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Neue Abenteuer von Sookie, der telepathischen Kellnerin aus Louisiana - jede Menge Vampire und Werwölfe garantiert! Sookie Stackhouse, die gedankenlesende Kellnerin aus Louisiana, hat zwar ihr Abenteuer mit einem Vampir ohne Gedächtnis heil überstanden, aber ihr Leben ist dadurch nicht einfacher geworden. Jetzt macht ihr eine Familienangelegenheit zu schaffen: Sookies Bruder Jason verwandelt sich neuerdings bei Vollmond in einen Panther. Damit nicht genug, treibt in der Gegend ein Killer sein Unwesen, der es offenbar gezielt auf Gestaltwandler abgesehen hat. Natürlich kann Sookie nicht einfach tatenlos zusehen und abwarten, bis es womöglich Jason trifft sie muss etwas unternehmen. Zum Glück hat sie beste Verbindungen zu Vampiren und Werwölfen ganz ohne supranatürliche Hilfe wäre dieses Problem wohl kaum zu lösen ...
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Seitenzahl: 466
Charlaine Harris
Vampire bevorzugt
Roman
Deutsch von Britta Mümmler
Deutsche Erstausgabe 2006© der deutschsprachigen Ausgabe:dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, MünchenDas Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung -und Verarbeitung in elektronischen Systemen.eBook ISBN 978-3-423-41085-4 (epub)ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21057-7Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks
Dieses Buch ist einer wunderbaren Frau gewidmet, die ich leider viel zu selten sehe: Janet Hutchings (früher Lektorin bei Walker, jetzt Redakteurin des ›Ellery Queen Mystery Magazine‹), die vor vielen Jahren unerschrocken genug war, sich meiner anzunehmen, obwohl ich jahrelang mit dem Schreiben ausgesetzt hatte. Gott segne sie.
Ich wusste, dass mein Bruder sich in einen Panther verwandeln würde, noch ehe es so weit war. Während ich in das abgelegene Dorf Hotshot an der alten Wegkreuzung fuhr, betrachtete mein Bruder durch die Windschutzscheibe schweigend den Sonnenuntergang. Jason trug seine ältesten Sachen, in einer Wal-Mart-Plastiktüte hatte er ein paar Dinge verstaut, die er vielleicht brauchen würde – eine Zahnbürste, frische Unterwäsche. Wie eingesunken in seine viel zu weite Tarnjacke saß er da und blickte starr geradeaus. Sein Gesicht war angespannt von der Anstrengung, die es ihn kostete, seine Angst und seine Aufregung zu beherrschen.
»Hast du dein Handy dabei?«, fragte ich und merkte in dem Moment, als ich die Worte aussprach, dass ich ihm die Frage bereits gestellt hatte. Doch Jason nickte nur, statt mich anzumaulen. Es war immer noch Nachmittag, aber Ende Januar wird es früh dunkel.
Heute Nacht würde zum ersten Mal im neuen Jahr Vollmond sein.
Als ich das Auto schließlich anhielt, drehte sich Jason zu mir um, und obwohl die Dämmerung bereits vorangeschritten war, konnte ich die Veränderung seiner Augen erkennen. Sie waren nicht mehr blau, so wie meine. Sie waren gelblich. Und ihre Form hatte sich verändert.
»Mein Gesicht fühlt sich so komisch an«, sagte Jason. Noch hatte er eins und eins nicht zusammengezählt.
Das winzige Hotshot lag still und ruhig da im schwindenden Tageslicht. Ein Winterwind fuhr über die kahlen Felder, und die Kiefern und Eichen erzitterten in den eiskalten Böen. Nur ein Mann war zu sehen. Er stand vor einem der kleinen Häuser, vor jenem, das frisch gestrichen war. Dieser Mann hielt die Augen geschlossen und hatte sein bärtiges Gesicht zum dunkler werdenden Himmel erhoben. Calvin Norris wartete, bis Jason auf der Beifahrerseite meines alten Chevy ausgestiegen war, ehe er herüberkam. Ich kurbelte mein Fenster herunter.
Seine goldgrünen Augen waren genauso erstaunlich, wie ich sie in Erinnerung hatte; doch der ganze Rest war unscheinbar. Gedrungen, graumeliert, kräftig – er sah aus wie Hunderte anderer Männer auch, die ich täglich in Merlotte’s Bar sah, abgesehen von diesen Augen.
»Ich werde gut auf ihn aufpassen«, sagte Calvin Norris. Jason stand mit dem Rücken zu mir hinter ihm. Die Luft um meinen Bruder war von merkwürdiger Beschaffenheit, sie schien zu vibrieren.
Nichts von all dem war Calvin Norris’ Schuld. Er war nicht derjenige gewesen, der meinen Bruder gebissen und damit für immer verändert hatte. Calvin war ein Werpanther, und zwar von Geburt an, es war seine Natur. Ich zwang mich zu einem »Danke«.
»Ich werde ihn morgen früh nach Hause bringen.«
»Zu mir nach Hause, bitte. Sein Pick-up steht bei mir.«
»In Ordnung. Dann einen schönen Abend noch.« Calvin Norris hob erneut sein Gesicht und hielt es in den Wind. Ich spürte, wie das ganze Dorf hinter den Fenstern und Türen nur darauf wartete, dass ich endlich wieder abfuhr.
Und so tat ich es.
Am nächsten Morgen um sieben Uhr klopfte Jason an meine Tür. Er hielt immer noch die Wal-Mart-Tüte in der Hand, hatte jedoch nichts daraus benutzt. Sein Gesicht war zerkratzt, und seine Hände waren von Schrammen übersät. Er sagte kein Wort. Er starrte mich nur an, als ich fragte, wie er sich fühle, und ging an mir vorbei durchs Wohnzimmer und die Diele entlang. Die Tür zum Badezimmer fiel mit einem vernehmlichen Klick ins Schloss. Im nächsten Augenblick hörte ich Wasser laufen und seufzte völlig erledigt auf. Obwohl ich gearbeitet hatte und erst um zwei Uhr nachts müde nach Hause gekommen war, hatte ich nicht viel geschlafen.
Als Jason wieder auftauchte, stellte ich ihm Eier mit Speck hin. Mit einem Anflug von Freude setzte er sich an den alten Küchentisch: wie ein Mann, der etwas ihm Vertrautes und Erfreuliches tat. Doch nachdem er einen Moment auf seinen Teller gestarrt hatte, sprang er wieder auf, rannte zurück ins Badezimmer und warf die Tür hinter sich zu. Ich hörte, wie er sich übergab, immer wieder.
Hilflos stand ich vor der Tür. Jason hätte sicher nicht gewollt, dass ich hineinging, das wusste ich. Nach ein paar Minuten ging ich zurück in die Küche und kippte das Essen in den Mülleimer, zwar mit schlechtem Gewissen wegen der Verschwendung, aber ich war außerstande, es selbst zu essen.
Als Jason wiederkam, sagte er nur: »Kaffee?« Er wirkte blass um die Nase und bewegte sich, als hätte er Schmerzen.
»Alles okay?«, fragte ich und wusste nicht, ob er zu einer Antwort überhaupt in der Lage war. Ich goss Kaffee in einen Becher.
»Ja«, sagte er einen Augenblick später, als hätte er darüber erst nachdenken müssen. »Das war das allerunglaublichste Erlebnis meines Lebens.«
Eine Sekunde lang wusste ich nicht, was er meinte – die Erfahrung im Badezimmer war nun wirklich nichts Neues für Jason, der gern mal einen über den Durst trank.
»Die Gestaltwandlung«, sagte ich dann vorsichtig.
Jason nickte und umfasste den Kaffeebecher mit beiden Händen. Er hielt sein Gesicht in den heißen Dampf, der aus dem starken schwarzen Gebräu aufstieg. Dann sah er mir in die Augen. Seine Iris hatte wieder ganz ihr übliches Blau angenommen. »Das ist der allerunglaublichste Rausch«, sagte er. »Weil ich durch Bisse und nicht von Geburt so bin, werde ich allerdings nicht zu einem echten Panther wie die anderen.«
Ich konnte Neid in seiner Stimme erkennen.
»Aber sogar das, was aus mir wird, ist toll. Du spürst die Magie, du spürst, wie deine Knochen in dir umherwandern und sich neu zusammenfügen, und dein Sichtfeld verändert sich. Plötzlich bist du dem Boden viel näher und bewegst dich auf ganz andere Art, und was das Rennen angeht, Wahnsinn, du kannst vielleicht rennen. Du kannst jagen…« Und dann erstarb seine Stimme.
Über den Teil wollte ich ohnehin lieber nichts erfahren.
»Dann ist es also gar nicht so übel?«, fragte ich angespannt mit gefalteten Händen. Jason war der einzige Angehörige, den ich hatte, außer einer Cousine, die schon vor Jahren in die Drogenszene abgerutscht war.
»Gar nicht so übel«, stimmte Jason zu und zwang sich zu einem Lächeln. »Jedenfalls solange du ein Tier bist. Alles ist ganz einfach. Erst wenn du wieder ein Mensch wirst, fängst du an, über die Dinge nachzudenken.«
Er hegte keine Selbstmordgedanken. Er war nicht mal bedrückt. Erst als ich wieder ausatmete, fiel mir auf, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Jason würde mit dem, was ihm widerfahren war, leben können. Er würde damit klarkommen.
Ich verspürte eine ungeheure Erleichterung, als wäre ich plötzlich von einem schmerzhaften Knebel befreit worden. Tagelang, ja wochenlang hatte ich mir Sorgen gemacht, und jetzt war diese Angst verschwunden. Das hieß allerdings nicht, dass Jasons Leben als Gestaltwandler problemlos verlaufen würde, wenigstens befürchtete ich das. Wenn er eine normale Frau heiratete, würden ihre Kinder auch normal sein. Doch wenn er in die Gestaltwandler-Gemeinde von Hotshot einheiratete, würde ich Nichten und Neffen haben, die sich einmal im Monat in Tiere verwandelten. Zumindest nach der Pubertät, was ihnen und auch ihrer Tante Sookie immerhin etwas Zeit gab, sich darauf einzustellen.
Zum Glück hatte Jason eine ganze Menge freier Tage und musste nicht ständig bei seiner Straßenbautruppe parat stehen. Doch ich musste heute Abend arbeiten. Sobald Jason in seinem auffälligen Pick-up weggefahren war, kroch ich noch mal ins Bett, in Jeans und allem, und war innerhalb von fünf Minuten fest eingeschlafen. Meine Erleichterung wirkte wie ein Beruhigungsmittel.
Als ich aufwachte, war es fast drei Uhr und an der Zeit, dass ich mich für meine Schicht im Merlotte’s fertig machte. Draußen schien die Sonne bei etwa elf Grad, wie mir das Innendisplay meines Außenthermometers verriet. Nicht besonders ungewöhnlich für das nördliche Louisiana im Januar. Die Temperatur würde fallen, sobald die Sonne unterging, und Jason würde sich verwandeln. Aber er würde ja hier und da von Fell bedeckt sein – nicht vollständig, da er zu einem Wesen halb Mensch, halb Tier wurde – und er würde mit anderen Panthern zusammen sein. Sie würden auf die Jagd gehen. Die Wälder rund um Hotshot, ein abgelegenes Dorf im Landkreis Renard, würden heute Nacht wieder zu gefährlichem Terrain werden.
Während ich durchs Haus lief und etwas aß, duschte und Wäsche zusammenlegte, dachte ich über ein Dutzend Dinge nach, die ich zu gern gewusst hätte. Ich fragte mich, ob die Gestaltwandler einen Menschen, der ihnen zufällig im Wald begegnete, wohl umbringen würden. Ich fragte mich, wie viel ihres menschlichen Bewusstseins ihnen in ihrer Tiergestalt erhalten blieb. Und wenn sie sich in ihrer Panthergestalt paarten, bekamen sie dann ein Junges oder ein Baby? Was geschah mit einer schwangeren Werpantherin bei Vollmond? Und ich fragte mich, ob Jason all diese Fragen bereits beantworten konnte, ob Calvin ihm wohl irgendeine Einweisung gegeben hatte.
Aber ich war froh, dass ich Jason nicht gleich heute Morgen danach gefragt hatte, jetzt, wo alles noch so neu für ihn war. Ich würde noch genug Gelegenheit haben, ihm meine Fragen zu stellen.
Zum ersten Mal seit Neujahr dachte ich über die Zukunft nach. Das Vollmond-Symbol in meinem Kalender schien mir nicht länger das Ende einer Phase zu kennzeichnen, sondern stand nun für eine neue Art der Zeitrechnung. Während ich mein Kellnerinnen-Outfit anzog (schwarze Hose, weißes T-Shirt mit Ausschnitt und schwarze Reeboks), war ich ganz aufgekratzt vor Freude. Ausnahmsweise ließ ich mein Haar mal offen, anstatt es zum Pferdeschwanz zu binden. Ich entschied mich für knallrote Ohrstecker und griff nach einem passenden Lippenstift. Etwas Make-up um die Augen, ein wenig Rouge, und ich konnte aufbrechen.
Mein Auto hatte ich letzte Nacht an der Rückseite des Hauses geparkt, und ich prüfte noch einmal gründlich, ob auf meiner hinteren Veranda auch wirklich keine Vampire lauerten, ehe ich die Hintertür zuzog und abschloss. Ich hatte da schon so manche unerfreuliche Überraschung erlebt. Auch wenn es noch nicht richtig dunkel war, konnten bereits ein paar Frühaufsteher herumschleichen. Die Japaner dürften damals bei der Entwicklung des synthetischen Bluts wohl kaum damit gerechnet haben, dass dieses Produkt die Vampire aus dem Reich der Legenden befreien und ans Licht der realen Welt bringen würde. Mit dem Blutersatzstoff hatten die Japaner bloß ein paar schnelle Dollar verdienen wollen, indem sie ihn an Ambulanzdienste und Notaufnahmen von Krankenhäusern verhökerten. Doch stattdessen hatten sie unsere Welt und unser Bild von ihr für immer verändert.
Da ich gerade über Vampire sprach (wenn auch bloß mit mir selbst), überlegte ich, ob Bill Compton wohl zu Hause war. Der Vampir Bill war meine erste große Liebe gewesen und er wohnte gegenüber von mir an der anderen Seite des alten Friedhofs. Unsere Häuser lagen beide an einer Landstraße außerhalb des kleinen Städtchens Bon Temps und südlich von der Bar, in der ich arbeitete. In letzter Zeit war Bill viel auf Reisen gewesen. Ob er zu Hause war, bekam ich eigentlich nur dann mit, wenn er mal ins Merlotte’s kam, was er hin und wieder tat, um sich unter die Einheimischen zu mischen und ein Glas warmes 0-positiv zu trinken. »TrueBlood« schmeckte ihm am besten, das teuerste japanische Ersatzblut. Er sagte mir mal, es würde sein Verlangen nach frischem Blut direkt aus der Quelle fast gänzlich stillen. Und da ich bei Bill bereits mal einen Anfall von Blutrünstigkeit erlebt hatte, konnte ich Gott nur auf Knien danken für »TrueBlood«. Manchmal vermisste ich Bill ganz schrecklich.
Ich gab mir innerlich einen Ruck. Schluss mit dem Trübsinn, einzig und allein darum ging es heute. Keine Sorgen mehr! Keine Angst mehr! Frei und erst sechsundzwanzig! Ich hatte Arbeit! Das Haus war bezahlt! Geld auf dem Konto! Das waren doch alles sehr positive Dinge.
Der Parkplatz der Bar war voll, als ich ankam. Heute Abend würde ich also gut zu tun haben. Ich fuhr um das Haus herum zum rückwärtigen Eingang für Angestellte. Sam Merlotte, der Besitzer der Bar und mein Boss, lebte dort hinten in einem sehr schönen Wohnwagen, der sogar einen kleinen Hof hatte und umgeben war von einer Hecke– Sams Ersatz für einen weißen Palisadenzaun. Ich schloss mein Auto ab und trat durch die Hintertür für Angestellte, die in einen Gang führte, von dem die Damen- und Herrentoiletten, ein großer Vorratsraum und Sams Büro abgingen. Ich stopfte meine Tasche und meinen Mantel in eine leere Kommodenschublade, zog meine roten Socken hoch, schüttelte den Kopf, damit mein Haar schön fiel, und ging durch die Tür (diese Tür stand fast immer weit offen), die in den großen Raum der Bar und des Restaurants führte. Was nicht bedeutete, dass die Küche mehr hergab als die gängigsten Sachen: Hamburger, gebackenes Hühnchen, Pommes und Zwiebelringe, Salate im Sommer und Chili con Carne im Winter.
Sam war Barkeeper, Rausschmeißer und gelegentlich auch Koch, doch in letzter Zeit hatten wir glücklicherweise diese Stelle anders besetzen können: Sams jahreszeitlich bedingte Allergien hatten ziemlich zugeschlagen und ihn nicht gerade zur Idealbesetzung für die Essenszubereitung gemacht. Die neue Köchin hatte sich erst letzte Woche auf Sams Anzeige hin gemeldet. Köche schien es nicht lange im Merlotte’s zu halten, aber ich hoffte, dass Sweetie Des Arts eine Weile bleiben würde. Sie kam stets pünktlich, machte ihre Arbeit gut und fing nie irgendeinen Streit mit den anderen Angestellten an. Mehr konnte doch niemand verlangen. Unser letzter Koch, ein Typ namens Tack, hatte bei meiner Freundin Arlene die große Hoffnung geweckt, dass er Mr.Right sein könnte – das wäre dann ihr vierter oder fünfter gewesen–, ehe er über Nacht seine Zelte abbrach und ihr Tafelsilber und einen CD-Player mitgehen ließ. Ihre Kinder waren völlig niedergeschlagen gewesen, nicht etwa wegen des Typs, sondern weil sie den CD-Player so vermissten.
Ich trat in eine Wolke aus Lärm und Zigarettenrauch hinein und mir schien, als betrete ich ein anderes Universum. Die Raucher sitzen alle auf der westlichen Seite des Raums, doch der Rauch scheint nicht zu wissen, dass er dort zu bleiben hat. Ich setzte ein Lächeln auf und ging hinter die Bar zu Sam, um ihn zu begrüßen. Nachdem er fachgerecht ein Glas mit Bier gefüllt und es einem der Stammgäste zugeschoben hatte, hielt er sofort das nächste Glas unter den Zapfhahn.
»Wie steht’s denn so?«, fragte Sam vorsichtig. Er wusste alles über die Probleme meines Bruders, denn er hatte mich in jener Nacht begleitet, in der ich den in einem Werkzeugschuppen in Hotshot gefangen gehaltenen Jason fand. Doch wir konnten nur indirekt darüber reden. Vampire waren zwar an die Öffentlichkeit getreten, aber Gestaltwandler und Werwölfe umgab immer noch der Schleier des Geheimnisvollen. Die verborgene Welt der übernatürlichen Geschöpfe wollte abwarten, wie es den Vampiren erging, ehe sie deren Beispiel folgte und sich ebenfalls outete.
»Besser als erwartet.« Ich lächelte zu ihm hinauf, so weit hinauf allerdings auch wieder nicht, denn Sam ist kein großer Mann. Er ist schmal gebaut, aber sehr viel stärker, als er aussieht. Sam ist in den Dreißigern – zumindest nehme ich das an – und hat rotgoldenes Haar, das seinen Kopf wie ein Heiligenschein umrahmt. Er ist ein guter Mensch und ein großartiger Boss. Außerdem ist er auch ein Gestaltwandler und kann zu jeder Art Tier werden. Meistens verwandelt sich Sam in einen sehr schönen Collie mit prächtigem Fell. Manchmal kommt er dann hinaus zu meinem Haus und ich lasse ihn auf einem Vorleger im Wohnzimmer schlafen. »Er kommt prima klar.«
»Freut mich«, sagte er. Die Gedanken von Gestaltwandlern kann ich nicht so einfach lesen wie die Gedanken von Menschen, aber ich erkenne sofort, ob etwas ehrlich gemeint ist oder nicht. Sam freute sich wirklich darüber, weil ich mich darüber freute.
»Wann brichst du auf?«, fragte ich. Er hatte diesen versonnenen Blick in den Augen, der besagte, dass er in Gedanken längst durch die Wälder jagte, um Beutelratten aufzuspüren.
»Sobald Terry da ist.« Wieder lächelte er mich an, doch diesmal wirkte sein Lächeln schon etwas bemühter. Sam wurde langsam kribbelig.
Die Küchentür war gleich neben der Bar, an ihrem westlichen Ende, und ich steckte den Kopf hindurch, um Sweetie zu begrüßen. Sweetie war knochig und brünett und um die vierzig, und für eine Frau, die den ganzen Abend außer Sichtweite in der Küche zubrachte, trug sie eine ganze Menge Make-up. Und sie schien ein bisschen cleverer, vielleicht sogar besser gebildet zu sein als all die vorherigen Köche des Merlotte’s.
»Alles okay bei dir, Sookie?«, rief sie, während sie einen Hamburger zuklappte. Sweetie war in der Küche ständig in Bewegung und mochte es gar nicht, wenn ihr jemand im Weg stand. Der Teenager, der ihr half und die Tische anwies, hatte geradezu Angst vor Sweetie und war immer darauf bedacht, ihr auszuweichen, wenn sie zwischen Herd und Fritteuse hin und her lief. Dieser junge Mann richtete die Teller an, bereitete die Salate zu und ging zur Küchendurchreiche, um den Kellnerinnen zu sagen, welche Bestellungen fertig waren. Im Restaurant arbeiteten Holly Cleary und ihre beste Freundin Danielle gerade ziemlich hart. Beiden war die Erleichterung anzusehen gewesen, als ich hereinkam. Danielle bediente im Raucherbereich auf der westlichen Seite, Holly für gewöhnlich in der Mitte direkt vor der Bar, und ich arbeitete auf der östlichen Seite, wenn wir alle drei Dienst hatten.
»Sieht aus, als sollte ich besser loslegen«, sagte ich zu Sweetie.
Sie lächelte mir rasch noch einmal zu und drehte sich gleich wieder zum Herd um. Der eingeschüchterte Küchenjunge, dessen Namen ich noch nicht mitbekommen hatte, nickte mir mit geducktem Kopf zu und fuhr fort, die Spülmaschine einzuräumen.
Sam hätte mich anrufen sollen, wenn so ein Betrieb herrschte. Es hätte mir nichts ausgemacht, etwas früher anzufangen. Klar, er war nicht ganz er selbst heute Abend. Ich kümmerte mich um die Tische in meinem Bereich, sorgte für neue Drinks und räumte leere Teller weg, rechnete die Bestellungen ab und holte Wechselgeld.
»Kellnerin! Einmal ›Red Stuff‹!« Die Stimme kannte ich nicht, und die Bestellung war ungewöhnlich. »Red Stuff« war das billigste synthetische Blut, und nur die jüngsten Vampire würden sich die Blöße geben, danach zu verlangen. Ich holte eine Flasche aus dem Einbaukühlschrank der Bar und stellte sie in die Mikrowelle. Während sie sich erwärmte, spähte ich durch den Raum auf der Suche nach dem Vampir. Er saß bei meiner Freundin Tara Thornton. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen, was ich beunruhigend fand. Tara hatte sich bislang mit einem älteren Vampir getroffen (einem viel älteren: Franklin Mott war schon als Mensch älter gewesen als Tara, bevor er starb; und mittlerweile war er über dreihundert Jahre lang ein Vampir), der ihr großzügige Geschenke machte – etwa einen Camaro. Warum gab sie sich mit diesem neuen Typen ab? Franklin hatte wenigstens gute Manieren gehabt.
Ich stellte die erwärmte Flasche auf ein Tablett und trug sie zu den beiden hinüber. Die Beleuchtung im Merlotte’s ist abends nicht sonderlich hell, eben so wie Stammgäste es mögen. Daher konnte ich Taras Begleiter erst einschätzen, als ich ihnen schon ziemlich nah war. Er war schlank, hatte schmale Schultern und trug sein Haar glatt zurückgekämmt. Seine Fingernägel waren lang und sein Gesicht scharf geschnitten. Ich schätze, auf gewisse Weise war er attraktiv – jedenfalls wenn du eine gute Prise Gefahr liebst beim Sex.
Ich stellte die Flasche direkt vor ihn hin und blickte Tara unsicher an. Sie sah großartig aus, wie immer. Tara ist groß, schlank, hat dunkles Haar und besitzt einen ganzen Schrank voller wunderbarer Kleider. Sie hatte eine wahrlich schreckliche Kindheit überlebt, es bis zur Besitzerin eines eigenen Geschäfts gebracht und war sogar zum Mitglied der Handelskammer geworden. Und dann begann sie, mit dem wohlhabenden Vampir Franklin Mott auszugehen, und ließ ihre Freundschaft mit mir hinter sich.
»Sookie«, sagte sie, »darf ich dir Franklins Freund Mickey vorstellen.« Sie klang allerdings ganz und gar nicht, als ob sie uns einander vorstellen wollte. Sie klang vielmehr, als wünschte sie, dass ich den Drink für Mickey nie gebracht hätte. Ihr eigenes Glas war beinahe leer, doch sie lehnte ab, als ich fragte, ob ich ihr noch etwas bringen solle.
Der Vampir und ich nickten uns gegenseitig zu; Vampire geben niemandem die Hand, normalerweise jedenfalls nicht. Er sah mich an, als er einen Schluck Blut aus der Flasche nahm, mit einem Blick so kalt und feindselig wie der einer Schlange. Wenn der ein Freund des weltmännischen und ultrahöflichen Franklin war, war ich eine seidene Handtasche. Wohl eher einer dieser angeheuerten Typen. Vielleicht ein Bodyguard? Aber warum sollte Franklin für Tara einen Bodyguard anheuern?
Vor diesem schmierigen Typen würde sie sowieso nicht offen reden, also sagte ich bloß: »Wir sehen uns«, und brachte Mickeys Geld zur Kasse.
Ich hatte den ganzen Abend viel zu tun, und in den wenigen freien Minuten, die mir blieben, dachte ich an meinen Bruder. Er tollte jetzt den zweiten Abend mit den anderen Biestern unter dem Vollmond herum. Sam war wie ein geölter Blitz verschwunden, sobald Terry Bellefleur auftauchte, obwohl der Papierkorb in seinem Büro von zerknüllten Papiertaschentüchern überquoll. Seine Miene war ganz angespannt gewesen vor Erwartung.
Es war einer dieser Abende, an denen ich mich wieder mal wunderte, wie die Menschen um mich herum nur so ignorant sein konnten gegen die andere Welt, die direkt neben der unseren existierte. Nur mutwillige Ignoranz konnte doch diese schwer in der Luft lastende Magie nicht wahrnehmen. Nur allumfassende Fantasielosigkeit konnte als Erklärung dafür gelten, dass sich die Leute nicht mal fragten, was da draußen im Dunkeln wohl vor sich ging.
Aber dann erinnerte ich mich, dass es noch gar nicht so lange her war, dass auch ich zu den mutwillig Blinden gehört hatte wie alle anderen hier im Merlotte’s. Selbst nachdem die Vampire sorgfältig koordiniert weltweit bekannt gegeben hatten, dass sie tatsächlich existierten, vollzogen nur wenige Behörden und Bürger den nächsten logischen Schritt: Wenn Vampire existieren, was könnte wohl sonst noch gleich jenseits des Lichtkegels im Dunkeln lauern?
Aus reiner Neugierde begann ich, in die Gedanken um mich herum einzutauchen und mir die Ängste anzusehen. Die meisten Leute in der Bar dachten über Mickey nach. Die Frauen, und auch einige der Männer, fragten sich, wie es wohl wäre, mit ihm zusammen zu sein. Sogar die langweilige Anwältin Portia Bellefleur spähte immer wieder um ihren konservativen Schönling herum, um Mickey zu mustern. Über diese Spekulationen konnte ich mich nur wundern. Mickey war angsteinflößend. Was jede körperliche Anziehung, die ich ihm gegenüber vielleicht empfunden hätte, sofort zunichte machte. Aber nun hatte ich jede Menge Beweise, dass die anderen Menschen in der Bar das keineswegs so empfanden.
Ich kann schon mein ganzes Leben lang Gedanken lesen. Diese Fähigkeit ist nicht gerade eine großartige Gabe. Bei den meisten Leuten lohnt es sich nicht einmal. Ihre Gedanken sind langweilig, widerlich, ernüchternd und nur selten einmal amüsant. Wenigstens habe ich mit Bills Hilfe gelernt, wie ich einen Teil dieses Getöses abstellen kann. Als ich seine Tipps noch nicht kannte, war es, als würde ich hundert Radiosender gleichzeitig hören. Einige klangen kristallklar, andere kamen wie von weit her und wieder andere, die Gedanken von Gestaltwandlern etwa, knisterten wie elektrostatisch aufgeladen und waren ganz verworren. Und alle zusammen erzeugten sie eine einzige Kakophonie. Kein Wunder, dass viele Leute mich für eine Geisteskranke gehalten haben.
Vampire waren lautlos. Und das war das Wunderbare an ihnen, jedenfalls aus meiner Sicht. Vampire waren tot. Und auch ihr Gehirn war tot. Nur alle paar Jubeljahre erreichte mich mal blitzartig der Gedanke eines Vampirs.
Shirley Hunter, der Chef meines Bruders bei seiner Straßenbautruppe, fragte mich, wo Jason sei, als ich ihm einen Krug Bier an der Tisch brachte. Shirley wurde von allen nur »Catfish« genannt.
»Ihre Vermutung entspricht da wohl ganz der meinen«, sagte ich unwahrheitsgemäß, und er zwinkerte mir zu. Bei der ersten Vermutung, wo Jason sein könnte, drehte es sich immer um eine Frau, und bei der zweiten Vermutung drehte es sich für gewöhnlich um eine andere Frau. Die Männer an dem vollbesetzten Tisch, die noch Arbeitskleidung trugen, lachten lauter, als es die Antwort erfordert hätte. Aber sie hatten auch alle bereits ziemlich viel Bier intus.
Ich hastete zurück an den Bartresen, um mir drei Bourbon-Cola von Terry Bellefleur geben zu lassen, Portias Cousin, der unter Hochdruck arbeitete. Terry, ein Vietnamveteran mit einer Menge körperlicher und seelischer Narben, schien mit dem hektischen Getriebe des Abends prima klarzukommen. Einfache Jobs, die Konzentration erforderten, gefielen ihm. Sein angegrautes kastanienbraunes Haar war zum Pferdeschwanz zurückgebunden und seine Miene war aufmerksam, während er mit den Flaschen hantierte. Die Drinks waren umgehend fertig, und Terry lächelte mich an, als ich sie auf mein Tablett stellte. Ein Lächeln von Terry, das kam selten vor und wärmte mir das Herz.
Doch schon als ich mich mit dem Tablett auf der rechten Hand umdrehte, ging der Ärger los. Ein Student der Louisiana-Tech-Universität in Ruston hatte sich auf einen persönlichen Kleinkrieg mit Jeff LaBeff eingelassen, einem Proleten, der jede Menge Kinder hatte und sich als Müllwagenfahrer durchschlug. Vielleicht handelte es sich dabei bloß um zwei sture Typen, die aneinander gerieten, und es hatte eigentlich gar nichts mit dem alten Zwist »Einwohner vs. Student« zu tun (so nahe war Ruston ja schließlich nicht). Aber was auch immer ursprünglich der Grund für den Streit gewesen sein mochte, ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich begriff, dass sich die beiden nicht damit zufrieden geben würden, sich gegenseitig anzubrüllen.
In diesen wenigen Sekunden versuchte Terry einzuschreiten. Nach ein paar schnellen Schritten stand er zwischen Jeff und dem Studenten und packte beide fest am Handgelenk. Einen Augenblick lang dachte ich, er hätte alles unter Kontrolle, doch Terry war nicht mehr so jung und kräftig wie früher, und plötzlich war die Hölle los.
»Du könntest das beenden«, sagte ich wütend zu Mickey, als ich an seinem und Taras Tisch vorbeieilte, um selbst Frieden zu stiften.
Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und nippte an seinem Drink. »Nicht meine Angelegenheit«, erwiderte er seelenruhig.
Das war deutlich, auch wenn sich der Vampir damit bei mir nicht gerade beliebter machte – zumal der Student herumwirbelte und einen Schwinger auf mich losließ, als ich mich ihm von hinten näherte. Er verfehlte mich, und ich schlug ihm mein Tablett auf den Kopf, so dass er zur Seite taumelte, vielleicht blutete er sogar ein bisschen. Inzwischen hatte Terry Jeff LaBeff bändigen können, der bereits nach einer Ausflucht suchte, um aufzugeben.
Vorfälle wie diese waren schon häufiger vorgekommen, vor allem wenn Sam nicht da war. Mir war klar, dass wir einen Rausschmeißer brauchten, wenigstens am Wochenende… und auf jeden Fall in Nächten mit Vollmond.
Der Student drohte, mich zu verklagen.
»Wie heißt du?«, fragte ich.
»Mark Duffy«, antwortete der junge Mann und hielt sich den Kopf.
»Mark, woher kommst du?«
»Aus Minden.«
Schnell schätzte ich seine Kleidung, sein Benehmen und den Inhalt seines Kopfes ab. »Wird mir ein Vergnügen sein, deine Mama anzurufen und ihr zu erzählen, dass du einen Schwinger auf eine Frau losgelassen hast«, sagte ich. Er wurde blass, und von Klage war keine Rede mehr. Kurz darauf verschwanden er und seine Kumpane. Es ist eben immer hilfreich, die wirksamste Drohung zu kennen.
Jeff forderten wir ebenfalls auf, zu verschwinden.
Terry nahm wieder seinen Platz hinter der Bar ein und begann Drinks auszuschenken, doch er hinkte leicht und hatte einen angespannten Ausdruck im Gesicht, was mich beunruhigte. Terrys Kriegserlebnisse hatten ihn recht labil gemacht.
Und die Nacht war natürlich noch nicht zu Ende.
Etwa eine Stunde nach der Rauferei kam eine Frau ins Merlotte’s. Sie war ziemlich unansehnlich und schlicht gekleidet, in alte Jeans und einen tarnfarbenen Mantel. Ihre Stiefel mussten irgendwann mal wunderschön ausgesehen haben, als sie noch neu gewesen waren, doch das war lange her. Eine Handtasche hatte sie nicht dabei und ihre Hände waren tief in den Manteltaschen vergraben.
Verschiedene Anzeichen ließen meine geistigen Antennen zucken. Zuerst einmal, diese Frau war falsch gekleidet. Jemand aus der Gegend würde sich vielleicht so anziehen, um auf die Jagd zu gehen oder Landarbeit zu verrichten, aber in diesem Aufzug nie im Merlotte’s auftauchen. Die meisten Frauen, die abends in die Bar kamen, machten sich zurecht. Diese Frau hier war also in einer Arbeitssituation, und eine Hure war sie schon mal nicht, so wie sie aussah.
Das bedeutete Drogen.
Um das Merlotte’s während Sams Abwesenheit zu schützen, ließ ich mich auf ihre Gedanken ein. Die Leute denken natürlich nicht in vollständigen Sätzen, und ich glätte das ein wenig. Aber in etwa ging ihr dies durch den Kopf: Drei Phiolen noch, werden langsam alt und verlieren ihre Wirkung, muss ich unbedingt heute Nacht verkaufen, dann kann ich zurück nach Baton Rouge und neue besorgen. Da ist ein Vampir in der Bar, wenn der mich mit Vampirblut erwischt, bin ich tot. Was ist das für ein Drecksnest hier. Bloß zurück in die Stadt, sobald sich Gelegenheit bietet.
Sie war eine Ausbluterin, oder vielleicht war sie auch nur eine Dealerin. Vampirblut war die wirksamste Droge auf dem Markt, aber die Vampire gaben es natürlich nicht freiwillig her. Das Ausbluten von Vampiren war ein gefährliches Unterfangen, was die Preise für die winzigen Blutphiolen in erstaunliche Höhen trieb.
Und was bekam der Drogenkonsument dafür, dass er so viel Geld hinblätterte? Je nach Alter des Bluts (wann war es dem Besitzer entnommen worden?), Alter des ausgebluteten Vampirs und körperlich biochemischer Beschaffenheit des Drogenkonsumenten konnte das eine ganze Menge sein. Das Blut erzeugte ein Gefühl der Allmacht, körperliche Stärke sowie ein geschärftes Seh- und Hörvermögen. Und am allerwichtigsten war vielen: ein besseres äußeres Erscheinungsbild.
Trotzdem, nur ein Idiot würde Vampirblut vom Schwarzmarkt trinken. Zum einen war die Wirkung bekanntlich unberechenbar. Die Effekte waren nicht nur äußerst unterschiedlich, sondern auch in ihrer Dauer unkalkulierbar, von zwei Wochen bis zu zwei Monaten war alles möglich. Zum anderen wurden manche Leute einfach wahnsinnig, wenn das Blut in ihren Körper gelangte – manchmal sogar gemeingefährlich und mordlüstern. Ich hatte auch schon von Dealern gehört, die leichtgläubigen Personen Schweineblut oder verseuchtes Blut verkauften. Doch der wichtigste Grund, den Schwarzmarkt für Vampirblut zu meiden, war dieser: Vampire hassten Ausbluter, und sie hassten jene, die Vampirblut tranken (im Allgemeinen Blutjunkies genannt). Und dass ein Vampir auf dich sauer ist, darauf will’s nun wirklich niemand ankommen lassen.
An diesem Abend war kein Polizist im Merlotte’s. Sam rannte irgendwo da draußen schwanzwedelnd herum. Und Terry wollte ich nicht unbedingt einen Wink geben, weil ich nicht wusste, wie er reagieren würde. Aber irgendetwas muss ich gegen diese Frau unternehmen.
Stimmt schon, ich versuche mich meist aus Angelegenheiten herauszuhalten, von denen ich nur aufgrund meiner Gedankenleserei weiß. Wenn ich mich jedes Mal einmischen würde, sobald ich etwas erfahre, das die Leute um mich herum betrifft (zum Beispiel dass der Verwaltungsangestellte der Gemeinde Gelder unterschlug oder dass einer der örtlichen Detectives bestechlich war), könnte ich nicht länger in Bon Temps wohnen bleiben, aber hier war ich nun mal zu Hause. Allerdings konnte ich nicht zulassen, dass diese klapperdürre Frau ihr Giftzeug in Sams Bar verkaufte.
Sie setzte sich auf einen leeren Barhocker und bestellte bei Terry ein Bier. Sein Blick ruhte auf ihr. Auch Terry hatte bemerkt, dass mit der Fremden irgendwas nicht in Ordnung war.
Ich ging an die Bar, um meine nächste Bestellung abzuholen, und stellte mich neben sie. Sie brauchte dringend ein Bad, und sie war in einem Haus gewesen, das mit offenem Kamin beheizt wurde. Ich zwang mich, sie zu berühren, was stets meine Wahrnehmung erhöhte. Wo war das Vampirblut? In ihrer Manteltasche. Gut.
Ohne weitere Umstände kippte ich ein Glas Wein um, dessen Inhalt sich über sie ergoss.
»Verdammt!«, rief sie und sprang vom Barhocker. »Sie sind ja wohl das dämlichste aller ungeschickten Weiber, das ich je getroffen habe!«
»’tschuldigung«, sagte ich unaufrichtig, stellte mein Tablett auf den Bartresen und tauschte einen schnellen Blick mit Terry. »Lassen Sie mich da etwas Waschsoda drauftun.« Ohne auf ihre Erlaubnis zu warten, zog ich ihr den Mantel über die Schultern und die Arme herunter. Als sie schließlich begriff, was ich da tat, und sich zu wehren begann, hatte ich mir den Mantel bereits geschnappt. Ich warf ihn über den Tresen Terry zu. »Tu da doch bitte mal ein bisschen Waschsoda drauf«, sagte ich. »Aber pass auf, dass der Kram in den Taschen nicht nass wird.« Diesen Trick hatte ich vorher schon mal angewandt. Ich war nur froh, dass kaltes Wetter herrschte und sie das Zeug im Mantel hatte statt in ihrer Jeanstasche. Das hätte meine Erfindungsgabe doch arg strapaziert.
Unter dem Mantel trug die Frau ein sehr altes »Dallas-Cowboys«-Shirt. Sie begann zu zittern, und ich fragte mich, ob sie noch andere, üblichere Drogen nahm. Terry machte eine richtige Show daraus, Waschsoda auf den Weinfleck zu geben. Auf meinen Hinweis hin griff er tief in die Taschen hinein. Angeekelt sah er auf seine Hand hinunter, und ich hörte das leise Klirren, als er die Phiolen in den Mülleimer hinter der Bar warf. Alles andere legte er wieder in die Taschen zurück.
Sie hatte den Mund schon geöffnet, um Terry anzuschreien, als ihr klar wurde, dass sie das eigentlich schlecht tun konnte. Terry starrte sie unverwandt an und forderte sie geradezu heraus, das Blut zu erwähnen. Die Leute um uns herum sahen bereits interessiert herüber. Sie wussten, da war irgendwas los, ahnten aber nicht, was, weil die ganze Sache so schnell gegangen war. Als sich Terry sicher war, dass sie nicht zu schreien anfangen würde, reichte er mir den Mantel. Während ich ihn ihr so hinhielt, dass sie nur noch mit den Armen hineinzuschlüpfen brauchte, sagte Terry: »Und dass Sie hier ja nie wieder auftauchen.«
Wenn wir weiterhin in dem Tempo Leute rauswarfen, würden wir bald nicht mehr allzu viele Gäste haben.
»Blöder Prolet«, erwiderte sie. Die Leute um uns herum hielten den Atem an. (Terry war fast so unberechenbar wie ein Blutjunkie.)
»Mir egal, wie Sie mich nennen«, sagte er. »Eine Beleidigung von Ihnen ist vermutlich noch nicht mal eine richtige Beleidigung. Bleiben Sie einfach weg.«
Erleichtert atmete ich wieder aus.
Die Frau bahnte sich einen Weg nach draußen. Jeder im Raum beobachtete sie dabei, sogar der Vampir Mickey. Gleichzeitig hantierte er mit irgend so einem kleinen Gerät. Es sah aus wie eins dieser Handys, die auch Fotos machen. Ich fragte mich, wem er es wohl schickte. Und ich fragte mich, ob sie wohl je zu Hause ankommen würde.
Terry fragte demonstrativ nicht, woher ich gewusst hatte, dass diese verwahrloste Frau etwas Illegales in ihren Taschen trug. Das war auch so eine komische Art der Leute von Bon Temps. Gerüchte über mich waren im Umlauf, seit ich mich erinnern konnte, schon seit ich als kleines Kind von meinen Eltern durch alle erreichbaren psychiatrischen Abteilungen geschleust wurde. Und trotzdem, obwohl ich jederzeit den Beweis antreten konnte, zogen es fast alle Leute, die ich kannte, vor, mich für eine leicht unterbelichtete und seltsame junge Frau zu halten, statt meine merkwürdige Fähigkeit anzuerkennen. Ich passte natürlich auf und band es ihnen nicht auf die Nase. Und ich hielt den Mund.
Egal, Terry hatte sowieso mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen. Terry lebte von irgendeiner Art Regierungsrente, und neben zwei anderen Jobs putzte er frühmorgens hier im Merlotte’s. Drei- oder viermal im Monat vertrat er Sam. Die restliche Zeit stand zu seiner freien Verfügung, und keiner schien so genau zu wissen, was er damit eigentlich anfing. Der Umgang mit Leuten erschöpfte Terry, und Abende wie dieser hier waren einfach nicht gut für ihn.
Zum Glück war er am folgenden Abend nicht im Merlotte’s. Da war dann nämlich tatsächlich die Hölle los.
Anfangs dachte ich, alles liefe wieder seinen normalen Gang. Die Bar wirkte ein wenig ruhiger am nächsten Abend. Sam war zurück an seinem Platz, entspannt und fröhlich. Nichts schien ihn ärgern zu können, und als ich ihm das mit der Dealerin vom Abend vorher erzählte, gratulierte er mir zu meinem raffinierten Trick.
Tara war nicht gekommen, so dass ich sie auch nicht nach Mickey fragen konnte. Aber ging mich das überhaupt was an? Wohl eher nicht – dennoch machte ich mir Sorgen.
Jeff LaBeff war wieder da, aber ziemlich kleinlaut, da er sich am Abend vorher von einem College-Jüngelchen hatte provozieren lassen. Sam war der Vorfall von Terry am Telefon berichtet worden, und er verwarnte ihn.
Andy Bellefleur, ein Detective von Renard und Portias Bruder, kam mit der jungen Frau herein, mit der er ausging, Halleigh Robinson. Andy war älter als ich, und ich bin sechsundzwanzig. Halleigh war einundzwanzig – gerade alt genug, um das Merlotte’s zu betreten. Halleigh unterrichtete an der Grundschule, sie war eben frisch vom College gekommen, und sie war wirklich attraktiv mit ihren braunen Haaren, die knapp das Ohr bedeckten, ihren großen braunen Augen und ihrer sehr weiblichen Figur. Andy traf sich bereits seit zwei Monaten mit Halleigh, und gemessen daran, wie selten ich die beiden sah, schienen sie in ihrer Beziehung recht überschaubare Fortschritte zu machen.
Andys aufrichtiger Gedanke war, dass er Halleigh sehr gern hatte (obwohl sie ein bisschen langweilig war) und er sogar bereit wäre, einiges für sie aufzugeben. Halleigh dachte, dass Andy sexy war und ein echter Mann von Welt, und sie fand die neu renovierte Villa der Bellefleur-Familie wundervoll; aber sie glaubte nicht, dass er noch lange bei ihr bleiben würde, wenn sie erst mit ihm geschlafen hatte. Wie ich es hasste, mehr über Beziehungen zu wissen als die beteiligten Leute selbst – ganz egal, wie fertig ich bin, irgendwas schnappe ich immer auf.
Claudine kam an diesem Abend in die Bar, kurz bevor sie schloss. Claudine ist 1,80Meter groß, hat schwarzes welliges Haar, das ihr den Rücken herabfließt, und eine bläulichweiße Haut, die dünn und schimmernd aussieht wie die einer Pflaume. Claudine macht sich zurecht, um Aufmerksamkeit zu erregen. Heute Abend trug sie einen terracottafarbenen Hosenanzug, der ihrem Amazonenkörper knalleng auf den Leib geschneidert war. Tagsüber arbeitet sie in der Reklamationsabteilung eines großen Kaufhauses in Ruston. Ich wünschte, sie hätte auch ihren Bruder Claude mitgebracht. Er teilt keine Schwinger in meine Richtung aus und ist noch dazu eine echte Augenweide.
Er ist ein Elf mit Zauberkräften. Ich meine, das stimmt wirklich, wortwörtlich. Wie Claudine natürlich auch.
Sie winkte mir über die Köpfe der anderen hinweg zu. Lächelnd winkte ich zurück. In Claudines Nähe ist jeder glücklich, sie ist einfach immer fröhlich, solange sich keine Vampire in ihrer unmittelbaren Umgebung aufhalten. Claudine ist unberechenbar und sehr amüsant, obwohl sie wie jeder Elf gefährlich wie ein Tiger werden kann, wenn sie verärgert ist. Zum Glück passierte das nicht allzu häufig.
Elfen nehmen eine ganz bestimmte Position innerhalb der Hierarchie der magischen Geschöpfe ein. Bis jetzt habe ich noch nicht genau verstanden welche, aber früher oder später werde ich es mir schon noch zusammenreimen.
Alle Männer in der Bar waren ganz scharf auf Claudine, und sie genoss es. Sie schenkte Andy Bellefleur einen langen Blick aus großen Augen, und Halleigh Robinson starrte sie wütend an und hätte sie beinahe angespuckt, ehe sie sich dann doch darauf besann, dass sie ein liebes nettes Südstaatenmädchen war. Aber Claudine verlor jegliches Interesse an Andy Bellefleur, als sie sah, dass er Eistee mit Zitrone trank. Elfen sind gegen Zitrone wohl noch weitaus allergischer als Vampire gegen Knoblauch.
Claudine bahnte sich einen Weg zu mir und umarmte mich herzlich, was den Neid jedes einzelnen Mannes in der Bar erregte. Sie ergriff meine Hand und zog mich in Sams Büro. Aus reiner Neugierde ging ich mit.
»Meine Liebe«, sagte Claudine, »ich habe eine schlechte Nachricht für dich.«
»Was für eine?« Es lag nur ein Herzschlag zwischen meinem Amüsement und meinem Schreck.
»Heute am frühen Morgen gab es eine Schießerei. Einer der Werpanther wurde getroffen.«
»Oh nein! Jason!« Aber einer seiner Freunde hätte doch sicher angerufen, wenn er heute nicht zur Arbeit erschienen wäre.
»Nein, deinem Bruder geht es gut, Sookie. Calvin Norris wurde niedergeschossen.«
Ich war fassungslos. Und Jason hatte mich nicht angerufen, um mir das zu erzählen? Ich musste das von jemand anderem erfahren?
»Ist er tot?«, fragte ich und hörte meine Stimme zittern. Nicht dass Calvin und ich enge Freunde waren – ganz und gar nicht–, aber ich war schockiert. Heather Kinman, ein Teenager, war letzte Woche erschossen worden. Was war in Bon Temps bloß los?
»Ein Schuss in die Brust. Er lebt, aber er ist schwer verletzt.«
»Ist er im Krankenhaus?«
»Ja, seine Nichten haben ihn ins Grainger Memorial gefahren.«
Grainger war eine kleine Stadt noch weiter südöstlich als Hotshot, und die Fahrt dorthin dauerte nicht so lange wie ins Krankenhaus in Clarice.
»Wer ist es gewesen?«
»Keiner weiß es. Irgendjemand hat Calvin heute am frühen Morgen auf seinem Weg zur Arbeit niedergeschossen. Er war nach Hause gekommen von seinem, äh, monatlichen Ausflug, hatte sich umgezogen und war losgefahren in die Stadt zu seiner Schicht.« Calvin arbeitete bei Norcross.
»Und woher weißt du das alles?«
»Einer seiner Cousins kam ins Kaufhaus, um einen Pyjama zu kaufen, weil Calvin keinen besitzt. Ich schätze, er schläft wohl nackt«, sagte Claudine. »Keine Ahnung, wie sie ein Pyjamaoberteil über seinen Verband kriegen wollen. Vielleicht brauchen sie auch bloß die Hosen? Calvin dürfte es ganz und gar nicht gefallen, nur mit einem dieser entsetzlichen Krankenhauskittel angetan über die Flure zu schlurfen.«
Claudine kam in Gesprächen oft vom Hundertsten ins Tausendste.
»Danke, dass du es mir erzählt hast«, sagte ich und wunderte mich, woher der Cousin Claudine wohl kannte, hütete mich aber, danach zu fragen.
»Schon okay. Ich hatte einfach ein Gefühl, als ob du es erfahren wollest. Heather Kinman war auch eine Gestaltwandlerin. Ich wette, das wusstest du nicht. Denk mal drüber nach.«
Claudine drückte mir einen Kuss auf die Stirn– Elfen haben gern viel Körperkontakt–, und dann gingen wir zurück in die Bar. Ich brachte kein Wort heraus, so fassungslos war ich. Claudine machte weiter wie immer. Die Elfe bestellte einen Whisky-Soda und war innerhalb von zwei Minuten umzingelt von Verehrern. Sie ging immer allein weg, aber den Männer schien es stets einen Versuch wert zu sein. Meiner Ansicht nach ernährte sich Claudine geradezu von dieser Bewunderung und Aufmerksamkeit.
Sogar Sam strahlte sie an, dabei gab sie nicht mal Trinkgeld.
Als die Bar schließlich zumachte, war Claudine bereits auf dem Weg zurück nach Monroe, und ich hatte ihre Neuigkeit Sam erzählt. Er war über die Geschichte genauso entsetzt wie ich. Auch wenn Calvin Norris der Anführer der kleinen Gestaltwandler-Gemeinde Hotshot war, kannte ihn der Rest der Welt doch eher als einen zuverlässigen, ruhigen Arbeiter, der ein eigenes Haus besaß und einen guten Job als Vorarbeiter im nahe gelegenen Sägewerk hatte. Es war schwer vorstellbar, dass eine seiner Existenzen zu einem Mordanschlag führen sollte. Sam beschloss, im Namen aller Angestellten vom Merlotte’s Blumen ins Krankenhaus zu schicken.
Ich zog meinen Mantel an und ging direkt vor Sam durch die Hintertür hinaus. Ich hörte, wie er hinter mir die Tür abschloss. Plötzlich fiel mir ein, dass wir kaum noch Blut in Flaschen vorrätig hatten, und ich drehte mich um, um es Sam zu sagen. Er bemerkte meine Bewegung, hielt mit erwartungsvoller Miene inne und wartete auf das, was ich sagen würde. Während des Bruchteils einer Sekunde veränderte sich seine Miene plötzlich von erwartungsvoll zu schockiert, dunkelrotes Blut verteilte sich über sein linkes Bein und ich hörte einen Schuss.
Dann war überall Blut, Sam brach zusammen und ich begann zu schreien.
Noch nie zuvor hatte ich im Fangtasia Eintritt zahlen müssen. Die wenigen Male, die ich durch den Vordereingang gekommen war, hatte mich stets ein Vampir begleitet. Jetzt kam ich allein und hatte das Gefühl, enorm aufzufallen. Ich war erschöpft von einer besonders langen Nacht. Bis sechs Uhr morgens hatte ich im Krankenhaus gesessen und danach zu Hause nur wenige Stunden unruhig geschlafen.
Pam kassierte den Eintritt und führte die Gäste an die Tische. Sie trug ein langes, hauchdünnes schwarzes Kleid wie meistens, wenn sie an der Tür Dienst machte. Pam wirkte nie wirklich glücklich in diesem Outfit eines Fantasievampirs. Sie war durch und durch eine echte Vampirin und stolz darauf. Ihrem eigenen Geschmack entsprachen eher Twinsets in Pastelltönen und flache Halbschuhe. Sie sah so überrascht aus, wie ein Vampir nur aussehen kann, als sie mich entdeckte.
»Sookie, bist du mit Eric verabredet?« Ohne mit der Wimper zu zucken, nahm Pam mein Geld entgegen.
Ich freute mich richtig, sie zu sehen – ziemlich sentimental, wie? Ich habe nicht gerade viele Freunde, und die paar, die ich habe, schätze ich besonders, selbst wenn ich annehmen muss, dass sie mir in ihren Träumen in einer dunklen Gasse das Blut aussaugen. »Nein, aber ich muss ihn sprechen. Geschäftlich«, fügte ich hastig hinzu. Ich wollte vermeiden, dass irgendwer auf die Idee kam, ich würde dem äußerst attraktiven untoten Boss von Shreveport (Vampire nannten diese Position »Sheriff«) hinterherlaufen. Ich zog meinen neuen preiselbeerroten Mantel aus und legt ihn mir sorgfältig gefaltet über den Arm. WDED, der in Baton Rouge ansässige Radiosender für jeden Vampir, tönte aus den Lautsprechern. Lenny die Leiche, der DJ des Frühabendprogramms, sagte gerade mit weicher Stimme: »Und hier noch ein Song für all die niederen Wesen unter euch, die Anfang der Woche draußen den Mond angeheult haben… ›Bad Moon Rising‹, ein alter Hit von Creedence Clearwater Revival.« Lenny die Leiche erlaubte sich einen kleinen persönlichen Gruß an alle Gestaltwandler.
»Warte an der Bar, bis ich ihm gesagt habe, dass du hier bist«, meinte Pam. »Der neue Barkeeper wird dir gefallen.«
Barkeeper schien es im Fangtasia nie lange zu halten. Eric und Pam versuchten immer, einen schillernden Mann einzustellen – ein exotischer Barkeeper zog menschliche Touristen magisch an, die in ganzen Busladungen kamen, um die wilde, gefährliche Seite des Nachtlebens kennen zu lernen. Darin waren die Barkeeper wirklich erfolgreich. Aber irgendwie hatte der Job eine hohe Sterberate zu verzeichnen.
Der Neue lächelte mich mit blendend weißen Zähnen an, als ich mich auf einem der hohen Barhocker niederließ. Er hatte allerhand zu bieten. Sein volles Haar war lang und sehr lockig und glänzte kastanienbraun. Es fiel ihm dicht bis auf die Schultern hinab. Außerdem trug er einen Schnurrbart und einen Ohrring. Sein linkes Auge war mit einer schwarzen Augenklappe bedeckt. Da sein Gesicht schmal war und recht ausgeprägte Züge hatte, wirkte das alles ziemlich übertrieben. Er war etwa so groß wie ich, 1,65Meter, und trug ein schwarzes Rüschenhemd zu schwarzen Hosen und hohen schwarzen Stiefeln. Es fehlten nur noch ein Piratentuch um den Kopf und eine Pistole.
»Wie wär’s mit einem Papagei auf der Schulter?«, fragte ich.
»Ah, Lady, da sind Sie nicht die Erste, die das vorschlägt«, sagte er in einem wunderbar vollen Bariton. »Aber soweit ich weiß, gibt’s Bestimmungen vom Gesundheitsamt gegen das Halten freifliegender Vögel in einer Gaststätte, in der Getränke ausgeschenkt werden.« Er beugte sich so weit zu mir herüber, wie der schmale Raum hinter dem Tresen es zuließ. »Darf ich Ihnen einen Drink geben und erfahren, wie Sie heißen?«
Ich musste lächeln. »Aber sicher, Sir. Ich bin Sookie Stackhouse.« Er hatte den Anflug von Andersartigkeit um mich wahrgenommen. Vampire reagierten fast immer darauf. Untote bemerkten es für gewöhnlich, Menschen nicht. Es hat schon eine ganz eigene Ironie, dass ich gerade die Gedanken jener Geschöpfe nicht lesen kann, die meine telepathischen Fähigkeiten für etwas Besonderes halten, während die Menschen eher geneigt sind, mich als Geisteskranke abzustempeln, als mir eine ungewöhnliche Begabung zuzugestehen.
Die Frau auf dem Barhocker neben mir (Kreditkarten vor sich ausgebreitet) hatte sich halb zu uns herumgedreht und zugehört. Sie war neidisch, da sie schon seit einer halben Stunde versucht hatte, die Aufmerksamkeit des Barkeepers zu erregen. Sie beäugte mich und wunderte sich, was den Barkeeper bewogen haben mochte, mit mir ein Gespräch zu beginnen. Was sie sah, beeindruckte sie nämlich kein bisschen.
»Ich bin entzückt, Eure Bekanntschaft zu machen, holde Jungfer«, sagte der neue Vampir und grinste. Na, wenigstens das »holde« traf irgendwie zu – zumindest war ich blond und blauäugig. Er verschlang mich mit Blicken. Wer als Frau in einer Bar arbeitet, ist so was natürlich gewöhnt. Immerhin sah er mich nicht lüstern an; und glaubt mir, wer als Frau in einer Bar arbeitet, kennt den Unterschied zwischen Wertschätzung und Obszönität.
»Jede Wette, dass sie keine Jungfrau ist«, sagte die Frau neben mir.
Da hatte sie Recht, doch darum ging es hier nicht.
»Wir verlangen Höflichkeit unter unseren Gästen«, sagte der Vampir mit einer abgewandelten Version seines Lächelns zu ihr. Er fuhr nicht nur seine Fangzähne ein wenig aus, sondern ich sah auch, dass seine Zähne (obwohl blendend weiß) leicht schief standen. Gerade Zähne, die so enorm gefragt waren, waren eben doch eine sehr neuzeitliche Mode.
»Ich lass mir von niemandem vorschreiben, wie ich mich zu benehmen habe«, erwiderte die Frau aggressiv. Der Abend verlief nicht so wie geplant, und das ärgerte sie. Sie hatte gedacht, es wäre ganz einfach, die Aufmerksamkeit eines Vampirs zu erregen, ja, dass sich jeder Vampir glücklich schätzen müsste, wenn er bei ihr landen konnte. Ihr Plan war gewesen, sich von einem in den Hals beißen zu lassen, wenn er dafür ihre Kreditkartenrechnungen übernehmen würde.
Sie überschätzte sich selbst und unterschätzte die Vampire.
»Entschuldigen Sie bitte, Madam, aber solange Sie sich im Fangtasia aufhalten, bin definitiv ich es, der Ihnen sagt, wie Sie sich zu benehmen haben«, erwiderte der Barkeeper.
Sie gab nach, nachdem er sie mit einem intensiven Blick bezwungen hatte, und ich fragte mich, ob er ihr wohl eine Dosis Glamour verabreicht hatte.
»Ich bin Charles Twining«, sagte er, als er seine Aufmerksamkeit wieder mir zugewandt hatte.
»Freut mich.«
»Und, wie wär’s jetzt mit einem Drink?«
»Ja, gern. Ein Ginger Ale, bitte.« Ich musste nach dem Treffen mit Eric noch nach Bon Temps zurückfahren.
Er zog die Augenbrauen hoch, schenkte mir den Drink aber ein und stellte ihn auf einer Serviette vor mich hin. Ich bezahlte und legte ein gutes Trinkgeld drauf. Die kleine weiße Serviette war verziert mit einem Paar schwarz umrissener Fangzähne, von dessen rechtem Exemplar ein einzelner roter Tropfen herabfiel – speziell für die Vampir-Bar angefertigt. Daneben war in knallroten Lettern »Fangtasia« aufgedruckt, eine Kopie des Schriftzugs, der draußen über der Tür angebracht war. Ganz schön schlau. In einer Vitrine in der Ecke wurden T-Shirts zum Verkauf angeboten, die mit demselben Logo geschmückt waren. »Fangtasia – die Bar mit Biss«, so sollte die Botschaft wohl lauten. Eric hatte in den letzten paar Monaten wirklich große Fortschritte gemacht in Sachen Marketing und Merchandising.
Während ich darauf wartete, dass Eric Zeit für mich hatte, beobachtete ich Charles Twining bei der Arbeit. Er war höflich zu jedem, servierte die Drinks prompt und ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Mir gefiel seine Art sehr viel besser als die von Chow, dem Barkeeper davor, der den Gästen immer das Gefühl gegeben hatte, er würde ihnen einen Gefallen tun, indem er ihnen überhaupt Drinks brachte. Long Shadow, der Barkeeper vor Chow, war zu sehr hinter den weiblichen Gästen her gewesen. So was stiftet eine Menge Unfrieden in einer Bar.
Da ich meinen Gedanken nachhing, bemerkte ich erst, als Charles Twining mich ansprach, dass er genau mir gegenüber hinter dem Bartresen stand. »Miss Stackhouse, darf ich Ihnen sagen, wie schön Sie heute Abend aussehen?«
»Danke, Mr Twining«, sagte ich freundlich. Ein Blick in Charles Twinings sichtbares braunes Auge verriet mir, dass er ein Gauner durch und durch war, und ich traute ihm nicht weiter, als ich ihn werfen konnte – vielleicht einen halben Meter. (Die Wirkung meiner letzten Dosis Vampirblut hatte bereits nachgelassen, und ich war wieder ganz mein normales menschliches Selbst. Hey, ich bin kein Junkie; es hatte sich um einen Notfall gehandelt, der besondere Kräfte erforderte.)
Ich war nicht nur wieder genauso durchschnittlich stark wie jede gesunde Frau Mitte zwanzig, mein Aussehen war auch wieder ganz normal – keine Optimierungen durch Vampirblut mehr. Ich hatte mich nicht extra zurechtgemacht, weil Eric sonst nur denken würde, das hätte ich für ihn getan, und das wollte ich nicht; aber ich hatte mich auch nicht schlampig gekleidet. Ich trug blaue Hüftjeans und einen flauschigen weißen, langärmligen Pullover mit rundem Ausschnitt. Er ging mir genau bis zur Taille, so dass ein bisschen Bauch zu sehen war, wenn ich mich bewegte. Und dieser Bauch war auch nicht leichenblass dank der Sonnenbank beim Videoverleih.
»Oh bitte, schöne Lady, sagen Sie Charles und du zu mir«, bat der Barkeeper und presste eine Hand an sein Herz.
Ich musste laut lachen, trotz meiner Müdigkeit. Die theatralische Geste wurde von der Tatsache, dass Charles’ Herz nicht schlug, keineswegs gemindert.
»Natürlich«, erwiderte ich angetan. »Wenn du mich Sookie nennst.«
Er verdrehte die Augen, als ob dies zu viel für ihn wäre, und ich lachte erneut. Pam tippte mir auf die Schulter.
»Falls du dich von deinem neuen Freund loseisen kannst, Eric hat jetzt Zeit.«
Ich nickte Charles zu und glitt vom Hocker, um Pam zu folgen. Zu meiner Überraschung führte sie mich nicht nach hinten zu Erics Büro, sondern in eins der Séparées. Anscheinend hatte Eric heute Abend Dienst in der Bar. Alle Vampire aus Shreveport und Umgebung mussten sich für ein paar Stunden in der Woche im Fangtasia zeigen, damit auch weiterhin Touristen kamen. Einer Vampir-Bar ohne echte Vampire drohen Einbrüche bei den Einnahmen. Eric ging seinen Untergebenen mit gutem Beispiel voran, indem er sich in regelmäßigen Abständen selbst in die Bar setzte.
Normalerweise saß der Sheriff von Bezirk Fünf in der Mitte des Raumes, doch heute Abend war er im Eckséparée. Er sah mich an, während ich auf ihn zuging. Ich wusste, dass ihm meine Jeans auffielen, eindeutig ein engeres Exemplar, mein Bauch, eindeutig ein flacheres Exemplar, und mein flauschig weicher weißer Pullover, der von der Natur großzügig gefüllt war. Ich hätte eben doch spießigere Klamotten anziehen sollen. (Glaubt mir, mein Schrank ist voll davon.) Und ich hätte auch den preiselbeerroten Mantel nicht tragen sollen, den Eric mir geschenkt hatte. Ich hätte einfach was auch immer anziehen sollen statt gut auszusehen für Eric – denn mir selbst gegenüber musste ich zugeben, dass genau das mein Ziel gewesen war. Ich hatte mir selbst etwas vorgemacht.
Eric stand vom Tisch auf und erhob sich zu seiner beachtlichen Größe – 1,95Meter. Seine blonde Mähne fiel ihm wellig den Rücken herab, und seine blauen Augen blitzten in seinem schneeweißen Gesicht. Eric hatte ausdrucksvolle Gesichtszüge, hohe Wangenknochen und ein kantiges Kinn. Er sah aus wie ein wilder Wikinger, der in null Komma nichts ein ganzes Dorf niederbrennt – und genau das ist er auch gewesen.
Vampire geben sich nicht die Hand, nur unter ganz besonderen Umständen, und so erwartete ich auch von Eric keine Begrüßung. Doch er beugte sich herab, um mir einen Kuss auf die Wange zu geben, und das mit einem Nachdruck, als wollte er mich wissen lassen, dass er mich am liebsten verführen würde.
Er ahnte nicht, dass er schon so ziemlich jeden Zentimeter von Sookie Stackhouse geküsst hatte. Zwischen uns hatte es bereits so viel Nähe und Intimität gegeben, wie zwischen Mann und Frau nur möglich waren.
Eric konnte sich jedoch nicht mehr daran erinnern. Und ich wollte, dass es auch dabei blieb. Na ja, ich wollte es vielleicht nicht unbedingt; aber ich war sicher, dass es alles in allem besser wäre, wenn sich Eric an unser kleines Liebesabenteuer nicht erinnern konnte.
»Welch hübscher Nagellack«, sagte Eric lächelnd. Er sprach mit leichtem Akzent. Englisch war nicht seine erste Fremdsprache, eher schon seine fünfundzwanzigste.
Ich versuchte, sein Lächeln nicht zu erwidern, freute mich aber über das Kompliment. Auf Eric war Verlass, wenn es darum ging, das einzig Neue an mir zu entdecken. Ich hatte bis vor kurzem noch nie lange Fingernägel gehabt, und jetzt trug ich sie lackiert in einem schönen Dunkelrot– Preiselbeerrot, um genauer zu sein, weil es zum Mantel passte.
»Danke«, murmelte ich. »Wie geht’s dir so?«
»Bestens.« Er hob eine blonde Augenbraue. Vampire kannten keine wechselnden Gesundheitszustände. Mit einer Hand wies er auf den leeren Platz im Séparée, und ich setzte mich.
»War’s schwierig, die Zügel wieder in die Hand zu nehmen?«, fragte ich etwas deutlicher.