora, bist du schon lange hier?«
»Nein, leider musste ich dich stören, du weisst doch, was heute für ein Tag ist?«
»Ah, ja, es könnte Mittwoch oder vielleicht doch schon Donnerstag sein?«, sagt Xantippe unbesonnen vor sich hin.
»Na, das kann ja noch heiter werden! Heute Nacht ist Walpurgisnacht! «
»Au weia, heute, bist du ganz sicher?«
»Also, wusste ich es doch, du hast es vergessen!«
»Nun ja, wäre möglich, aber nun weiss ich es ja und ich komme immer noch rechtzeitig zu der schönen Feier.«
Darauf seufzt Aurora: »Du bist wirklich ein hoffnungsloser Fall, wann hast du das letzte Mal mit einer der Hexen gesprochen?«
Xantippe schaut ganz belämmert aus der Wäsche. »Seit der letzten Walpurgisnacht nicht mehr, die Zeit verging aber auch wie im Fluge.« Darauf mehr zu sich selbst: »Was habe ich bloss getan, in diesem ganzen Jahr?«
»Jetzt sag bloss, dass du nichts mitgekriegt hast von dem ganzen Ärger?«
Zögernd antwortet Xantippe: »Nein, waruuuum solllllte ich?«
»Nun, Rana hat dich doch immer wieder aufgesucht während des Jahres. Ist dir denn nicht aufgefallen, dass sie nie bei dir erschienen ist?«
»Nein, aber jetzt, wo du es sagst, fällt mir auf, dass ich sie wirklich vermisst habe.«
Aurora atmet hörbar aus, bevor sie weitererzählt. »Unsere grosse Ober-Hexe, die mächtigste aller Hexen, ist ihr begegnet. Ancilla, die sich in der Nähe aufhielt, versteckte sich in einem Gebüsch und konnte von dort aus alles beobachten. Rana kam des Weges gelaufen und auf einmal, wie aus dem Boden geschossen, stand die grosse Ober-Hexe Crudelis vor ihr. Ancilla sagt, es sei schrecklich gewesen zu beobachten, wie sich Crudelis an Rana rächte, nur weil Rana die allerschönste Hexe von allen war.«
»Ja, das ist sie wirklich. Was heisst denn hier war? Du willst doch nicht sagen …« In Xantippes Augen bilden sich Tränen und sie vermag nicht mehr weiterzusprechen.
»Also hör zu, es trug sich folgendermassen zu: Crudelis begrüsste Rana mit folgenden Worten. ›Wo gehst du hin? Rana?‹ Darauf antwortete diese: ›Geh mir aus dem Weg, du hässliche Kröte, nur weil du die Ober-Hexe bist, musst du dich hier nicht so aufplustern.‹ Und Ancilla, die dies alles mit anhörte, wäre beinahe in Ohnmacht gefallen vor Schreck. Crudelis, die wegen dieser ungehörigen Bemerkung ganz grün im Gesicht wurde, sagte zuckersüss: ›Nun, du scheinst keine hohe Meinung von der obersten aller Hexen zu haben?‹ ›Ja, ich habe schon immer auf mich selbst gehört und das wird sich wegen dir bestimmt nicht ändern!‹ Ancilla traute ihren Ohren nicht, was hatte Rana bloss vor, dass sie Crudelis dermassen provozierte? Doch genau in diesem Moment nahm Crudelis ihren Zauberstab und verhexte Rana mit folgenden Worten: ›Rana, Rana, ut ranam.‹ Darauf wurde Rana zu einem hässlichen Frosch.«
Xantippe, auf einmal hellwach: »Aber es gibt doch keinen Zauber, den wir gegeneinander anwenden können!«
Aurora: »Ja, das haben wir alle gedacht, aber offensichtlich ist es Crudelis nun doch gelungen, mächtiger zu werden als wir uns das je vorstellen konnten. Einige versuchten, denselben Zauber bei ihren Artgenossinnen anzuwenden, doch zum Glück ist es keiner gelungen. So, jetzt beeil dich, wir sind sehr spät dran.« Aurora ruft ihren Besen und macht sich sofort auf den Weg.
Xantippe muss erst noch ihren Besen suchen, da fällt ihr doch tatsächlich der Zauberspruch, mit dem sie den Besen zum Fliegen bringt, nicht mehr ein. Ratlos steht sie auf ihrer Wiese. Ancilla dachte sich schon etwas Ähnliches und schiesst aus heiterem Himmel wieder zurück: »Dachte ich’s mir doch, du hast schon wieder den einfachsten Zauber vergessen!«
»Ja«, gibt Xantippe klein bei. Da ruft Aurora: »Scopae, vola!« Mit diesen Worten entschwindet sie wieder in den Lüften. Gefolgt von Xantippe.
Gerade als Xantippe und Aurora auf die Wiese fliegen, können sie wieder die merkwürdigsten Dinge beobachten. Ein Hase sitzt da, wie versteinert, Büsche fangen wie aus heiterem Himmel Feuer, Steine kullern ohne Grund bergaufwärts, um dann mit einem riesigen Getöse wieder hinunter zu preschen. Aber auch Hexen werden auf einmal vom Besen ihrer Konkurrentin angegriffen. Dieser ganze Tumult macht auf Xantippe keinen Eindruck, sie sammelt als einzige Blumen und bindet diese zu einem Haarband.