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»Das beste Buch, das ich je über die Geschichte des Lebens auf der Erde gelesen habe.« Tom Holland
Tropische Wälder in der Antarktis. Ein Wasserfall von unvorstellbarer Größe, der das trockene Mittelmeerbecken mit Leben füllt. Eine Python, die in der kenianischen Savanne frühe Verwandte des Menschen auf Bäume jagt. Die Vergangenheit ist lebendig – und sie hinterlässt Spuren. Der Paläontologe Thomas Halliday entziffert sie origineller denn je. Anschaulich lässt er verlorene Welten wiederaufleben, erklärt, wie Ökosysteme entstehen und verschwinden, wie alte Spezies durch neue verdrängt werden, wie Lebewesen wandern, sich anpassen und entwickeln. In bester Nature-Writing-Tradition führt Halliday durch 500 Millionen Jahre Erdgeschichte und sieben Kontinente – und zeigt, wie wertvoll die fossilen Spuren auch für den Kampf gegen Klimawandel und Artensterben sind.
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Seitenzahl: 726
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»Das beste Buch, das ich je über die Geschichte des Lebens auf der Erde gelesen habe.« Tom HollandTropische Wälder in der Antarktis. Ein Wasserfall von unvorstellbarer Größe, der das trockene Mittelmeerbecken mit Leben füllt. Eine Python, die in der kenianischen Savanne frühe Verwandte des Menschen auf Bäume jagt. Die Vergangenheit ist lebendig — und sie hinterlässt Spuren. Der Paläontologe Thomas Halliday entziffert sie origineller denn je. Anschaulich lässt er verlorene Welten wiederaufleben, erklärt, wie Ökosysteme entstehen und verschwinden, wie alte Spezies durch neue verdrängt werden, wie Lebewesen wandern, sich anpassen und entwickeln. In bester Nature-Writing-Tradition führt Halliday durch 500 Millionen Jahre Erdgeschichte und sieben Kontinente — und zeigt, wie wertvoll die fossilen Spuren auch für den Kampf gegen Klimawandel und Artensterben sind.
Thomas Halliday
Urwelten
Eine Reise durch die ausgestorbenen Ökosysteme der Erdgeschichte
Aus dem Englischen von Hainer Kober
Hanser
1Nördliche Hemisphäre: vor 20.000 Jahren
2Erde im Pliozän: vor 4 Millionen Jahren
3Mittelmeerbecken: vor 5,33 Millionen Jahren
4Erde im Oligozän: vor 32 Millionen Jahren
5Antarktika und Südpolarmeer: vor 41 Millionen Jahren
6Nordamerika: vor 66 Millionen Jahren
7Erde in der frühen Kreide: vor 125 Millionen Jahren
8Europäisches Inselmeer: vor 155 Millionen Jahren
9Erde in der Trias: vor 225 Millionen Jahren
10Pangäa und Tethysmeer: vor 253 Millionen Jahren
11Erde im Karbon: vor 309 Millionen Jahren
12Old-Red-Kontinent: vor 407 Millionen Jahren
13Erde im Silur: vor 435 Millionen Jahren
14Südliche Hemisphäre: vor 444 Millionen Jahren
15Erde im Kambrium: vor 520 Millionen Jahren
16Erde im Ediacarium: vor 550 Millionen Jahren
Einleitung
»Sagen wir nicht, die Vergangenheit sei tot.
Die Vergangenheit umgibt uns und ist in uns«
Oodgeroo Noonuccal, The Past
»Welcher Sturm es ist, der mich in diesen tiefen Ozean vergangener Zeiten bläst, vermag ich nicht zu sagen«
Ole Worm
Ich schaue zum Fenster hinaus, über Ackerland, Häuser und Parks hinweg auf einen Ort, der seit Jahrhunderten World’s End, Ende der Welt, genannt wird. Den Namen hat er, weil er sich einst in weiter Ferne von London befand, einer Stadt, die ihn heute, unaufhaltsam wachsend, längst verschlungen hat. Doch vor gar nicht so langer Zeit war er wirklich das Ende der Welt. Der Boden bildete sich in der Eiszeit, eine Mischung aus dem Kies, der von Nebenflüssen der Themse abgelagert wurde. Als die Gletscher näher rückten, veränderte die Themse ihren Lauf, sodass sie heute gut 150 Kilometer südlich vom einstigen Flussbett ins Meer mündet. Beim Blick aus dem Fenster auf die zerklüfteten Hügel — vom Gewicht des Eises zusammengepresster Lehm — ist es fast möglich, sich die Hecken, Gärten, Straßenlaternen wegzudenken und eine andere Landschaft vorzustellen, eine kalte Welt am Rand eines Eisschilds, der sich über Hunderte von Kilometern erstreckt. Unter dem eisigen Kies liegt der Londoner Lehm, in dem die einstigen Bewohner konserviert sind — Krokodile, Meeresschildkröten und frühe Verwandte des Pferdes. Die Landschaft, in der sie lebten, war ein warmes, tropisches Paradies voller Mangrovenwälder, Papayas und Gewässern mit Seegras und riesigen Seerosenblättern.
Die Welten der Vergangenheit können manchmal unendlich fern erscheinen. Rund 4,5 Milliarden Jahre reicht die geologische Geschichte der Erde zurück. Leben gibt es auf diesem Planeten seit ungefähr 4 Milliarden Jahren und Leben, das größer ist als ein einzelliger Organismus, seit etwa 2 Milliarden Jahren. Die Landschaften, die sich im Laufe der geologischen Zeit bildeten, waren, wie die paläontologischen Funde offenbaren, vielfältig und gelegentlich grundverschieden von der heutigen Welt. Der schottische Geologe und Schriftsteller Hugh Miller meinte, als er über die Dauer der geologischen Zeit nachdachte, dass all die Jahre menschlicher Geschichte »noch nicht einmal in das Gestern der Erde hineinreichen, ganz zu schweigen von den zahllosen Zeitaltern, die ihm vorausgingen«. Und dieses Gestern ist zweifellos lang. Verdichtete man alle 4,5 Milliarden Jahre der Erdgeschichte zu einem einzigen Tag und ließe sie dann ablaufen, spulten in jeder Sekunde 300.000 Jahre ab. In rasendem Tempo sähen wir Ökosysteme entstehen und vergehen und mit ihnen die Arten auftauchen und aussterben, die ihr lebendes Inventar waren. Wir könnten beobachten, wie Kontinente driften, klimatische Verhältnisse sich von einem Augenblick zum andern verändern und wie plötzliche, dramatische Ereignisse seit Langem existierende Lebensgemeinschaften auseinanderreißen, meist mit verheerenden Konsequenzen. Das Massenaussterben, das Flugsaurier, Plesiosaurier und alle Nichtvogeldinosaurier auslöschte, findet genau 210 Sekunden vor dem Ende statt. Die Geschichte der Menschheit, die in Schriftquellen erschlossen ist, würde in den letzten zwei Hundertsteln einer Sekunde beginnen.1
Zu Beginn der letzten Hundertstelsekunde dieser verdichteten Zeit wurde in Ägypten, unweit des heutigen Luxors, ein dem Totenkult gewidmeter Tempelkomplex errichtet, die Grabanlage von Pharao Ramses II. Schaut man zurück auf das Bauwerk des Ramsesseums, so ist es nur ein flüchtiger Blick über den schwindelnden Abgrund der geologischen Tiefenzeit, und doch ist dieses Monument bekannt als Inbegriff der Vergänglichkeit. Das Ramsesseum ist der Ort, der Percy Bysshe Shelley zu Ozymandias inspirierte, einem Gedicht über den Kontrast zwischen den hochtrabenden Worten eines allmächtigen Pharaos und einer Landschaft, die zu der Zeit, als das Gedicht geschrieben wurde, nichts als Sand war.2
Als ich das Gedicht zum ersten Mal las, hatte ich keine Ahnung, worum es ging, und nahm irrtümlich an, Ozymandias sei der Name eines Dinosauriers. Der Name war lang und ungewöhnlich. Und er war schwierig auszusprechen. In den anschaulichen Worten des Gedichts war von Tyrannei und Macht, von Steinen und Königen die Rede. Kurzum, das Muster passte in die Bilderbücher meiner Kindheit über vorgeschichtliches Leben. Bei »Ein Wandrer kam aus einem alten Land, und sprach: Ein riesig Trümmerbild von Stein steht in der Wüste, rumpflos Bein an Bein« dachte ich an eine Gipsummantelung irgendeines schrecklichen Untiers aus der Vorgeschichte. Vielleicht ein tyrannischer Echsenkönig, im Ödland Nordamerikas zu Steinen und Knochenfragmenten zerbrochen.
Nicht alles, was zerbricht, ist verloren. Die Zeilen »Und auf dem Sockel steht die Schrift: ›Mein Name ist Osymandias, aller Kön’ge König: — Seht meine Werke, Mächt’ge, und erbebt!‹ Nichts weiter blieb« könnte man verstehen als den Triumph der Zeit über einen machttrunkenen Herrscher, doch die Welt des Pharaos ist nicht in Vergessenheit geraten. Die Statue ist ein Beweis für seine Existenz, die Bedeutung der Worte, die Einzelheiten des Stils verweisen auf den Kontext. So verstanden, zeigt uns Ozymandias eine Möglichkeit, mit den versteinerten Organismen und ihren Umwelten umzugehen. Lassen wir die Hybris fort, so können wir dem Gedicht entnehmen, wie wir die Wirklichkeit der Vergangenheit in den Überresten entdecken können, die bis in die Gegenwart überlebt haben. Selbst ein Bruchstück kann eine ganze Geschichte erzählen, ein Beleg für etwas sein, das jenseits der verlassenen Sandfläche liegt, für etwas anderes, das sich einst an diesem Ort befand. Für eine Welt, die es zwar nicht mehr gibt, die aber noch erkennbar ist, sich erschließen lässt durch das, was sich zwischen den Steinen befindet.
Ursprünglich trug das Ramsesseum einen Namen, der in der Übersetzung »Das Millionenjahrhaus« lautet, ein Begriff, der sich auch leicht auf die Erde anwenden ließe. Die Vergangenheit unseres Planeten liegt unter Staub und Erde verborgen. In ihrer Kruste trägt sie die Narben ihrer Bildung und Veränderungen, und auch sie ist eine Grabanlage und erinnert an ihre einstigen Bewohner mit steinernen Zeugnissen, wobei die Fossilien zugleich Grabmale, Totenmasken und Leichname sind.3
Diese Welten, diese Urwelten, lassen sich nicht besuchen — zumindest nicht physisch. Niemals werden wir die Landschaften besichtigen können, durch die die gigantischen Dinosaurier streiften, niemals denselben Boden betreten wie sie, niemals in demselben Wasser schwimmen. Der einzige Weg, uns ihnen näher zu fühlen, führt über die Steine, über die Fußabdrücke, die sie im erstarrten Sand hinterlassen haben, über die Fantasie, die Imagination einer verschwundenen Erde.
Das vorliegende Buch ist eine Erkundung der Erde, wie sie einst war, der Veränderungen, denen sie im Laufe ihrer Geschichte unterworfen war, und der Formen, die das Leben entwickelte, um sich anzupassen — oder auch nicht. In jedem Kapitel werden wir, dem Fossilbericht folgend, eine Fundstätte aufsuchen, an der die geologische Vergangenheit ihre Spuren hinterlassen hat, um dort die Pflanzen und Tiere zu betrachten, in die Landschaft einzutauchen und von diesen untergegangenen Ökosystemen so viel wie möglich über unsere eigene Welt zu erfahren. Wenn wir solche ausgestorbenen Stätten mit der Geisteshaltung eines Reisenden, eines Safariteilnehmers besuchen, lässt sich vielleicht, so hoffe ich, der Abstand zwischen Vergangenheit und Gegenwart überbrücken. Macht man eine Landschaft sichtbar, gegenwärtig, so ist es leichter, einen Eindruck von der oft vertrauten Lebensweise dieser Organismen zu gewinnen, wie sie dort konkurrierten, sich paarten, fraßen und starben.
Bis hin zum letzten der »fünf großen« Massenaussterben vor 66 Millionen Jahren ist eine Fundstätte für jede geologische Epoche ausgewählt worden, die zusammen unsere eigene Ära, das Känozoikum, bilden. Vor diesem Massenaussterben wird bis zum 500 Millionen Jahre zurückliegenden Ediacarium jeder geologischen Periode (die mehrere Epochen umfasst) eine Fundstätte zugeordnet. Für die Auswahl einiger Orte war ihre bemerkenswerte Biologie ausschlaggebend, für andere ihre ungewöhnliche Umwelt, für wieder andere der Umstand, dass sie sehr gut erhalten waren und uns aufschlussreiche Einblicke in das Leben und die Wechselbeziehungen früherer Zeiten vermittelten.
Reisen müssen zu Hause beginnen, also wird diese Reise von der Gegenwart zurück in die Vergangenheit führen. Zunächst suchen wir die relativ vertraute Umgebung der Eiszeiten im Pleistozän auf, als die Gletscher einen Großteil des weltweit existierenden Wassers einfroren und die Meeresspiegel der Erde senkten, und gehen dann weiter und weiter in der Zeit zurück. Leben und Geografie werden uns immer fremder. Die geologischen Epochen bringen uns in die frühen Tage der Menschheit zurück, vorbei an den größten Wasserfällen, die es jemals auf der Erde gab, durch eine gemäßigte, bewaldete Antarktika und dann weiter bis zum Massenaussterben am Ende der Kreide.
Daraufhin werden wir die Bewohner des Mesozoikums und Paläozoikums kennenlernen, Wälder besuchen, die fest in der Hand von Dinosauriern sind, ein Glasriff sehen, das Tausende von Kilometern lang ist, und eine Wüste erleben, die vom Monsun durchweicht wird. Wir werden untersuchen, wie sich Organismen an vollkommen neue ökologische Verhältnisse anpassen, ihren Lebensraum an Land oder in die Luft verlagern und wie das Leben, indem es vollkommen neue Ökosysteme schafft, die Möglichkeit zu noch mehr Vielfalt eröffnet.
Nach einem kurzen Abstecher ins Proterozoikum, die Zeit vor etwa 550 Millionen Jahren — den geologischen Äon vor dem unseren —, werden wir auf unsere eigene Erde, die Erde der Gegenwart, zurückkehren. Die Landschaften der modernen Welt verändern sich rasch infolge der Störungen durch den Menschen. Was können wir von der nächsten und etwas ferneren Zukunft erwarten, wenn wir sie mit den radikalen Umweltturbulenzen der geologischen Vergangenheit vergleichen?
Wir sind wohl kaum in der Lage, auf unserem Planeten herumzuexperimentieren, um festzustellen, welche Veränderungen in einer kohlenstoffreichen Atmosphäre auf kontinentaler Größenskala eintreten, noch haben wir genügend Zeit, um mit eigenen Augen zu sehen, was ein globaler Kollaps des Ökosystems bewirkt, bevor man ihn abmildert. Wir müssen unsere Vorhersagen auf genaue Modelle der globalen Prozesse stützen. Hier können sich die dynamischen Veränderungen, denen die Erde im Laufe ihrer geologischen Geschichte unterworfen war, als ein natürliches Labor erweisen. Antworten auf so langwierige Fragen lassen sich nur finden, indem wir Zeitabschnitte betrachten, in denen die frühere Erde ein Abbild dessen bietet, was wir von der künftigen Erde zu erwarten haben. Es gab fünf große Massensterben, die Trennung und Wiedervereinigung kontinentaler Landmassen, Veränderungen in der Chemie und Zirkulation von Ozeanen und Atmosphäre — lauter Vorgänge, die uns verständlicher machen, wie das Leben in einem geologischen Zeitrahmen funktioniert.
Wir können dem Planeten Fragen stellen. Die Biologie der Vergangenheit ist nicht nur eine Merkwürdigkeit, die man träumerisch betrachtet oder die fremd und außerweltlich erscheint. Ökologische Prinzipien, die für moderne Regenwälder und die Flechtenwelt der Tundra gelten, lassen sich genauso auf die Ökosysteme der Vergangenheit anwenden. Zwar ist die Besetzung anders, aber das Stück bleibt dasselbe.
Für sich betrachtet, ist ein Fossil ein wunderbares Anschauungsobjekt für anatomische Vielfalt, für Form und Funktion und für die ungeahnten Folgen, die eine winzige Veränderung eines Organismus für das gesamte Instrumentarium der Entwicklung haben kann. Aber genauso wie die antiken Statuen immer im Kontext einer Kultur standen, hat auch nie ein Fossil, egal, ob Tier, Pflanze, Pilz oder Mikrobe, jemals in Isolation existiert. Jedes Lebewesen war Teil eines Ökosystems, einer Interaktion zwischen zahllosen Arten und der Umwelt, einer komplexen Mischung von Leben, Wetter und Chemie, außerdem abhängig von der Erdumdrehung, der Position der Kontinente, den Mineralien im Boden oder dem Wasser und von den Einschränkungen, für die frühere Bewohner des Gebiets verantwortlich waren. Die Wiedererschaffung von Welten, in denen die Produzenten heutiger Fossilien lebten, ist eine Herausforderung, der sich die Paläontologen seit dem 18. Jahrhundert stellen — Versuche, die in den letzten Jahrzehnten an Tempo und Detailgenauigkeit zugenommen haben.
Jüngere paläontologische Fortschritte haben Einzelheiten aus vorgeschichtlichem Leben offenbart, die man noch vor Kurzem für unmöglich gehalten hätte. Indem wir tief in die Strukturen von Fossilien eindringen, können wir heute die Farben von Federn, Käferpanzern und Echsenschuppen rekonstruieren und die Krankheiten bestimmen, unter denen diese Tiere und Pflanzen gelitten haben. Durch den Vergleich mit lebenden Arten ist es uns möglich, etliche ihrer Eigenschaften zu ermitteln — ihre Interaktionen in Nahrungsnetzen, ihre Bisskraft, die Schädelstärke, die Sozialstruktur und Paarungsgewohnheiten und sogar, in seltenen Fällen, den Klang ihrer Rufe. Die Landschaften der fossilen Überlieferung beschränken sich nicht mehr auf bloße Sammlungen von Abdrücken in Gesteinsschichten und taxonomische Namenslisten. Die jüngste Forschung hat blühende Gemeinschaften voll pulsierenden Lebens entdeckt, Überreste realer, lebendiger Organismen, die balzten und erkrankten, die mit bunten Federn oder Blüten prahlten, riefen und summten, Welten bewohnten, die den gleichen biologischen Prinzipien gehorchten wie die heutige.4
Das entspricht vielleicht nicht den Vorstellungen, die Menschen in den Sinn kommen, wenn sie an die Paläontologie denken. Das Bild des viktorianischen Gentlemans, der in ferne Länder und andere Kulturen reist, immer den Hammer in der Hand und bereit, die Erde aufzubrechen, ist noch allgegenwärtig. Als der Physiker Ernest Rutherford einmal, wie es heißt, ziemlich herablassend behauptete, alle Wissenschaft sei »Physik oder Briefmarkensammeln«, dachte er sicherlich an die geordneten Reihen ausgestopfter Tiere, die Schubladen voller Schmetterlinge mit makellos ausgebreiteten Flügeln und die riesigen Skelette, die von rostfreien Stahlnieten zusammengehalten wurden. Dabei trifft man einen Paläobiologen heute nicht nur draußen in der Wüstenhitze an, sondern ebenso häufig vor einem Computer oder an einem ringförmigen Teilchenbeschleuniger, wo er ein Fossil mit Röntgenstrahlen beschießt. Bei meiner eigenen Forschung habe ich vorwiegend mit den Sammlungen in Museumskellern und Computeralgorithmen gearbeitet, um anhand gemeinsamer anatomischer Merkmale die Beziehungen zwischen den Säugetieren zu ermitteln, die nach dem letzten Massenaussterben lebten.5
Es ist durchaus möglich, nur mit Blick auf das gegenwärtig existierende Leben Erkenntnisse über die Geschichte des Lebens zu gewinnen, aber es gleicht dem Versuch, die Geschichte eines Romans nur anhand der letzten Seiten zu verstehen. Man wird auf einige zuvor geschehene Ereignisse schließen können und einiges über die Situation der Personen herausfinden, die zum Schluss noch eine Rolle spielen, aber die Vielfältigkeit der Handlung, zahlreiche Figuren und entscheidende Aspekte der Geschichte werden fehlen. Selbst bei Berücksichtigung der Fossilien bleibt die Geschichte des Lebens für den Laien größtenteils im Dunkeln. Dinosaurier und die eiszeitlichen Tiere Europas und Nordamerikas sind weithin bekannt, und wer etwas vertrauter mit dem Gegenstand ist, wird schon von Trilobiten (»Dreilappern«), Ammoniten und vielleicht auch der Kambrischen Explosion gehört haben. Doch das sind nur Bruchstücke der ganzen Geschichte. Mit dem vorliegenden Buch möchte ich einige der vorhandenen Lücken schließen.
Dieses Buch ist notwendigerweise eine persönliche Interpretation der Vergangenheit. Die lange zurückliegende Vergangenheit, die wahre »Tiefenzeit«, hat für verschiedene Menschen verschiedene Bedeutungen. Für einige ist es erheiternd, ein schwindelerregendes Vergnügen, sich die schier unendliche Zeit auszumalen, die die riesigen Mengen von Plankton brauchten, um sich abzusetzen, sich zu verdichten und zu den Kreidefelsen Kents und der Normandie heranzuwachsen — diesen aus Skeletten geformten Landschaften. Für andere ist es eine Flucht, eine Möglichkeit, sich Lebensweisen vorzustellen, die so ganz anders sind als unsere jetzige, in eine Zeit auszuweichen, als der Menschheit noch nicht das durch sie verursachte Artensterben auf der Seele lag und der Dodo nicht mehr als eine künftige Möglichkeit war. Trotzdem ist alles, was wir in diesem Buch sehen werden, auf Fakten gegründet, die in der Fossilüberlieferung entweder direkt zu beobachten sind, sich schlüssig aus ihr ableiten lassen oder sich dort, wo unser Wissen lückenhaft ist, plausibel auf das stützen, was sich mit Sicherheit sagen lässt. Wo es widerstreitende Meinungen gibt, habe ich mich für eine der konkurrierenden Hypothesen entschieden und sie verwendet. Schließlich gehören Phänomene wie ein Flattern im Unterholz, ein kaum erkennbares Versteck oder der flüchtige Eindruck, etwas bewege sich in der Dunkelheit, wesentlich zu unserem Naturerleben. Ein wenig Mehrdeutigkeit kann genauso faszinierend sein wie eine erwiesene Tatsache.
Die Rekonstruktionen in diesem Buch resultieren aus der Arbeit, die Tausende von Wissenschaftlern während der letzten 200 Jahre geleistet haben. Letztlich hat ihre Interpretation die faktischen Grundlagen dieses Buchs geschaffen. Für einen Paläobiologen sind die Beulen, Grate und Löcher in Knochen, Exoskeletten oder Holz lauter Hinweise, die es ihm ermöglichen, sich ein Bild von einem individuellen Organismus in seinen Lebensverhältnissen zu machen, gleich, ob der Organismus heute noch lebt oder nicht. Den Schädel eines zu einer lebenden Art gehörenden Süßwasserkrokodils zu betrachten heißt eine Charakterbeschreibung lesen. Die verstärkten Knochenfortsätze und Bögen erinnern an gotische Architektur, nur dass sie hier nicht dem Gewicht eines Kathedralendachs standhalten, sondern der unbändigen Kraft der Kiefermuskeln. Die hoch sitzenden Augen und Nasenöffnungen lassen auf tief liegendes Schwimmen, Lauern und Atmen knapp über der Wasseroberfläche schließen; eine lange Reihe von spitzen, aber runden Zähnen, die der geschwungenen Linie einer langen Schnauze folgen, deuten auf eine Ernährungsweise hin, bei der die Beute überrascht, gepackt und festgehalten wird, auch wenn es sich um glitschige Fische handelt. Wir sehen die Narben eines Krokodillebens, Knochenbrüche, die mehr oder minder gut verheilt sind. Das Leben hinterlässt seine Spuren in detaillierter, reproduzierbarer Form.
Heute ist es in der Paläobiologie selbstverständlich, dass man sich, über das Einzelexemplar hinausgehend, mit den Merkmalen früherer Ökosysteme befasst, den Interaktionen, Nischen, Nahrungsnetzen und den Nähr- und Mineralstoffkreisläufen. Versteinerte Erdhöhlen und Fußabdrücke können Aufschluss über Einzelheiten der Bewegungen und Lebensweisen geben, von denen uns die Anatomie nichts verrät. Beziehungen zwischen Arten lassen erkennen, welche Faktoren für ihre Biologie, Verbreitung und Evolution bedeutsam waren. Die Muster und chemische Beschaffenheit der Sandkörner im Sedimentgestein geben Aufschluss über die Umwelt — war diese Klippenwand einst ein mäanderndes Mündungsdelta, dessen Flüsse sich mit ständig wechselnden Verläufen durch ein Wattenmeer schlängelten, oder ein flacher Meeresabschnitt? Handelte es sich dabei um eine geschützte Lagune, wo der Feinschluff im stehenden Wasser langsam auf den Boden sank, oder ein stürmisches Meer mit tobenden Wellen? Welche Lufttemperatur herrschte damals? Wie hoch war der globale Meeresspiegel? Aus welcher Richtung kam der vorherrschende Wind? Alle diese Fragen lassen sich, mit den erforderlichen Kenntnissen, leicht beantworten.6
Nicht für jeden Ort stehen alle diese Informationen zur Verfügung, aber manchmal kommen viele solcher Informationsstränge zusammen, dann kann ein Paläoökologe das facettenreiche Bild einer Landschaft entwerfen, das nicht nur über Klima und Geografie Auskunft gibt, sondern auch über die Tiere, die es bewohnen. Diese Bilder früherer Landschaften, so voller Leben wie die heutigen, vermitteln uns häufig wertvolle Hinweise für unseren Umgang mit unserer gegenwärtigen Welt.
Viele Tiere der natürlichen Welt, deren Existenz wir als selbstverständlich hinnehmen, sind relativ spät hinzugekommen. Gräser, heute Hauptbestandteil der größten Ökosysteme des Planeten, entstanden erst ganz am Ende der Kreide, vor knapp 70 Millionen Jahren, und waren damals seltene Bewohner der Wälder Indiens und Südamerikas. Grasdominierte Ökosysteme bildeten sich erst 40 Millionen Jahre vor der Gegenwart. Den Dinosauriern stand nie Grasland zur Verfügung, und auf der nördlichen Hemisphäre gab es überhaupt kein Gras. Wir müssen uns von allen vorgefassten Meinungen über das Aussehen dieser Landschaften verabschieden, die wir gefasst haben, weil wir die Bilder moderner Arten auf die Vergangenheit projizierten oder Lebewesen zu Gruppen zusammenfassten, die, obwohl alle ausgestorben, doch im Abstand von Millionen Jahren lebten. Zwischen dem Leben des letzten Diplodocusund dem des ersten Tyrannosaurusliegt eine längere Zeitspanne als zwischen dem letzten Tyrannosaurusund Ihrer Geburt. Jurassische Lebewesen wie Diplodocusmussten nicht nur auf Gras verzichten, sondern auch auf Blumen; die Blütenpflanzen diversifizierten sich erst in der mittleren Kreide.7
Angesichts der Biodiversitätskrise, ausgelöst durch Vernichtung und Fragmentierung des Lebensraums in Verbindung mit den fortdauernden Effekten des Klimawandels, ist uns der Gedanke vertraut, dass immer mehr Organismen aussterben. Häufig wird gesagt, wir befänden uns mitten im sechsten Massenaussterben. Und Schreckensnachrichten gibt es genug: großflächiges Ausbleichen von Korallenriffen, Schmelzen der arktischen Eisdecke, Waldzerstörung in Indonesien und im Amazonasbecken. Weniger diskutiert, obwohl ebenso wichtig, sind die Auswirkungen der Trockenlegung von Feuchtgebieten und die Erwärmung der Tundra. Die Welt, die wir bewohnen, verändert sich auf der Ebene der Landschaft. Ausmaß und Verästelungen sind häufig schwer zu verstehen. Der Gedanke, ein so gewaltiges Gebilde wie das Great Barrier Reef, mit seiner ganzen schillernden Vielfalt, könnte eines Tages verschwunden sein, erscheint völlig unglaubhaft. Doch die fossile Überlieferung zeigt uns, dass eine tiefgreifende Veränderung dieser Art nicht nur möglich ist, sondern im Laufe der Erdgeschichte schon mehrfach stattgefunden hat.8
Die heutigen Riffe dürften überwiegend aus Korallen bestehen, aber in der Vergangenheit betätigten sich auch muschelartige Mollusken, Brachiopoden und sogar Schwämme als Riffbauer. Zu den vorherrschenden riffbildenden Organismen wurden die Korallen erst, als die Molluskenriffe im Zuge des letzten Massenaussterbens zugrunde gingen. Die riffbildenden Muscheln entstanden im späten Jura und lösten die ausgedehnten Schwammriffe ab, die ihrerseits die riffbildende Nische gefüllt hatten, nachdem die Brachiopoden-Riffe vom Massenaussterben am Ende des Perms vollkommen ausgelöscht worden waren. Langfristig betrachtet, könnten sich die Korallenriffe von kontinentalen Ausmaßen am Ende als eines jener Ökosysteme erweisen, die niemals wiederkehren, ein definitiv känozoisches Phänomen, das dem menschengemachten Massenaussterben zum Opfer fiel. Gegenwärtig scheint das Gleichgewicht der Korallenriffe und anderer bedrohter Ökosysteme auch für die Zukunft gesichert zu sein, doch die fossile Überlieferung, die uns zeigt, wie rasch Vorherrschaft obsolet werden und verloren gehen kann, sollte uns eine stete Mahnung sein.9
Fossilien mögen nicht den Eindruck erwecken, sie seien besonders geeignete Objekte, um Erkenntnisse über zukünftiges Leben zu vermitteln. Der seltsame Charakter der fossilen Abdrücke, dieser biologischen Hieroglyphen, schafft eine Distanz zur Vergangenheit, eine Art unüberwindbare Grenze, jenseits deren ein Anderes lockt, das wir nie erreichen können. In ihrem Gedicht — nature is taxonomy which all small bones resist (»Natur ist Taxonomie, der alle kleinen Knochen widerstreben«) — fängt die Lyrikerin und Wissenschaftlerin Alice Tarbuck diese Distanz ein, wenn sie sagt »gib mir Leviathans Spur, gib mir das schnaubende Meeresungeheuer«. Sie sehnt sich nach »Fußabdrücken, die in Jahrhunderte hinabführen, in die Kellergewölbe dessen, was das Künftige sein könnte«, und lehnt die museale Etikettierung und Klassifizierung ab, wenn sie schreibt: »Lass niemanden Taxonomie singen.«
Obwohl ich Teile meines Arbeitslebens damit zugebracht habe, Organismen in Reihen von Stamm-Klasse-Ordnung-Schubladen einzusortieren, fühle auch ich mich den Lebewesen näher als der Klassifikation. Ein Name mag faszinierend und bedeutungsvoll sein, aber kann in der Regel nicht den lebendigen Eindruck eines Organismus vermitteln. Lateinische Namen sind bloße Kennzeichnungen, das Dewey-Dezimalsystem der Biologie. Eine Zahl würde genügen. Das ist auch tatsächlich das Grundprinzip des Systems. Für jede einzelne Art und Unterart gibt es irgendwo in der Welt ein individuelles Exemplar, das kennzeichnet, was es heißt, beispielsweise ein Fuchs Mittel- und Süditaliens zu sein. Das exemplarische Individuum von Vulpes vulpes toschii ist ZFMK66—487, aufbewahrt im Zoologischen Forschungsmuseum Alexander Koenig in Bonn. Wer als Teil der Unterart anerkannt werden möchte, muss in Anatomie und genetischer Ausstattung dieser platonischen Füchsin hinreichend ähneln, einem erwachsenen Weibchen, das 1961 auf dem Monte Gargano erlegt wurde. So praktisch diese Methode auch sein mag, sie verrät uns nichts über die Hochseilartistik eines Stadtfuchses auf einem baufälligen Gartenzaun, die zielstrebige Eile des schnürenden erwachsenen Tiers, die sprichwörtliche List des Fabelwesens Reineke oder den sorglosen Schlaf der Welpen im Freien. Und das ist ein Lebewesen, das wir täglich in unserer unmittelbaren Umgebung sehen können. Was ist da bei denen, die längst verschwunden sind, von dem Namen allein zu erhoffen? Wenn ich sie im Folgenden präsentiere, habe ich mir dabei die Aufgabe gestellt, die Lücke zwischen Namen und Wirklichkeit, zwischen dem Stempel auf der Briefmarke der Guinee und dem Gold zu schließen. Die vorgeschichtlichen Lebensformen so zu betrachten, als wären sie alltägliche Besucher unserer Welt — bebende, dampfende Geschöpfe aus Fleisch und Instinkt inmitten knackenden Geästs und fallenden Laubs.10
Wenn heute das Leben ausgestorbener Tiere dargestellt wird, erscheinen sie häufig als bösartige Monster von unersättlicher Fressgier. Diese Tendenz geht auf die Sensationslust einiger Geologen des frühen 19. Jahrhunderts zurück. Manche waren so versessen darauf, ein möglichst spektakuläres und gewalttätiges Bild der fernen Vergangenheit zu zeichnen, dass sie selbst Wollmammuts und Bodenfaultiere, die bekanntermaßen Herbivoren sind, als grausame Fleischfresser darstellten. Beispielsweise wurde das Mammut den Leserinnen und Lesern als fürchterliches Raubtier verkauft, das in Seen und Teichen finster auf Schildkröten lauerte, während das gutmütige, pflanzenfressende Bodenfaultier mit wahrhaft furchterregenden Eigenschaften ausgestattet wurde: »riesig wie der dräuende Abgrund; grausam wie der blutgierige Panther, gedankenschnell wie der herabschießende Adler und erbarmungslos wie der Engel der Nacht«. Selbst heute noch hält man in zahllosen Filmen, Büchern und Fernsehsendungen an diesem Bild von der dumpfen, barbarischen Aggressivität prähistorischer Tiere fest. Dabei waren die Raubtiere der Kreide nicht blutrünstiger als ein Löwe unserer Tage. Gefährlich, gewiss, aber doch Tiere, keine Monster.11
Was diese stummen Sammlungen von Fossilien als Kuriositätenkabinette und die Darstellung ausgestorbener Organismen als Monster eint, ist der Mangel an realem ökologischem Kontext. In der Regel fehlen Pflanzen und Pilze gänzlich, und den Wirbellosen wird bestenfalls ein flüchtiger Blick gegönnt. Dabei enthält die Gesteinsüberlieferung der Erde den ganzen Kontext. Wir verdanken ihr die Umfelder, in denen die ausgestorbenen Geschöpfe lebten und die ihnen die heute so ungewöhnlich erscheinenden Formen verliehen. Die Gesteinsüberlieferung ist eine Enzyklopädie des Möglichen, der Landschaften, die verschwunden sind. Dieses Buch ist der Versuch, solche Landschaften noch einmal zum Leben zu erwecken, uns vom staubigen, mit Stahlnieten zusammengeflickten Bild ausgestorbener Organismen zu lösen, den sensationsheischenden, von Gebrüll erfüllten Themenpark Tyrannosaurushinter uns zu lassen und ein Naturerlebnis zu ermöglichen, das dem heutigen entspricht.
Landschaften zu betrachten, die vor langer Zeit existierten, weckt die Lust auf Zeitreisen. Daher hoffe ich, dass Sie das vorliegende Buch wie die Reisebeschreibung eines Naturforschers lesen, auch wenn sie von Ländern handelt, deren Ferne zeitlicher und nicht geografischer Art ist, und dass es Ihnen gelingt, die letzten 500 Millionen Jahre nicht als eine unvorstellbar lange Zeitspanne zu sehen, sondern als eine Folge von Welten zu begreifen, die zugleich fantastisch und vertraut anmuten.
1
Nördliche Küstenebene, Alaska Pleistozän — vor 20.000 Jahren
»… am Morgen und am Abend, im Winter und im Sommer, in dunkler Unwetter- und in heller Mondnacht: Immer und vor allen Dingen spricht sie zum Menschen von der Freiheit … die Steppe ruft sie jenen in Erinnerung, die sie verloren haben«
Wassili Grossman, Leben und Schicksal1
»Auch Telipinu ging ins Moor and wurde eins mit dem Moor. Über ihm wuchs die Halenzu-Pflanze«
Hethiter-Mythos, (nach der Übersetzung von H. A. Hoffner)
Kurznasenbär (Arctodus simus) und Wollhaarmammut (Mammuthus primigenius)
Langsam löst die Morgendämmerung die alaskische Nacht ab. Eine kleine Pferdeherde, vier erwachsene Tiere und drei Fohlen, drängen sich zum Schutz gegen den eisigen Nordwestwind zusammen. Zu diesem Zeitpunkt hat sich die Sonne bereits seit gut zehn Stunden verabschiedet. Eisig schneidet die Kälte ins Fell. Abwechselnd halten zwei Stuten Wache, aufmerksam lauschen sie ins Dunkel, während der Rest der Familie ruht oder grast. Flanke an Flanke stehen sie, jede hat die Nase dort, wo die Nachbarin den Schwanz hat, eine geeignete Methode, um Stress abzubauen — sie sind dicht und warm beieinander und haben einen Überblick in alle Richtungen. Es ist Frühling, aber selbst während des Winters lag kein Schnee auf dem Boden, stattdessen ist er mit einer Schicht aus toten Gräsern und Flugsand bedeckt. Das Tiefland zwischen der Brooks-Kette in Nordalaska und der Küste des ständig gefrorenen Arktischen Ozeans ist ungewöhnlich trocken. Meist ziehen Regen und Schnee an diesem Landstrich vorbei. Ein rieselnder Bach, der sich einen Weg zwischen den Kieseln sucht, um sein spärliches Wasser dem Land im Süden zuzuführen, ist bei dem Sturm kaum zu hören. Selbst dieser Bach gibt auf, versiegt gänzlich, als er von den ausufernden Dünen aufgesogen wird. Die Flussströmung verändert sich von Tag zu Tag, wird aber während der nächsten Monate zunehmen, wenn der Schnee in den Hügeln schmilzt. Im Winter gibt es wenig zu fressen; zu vier Fünfteln besteht der Boden aus kahler Erde, zu einem Fünftel aus braunen Halmen. Was an spärlichem Futter bleibt, ist mit Abriebstaub bedeckt. Trotzdem reichen die vertrockneten Überreste der sommerlichen Fülle aus, einige kleine Herden dieser kurzbeinigen Pferde zu ernähren. In der mörderischen Kälte, die auf dem Höhepunkt der letzten Eiszeit die North Slope fest im Griff hatte, bestünde bei überlangen Gliedmaßen die Gefahr einer Unterkühlung. Die Alaska-Pferde haben eher die Größe von Ponys und ähneln den modernen Przewalski-Pferden, nur dass sie feingliedriger sind. Das Fell ist zottelig und falb, die Mähne kurz, schwarz und struppig. Auch die schlafenden Tiere bewegen sich noch, abwesend schlagen sie mit den Schwänzen im fahlen Licht des Polarlichts über ihren Köpfen. Das sind die treuesten Bewohner des ariden Nordens, diejenigen, die immer bleiben, gleich, wie die Verhältnisse sind. Die Sommergäste der North Slope — riesige Herden von Bisons und Karibus, seltener auch verstreute Gruppen von Moschusochsen, Elchen und Saiga-Antilopen — haben das Feld längst geräumt, denn sie sind im Gegensatz zu den Pferden nicht in der Lage, ein so spärliches Nahrungsangebot zu überleben. Selbst für die Pferde ist es schwierig, ihren Lebensunterhalt im nördlichen Winter zu bestreiten, zumal eine der Stuten trächtig ist. In jeder dieser kleinen Herden gibt es ein männliches und mehrere weibliche Tiere, wobei die Geburt der Fohlen im Spätfrühling stattfindet. Die Sterblichkeit ist beträchtlich, die Lebenserwartung nur halb so hoch wie die moderner Wildpferde. Im Durchschnitt leben die Alaska-Pferde15 Jahre, immer an der Grenze des Erträglichen, unablässig dem heulenden Wind ausgesetzt.2
Der Ursprung des Winds ist ein Sandmeer von 7000 Quadratkilometern in der östlichen Hälfte des modernen Alaska, das im Westen vom heute noch existierenden Ikpikpuk-Fluss begrenzt wird. Über diese eisige Wüste kriechen zerklüftete Dünen, 30 Meter hoch und in 20 Meter lange Reihen unterteilt. Ihr Sand wird vom Wind westwärts über die Steppe getragen und überzieht die Ausläufer der Brooks-Kette mit einem eisigen Puderzucker, einem losen Gemisch aus Flugsand und Schluff, Löss genannt. In den eisigen Regionen der pleistozänen Welt gibt es in den kalten Monaten so wenig Nahrung, dass während dieser Zeit jeder Pflanzenfresser — vom Karibu bis zum Mammut — das Wachstum einstellt. Wie Bäume weisen ihre Knochen und Zähne Wachstumsmarken auf, jahreszeitlich bedingte physische Narben, eine Zählung der überstandenen Winter. Sie leben von dem, was sie finden, verbrauchen wenig Energie und zehren von ihrer Körpermasse, bis wieder bessere Zeiten kommen. Wo es Pflanzenfresser gibt, lauern auch Fressfeinde. Jederzeit können aus einem Gebüsch zwei fürchterliche Pranken zupacken, ein Biss in den Hals, und ein Leben ist ausgelöscht. In dieser Strauchlandschaft kontrollieren einige wenige Höhlenlöwen riesige Gebiete. Wenn sie leise durch die Steppe streifen, die Schultern im Rhythmus der Schritte hebend und senkend, haben die Pferde kaum eine Möglichkeit, ihr Nahen zu bemerken. Löwen schleichen sich gut getarnt an ihre Beute heran, sie nutzen die Dunkelheit, um sich noch weiter anzupirschen. Die Stuten sind wachsam, bei jedem Geräusch gehen die Ohren über ihren fahlen, gewölbten Stirnen unruhig hin und her.3
Im Pleistozän gibt es drei Löwenarten auf dem Planeten. Der Afrikanische Löwe — der als einziger bis in unsere Zeit überlebt hat — ist der zierlichste von ihnen. Auf der anderen Seite des Laurentidischen Eisschilds — in ganz Nordamerika, bis hinab nach Mexiko und sogar nach Südamerika hinein — lebt der Amerikanische Löwe, der größte der drei. Die leicht gefleckten rostroten Tiere sind erst vor Kurzem eingewandert und stammen von Vorfahren ab, die vor rund 340.000 Jahren aus Eurasien herüberkamen. Doch überall auf den Steppen Europas und Asiens und hier in Alaska droht den Pferden und Karibus die größte Gefahr von dem eurasischen Höhlenlöwen, Panthera leo spelaea, der sich etwa 500.000 Jahre vor der Gegenwart von der Entwicklungslinie der modernen Löwen trennte. Großenteils verdanken wir unser Wissen über sein Erscheinungsbild der Kunst. Die nordeurasischen Menschen haben Hunderte von Malereien und Skulpturen geschaffen, die viele der in der Mammutsteppe beheimateten Arten dokumentieren. Rund zehn Prozent größer als der Afrikanische Löwe, ist der eurasische Höhlenlöwe blasser und zotteliger. Sein raues, grobes Fell bedeckt ein dichtes, welliges, fast weißes Unterhaar — zwei wärmende Schichten gegen die Kälte. Er hat keine Mähne, obwohl beide Geschlechter kurze Bärte tragen. Allerdings ist das Männchen erheblich größer. Da sich die Überreste der Löwen meist in Höhlen sammelten und unbeschadet überdauerten, bezeichnen wir sie als Höhlenlöwen. Tatsächlich aber sind sie im offenen Gelände zu Hause, durchstreifen die Steppe in kleinen sozialen Gruppen und machen Jagd auf Karibus und Pferde.4
Alle Katzen sind Lauerjäger, ihre Anatomie prädestiniert sie dazu, sich anzuschleichen und die Beute — allenfalls nach einem kleinen Sprint — zu überraschen. Diese Form der Beutejagd setzt List voraus, doch mit der lässt sich in der offenen Steppe wenig erreichen, daher sind Höhlenlöwen besser als andere Katzen in der Lage, ihre Beute zu hetzen. Häufig zeigen Malereien die Fellzeichnung der Höhlenlöwen — dunkle Linien, die wie bei Geparden von den Augen ausgehen und verhindern sollen, dass sie vom Sonnenlicht geblendet werden. Außerdem gibt es einen deutlichen Farbunterschied zwischen dem dunklen Rücken und dem blassen Bauch.5
Heute werden Löwen, Elefanten und Wildpferde nicht mehr mit den nördlichen Regionen Nordamerikas assoziiert. Genauso wenig wie schneefreie Flächen, wolkenloser Himmel oder Sandmeere. Wenn wir uns Teile der natürlichen Welt vorstellen, dann meist in ihrer Gänze, wobei jedes Element des Ökosystems am Ortsempfinden mitwirkt. Was wäre die Sonoran-Wüste im Südwesten Nordamerikas ohne riesige Saguaro-Kakteen, Vogelspinnen und Klapperschlangen? Wenn Sie mit einem Ort vertraut sind, entwickeln Sie ein Empfinden für die ihm eigene Stimmigkeit seiner Elemente. Dennoch sind Ökosysteme Stückwerk. Das lokale Zusammentreffen von Arten, das für das Ortsempfinden maßgeblich ist, vermittelt auch ein Zeitempfinden. Eine solche Lebensgemeinschaft — die Gesamtheit aller Organismen von Mikroben über die Bäume bis zu den gigantischen Pflanzenfressern — ist ein befristeter Zusammenschluss von Lebewesen, der von Evolutionsgeschichte, Klima, Geografie und Zufall abhängt.
Ich wuchs am Rand des Black Wood am Rannoch im schottischen Hochland auf: steile, Quarzit-übersäte Hänge, Klöster, mit Moschuskraut bewachsen, Kissen aus Heidelbeeren, Wälder mit Buntglasfenstern aus Birkenblättern oder mit rissigen Kieferpfeilern. Zu den Bewohnern des Ortes — Mardern und Tauchern, Zeisigen und Hirschen — habe ich eine nostalgische Beziehung. Für mich sind sie unverzichtbare Requisiten meiner Kindheit — den Ort von der Fauna zu trennen ist fast unmöglich. Doch das sind nur Lebewesen, die Wald und Welt zu meiner Zeit mit mir teilten. Langfristig betrachtet, macht die Natur unserer Nostalgie einen Strich durch die Rechnung. Nach ein paar Jahrtausenden Pleistozän ist Rannoch ein toter Ort, ein Gletscherbett unter 400 Meter Eis, während Wildpferde über die öden Flächen Alaskas streifen. Bevor das Eis kam und während es blieb, war Rannoch nicht der Ort, den ich kenne; mein Ortsempfinden für den Black Wood ist so fest mit dem Holozän, unserer gegenwärtigen geologischen Epoche, verbunden wie der Wald mit dem Grund, auf dem er wächst.6
Fossile Lebensgemeinschaften sind mit unserem modernen Vorverständnis nicht so ohne Weiteres in Deckung zu bringen. Das Verbreitungsgebiet einer Art gibt heute manchmal Aufschluss darüber, wo ihre Vorfahren lebten, aber nicht immer. Beispielweise haben sich rund 8,5 Millionen Jahre vor der Gegenwart die Entwicklungslinien von Kamelen und Lamas getrennt, trotzdem sind sie füreinander noch wechselseitig ihre engsten Verwandten. Lamas sind der Tribus (im linnéschen Sinne), der in der amerikanischen Heimat der Kameliden blieb, während die Kamele die Beringstraße nach Asien überquerten und von dort aus weiterzogen. Noch bis 11.000 Jahre vor der Gegenwart, während der wärmeren Intervalle zwischen den zyklischen Vergletscherungen der Eiszeit, wanderten Kamelherden in das Gebiet des heutigen Kanadas ein. Zu diesem Zeitpunkt des Pleistozäns, kurz vor der größten Ausdehnung des Eises, besiedelten Kamele den Süden bis Kalifornien hinab — das wissen wir von den unglücklichen Tieren, die in den natürlichen Asphaltgruben von La Brea endeten, den La Brea Tar Pits, wo der Asphalt seit Jahrtausenden aus der Erde quillt.7
Die ersten Menschen sind bereits in Amerika eingetroffen. Die Fußabdrücke einer Gruppe vergnügter Kinder, die zwischen Grasbüscheln hindurch in den Schlamm eines kreideweißen Seeufers hüpfen, 22.500 Jahre vor unserer Zeit, sind noch heute sichtbar im weißen Sand von New Mexico. Als die Populationen dieser ersten Menschen in Amerika größer werden, jagen sie sowohl einheimische Kamele als auch Pferde. Infolgedessen werden beide Gruppen, wie so viele Großsäuger des Pleistozäns, nur wenige Tausend Jahre nach Ankunft des Menschen ausgestorben sein. Doch jetzt sind diese Populationen noch überschaubar. Während der jüngsten Eiszeit, die ihre höchste Ausdehnung etwa 25.000 Jahre vor der Gegenwart erreichte, leben die Menschen in den Tiefebenen Beringias und wandern an der Südküste Alaskas entlang in Richtung des neuen Kontinents mit all seinen Ressourcen. Hunderte Kilometer östlich vom Ikpikpuk könnten Lagerfeuer von kleinen Gruppen ostberingischer Menschen entzündet worden sein — in den Seen dort finden sich chemische Stoffe, die charakteristisch für menschliche Fäzes und Holzkohle sind —, doch diese östlichen Gemeinschaften sind selten und durch große Entfernungen getrennt. Als das Klima sich ändert und die Menschen den Kontinent immer gründlicher besiedeln, werden viele einheimische Arten nicht lange überleben und der sich erwärmenden Umwelt und den neuen, wendigen Raubtieren zum Opfer fallen.8
Spuren historischer Verbindungen können den tatsächlichen Kontakt lange überdauern. In den dichten, subtropischen Wäldern von Indien bis zum Südchinesischen Meer sind Giftschlangen eine häufige Erscheinung, und da es immer von Vorteil ist, wenn man gefährlicher erscheint, als man ist, weist der Plumplori, ein seltsamer, nachtaktiver Primat, eine Reihe ungewöhnlicher Eigenheiten auf, die das Erscheinungsbild von Brillenschlangen nachzuahmen scheinen. Geschmeidig und langsam schlängelt er sich auf gewundenen, verschlungenen Bahnen durch das Geäst. Wenn er sich bedroht fühlt, hebt er die Arme hoch hinter den Kopf, zittert und zischt, wobei seine weit geöffneten, runden Augen große Ähnlichkeit mit der Zeichnung im Inneren der Kobra-Haube aufweisen. Noch bemerkenswerter: Wenn der Plumplori sich in dieser Haltung befindet, hat er Zugang zu Drüsen in seinen Achselhöhlen, deren Sekret, mit Speichel gemischt, beim Menschen einen anaphylaktischen Schock auslöst. In Verhalten, Farbe und sogar Biss hat sich der Primat der Schlange angeglichen, ein Schaf im Wolfspelz. Heute gibt es keine Überschneidungen mehr zwischen den Verbreitungsgebieten von Loris und Kobras, aber Klimarekonstruktionen, die Zehntausende von Jahren zurückreichen, lassen darauf schließen, dass sie sich einst große Teile ihrer Verbreitungsgebiete teilten. Gut möglich, dass der Lori ein obsoleter Imitationskünstler ist, der sich in einem evolutionären Verhaltensschema festgefahren hat und von seinem Instinkt gezwungen wird, den Eindruck eines Vorbilds zu vermitteln, das weder er noch sein Publikum jemals gesehen haben.9
Im Fall der Loris und Kobras sowie der arktischen Kamele haben Klima und Geografie die Evolutionsgeschichte und die Interaktionen mit anderen Tieren bestimmt. Ein Ökosystem ist keine feste Einheit — es besteht aus Hunderten und Tausenden von individuellen Teilen, wobei jede Art ihre eigene Toleranz gegenüber Wärme, Salz, Wasservorkommen und Säuregrad besitzt und jede ihre eigene Rolle hat. Im weitesten Sinne ist ein Ökosystem das Netz von Interaktionen zwischen allen lebenden Mitgliedern der Gemeinschaft und dem Land oder Wasser, das ihre Umwelt bildet. Auf sich allein gestellt, hat eine Art ihre besonderen Eigenschaften, doch die Interaktionen eines Ökosystems erzeugen Komplexität. Wir bezeichnen die möglichen Überlebensbedingungen einer gegebenen Art als »Fundamentalnische«. Wenn Interaktionen mit anderen Organismen die Nische einschränken, nennen wir die Realität ihrer tatsächlichen Verbreitung die »Realnische« der Art. Da spielt es keine Rolle, wie ausgedehnt die Fundamentalnische ist — wenn sich die Umwelt verändert und die Grenzen dieser Nische überschreitet oder wenn die Realnische auf null schrumpft, stirbt die Art aus.10
Auf der pleistozänen North Slope überschreiten die Verhältnisse im Winter die Grenzen der Fundamentalnischen vieler Bewohner. Die Pferde überleben hier dank ihrer Fähigkeit, sich mit weniger nahrhaftem Futter zu begnügen, solange genug davon da ist. Im Wechsel mit Schlaf und plötzlichen Aktivitätsausbrüchen verbringen sie rund 16 Stunden am Tag mit Grasen, um genug Nährstoffe aufzunehmen. Auch Mammuts kommen mit weniger gehaltvollem Futter zurecht, obwohl ihre Verdauung weniger effizient ist und sie größere Mengen brauchen, als das karge Wintergras liefert. Wir wissen, dass sie in Mangelzeiten ihren eigenen Dung gefressen haben, um auch noch die letzten darin verbliebenen Nährstoffe zu nutzen. Bisons, die in anderen Regionen in Herden von Tausenden Tieren zusammenleben, müssen abwarten, dass die Nahrung in ihrem aus vier Mägen bestehenden Verdauungssystem fermentiert wird, daher können sie in kurzer Zeit keine größeren Mengen aufnehmen. Daraus folgt, dass ihre Nahrung reichhaltiger sein muss, und die können sie im Winter auf den trockenen nördlichen Ebenen nicht finden.11
Für das trockene, windige Wetter ist die physische Geografie dieses Weltwinkels verantwortlich. Der ständige die Fesselgelenke marternde Wind, der durch die Ikpikpuk-Dünen fegt, ist Teil eines riesigen, linksdrehenden Wirbels, dessen Zentrum, von hier aus gesehen, weit im Süden liegt. Die Feuchtigkeit, die er mit sich führte, als er das Wasser des Pazifiks aufpeitschte und Wolken über Zentralalaska und den Yukon trieb, ist längst verloren. Der meiste Regen ist auf die feuchten Bisonebenen nahe der großen Eismauer gefallen, die diesen Landstrich von dem Rest Nordamerikas trennt. Der Eisschild, der fast die ganze Fläche des heutigen Kanadas bedeckt und noch weiter nach Süden reicht, bildet eine gefrorene Barriere vom Pazifik bis zum Atlantik. Stellenweise ist er bis zu drei Kilometer dick. Die wühlenden und formenden Kräfte, mit denen er auf die Landschaft einwirkt, sind gerade dabei, die Vertiefungen auszuheben, die einmal die Großen Seen sein werden. Wenn das Eis schmilzt, wird das Wasser, das sich jetzt an der Südgrenze des Laurentidischen Eisschilds sammelt, freie Bahn haben, neue Flussbetten anlegen, die von Gletschern abgelagerten Moränen abtragen und spektakuläre Naturerscheinungen wie die Niagarafälle hervorbringen.12
Das Wasser, das in diesem kontinentalen Eisschild eingeschlossen ist, und seine nahen Nachbarn in Nordeuropa stammen aus dem Reservoir der Ozeane. Die Meeresspiegel sind weltweit um rund 120 Meter niedriger als heute, daher hat die Zunahme der Eisdecke vielerorts den Seeboden trockengelegt und sogenannte »Landbrücken« zwischen den Kontinenten gebildet. Zwar mag Alaska von Nordamerika isoliert sein, aber eine solche Brücke verbindet die alaskische Tierwelt mit asiatischen Ökosystemen im Westen und schafft auf diese Weise ein Kontinuum, das den halben Erdumfang bedeckt. Die Beringstraße, die Meerenge, die das heutige Alaska von Tschukotka im fernen Osten Russlands trennt, ist trocken und freundlich und steht mit ihrem Namen Pate für die biologische Provinz Beringia. Beringia mag im Winter eine kalte Landschaft sein, aber in den wärmeren Monaten bietet sie viel Sonne und angenehme Temperaturen. Das Frühjahr und den Sommer hindurch sind die Wiesen voller blühender Wildblumen. Die meisten Bäume sind kaum mehr als Sträucher: Die blühenden Kätzchen der niedrigen Weiden schweben wie kalligrafische Zeichen im Wind, während Birkensträucher Schneehühnern Versteck bieten. Am Himmel sucht sich eine Gänseschar flügelschlagend und rufend den Weg zum Meer. Im Herbst glänzen die geschützten Gebiete Beringias wie geschmolzenes Gold, wenn sich die Pappeln und Espen gelb färben und deutlicher vom Blaugrün der hohen Fichten abheben. Diese Tiefebenen dienen mit ihrem angenehmeren, milderen Klima vielen Pflanzen- und Tierarten als Zuflucht, die sonst in der anhaltenden Kälte der Eiszeit nicht überleben könnten. An manchen Stellen quillt triefendes Torfmoos aus dem Moor, während andernorts Alaska-Wermut unter den Huftritten der Bisons seinen würzigen Duft verströmt.13
Das Gesamtgebiet der Beringbrücke, die eines Tages wieder vom Meer verschlungen werden wird, ist riesig, etwa so groß wie Kalifornien, Oregon, Nevada und Utah zusammengenommen. Die Provinz selbst ist nur ein Teil eines großflächigen Bioms — einer Landschaft, die sich aus beständigen Lebensgemeinschaften von Pflanzen und Tieren zusammensetzt und über ein relativ beständiges Klima verfügt —, das in Ostberingia beginnt und an der Atlantikküste Irlands endet. Auf dem Weg aus den Tiefen der offenen Beringia-Ebene bis hinauf in die Hügel von Alaska werden die Luftschichten kühler und trockener, die Pflanzen niedriger und robuster, aber das Grasland setzt sich fort. Seine östliche Grenze, der Rand der Meeresdünen des Ikpikpuk, bildet das eine Ende des größten zusammenhängenden Ökosystems, das es jemals auf der Erde gegeben hat — die Mammutsteppe.14
Die Steppe verdankt ihre Fortdauer diesem besonderen Zusammenhalt. Die Wetterverhältnisse der Eiszeit sind extrem unbeständig, häufig treten von einem Jahr zum nächsten radikale Veränderungen auf. Schlügen Sie dort ihr Zelt auf und blieben jahrelang an derselben Stelle, hätten Sie den Eindruck, dass die Populationen Zyklen von extremen Höhen und Tiefen durchlaufen, wobei Wetter und Pflanzenwachstum in dem einen Jahr Pferde begünstigen, im nächsten Bisons, dann Mammuts und so fort. Da die Mammutsteppe zusammenhängend ist, haben die Arten die Möglichkeit, ihrem Idealklima zu folgen und trotzdem innerhalb der Grenzen ihrer Nischen zu bleiben. In einer extrem wechselhaften Umwelt ist Mobilität von entscheidender Bedeutung für langfristiges Überleben. Irgendwo auf dem Kontinent wird es immer eine Zuflucht geben. Überall in der Hocharktis zeigt sich ein sich ständig wiederholendes Muster von lokalem Aussterben und anschließender Wiederansiedelung aus genau diesen Refugien. Sogar in der Gegenwart nehmen die größten arktischen Pflanzenfresser an den umfassendsten Migrationsbewegungen des Planeten Teil. In einer ganz anderen Erdregion, der mongolischen Steppe, einer Beringia-ähnlichen Umwelt, in der Mongolen Ziegen und andere Tiere halten, ist das Klima noch immer großen Schwankungen unterworfen, sodass sich die Wintertemperaturen nie vorhersagen lassen. Wenn die mongolische Steppe durch Klimaveränderungen wärmer und trockener wird, sind die Grasflächen weniger ergiebig, sodass die Gebiete, auf denen man die Herden grasen lassen kann, begrenzt sind. Da die Wanderdistanzen immer kürzer werden, sind die Menschen den verschiedenen Erscheinungsformen strenger Winter mit zunehmender Hilflosigkeit ausgeliefert, vor allem dem Dzud — genug Schnee, um das Weiden zu verhindern, nicht genug Schnee für Trinkwasser, gefrorener Boden, kalte Winde —, der die Herden schrecklich dezimieren und den Hirten die Lebensgrundlage entziehen kann. In einer wechselhaften Umwelt ist die Fähigkeit, die Zelte abzubrechen und weiterzuziehen, von entscheidender Bedeutung — für Wildtiere und Menschen gleichermaßen. Und da sich in der Gegenwart die Klimaverhältnisse stark verändern, spiegelt die Bedrohung, der diese Lebensweise ausgesetzt ist, exakt den Untergang der Mammutsteppe wider.15
Die Kontinuität Beringias wird zerreißen. Der Meerespiegel wird sich heben und rund 11.000 Jahre vor der Gegenwart Beringias Untergang besiegeln. Die Steppe, die rund um den Planeten reichte, zerfällt in kleinere, weniger zusammenhängende Bereiche, während der riesige, vorwiegend aus Fichten und Lärchen bestehende Taiga-Wald nach Norden vordringt, die Tundra sich nach Süden ausbreitet, das Wetter wärmer wird und Fernwanderungen zwischen den für kälteangepasste Arten geeigneten Gebietsfragmenten nicht mehr möglich sind. Wanderungen können eine Population nicht retten, wenn es keinen Ort mehr gibt, den sie aufsuchen kann. Ist sie ausgelöscht, existieren keine überlebenden Gruppen, aus denen die Verluste ersetzt werden könnten. Damit ist sie lokal, und möglicherweise auch global, ausgestorben. Andere überleben vielleicht, müssen sich aber mit einem sehr viel beengteren Lebensraum zufriedengeben. Von den vielen Arten, die einst die Mammutsteppe bevölkerten, gibt es in Alaska heute nur noch Karibus, Braunbären und Moschusochsen — und Letztgenannte lediglich durch Auswilderung.16
Als der Tag anbricht, offenbart sich die Weite der Mammutsteppe. Blass geht die Sonne auf, erklettert Düne um Düne. Bald wirft jedes Sandkorn auf der windabgewandten Seite einen Schatten, und die Dünen glitzern. Schnaubend rappeln sich die liegenden Pferde auf und schütteln sich, um rascher wach zu werden; sie schlafen nie tief oder lange. Ungeduldig scharren die breiten, dunklen Hufe, die sich an den Rändern leicht nach außen wölben; da die Pferde sich im Winter weniger bewegen, haben sie nicht an Gewicht verloren, eher im Gegenteil.17
Unter einem klaren, heiteren Himmel beginnt sich der Sommer auszubreiten. Überall sieht man Fohlen und Schmelzseen, und donnernde Schwadronen von Karibus und Bisons kehren in den Norden zurück, um sich über die neue Vegetation herzumachen. Auch die riesigen Mammutherden kommen zurück — die Mammutpopulationen stellen fast die halbe Masse der Pflanzenfresser auf der North Slope. Rasch wird die Luft von der Sonne erwärmt, die Pferde traben in Richtung eines niedrigen Wolkenwirbels jenseits eines kleinen Hügels. Der tief hängende Dunst verrät die Existenz eines seltenen Teichs — Schmelzwasser, das sich in einer warmen, geschützten Mulde gesammelt hat. Im Schatten war das Grundwasser noch vor Kurzem gefroren, daher ist stehendes Wasser in der Flussaue ein Anziehungspunkt für alle durstigen Geschöpfe und Heimat einer vielfältigen Insektengemeinschaft — Schwimmkäfer, Pillenkäfer und trockenheitsangepasste Laufkäfer sind häufige Anrainer des Ikpikpuk-Flusses.18
In der Sonne ist das Wetter schön, nicht nur trockener und ergiebiger, sondern auch wärmer als im heutigen Alaska. Auch wenn wir uns in der Eiszeit befinden, so ist Beringia doch ein relativ warmer Landstrich mit Kontinentalklima — ähnlich der modernen Mongolei. Küsten- und Kontinentalgebiete unterscheiden sich erheblich. Da sich die Meerwassertemperaturen im Laufe des Jahres nicht wesentlich verändern, sorgen sie in den Küstenbereichen je nach den Verhältnissen für Abkühlung oder Erwärmung. Außerdem erzeugen sie Winde und Wolkendecken, die die Veränderlichkeit des Wetters einschränken. Im Inland wird die Sommerwärme leichter von der Erde gespeichert, daher weist das Kontinentalklima im Sommer gleichbleibende hohe Temperaturen auf. Aus demselben Grund kühlt das Land rasch ab, was für die eisigen Winter verantwortlich ist. So weist beispielsweise die heutige Küstenstadt Sankt Petersburg im Juli durchschnittlich 19°C auf und im Januar -5°C, während Jakutsk, bei nur wenig mehr nördlicher Breite, im Juli durchschnittlich 20°C hat, im Januar dagegen -39°C. Die North Slope des pleistozänen Alaskas ähnelt eher Jakutsk als Sankt Petersburg — im Sommer immer warm, im Winter kalt und stets trocken. Weit und breit gibt es kein Meer, das nicht zugefroren ist, daher kann die ständig bewölkte Welt voller Nieselregen, die wir im heutigen Alaska finden, nicht entstehen. Ohne Schnee und Regen bilden sich keine Gletscher, und so kommt es, dass Beringia für den Rest der Welt ein eisfreier Korridor bleibt.19
Überall schießen frische Halme zwischen den trockenen Gräsern auf; die Herden ziehen westwärts. Die Vorsicht der Beutetiere lässt sie immer dicht zusammenbleiben; während die einen fressen, halten die anderen Ausschau, aber nach einem sesshaften Winter weiten sich ihre Horizonte wieder um Hunderte von Quadratkilometern aus. Als die Gruppe auf einen Hügelkamm gelangt, breitet sich Panik unter ihnen aus. Instinktiv scharen sie sich um das Jüngste, eine wehrhafte Phalanx aus Hufen und Zähnen. Jenseits des waagerechten Grünstreifens zwischen Hang und Himmel ist ein Arctodus unterwegs.
Im Vergleich zu Braunbären, selbst in ihrer grizzlysten Version, ist der KurznasenbärArctodus simus gewaltig. Die schwersten Exemplare der alaskischen Kurznasenbären wogen über eine Tonne, dreimal so viel wie der größte moderne Räuber an Land, der Sibirische Tiger, und viermal so viel wie ein ausgewachsener Grizzlybär. Das namensgebende kurze Gesicht und der ausgreifende, langgliedrige Gang sind eine optische Täuschung, die zum Teil durch die maßstäblichen Verhältnisse erzeugt wird. Bären haben kurze, abfallende Rücken und tief liegende Kiefer. Brächte man einen Braunbären maßstabsgerecht auf die Größe eines Kurznasenbären, würden sich diese Merkmale stärker ausprägen. Zwar hat der größte moderne Bär, der Eisbär, eine lange Schnauze, aber das scheint eine Adaption an die ausschließlich fleischliche Ernährung zu sein. Auf der North Slope ist Arctodus nicht häufig anzutreffen, und über sein Verhalten wissen wir nicht viel. Kürzlich glaubte man noch, seine langen Gliedmaßen seien eine Adaption ans Laufen, und vermutete, Arctodussei ein riesiger Hetzräuber, ein zu einem schrecklichen Einzelwesen verdichtetes Wolfsrudel. Da der Kurznasenbär eng mit dem baumbewohnenden, fast ausschließlich vegetarisch lebenden Brillenbär verwandt ist, haben andere Forscherinnen und Forscher Arctodus als sanften Pflanzenfresser beschrieben, als wühlenden, scharrenden Riesen. Wieder andere sehen ihn als Aasfresser, als Störenfried, Kleptoparasiten, der anderen Fleischfressern die erlegte Beute stiehlt. Wahrscheinlich ist die Wirklichkeit der des Braunbären viel ähnlicher — eine Ernährung, die aus einer Mischung von kleinen und großen Beutetieren und Pflanzen besteht.20
Dennoch, betrachtet man alle amerikanischen Arctodus-Populationen von Alaska bis Florida, so hat die Ernährung der Beringia-Bären wohl den höchsten Fleischanteil. Da der Winter die Bodenvegetation weitgehend vernichtet hat, tendiert die flexible Ernährungsweise des Bären zu Prädation und Aasfressen. Allein dank seiner Größe ist ein ausgewachsener Arctodus in der Lage, eine Beutestelle zu dominieren und anderen Räubern den Zugang zu verwehren. Schulterrollend trottet er zum Teich, wo der riesige Kadaver eines erfrorenen, alten Wollmammuts liegt und einen ekelhaften Gestank verbreitet. Ein willkommener Leckerbissen. Mit seinen mächtigen Tatzen zerreißt der Bär das Fell des toten Mammuts und legt das sehnige Fleisch frei. Es ist eine langwierige, mühsame Arbeit; die Mammuthaut ist dick und mit zwei Schichten dichtem Fell bedeckt. Im Tod wirkt selbst das Aushängeschild der pleistozänen Megafauna zierlich neben seinem Fressfeind. Mammuts haben eine Schulterhöhe von bis zu drei Metern, doch auf die Hinterbeine aufgerichtet, können die größten Kurznasenbären die Mammuts noch um einen Meter überragen.21
Bären sind furchterregende Ungeheuer. Immer wenn Menschen in der Nähe von Braunbären lebten, haben die Tiere zur Legendenbildung beigetragen. In Koreas Gründungsmythos geht es um die Geduld eines Bären, der sich 100 Tage lang damit begnügt, nur wilden Knoblauch und Ssuk zu fressen, eine Art Beifuß. Beide Pflanzen wachsen in der eurasischen Mammutsteppe. Wo Menschen und Bären koexistieren, werden die Namen der Bären euphemistisch verhüllt. Der »wahre« Name wird vermieden, um das Tier nicht herbeizurufen. Für die Russen, die den Bären verehrten und ihn wegen seiner Kraft und List zum nationalen Symbol erkoren, ist er medvědi, der »Honig-Fresser«. Die germanischen Sprachen, einschließlich des Englischen, verwenden verschiedene Spielarten von »braun«. Weltweit wird der Euphemismus »Großvater« verwendet. Die Menschen sind noch nicht nach Amerika gelangt, aber nur noch ein paar Tausend Jahre, und die Braunbären werden mit den anderen eurasischen Migranten eintreffen und Arctodusbegegnen.22
Überall auf der Mammutsteppe vermitteln die riesigen Populationen bunt gemischter Pflanzenfresser-Herden das Bild einer blühenden Lebensgemeinschaft. Es gibt bestimmte Grundregeln, die für alle Ökosysteme gelten. Energie, die gewöhnlich aus dem Sonnenlicht oder aus Mineralien gewonnen wird, muss in das Ökosystem fließen, wo sie ersetzt, was durch Aktivität oder Zerfall verloren gegangen ist. Die Organismen, die Zugriff auf diese Energie haben, sind Produzenten, und diejenigen, die ihn nicht haben, sind Konsumenten — sie müssen sich von anderen Lebewesen ernähren, um zu überleben. Je mehr Energie die Produzenten produzieren, desto mehr Konsumenten können ernährt werden. Die Beringia-Steppe ist bemerkenswert produktiv. Im unwirtlichen fernen Norden Sibiriens können rund zehn Tonnen Tiere — das sind etwa 100 Karibus — auf jedem Quadratkilometer ihr Auskommen finden, weit mehr als heute in derart kalten Gebieten. Die Zahl der Raubtiere in einem Ökosystem ist immer kleiner als die der Produzenten — im Sommer ist das Verhältnis auf der Nordsteppe extrem; nur zwei Prozent der Tiere sind hier Fleischfresser.23
Für den Kurznasenbären ist der Mammutkadaver ein besonders angenehmes Willkommensgeschenk, denn die Beute ist in den letzten Jahren knapp geworden. Die Zahl der Bisons, die auf den Nordhang ziehen, beginnt sich zu verringern, und auch die Pferdepopulation nimmt ab. Der Boden weicht allmählich auf, und die Vorherrschaft des Grases neigt sich ihrem Ende zu. Um den Schmelzteich bildet sich erster Torf. Ein schlechtes Zeichen für alle Geschöpfe, die in dieser staubigen, windgepeitschten Welt leben. Der größte Teil der Mammutsteppe ist wie ein umschlossener Innenhof, auf allen Seiten von trockenen, festen Mauern umgeben. Jenseits ihrer nördlichen Fläche ist der Arktische Ozean gefroren. Nordamerika, Skandinavien und Britannien liegen unter Gletschern. An der Westflanke ist der Atlantik vereist. Im Süden bilden die vielen Gebirgsketten — Pyrenäen, Alpen, Taurus- und Zagros-Gebirge bis hin zum Himalaja und der tibetischen Hochebene — eine fast zusammenhängende Mauer. Diese Gebirgsbarriere schützt einen ganzen Kontinent vor den Monsunen im Süden, mit ihrer strengen Wintertrockenheit und der Regenflut im Sommer. Über Sibirien sorgt ein Hochdrucksystem das ganze Jahr über für Trockenheit. Beringia ist der Schwachpunkt, der Ort, an dem der Ozean Feuchtigkeit in die flache, exponierte Meerenge drücken kann. In der Vergangenheit war das kein Problem; zyklisch stieß das Eis vor und zog sich wieder zurück, und mit ihm wuchs und schrumpfte die Steppe — ein stabiles Gleichgewicht. Aber nach 100.000 Jahren ist es dieses Mal anders. Es ist der Anfang einer Verwandlung, der Anfang vom Ende der Mammutsteppe.*1
Als der Eisschild schmilzt und der Meeresspiegel steigt, steht mehr Wasser zur Verfügung, das verdunsten, mehr Wasser, das in die Landschaft gelangen kann. Jetzt bewirkt das veränderte Klima manchmal wärmere, feuchtere Sommer als sonst und trägt Feuchtigkeit in die Beringia, das heißt Sommerwolken und Herbstfäulnis. Die Mammutsteppe ist auf Trockenheit angewiesen, auf klare, endlos blaue Himmel. Sind die Sommer warm und feucht, ist die Gefahr größer, dass das Wasser nicht wegtrocknet, dass sich lokale Moore bilden, die das Pflanzenmaterial zersetzen und Torf produzieren. Durch die Torfbildung wird ein für die Steppe verhängnisvoller Prozess in Gang gesetzt. Der Sand klebt zusammen, und aus zusammengewehten Dünen werden feuchtere, stabilere Hügel. Die Böden sammeln Feuchtigkeit, versauern und verlieren ihre Fruchtbarkeit. Die nasse Erde kühlt ab, von unten steigt Frost auf und drückt den Grundwasserspiegel näher an die Oberfläche und in Wolkenform hinaus. Dadurch wird der Boden gegen Sonnenlicht abgeschirmt und noch kälter. Kälte erzeugt Kälte, und da die Pilze langsamer mit der Zersetzung der Pflanzen vorankommen, verwandeln diese sich immer häufiger in Torf. So setzt sich der Kreislauf endlos fort.24
Neubildungen von Mooren werden auch zu Hindernissen für Wanderungen, Sümpfe, in denen nichts ahnende Großherbivoren leicht versinken und ertrinken können. Für die Wanderherden von Pferden und Karibus bedeutet die Torfausbreitung einen Albtraum für die Orientierung und einen progressiven Futterverlust, eine rasant fortschreitende Umwandlung von hartem, grasbedecktem Boden in weiches, gnadenloses Feuchtland. Pflanzen, die in Torflandschaften wachsen, hüten eifersüchtig die wenigen Nährstoffe, die sie aufnehmen können, und wappnen sich mit Stacheln, Dornen und Härchen. Stellenweise breiten sich Bäume aus — feuchtigkeitstolerante Pflanzen wie Birken, Erlen und Weiden. Als Beringia im Meer versinkt, ist damit das Schicksal der Mammutsteppe besiegelt.
Auf der North Slope in Alaska dauert die Umwandlung von reinem Sand in permanenten, stabilen Torfboden unter heutigen Bedingungen nur einige Hundert Jahre. Von Irland bis Russland und Kanada ist die Mammutsteppe fast vollständig verschwunden, ersetzt durch Permafrost und Torfmoor. Die Ökosysteme der Steppentundra bleiben isolierte Teile Sibiriens, wo Reste kleinerer Lebewesen, von Kleinsäugern bis zu Schnecken, in einem Flickenteppich von Habitaten leben, die durch ihren Feuchtigkeitsgehalt definiert sind. Heute ist die North Slope von Alaska eine Mischung aus Riedgräsern, Moosen und holzigen Zwergsträuchern, eine semiaride, aber wassergesättigte Ebene. Regen und Schneefall belaufen sich auf lediglich 250 Millimeter pro Jahr, vergleichbar mit San Diego in Kalifornien, aber die Feuchtigkeit bleibt im Boden, ein hoher Grundwasserspiegel über dem festen Permafrost darunter. Im Sommer taut der Boden 50 Zentimeter tief auf, wodurch kurzlebige Seen und weicher Torf entstehen, eine Landschaft, die Tieren wie Pferden oder Mammuts wenig Futter verspricht. Das heutige Alaska, mit seiner spärlichen und wehrhaften Vegetation und dem wassergesättigten Boden, der unter den Hufen nachgibt, bietet Wildpferden keine Überlebenschance mehr. Zum ersten Mal, seit Pferde55 Millionen Jahre zuvor in Amerika auftraten, werden sie regional aussterben und nicht zurückkehren, bis sie, nur einige Hundert Jahre vor der Gegenwart, auf europäischen Schiffen eintreffen. Das Klima hat sich für Pferde über ihren Nischenraum hinausentwickelt — genauso wie für Mammuts und Mastodonten und sogar, in Alaska jedenfalls, für Bisons. Karibus und Moschusochsen, die die feuchteren Teile der Mammutsteppe bevölkerten, gehören zu den wenigen Großtierarten, die heute noch wild in Alaska leben.25
Wollmammuts überlebten auf der kleinen beringischen, heute zu Russland gehörenden Wrangelinsel bis 4500 Jahre vor der Gegenwart. Diese Insel ist und war jedoch zu klein, um eine lebensfähige Population längere Zeit unterhalten zu können. Am Ende steckten die Wrangel-Mammuts — die letzte überlebende Familie auf der Erde — in ernsthaften genetischen Schwierigkeiten. Nach 6000 Jahren totaler Isolation in einer kleinen Gruppe, deren Zahl zwischen 270 und 820 Individuen schwankte, litten sie unter hochgradiger Inzucht. Aus der DNA, die im russischen Frost erhalten blieb, können wir einen ganzen Katalog von genetischen Störungen herauslesen. Ihr Geruchsinn war stark beeinträchtigt, das Fell war durchsichtig, es glänzte zwar wie Seide, bot aber nur unzulänglichen Schutz gegen die Kälte. Sie hatten Entwicklungsprobleme und Störungen des Harn- und möglicherweise auch des Verdauungssystems. Alles in allem kennen wir 133 Gene, für die kein Individuum eine funktionsfähige Kopie hatte. Zu dieser Zeit war auch Wrangel ein vom Riedgras dominiertes Torfgebiet; die Mammuts konnten ihre Steppenlandschaft nicht lange überleben.26
Die Mammutsteppe ist die bedrückende Vision eines versunkenen Lebens, ein romantischer Rückblick auf Geschöpfe, die wir fast zu verstehen meinen. Einsam und vom arktischen Wind gebeutelt, ist das Mammut das universelle Symbol einer verlorenen Vergangenheit. Als Menschen haben wir sie gemalt, haben wir sie gejagt und vielleicht auch verehrt, deshalb sind sie für uns eine greifbare Verbindung zur Erdgeschichte, auch wenn sie für immer verschwunden sind. Tatsächlich leben heute noch Bäume, die aus ihren Samen sprossen, als Mammuts noch existierten. Die ausgestorbene Vergangenheit ist näher, als wir uns meist klarmachen, denn mit dem Niedergang des Pleistozäns begann der Aufstieg der menschlichen