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Zwei Jahre sind vergangen, seitdem Rain und Aidan sich voneinander verabschieden mussten. Nicht nur Rain kann Aidan nicht vergessen. Auch er sehnt sich nach ihr. Als er im Winter Blut spendet, um die kargen Vorräte seiner Familie aufzustocken, lernt er Noah kennen. Dieser weckt in Aidan neue Hoffnung — auf eine sorgenfreie Zukunft für seine Familie und ein Wiedersehen mit Rain...
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Umschlaggestaltung: chaela Illustrationen: JB Design Lektorat: Lektorat Steigenberger
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Es war seltsam, den Blutstropfen bei ihrer Wanderung durch den langen halbtransparenten Plastikschlauch zuzuschauen. Von jenem Moment an, als sie meinen Arm verließen, wirkte es so, als gehörten sie nicht mehr länger zu mir. Deswegen empfand ich auch nichts als Gleichgültigkeit beim Anblick des Blutbeutels am anderen Ende des Schlauches.
Als er fast voll war, kam eine junge, blonde Frau in einem weißen Kittel an meine Liege. Ihre bleichen Finger prüften sorgfältig den Beutel. »Sie haben es geschafft«, sagte sie, lächelte dabei sanft und nahm den Beutel ab.
»Ich möchte noch einen abgeben«, ließ ich sie ohne Zögern wissen.
Sie hielt kurz inne. »Gerne«, sagte sie und machte sich daran, einen leeren Beutel aufzuhängen.
Ich ließ es geduldig über mich ergehen und beobachtete die anderen Menschen im Raum. Es waren etwa zwanzig Liegen, die im Kreis aufgestellt waren. Auf den meisten von ihnen lagen Männer verschiedenen Alters. Ein Bursche fünf Liegen weiter sah kaum älter aus als fünfzehn. Er hatte die Augen fest zusammengekniffen und den Kopf weggedreht. Es machte mich traurig und wütend zugleich, ihn leiden zu sehen.
Ich wand mich ab und starrte auf meinen rechten Arm. Ich erinnerte mich noch sehr genau an jene Nacht vor neun Jahren, in der ich ihn verloren hatte, um meine Mutter und meine damals noch ungeborene Schwester zu beschützen. Mein siebzehnjähriges Ich hatte sich damals für eine Prothese aus Silber entschieden, die ich nun unter einem schwarzen Lederhandschuh verbarg.
Gelächter riss mich aus meinen Gedanken. Drei Liegen rechts von mir lag ein Mann umringt von drei Vampirdamen und scherzte mit ihnen. Er hatte sein feuerrotes Haar zusammengebunden und sich einen markanten grünen Schal um den Hals geschlungen. Die beiden Vampirinnen schienen sich in seiner Gegenwart prächtig zu amüsieren. Die anderen Menschen im Raum fanden es offensichtlich weniger toll. Mir entging nicht, wie sie ihn anstarrten.
»Fertig.«
Verwundert drehte ich meinen Kopf in die Richtung, aus der ich die Stimme der blonden Vampirin im weißen Kittel vernommen hatte. »Schon?« Wenn man sich nicht darauf konzentrierte, ging die Blutabnahme doch sehr schnell vonstatten.
»Ja, Sie können sich dann draußen Ihre Rationen abholen.«
»Ich möchte noch einen abgeben.«
Jetzt sah sie betroffen drein. »Es tut mir Leid, aber mehr als zwei pro Person und Sitzung können wir nicht abnehmen.«
»Bitte! Ich schaffe das.«
Sie schüttelte den Kopf und sah mich mitleidig an. »Tut mir leid«, wiederholte sie.
Ich wollte gerade aufstehen, als mir mit einem Mal ziemlich schwummrig wurde, so dass ich mich auf die Bettkante setzen musste.
»Warten Sie«, sagte die Vampirin und lief einmal um die Liege herum, bis sie vor mir stand. Sie reichte mir ein Stück Zucker und ein Glas Wasser. »Hier.«
»Danke«, sagte ich müde und schob mir den Würfelzucker in den Mund, wo ich ihn langsam unter der Zunge zergehen ließ.
Mein Blick wanderte noch einmal durch den Raum. Sowohl der Junge als auch der Rothaarige waren bereits fort und ihre Liegen wurden für die Nächsten vorbereitet.
»Reinlassen!«, brüllte eine burschikose Frau am Eingang.
»Sie können sich ihre Ration draußen abholen«, wiederholte die Vampirin neben mir.
»Mädchen, das muss schneller gehen!« Plötzlich stand die Vampirin vom Eingang neben uns.
»Tut mir leid«, entschuldigte sich die Blonde kleinlaut.
Ich nickte ihr kurz zu und stand auf. Ich war mir sicher, dass sie wahrscheinlich schon bei meiner nächsten Blutabnahme in spätestens drei Monaten nicht mehr so freundlich sein würde. Nach einer Weile wurden alle Vampire, die in der Oberwelt arbeiteten, grob und unfreundlich im Umgang mit Menschen.
Draußen war es bitterkalt und der Schnee am Boden war durch die vielen Menschen, die sich heute zur Blutabgabe hierher begeben hatten, längst zu braunem Matsch getreten worden.
Ich begab mich zur Rationsvergabe. Dort war die Schlange der Wartenden bereits verschwunden. Einen Letzten sah ich noch mit seiner Ration Reis davon laufen.
Ich stellte mich vor den Tresen.
»Einscannen«, befahl der Vampir dahinter. Ein weiterer stellte sich neben mich und scannte den kleinen Chip in meinem Nacken.
»A320. Zwei Portionen«, sagte er gelangweilt. A320. So hieß ich für die Vampire. Meinen richtigen Namen, Aidan, verwendeten sie niemals.
Ein dritter Vampir hinter ihm hob zwei Säcke aus einer Kiste und drückte sie mir in die Hand.
»Der Nächste!«, hörte ich den hinterm Tresen dann brüllen. Hinter mir verließ bereits der nächste Blutspender den Liegeraum.
Ich zog es vor, selbst zu gehen, statt weggeschoben zu werden, und schlurfte einen Sack in jeder Hand davon.
Doch weit kam ich nicht.
»Ganz schön gierig«, sagte jemand hinter mir.
Als ich mich umdrehte, stand der rothaarige Kerl vor mir und grinste mich an.
»Nun, wir haben Winter«, sagte ich.
»Schon klar«, antwortete er und warf mir seinen Sack zu. »Bitteschön.«
Reflexartig ließ ich die beiden anderen fallen und fing ihn auf. Dann sah ich ihn verwundert an. »Brauchst du ihn nicht?«
»Um ehrlich zu sein, nein. Ich mag keinen Reis.« Er lächelte noch immer.
»Ganz schön waghalsig«, sagte ich.
»Keinen Reis zu mögen?«
»Inmitten eines Raumes voller verzweifelter, ihres Blutes beraubter Menschen mit Vampiren zu scherzen.«
»Ach, das«, sagte er gelassen. »Trübsal blasen hat noch niemanden weiter gebracht.« Dann reichte er mir die Hand. »Mein Name ist Noah.«
Ich tat es ihm gleich. »Aidan«.
Noahs Lippen kräuselten sich kurz. »Kräftiger Händedruck.«
»Prothese.«
»Das erklärt Einiges«, gab er zurück. Ohne meine Prothese loszulassen, drehte er sie so, dass meine Handinnenfläche nach oben zeigte, dann löste er seine Finger und schloss dabei meine Finger zu einer Faust. Zwar spürte ich nichts, doch ich sah kurz etwas Weißes auf meiner Handfläche aufblitzen.
Noah wandte sich zum Gehen. »Ich wünsche dir eine angenehme Heimreise.«
»Ebenso.«
Ich ließ den Gegenstand in meiner Hand in meiner Hosentasche verschwinden, nahm meine drei Säcke Reis und verließ das Blutspendezentrum, das sich in der Mitte der verfallenen Hauptstadt befand. Sie war der nächstgrößere Ort im Umkreis der Farm, auf der ich mit meiner Mutter und meinen Geschwistern lebte.
Während ich an zerstörten Gebäuden vorbei ging, deren Wände mit unzähligen hasserfüllten Parolen beschmiert waren, sah ich hin und wieder eine arme Menschenseele. Den kleinen Sack Reis an die Brust gedrückt, flüchteten sie so schnell wie möglich aus der Stadt.
Ich hätte es ihnen gern gleichgetan, doch zwei Blutabgaben in so kurzer Zeit zollten bereits jetzt ihren Tribut. So ausgelaugt, wie ich im wahrsten Sinne des Wortes war, fühlten sich die drei Säcke an wie Beton.
Ich war ein ganzes Stück gelaufen, die Stadt in der Ferne geschrumpft und der Reis dreißig Kilo schwerer geworden, als ich mich schließlich traute, das Stück Papier aus der Hose zu kramen.
Es war ein zusammengeknüllter, zerrissener Fetzen, den ich sorgsam auseinanderfaltete. Im Licht der Wintersonne erkannte ich darauf eine Bleistiftzeichnung, die so auch ein Kind gemalt haben konnte: Ein Windrad, an dessen Rotor ein Blatt fehlte. Daneben war eine kleine, halbe Sonne am Horizont, über der ein Pfeil nach oben zeigte.
Die Botschaft war offensichtlich so gestaltet, dass ein Unbeteiligter sie für Kinderunfug halten würde. Der für den sie bestimmt war, würde jedoch wissen, was darauf zu sehen war.
Und das tat ich. Ich kannte den Ort, der hier auf diesem kleinen Stückchen Papier skizziert war. Natürlich konnte es mehr als eine Windkraftanlage geben, an der ein Rotorblatt fehlte, aber ich war mir recht sicher, dass er jene Anlage meinte, die nur wenige Stunden von unserer Farm entfernt stand. Dort wollte er sich also mit mir treffen.
Ich knüllte das Papier wieder zu einer kleinen Kugel zusammen und schob es zurück in meine Hosentasche. Dann setzte ich meinen Weg fort.
Die Sonne war bereits in Begriff unterzugehen, als ich erschöpft dort halt machte, wo ich immer innehielt, wenn ich zwischen der Stadt und unserer Farm unterwegs war. Für jeden anderen war es eine gewöhnliche Wiese. Für mich war es eine wundervolle Erinnerung. Die Erinnerung an eine junge Frau, die im Regen tanzt. Wäre sie um diese Jahreszeit hier gewesen, hätte sie ihren geliebten Regen nie kennengelernt. Stattdessen wäre er als Schnee heruntergefallen. Aber wahrscheinlich hätte sie sich auch darüber gefreut. Ich betrachtete die leere Wiese, bedeckt von vierzig Zentimetern unberührtem weißem Schnee, und stellte mir vor, wie sie darin einen Schneeengel malte. Dann ging ich weiter.
Im Dunkeln stieg ich den Hügel vor unserer Farm hinauf. Im Licht, das aus den Fenstern schien, sah ich wie meine kleine Schwester Cally mit ihrem Hund, meinem Bruder Ben und dessen Freundin Ilona einen Schneemann baute. Ich war mir sicher, dass Ben mitbekam, dass ich mich ihnen näherte, dass ich auf der Ladefläche unseres kleinen Transporters Platz nahm und die drei Säcke müde hinter mir abstellte. Doch er unterbrach Callys Spiel nicht. Er ließ sie unbeirrt einen Mund und Augen aus kleinen Steinen formen. Statt einer Karottennase reichte Ilona ihr einen kleinen Stock.
»Ihm fehlt noch ein Hut!«, sagte Cally.
»Ich hole ihm schnell einen«, antwortete Ilona.
Doch bevor sie aufstehen konnte, hatte Ben sich bereits erhoben. »Ich mach das schon.«
Er ging zum Haus, nahm einen leeren Eimer neben der Hauswand und gab ihn Cally. Während diese den Eimerhut auf dem Kopf des Schneemanns platzierte, setzte Ben sich wieder neben Ilona und legte seine Hand kurz auf ihren Bauch. Durch den dicken Wintermantel war die kleine Kugel nicht zu sehen.
»Aidan!«, hörte ich da Cally rufen. Aufgeregt kam sie auf mich zu gerannt, umarmte mich und setzte sich zu mir auf die Ladefläche. »Da bist du ja wieder. Hast du den Reis mitgebracht?«
»Ja«, antwortete ich.
Cally warf einen Blick hinter mich. »Gleich drei?«
»Ja.«
»Ben und Ilona haben einen Schneemann mit mir gebaut!«
Ihr kleines Gesicht strahlte und ihre roten Bäckchen bildeten einen Kontrast zu ihrer weißen Wollmütze.
»Er sieht toll aus, Sonnenschein.«
»Cally, es wird Zeit reinzugehen«, rief Ilona in unsere Richtung.
Meine kleine Schwester sah mich fragend an.
»Geh ruhig schon rein. Ich komme gleich nach.«
»Okay.« Sie gab mir einen kleinen Kuss auf die Wange. »Komm, Hugo!«, hörte ich sie noch rufen, bevor sie mit dem Terrier und Bens Freundin im Haus verschwand.
Ben kam auf mich zu. »Drei Säcke?«, fragte auch er.
Ich nickte.
»Du bist verrückt.«
Ich antwortete nicht, stattdessen stand ich auf. Wie gerne hätte ich mir doch selbstbewusst die drei Säcke geschnappt und wäre an ihm vorbei ins Haus gegangen. Doch mein Kreislauf machte mir noch immer einen Strich durch die Rechnung. Mit einem flauen Gefühl im Magen setzte ich mich wieder hin.
»Warte, ich mach das schon«, sagte Ben und nahm sie mir ab.
»Danke«, sagte ich leise.
»Kein Ding.«
Im Haus saßen Ilona und Cally bereits am Esstisch. Mutter stellte einen großen Topf vor ihnen ab, sah mich und strahlte wie immer.
»Da bist du ja«, sagte sie und umarmte mich, dann legte sie eine Hand an mein Gesicht. »Du bist ganz blass. Du solltest nicht soviel abgeben.«
»Schon in Ordnung, Mutter.«
Sie sah mich traurig an, entgegnete jedoch nichts.
Kaum das wir alle saßen, füllte sie jedem von uns eine Schüssel mit Eintopf.
»Schon wieder nur Gemüse«, sagte Cally leicht angewidert.
»Ab morgen gibt es dank deinem Bruder Reis mit Gemüse«, entgegnete Mutter.
Meine kleine Schwester verdrehte kurz die Augen.
»Wie konntest du bitte drei Beutel abgeben und dann noch hierherlaufen?«, fragte Ben, nachdem wir zu essen begonnen hatten.
»Es waren keine drei, es waren zwei.«
»Sie haben dir drei Säcke Reis für zwei Beutel Blut gegeben?«, fragte Ilona.
Ich schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Jemand anderes hat mir den Dritten geschenkt.«
Ben hielt inne. »Jemand anderes?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, warum er das getan hat. Ich hab ihn noch nie zuvor gesehen.«
»Nun, wer weiß wie mitleidig du nach zwei Beuteln Blut ausgehen hast.«
»Ben!«, mahnte Mutter.
»Schon in Ordnung, Mutter«, wiederholte ich meine eigenen Worte.
Lange nach dem Essen saß ich noch auf meiner Bettkante. An Schlaf war nicht zu denken. Stattdessen betrachtete ich die kleine Nachricht auf dem zerknüllten Papier. Mit der Sonne und dem Pfeil konnte nur der Sonnenaufgang gemeint sein. Wenn ich mich also dazu entschied, zum Treffpunkt zu gehen, musste ich jetzt aufbrechen.
Ich öffnete die Schublade meines Nachttisches und legte den Zettel hinein. Ich wollte sie wieder schließen, doch da fiel mein Blick auf Rains Umhang. Mit meiner linken Hand strich ich über den schwarzen Stoff, dann zog ich ihn heraus und roch daran. Ich wollte ihren Duft inhalieren, wie ich es unzählige Male in den vergangenen Monaten getan hatte. Doch er roch schon seit einiger Zeit nicht mehr nach ihr.
Ich erinnerte mich daran, wie sie ihn mir gegeben hatte, als wäre es gestern gewesen. Kurz bevor sie zurück ins Humanodrom gegangen war. Es war das letzte Mal gewesen, dass wir einander hatten küssen können. Ich hatte mich nicht mal richtig von ihr verabschiedet. Zu groß war meine Angst gewesen, ihr zu schaden, wenn die anderen Vampire von unserer Liebe erfuhren. Und nun war ich hier und sie dort. Die Erinnerung an sie und ihren Umhang, mehr war mir nicht geblieben.
Ich legte den Umhang zurück in die Schublade und schob sie wieder zu. Mein Entschluss stand fest.
Keine Viertelstunde später schlich ich mich nach unten in die Küche, um mir ein Stück Brot einzupacken. Dann zog ich meine Jacke an, schlüpfte in meine dicken Stiefel und öffnete die Haustür.
»Du gehst schon wieder?« Cally stand plötzlich am Fußende der Treppe. Sie trug ihren lila-weiß gepunkteten Schlafanzug, ihr langes Haar war zu einem krausen Zopf gebunden. Hugo stand direkt hinter ihr, gab aber zu meinem Glück keinen Ton von sich.
»Cally«, flüsterte ich.
Sie kam langsam auf mich zu geschlurft. Ihre Unterlippe zitterte leicht.
»Ich muss etwas erledigen. Aber ich bin wieder da, noch bevor du wieder aufwachst, und dann können wir deinem Schneemann eine Freundin bauen, ja?«
»Okay«, sagte sie.
»Okay«, antwortete ich, drückte sie noch einmal an mich und gab ihr einen Kuss aufs Haar. »Ich hab dich lieb, Sonnenschein.«
»Ich hab dich auch lieb, Aidan.«
Ich öffnete abermals die Tür. »Und jetzt husch schnell wieder ins Bett, bevor Mutter und Ben wach werden.«
Sie nickte stumm.
Mit einem letzten Blick auf sie trat ich nach draußen und schloss langsam die Tür hinter mir.
Ich wusste nicht, ob der Weg zum Windrad schon immer so lang gewesen war oder ob es mir nur so vorkam, weil der Blutverlust noch immer an mir zerrte. Auf jeden Fall war ich erleichtert, als ich das kaputte Windrad endlich erreichte. Auf dem Boden lag noch immer das abgefallene Rotorblatt. Statt von Moos und anderen Pflanzen war es nun mit Schnee bedeckt. Ich ging zur Tür auf der anderen Seite des Rades. Es war nicht das erste Mal, dass ich ein Windrad betrat. Für gewöhnlich besuchte ich eines in der Erntezeit, um Strom für das Ladegerät unserer Autobatterie abzuzapfen. Wahrscheinlich hatte sich Noah deshalb das kaputte Windrad ausgesucht. Kein Unbeteiligter würde hier versehentlich auf uns stoßen.
Umso verwunderter war ich, im Inneren neben Noah noch einen weiteren Menschen zu sehen. Einen, den ich kannte.
Ihr pechschwarzes Haar und ihr hübsches Gesicht mit den asiatischen Zügen waren unverkennbar. Im Licht der letzten Neonröhre, die hier drin noch leuchtete, sah ihre helle Haut noch etwas bleicher aus.
»Schön, dass du meinem Aufruf gefolgt bist«, begrüßte mich Noah.
Ich nickte ihm nur kurz zu, dann wandte ich mich an die junge Frau. »Evelyn?«
»Aidan.«
»Ihr kennt euch?«, fragte Noah.
»Ja«, antwortete ich schlicht.
»Könnte man so sagen«, sagte Evelyn verhalten. Auch sie schien kein Interesse daran zu haben, Noah zu erzählen, dass wir vor einigen Jahren etwas miteinander gehabt hatten.
Ich wandte mich wieder an Noah. »Warum sind wir hier?«
»Ihr seid hier, weil ihr mir aufgefallen seid.«
»Aufgefallen?« Ich machte einen Schritt zurück. »Bist du von der Regierung?«
»Gott bewahre, nein«, sagte er.
Evelyn legte eine Hand an meinen Oberarm. »Aidan, Noah will uns helfen.«
»Wie?«
»Ich war letzte Woche Blut spenden. Dabei wurde ich von der Lotterie gezogen«, sagte sie.
»Was?!«
»Sie ist der eine Glückspilz unter tausend Leidenden, der diese Woche eine kostenlose Umwandlung gewonnen hat«, kam es von Noah.
»Ich weiß, was die Lotterie ist«, sagte ich.
»Ich will das nicht, Aidan. Ich möchte nicht so sein wie sie. Wie diese Monster.« In Evelyns Augen sah ich Angst.
Ein Teil von mir wollte ihr sagen, dass nicht alle Vampire Monster waren. Der andere hielt ihn jedoch erfolgreich zurück. Stattdessen wandte ich mich wieder an Noah. »Und wie willst du verhindern, dass sie sie mitnehmen?«
Er begann mit vor der Brust verschränkten Armen durch den kleinen Steuerraum zu laufen. »Indem ich sie aus der Kartei tilge.«
»Wie das?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Nur zu, ich habe Zeit.«
»Nicht so viel Zeit wie die, die uns jagen.«
Ich musterte ihn stumm.
»Ein Mensch, der bei der Blutspende mit den Vampiren scherzt, ist waghalsig, hast du gesagt«, erinnerte er mich.
»Ja.«
»Gleichzeitig warst du – unter all diesen Menschen – der, der mich am finstersten angefunkelt hat. Und sie war eine der wenigen, die bei der Verkündung ihres Preises nicht in Freudentränen ausgebrochen ist, sondern der Verzweiflung nahe war.« Er blieb stehen und sah uns beide an. »Ich habe euch kontaktiert, weil ihr diejenigen wart, die genug Hass auf die Vampire verspüren, um unsere Mission nicht zu verraten.«
»Mission?«, fragte ich.
Er trat näher.
»Wenn ich dir erzählte, dass es einen Ort gibt, an dem es medizinische Versorgung, Strom und fließendes Wasser gibt. An dem du Nahrung erhältst ohne Gegenleistung. An dem Kinder nicht bangen und Menschen nicht leiden müssen, was würdest du darauf antworten?«
»Ich würde antworten, dass du das Buch zuklappen solltest.«
»Traust du dich nicht, umzublättern, Aidan?«
Ich schüttelte langsam den Kopf.
Er trat noch näher. Ich konnte mein Spiegelbild im Blau seiner Augen sehen. »Was hast du denn zu verlieren?«
»Wann?«
»In einer Woche. Genau hier, selber Ort, selbe Zeit.«
»Nur ich allein?«
»Du kannst deine Familie mitbringen, wenn du es möchtest.«
»Kann ich zurückkehren?«
»Ja. Du wirst kein Gefangener sein, sondern ein Gast.«
Ich nickte. »Ich werde da sein.«
»Ich freue mich.«
Noch am Morgen kam ich wieder zur Farm zurück. Für gewöhnlich schliefen wir in den Wintermonaten länger. Je mehr Energie wir sparen konnten, desto weniger Nahrung verbrauchten wir. Ich rechnete daher nicht damit, jemanden anzutreffen und wollte mich einfach in mein Bett schleichen.
Doch ich hatte die Haustür noch nicht hinter mir geschlossen, da sah ich Mutter an ihrem Platz am Esstisch sitzen. Vor ihr stand eine Kerze, die bereits ein gutes Stück abgebrannt war. Ein Teil des Wachses war an der Seite heruntergelaufen und auf den Holztisch getropft. Es schien sie nicht zu kümmern.
Ich trat näher und sah Tränen in ihren Augen.
»Mutter?«
»Wo bist du gewesen?«, fragte sie mit zittriger Stimme.
»Beim Windrad«, antwortete ich.
»Um Strom für das Auto zu holen? Es ist Winter, Aidan. Der Wagen ist nicht auf Schnee ausgelegt und das weißt du auch.«
Ich hielt kurz inne, überlegte ob ich ihr sagen sollte, warum ich dort gewesen war. Letztlich entschied ich mich dagegen und ging stillschweigend an ihr vorbei in Richtung Treppe.
»Ist es noch immer ihretwegen?«
Ich blieb auf der ersten Treppenstufe stehen.
»Es ist inzwischen zwei Jahre her, Aidan. Der Zugang wurde verschlossen. Du hast es selbst gesehen. Es gibt keinen Weg für dich dorthin und für sie keinen zu dir. Du musst loslassen und weiterleben.«
Ich drehte mich noch einmal zu ihr um, sagte jedoch nichts. Dann ging ich einfach die Treppe hinauf in mein Zimmer und zog die Tür hinter mir zu. Jacke und Schuhe zog ich aus. Den Rest behielt ich an und legte mich ins Bett.
Die Müdigkeit überkam mich sofort. Ich war im Begriff, vollkommen darin zu versinken, da hörte ich, wie jemand meine Tür öffnete. Ich drehte mich rasch um und erwartete Mutter im Türrahmen. Zu meiner Verwunderung stand dort jedoch meine kleine Schwester.
»Cally«, sagte ich müde.
»Darf ich mich zu dir legen?«, fragte sie zuckersüß. Sie trug noch immer ihren Schlafanzug.
Zur Antwort rückte ich ein Stück nach hinten und hob meine Decke an.
Ohne Zögern schloss sie die Tür und schlüpfte zu mir ins Bett.
»Das mit Mama tut mir Leid. Sie hat mich erwischt, als ich in mein Zimmer gehen wollte, und mich gefragt, warum ich weine. Ich habs nicht geschafft, sie anzulügen.«
»Ist schon okay, Sonnenschein. Lügen sind sowieso nicht schön«, murmelte ich bereits etwas schlaftrunken und legte die Decke um uns.
Ich vernahm noch, wie sie sich enger an mich schmiegte, dann fiel ich in einen traumlosen Schlaf.
Es war das einfallende Sonnenlicht, das mich wieder weckte. Ich war allein, Cally lag nicht mehr bei mir.
Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Der Stand der Sonne verriet mir, dass wir bereits späten Nachmittag hatten. Kein Wunder, dass Cally nicht mehr da war. Stattdessen entdeckte ich sie beim Blick aus dem Fenster mit Ilona und Ben auf der Wiese vor dem Haus.
Noch immer nicht gänzlich erholt, stand ich auf, zog mir etwas Warmes an und ging zu ihnen nach draußen. Meine kleine Schwester kam sofort auf mich zu und umarmte mich. Ben und Ilona nickten mir nur zu.
»Können wir reden?«, fragte ich an meinen kleinen Bruder gerichtet. »Unter vier Augen?«
»Klar«, sagte er, gab seiner Freundin einen flüchtigen Kuss und folgte mir.
Wir liefen in die verschneiten Äcker. Von einer dicken Schneeschicht begraben, ragten nur noch einige wenige, gefrorene Stummel empor.
»Also? Was gibt es?«, wollte er wissen, kaum das wir außer Hörweite der Mädchen waren.
»Ich hatte dir doch erzählt, dass mir jemand den dritten Sack Reis geschenkt hat.«
»Ja, hattest du.«
»Nun, ich habe mich letzte Nacht noch einmal mit ihm getroffen. Draußen am zweiblättrigen Windrad.«
»Und?« Mein Bruder schien unbeeindruckt von meinem nächtlichen Ausflug.
»Er hat mir von einem Ort erzählt, an dem die Menschen in Frieden leben können. Mit Strom und fließendem Wasser.
---ENDE DER LESEPROBE---