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Commissario Luca Brassoni ist in höchster Alarmbereitschaft, denn seine Frau erwartet das erste gemeinsame Kind. Das ist selbst für einen hartgesottenen Ermittler nervenzehrend. Und doch liegt bald schon ein neuer Fall auf seinem Tisch. Die Leiche eines Geschäftsführers einer angesehenen Privatbank wird aus dem Kanal gezogen. Kurz darauf ist ein weiterer Angestellter des Geldhauses tot. Und während Brassoni zwischen den Ermittlungen und der Sorge um seine hochschwangere Frau hin und her gerissen ist, merkt er nicht, wie er selbst ins Fadenkreuz des Täters gerät. Und mit ihm alle, die ihm wichtig sind… Von Daniela Gesing sind bei Midnight in der Ein-Luca-Brassoni-Krimi-Reihe erschienen: Venezianische Verwicklungen Venezianische Delikatessen Venezianische Schatten Venezianisches Verhängnis Venezianische Intrigen Venezianische Rache
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Seitenzahl: 276
Veröffentlichungsjahr: 2017
Die AutorinDaniela Gesing, Jahrgang 65, hat nach ihrer Ausbildung zur Erzieherin Komparatistik und Pädagogik studiert und bei einer örtlichen Familienzeitung gearbeitet. Die Autorin lebt mit ihrer Familie und ihrem Hund in Bochum. Die Leser lieben ihre Venedigkrimis mit dem sympathischen Ermittler Luca Brassoni.
Das Buch
Commissario Luca Brassoni ist in höchster Alarmbereitschaft, denn seine Frau erwartet das erste gemeinsame Kind. Das ist selbst für einen hartgesottenen Ermittler nervenzehrend. Und doch liegt bald schon ein neuer Fall auf seinem Tisch. Die Leiche eines Geschäftsführers einer angesehenen Privatbank wird aus dem Kanal gezogen. Kurz darauf ist ein weiterer Angestellter des Geldhauses tot. Und während Brassoni zwischen den Ermittlungen und der Sorge um seine hochschwangere Frau hin und her gerissen ist, merkt er nicht, wie er selbst ins Fadenkreuz des Täters gerät. Und mit ihm alle, die ihm wichtig sind…
Von Daniela Gesing sind bei Midnight in der Ein-Luca-Brassoni-Krimi-Reihe erschienen:Venezianische DelikatessenVenezianische VerwicklungenVenezianische SchattenVenezianisches Verhängnis
Daniela Gesing
Venezianisches Verhängnis
Luca Brassonis vierter Fall
Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de
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Das Wasser schlug über seinem Kopf zusammen. Der Schlag war hart gewesen, er kam von hinten und hatte ihn völlig überrascht. Zuvor hatte er versucht, zu verhindern, dass dieser Mistkerl sein Leben zerstörte. Aber sein Gegenüber war stärker, entschlossen, mit kühlen, gefühllosen Augen. Wie naiv war er gewesen, zu diesem Treffen zu gehen, ohne jemanden darüber zu informieren. Jetzt taumelte er, verlor das Gleichgewicht und stürzte vornüber in das kalte, dunkle Wasser des Kanals. Er spürte die drohende Bewusstlosigkeit, kämpfte mit allen Fasern dagegen an. Ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte. Als der Schlag ihn getroffen hatte, hatte es sich angefühlt, als würde sein Kopf bersten.
Verzweifelt ruderte er mit den Armen, bewegte seine Beine mit schwacher Anstrengung, um die rettende Wasseroberfläche zu erreichen. Doch schon nach wenigen Sekunden waren seine Glieder schwer wie Blei, er konnte nichts mehr erkennen, und der Druck in seinem Kopf raubte ihm fast den Verstand. Er wollte schreien, aber das Wasser verschloss ihm den Mund. Die Schwärze um ihn herum wurde größer. Fast fühlte es sich an, als würde er schweben. Für einen kurzen Moment sah er Bilder aus seinem Leben vor seinem geistigen Auge. Ein tiefer Schmerz durchzuckte ihn, der sich langsam auflöste, als sein Bewusstsein schwand und alles ganz leicht und weit weg schien. Wieso hatte man ihm das angetan, war sein letzter Gedanke, bevor er zur Gänze im Wasser versank.
In der menschenleeren Gasse hatte niemand das Verbrechen beobachtet. Nur ein Vogel starrte von einem Mauervorsprung auf die Luftblasen und die abflachenden Wellenbewegungen des Wassers. Die Gestalt, die neben einer Hauswand den Todeskampf ihres Opfers beobachtet hatte, zog sich nun leise zurück und verschwand im Schutz der Dunkelheit. Alles war schnell gegangen, und der Mörder fühlte keinerlei Reue oder Schuld. Schließlich hatte das Opfer seiner Meinung nach verdient, was es bekommen hatte.
Luca Brassoni legte die Gazzetta dello Sport beiseite und nahm sich eine Olive aus der Schale, die noch vom Abendessen auf dem Tisch stand. Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und genoss die warme Brise, die durch das Wohnzimmerfenster an seinem Gesicht vorbeizog. Wie schön konnte das Leben doch sein! Bald würde er Vater eines kleinen neuen Erdenbürgers sein. Carla, seit ein paar Monaten seine Ehefrau, hatte es sich wieder einmal nicht nehmen lassen, das Geschirr in die Küche zu bringen, obwohl er unablässig bemüht war, ihr alles abzunehmen. Brassoni war besorgt, jetzt, wo es doch nur noch ein paar Wochen bis zur Geburt des ersten gemeinsamen Kindes waren.
Doch seine Liebste, eine erfolgreiche Gerichtsmedizinerin, die er während seiner Arbeit als Commissario kennen- und lieben gelernt hatte, brachte ihn jedes Mal mit dem Spruch »Ich bin schwanger und nicht krank« zum Schweigen oder im heutigen Fall eben zum Stillhalten. Brassoni verdrückte noch zwei Grissini, bevor er sich dazu durchrang, Carlas Widerstand zum Trotz die Wäsche aus dem Trockner zu holen und zusammenzulegen. Als er alleine lebte, hatte er das schließlich auch getan. Außerdem war er der Meinung, dass sich ein modernes Paar die Hausarbeit teilen sollte. Manchmal verwunderte es ihn, dass Carla, seitdem sie schwanger war, in recht traditionelle Rollenmodelle verfallen war. Die ersten Monate nach der Geburt wollte sie auf jeden Fall zu Hause bleiben und auch danach erst wieder in Teilzeit in ihren Beruf zurückkehren. Aber er konnte verstehen, dass sie ganz für das Kind da sein und die Zeit genießen wollte. Fröhlich pfeifend sortierte er die weißen und gelben Strampler, die sich inzwischen im Schrank des neuen Kinderzimmers stapelten. Der Ausbau des Dachgeschosses in dem gepflegten Zweifamilienhaus in Dorsoduro war zum Glück rechtzeitig fertig geworden. Ein Wunder bei der Arbeitsmoral der Handwerker und den unablässigen behördlichen Auflagen und Zeitverzögerungen.
»Luca, hast du daran gedacht, dass wir morgen den Termin im Krankenhaus haben? Ich möchte mir den Kreißsaal auf jeden Fall mit dir zusammen ansehen«, tönte Carlas Stimme plötzlich aus der Küche.
»Certo, cara mia!«, antwortete Brassoni gut gelaunt. «Im Augenblick ist es wirklich ruhig in der Questura. Wenn mir nicht ein neuer Fall dazwischenkommt, bin ich pünktlich um vier Uhr in der Klinik.«
Zwei Minuten später erschien Carlas Gesicht im Türrahmen des Kinderzimmers. Sie war ein wenig außer Atem vom Treppensteigen.
»Lass dir nicht einfallen, mich dort alleine stehen zu lassen! Sonst nehme ich Maurizio mit und lasse ihn nach der Geburt als Vater eintragen!«
Sie wedelte mit erhobenem Zeigefinger vor seiner Nase herum, kniff ihn dann scherzhaft ins Ohrläppchen, was Brassoni seinerseits dazu nutzte, sie an sich heranzuziehen, soweit ihr Umfang es erlaubte, und ihr einen liebevollen Kuss auf die Lippen zu drücken.
»Wage es ja nicht! Der Vater bin schließlich nachweislich ich! Maurizo hat schon genug mit seiner eigenen Beziehung zu tun!«
Carla verdrehte die Augen und zog eine Grimasse.
Maurizio Goldini war Brassonis Freund und Kollege. Einige Jahre jünger als der leitende Commissario, aber ebenso ehrgeizig und zuverlässig als Ermittler. Nur in Goldinis Privatleben haperte es in der letzten Zeit, seit der gutaussehende Beamte einer jungen Krankenschwester in einem der letzten Fälle zu viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Seine Verlobte Sarah, eine Juristin, hatte ihn daraufhin erstmal in die Wüste geschickt und die lang geplante Hochzeit abgeblasen. So war es gekommen, dass Brassoni noch vor seinem Kollegen geheiratet hatte. Aber in der letzten Zeit näherten sich Maurizio und Sarah wieder etwas an. Brassoni war froh, weil er die schlechte Laune seines Partners nicht mehr ertragen konnte.
Als Luca Brassoni sich am nächsten Morgen auf den Weg zur Questura machte, genoss er die warmen Sonnenstrahlen des Spätsommers. Heute würden er und Carla erfahren, ob sich ihr Kind endlich in die richtige Lage gedreht hatte. Die Rechtsmedizinerin wünschte sich unbedingt eine natürliche Geburt, hatte aber einen gehörigen Respekt davor, das Baby in der ungünstigen Beckenendlage, in der es sich bequem gemacht hatte, auf die Welt zu bringen. Carlas Frauenärztin war zum Glück auch die leitende Geburtsmedizinerin im hiesigen Krankenhaus, sodass sie seine Frau vor der Kreißsaalbesichtigung noch einmal termingemäß untersuchen würde.
Während der Commissario seinen Gedanken nachhing (er fand all diese medizinischen Details ziemlich aufregend und ein bisschen beängstigend, weil sie seine Frau und sein Kind betrafen), klingelte sein Diensthandy plötzlich lautstark. Brassoni griff in seine Jackentasche und nahm den Anruf an.
»Pronto?«
»Commissario Brassoni? Hier spricht Roberto Morandi. Wir haben ein ungeklärtes Tötungsdelikt. Man hat einen Mann im Rio Marin gefunden. Er wurde den ersten Erkenntnissen nach erschlagen. Deshalb kommen Sie heute Morgen bitte gar nicht erst zur Questura, sondern gehen Sie direkt zum Fundort der Leiche! Die Kollegen sind bereits vor Ort. Goldini weiß auch schon Bescheid. Wir sehen uns dann später!«
Noch bevor Brassoni etwas sagen oder fragen konnte, hatte der Vice Questore ihm die Adresse genannt und aufgelegt.
»Porca miseria«, brummte Brassoni vor sich hin und stopfte das Handy verstimmt zurück in seine Jackentasche. Dieser neue Fall würde ihm vermutlich einen Strich durch die Rechnung machen. Und es war kaum anzunehmen, dass ein brandneuer Mord innerhalb eines halben Tages aufgeklärt war. Missmutig änderte der Commissario die Richtung und machte sich auf zum kleinsten Bezirk Venedigs, dem Sestiere Santa Croce. Dieser Stadtteil bestand aus zwei sehr unterschiedlichen Teilen, im Osten fand man schöne Gassen und Plätze, die zum Spazierengehen einluden, während im westlichen Teil industrielle Gebäude überwogen und der Parkplatz des Piazzale Roma zu finden war. Daran schloss sich am äußersten Rand die Insel Tronchetto an.
Als Brassoni am Tatort ankam, empfing ihn eine aufgeregte Menschenmenge. Offensichtlich hatten die Leute am frühen Morgen nichts Besseres zu tun, als sich anzuschauen, wie ein lebloser Körper aus dem Wasser gezogen wurde. Für einen kurzen Moment hegte der Commissario die Hoffnung, dass es ja auch ein Unfall gewesen sein könnte. Vielleicht hatte das Opfer zu viel getrunken und war in der Nacht in den Kanal gefallen. So etwas kam durchaus vor. Als er sich aber mit Hilfe seines Ausweises den Weg gebahnt hatte und den Mann mit eingeschlagenem Schädel auf einer Plane liegen sah, war ihm klar, dass es sich hier nur um ein Verbrechen handeln konnte.
»Buongiorno, Commissario«, begrüßte ihn Carlas ehemaliger Assistent Pietro Gavaldo, der nun ihre Vertretung innehatte, solange sie im Mutterschutz war.
Direkt neben dem Rechtsmediziner stand Maurizio Goldini, der dem Commissario ebenfalls zunickte.
»Guten Morgen, allerseits! Was haben wir denn hier?«, erwiderte Brassoni die Begrüßung.
»Eine männliche Leiche, Alter etwa Ende zwanzig bis Mitte dreißig. Keine Papiere, keine Brieftasche, keine Schlüssel, kein Handy. Starke Gewalteinwirkung auf den Kopf, vermutlich mit einer Eisenstange. Ein paar Eisenpartikel habe ich noch in der Wunde gefunden.«
Gavaldo nahm mit seiner rechten Hand, über die immer noch der Schutzhandschuh gezogen war, eine Pinzette aus der Instrumententasche und hielt zwei kleine Stückchen rostigen Eisens in die Höhe.
»Das muss ein heftiger Schlag gewesen sein. Wie lange hat der Mann im Wasser gelegen?«, wollte Brassoni wissen.
»Dem äußeren Zustand nach zu urteilen etwa sechs bis acht Stunden. Aber Näheres kann ich erst nach einer gründlichen Obduktion sagen. Sie kennen das ja.«
Der Commissario nickte.
»Wer hat ihn gefunden?«
Brassoni schaute sich in der Runde um.
»Die beiden Zulieferer mit dem Transportboot«, erklärte Goldini und zeigte auf zwei schmächtige junge Männer, die am Rande des Fundorts nervös an ihren Zigaretten zogen. »Sie wollten heute früh Lebensmittel zu der kleinen Osteria dort drüben bringen, als sie den leblosen Körper im Wasser sahen. Er hatte sich in einem alten Fischernetz verfangen.«
»Hat jemand heute Nacht irgendetwas mitbekommen? Gab es einen Kampf, einen Streit, der die Anwohner geweckt hat? Irgendwelche Augenzeugen?«
Goldini schüttelte den Kopf.
»Nein, bisher haben wir keine Zeugen gefunden. Offensichtlich haben alle gut geschlafen. Aber wir werden natürlich noch weiter nachforschen müssen. Ich wäre schon froh, wenn wir den Toten identifizieren könnten!«
Nichts war so mühselig und auch gleichzeitig so Adrenalin treibend wie der Beginn einer Ermittlung. Der kahlköpfige Commissario blickte finster auf die vor ihm liegende leere Akte. Sein Kollege Goldini, gesegnet mit glänzenden schwarzen Locken, telefonierte angeregt mit der Vermisstenstelle der Polizei. Die beiden befanden sich wieder in ihrer Dienststelle in der Nähe des Campo San Fantin, des kleinen Platzes, an dem sich die Renaissancekirche San Fantin aus dem 16.Jahrhundert befand, sowie die Scuola aus dem 17.Jahrhundert. An der Westseite stand das berühmte Opernhaus »La Fenice«.
»Mauro, was sagen die Kollegen? Gibt es einen Treffer bei den Vermisstenanzeigen? Irgendjemand muss den Toten doch kennen!«
Goldini hatte eben wieder aufgelegt, schüttelte jedoch frustriert den Kopf.
»Nichts, niente. Niemand scheint einen Ehemann, Sohn oder Bruder zu vermissen.«
»Das gibt es doch gar nicht. Wenn der Mann in Venedig gelebt hat, muss er doch Nachbarn, Angehörige oder einen Arbeitgeber haben.«
Brassoni fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. An seiner linken Hand blitzte der goldene Ehering auf, an den er sich immer noch nicht gewöhnt hatte. Außer einer Uhr hatte er sonst nie Schmuck getragen. Aber er lenkte die Aufmerksamkeit weg von dem Fehlen des letzten Fingerglieds, das er bei einem Unfall in der Metzgerei seines Onkels verloren hatte. Manchmal war es dem Commissario unangenehm gewesen, wenn die Leute auf seine Finger gestarrt hatten, aber jetzt zeigte er seine Hand gerne und war einfach nur stolz auf seinen Ring.
»Vielleicht ist es einfach noch nicht aufgefallen, dass der Mann verschwunden ist. Wir wissen ja noch nicht, weshalb er in der Gegend unterwegs war, wen er hier getroffen hat und was das Motiv für die Tat war. Wir stehen noch ganz am Anfang«, wandte Goldini ein. Die Befragung der Anwohner hatte bisher keine neuen Erkenntnisse zutage gefördert. Nunzio Sposato, der leitende Kriminaltechniker, suchte den mutmaßlichen Tatort seit zwei Stunden mit seiner Truppe nach Spuren ab.
»Seiner Kleidung nach zu urteilen, würde ich annehmen, dass der Tote in einer Anwaltskanzlei oder in einer Bank gearbeitet hat. Oder ein Angestellter in einer höheren Position war. Weißes Hemd, Krawatte, Sakko, gepflegte Hände, elegante, teure Schuhe … Aber dass er so gar keine persönlichen Sachen bei sich hatte … Sieht so aus, als wäre er spontan noch einmal losgegangen. Vielleicht hat man ihn unter einem Vorwand an den Tatort gelockt?«
Brassoni drehte einen Bleistift zwischen den Fingern. Es gab noch zu viele Fragezeichen und Mutmaßungen, was die Tat betraf.
»Deine Überlegungen sind schön und gut. Aber warten wir doch erst einmal die forensischen Untersuchungen ab und sehen dann weiter«, meinte Goldini.
»Du hast recht. Möglicherweise findet Nunzio noch die Tatwaffe, das würde uns ein Stück weiterhelfen.«
Brassoni verspürte kurz den Impuls, den Kriminaltechniker anzurufen, entschied sich dann aber dagegen. Er stand auf, trat ans Fenster, wandte seinem Kollegen den Rücken zu und starrte auf den wolkenlosen Himmel.
»Ist alles in Ordnung mit dir, Luca?«, fragte Goldini besorgt.
Der Commissario drehte sich um und lächelte.
»Ja, natürlich, heute ist nur Carlas große Untersuchung im Krankenhaus, und ich habe ihr versprochen, dabei zu sein. Zurzeit habe ich manchmal andere Gedanken im Kopf. Entschuldige!«
»Kein Problem. Ist ja auch eine große Sache, das erste Mal Vater zu werden. Wir werden dir schon ein oder zwei Stunden dafür freischaufeln können. Ich bin ja schließlich auch noch da.«
Brassoni nickte erfreut. Gerade als er Maurizio für seine Unterstützung danken wollte, öffnete sich die Tür seines Büros, und Raffaella Cerano, die Vertretung der Chefsekretärin, trat herein.
»Commissario, hier ist eine Dame, die ihre Tochter seit gestern Abend vermisst. Sie ist eine Bekannte von Vice Questore Morandi. Er bittet Sie, sich um die Angelegenheit zu kümmern. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ihr Verschwinden etwas mit Ihrem aktuellen Fall zu tun haben könnte!«
Brassoni zuckte mit den Schultern. Eine Bekannte von Morandi? Da konnte er ja schlecht ablehnen. Obwohl es ihm zeitlich gar nicht passte.
»Va bene, dann lassen Sie die Dame mal eintreten.«
Zwei Minuten später betrat eine äußerst distinguiert aussehende Frau Mitte fünfzig das Büro des Commissarios. Sie trug eine leichte Strickjacke über einer Seidenbluse und einem weich fallenden Rock. Ihr Haar war blond gefärbt und von einem guten Friseur in strenge Wellen gelegt worden.
Teurer Schmuck vervollständigte ihre Erscheinung, und trotzdem wirkte sie unter all dem zur Schau gestellten Reichtum erschöpft. Aus der Nähe konnte man feine Linien um ihre Augen und den Mund erkennen, ihr Blick war nervös und angespannt.
»Contessa Valentina Pozzetti«, stellte sie sich vor und reichte zuerst Brassoni, dann Goldini die Hand.
»Wie können wir Ihnen helfen, Contessa?«, fragte Brassoni höflich.
»Es geht um meine Tochter, Camilla. Sie ist seit gestern Abend verschwunden. Und meinen Schwiegersohn kann ich auch nicht erreichen. Das ist absolut ungewöhnlich, Commissario. Sie müssen wissen, dass Camilla und ich uns sehr gut verstehen. Wir telefonieren jeden Abend. Da muss etwas passiert sein!«
Ihre Augenlider flackerten nervös, als sie aufhörte zu sprechen. Sie ließ den Kopf sinken und klammerte sich an ihrer Ledertasche fest.
»Meine liebe Contessa, Ihre Tochter ist offensichtlich eine erwachsene Frau und kann deshalb durchaus auch einmal wegfahren, ohne Ihnen Bescheid zu geben. Wir dürfen bei volljährigen Personen erst nach achtundvierzig Stunden anfangen zu ermitteln, wenn diese vermisst werden. Und es scheint hier doch noch keinen Hinweis auf ein Verbrechen zu geben. Aber ich glaube Ihnen natürlich, dass Sie in Sorge sind und dass Ihre Sorge möglicherweise berechtigt ist. Haben Sie zufällig ein Foto Ihrer Tochter und Ihres Schwiegersohnes bei sich? Gab es in letzter Zeit Streit zwischen den beiden oder andere ungewöhnliche Vorfälle?«
Die Contessa hob entrüstet den Kopf.
»Meine Tochter und ihr Mann führen eine sehr glückliche Ehe. Es fehlt ihnen an nichts, also warum sollten sie sich streiten?«
Ihr schmaler Mund verzog sich zu einer kaum wahrnehmbaren Linie. Sie sah den Commissario mit einem scharfen Blick an, der ihm bedeuten sollte, dass er gefälligst nur das Beste von ihrer Familie anzunehmen hatte. Schließlich verschwand ihre Hand in ihrer Tasche, um kurz darauf mit einem Foto des jungen Ehepaares wieder aufzutauchen. Sie reichte das Bild Brassoni über den Schreibtisch, der es interessiert entgegennahm. Doch schon als er einen ersten Blick auf die beiden Vermissten warf, stockte ihm der Atem, und er musste sich bemühen, seine Überraschung nicht lauter als nötig auszudrücken, um die Contessa nicht zu erschrecken. Also räusperte er sich nur angelegentlich.
»Hier, Maurizio, sieh dir das Foto bitte auch mal an!«
Goldini musterte das junge Paar, eine bildhübsche blonde junge Frau neben einem stolz dreinblickenden, selbstbewusst aussehenden jungen Mann, nur kurz, um zu wissen, was los war. Er wechselte einen schnellen Blick mit seinem Chef, legte das Bild zurück auf den Schreibtisch und fragte die Contessa:
»Wie, sagten Sie noch gleich, heißt ihr Schwiegersohn?«
Contessa Pozzetti sah verwirrt zwischen den beiden Kommissaren hin und her.
»Was hat der Name meines Schwiegersohns mit dem Verschwinden meiner Tochter zu tun? Ich verstehe das nicht.«
»Das wissen wir noch nicht, Contessa. Aber ich muss Ihnen leider mitteilen, dass es ganz so aussieht, als wäre Ihrem Schwiegersohn heute Nacht etwas zugestoßen. Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser oder einen Tee?«
Irritiert sah Signora Pozzetti ihn an, nickte dann ergeben und murmelte: »Bitte ein Mineralwasser ohne Kohlensäure, wenn es möglich ist.«
Rasch war Goldini aufgesprungen, um der bleich gewordenen Frau ein Glas kühles acqua minerale einzuschenken. Die Contessa nahm es mit zitternden Händen entgegen. Sie trank einen Schluck, fand aber keineswegs Beruhigung dadurch, ganz im Gegenteil, sie wurde immer aufgeregter.
»Madonna, wie kann das sein? Was um Himmels willen ist passiert? Wo ist Camilla? Ist sie etwa …?«
Luca Brassoni hob abwehrend die Hände und versuchte, die Wogen zu glätten.
»Beruhigen Sie sich, Signora! Wir werden unser Bestes tun, Ihre Tochter zu finden. Es wäre schön, wenn Sie uns erst einmal Name, Adresse und Beruf Ihres Schwiegersohns verraten könnten. Alles der Reihe nach, dann sehen wir weiter!«
Wieder einmal hatte der Zufall Ihnen in die Hände gespielt und so die Ermittlungen ein gutes Stück vorangetrieben. Man wusste jetzt, wer der Tote war, und konnte anfangen, die Puzzleteile zusammenzusetzen.
Die Spurensicherung hatte bisher wenig neue Erkenntnisse zum Umstand des Todes des Ermordeten zu Tage gefördert.
Nevio Scolari, das war der Name des unbekannten Toten, den die Polizei in der Nacht aus dem Kanal gezogen hatte. Nunzio Sposato war auf Blutspuren in der Nähe der Kanalbefestigung gestoßen, die vermutlich vom Opfer stammten. Man konnte davon ausgehen, dass Scolari gleich an Ort und Stelle niedergeschlagen worden war. Das Tatwerkzeug blieb jedoch verschwunden.
Luca Brassoni ließ sich den Fahrtwind um die Ohren streichen und lauschte dem Gekreische der Möwen, die über dem Polizeiboot ihre Runden drehten. Von Weitem betrachtete er das geschäftige Treiben auf dem Markusplatz, auf dem die Touristen bereits in Schlangen vor dem Dogenpalast und der Basilica Di San Marco auf Einlass warteten. Die Sonne tauchte die fünf Kuppeln und die prachtvoll verzierten Bögen und Fenster der Kirche in ein helles Licht. Über dem Portal des Markusdoms wachte der allgegenwärtige Markuslöwe. Der Commissario war zusammen mit Goldini auf dem Weg zu Scolaris Arbeitsstätte, einer kleinen, aber sehr angesehenen privaten Bank, die sich in Castello befand. Goldini hatte vor ein paar Minuten mit Scolaris Geschäftspartner, einem gewissen Piero Marciani, telefoniert, der der Polizei mitgeteilt hatte, dass Scolari seines Wissens nach noch spät am Abend in der Bank Unterlagen durchgehen wollte. Wie und warum er aber danach nach Santa Croce gelangt war, blieb immer noch ein Rätsel.
Als die beiden Polizeibeamten schließlich vor dem sandsteinfarbenen Gebäude standen, in dem sich die Bank befand, wartete Marciani bereits am obersten Absatz der Treppe, die in die Geschäftsräume führte. Der Geschäftspartner des Verstorbenen war eine beeindruckende Erscheinung. Hochgewachsen, sicher mehr als einen Meter neunzig groß, durchtrainiert und selbstsicher. Sein Anzug war maßgeschneidert, seine Hände manikürt, wie Brassoni feststellte, als er ihm kurz darauf die Hand reichte. Selbst sein Gesicht, attraktiv und männlich, wirkte so gepflegt, als hätte er sich am frühen Morgen schon einer Kosmetikbehandlung unterzogen.
Während die Kommissare Marciani in dessen Büro folgten, umwehte sie der Hauch seines teuren, holzigen Rasierwassers. Eine Spur zu intensiv für Brassonis Geschmack. Die Bank musste ja gut laufen, dachte der Commissario bei sich. Bewundernd ließ er den Blick über die holzvertäfelten Wände, teuren Möbel und die kunstvoll platzierten Gemälde schweifen. Durch eine Glastür sah er einen etwa vierzigjährigen Mann in einem dunkelblauen Anzug in seinem Büro an einem Schreibtisch sitzen, der mit einem älteren Ehepaar ein Gespräch führte. Auf dem Namensschild an der Tür las Brassoni: Giancarlo Morrata, Anlageberater. Eine gutaussehende Sekretärin in einem enganliegenden Etuikleid, kaum älter als fünfundzwanzig, nickte den Besuchern freundlich zu und eilte kurze Zeit später dienstbeflissen mit einem Tablett voller Caffé und Gebäck zu ihnen in das Büro. Marciani bedankte sich überschwänglich, bot den Kommissaren einen Platz in den schweren Ledersesseln an und setzte sich selbst in seinen bequemen Schreibtischstuhl.
Er wirkte nicht sonderlich betroffen von dem Tod seines Kollegen.
»Was kann ich für Sie tun, meine Herren?«, fragte er, während er sich erwartungsvoll zurücklehnte. Brassoni konnte seine Antipathie gegen den arrogant wirkenden Banker kaum verbergen.
»Wie Ihnen mein Kollege Commissario Goldini bereits am Telefon erklärt hat, müssen wir leider davon ausgehen, dass Ihr Geschäftspartner Nevio Scolari heute Nacht gewaltsam ums Leben gekommen ist. Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen, Signor Marciani?«
Bei der Erwähnung von Scolaris Tod hatten Marcianis Mundwinkel leicht gezuckt. Nun zog er fragend eine Augenbraue hoch. Eine Meisterleistung, wie Brassoni fand, denn er selber schaffte es immer nur, beide Augenbrauen zu heben.
»Gewaltsam? Das ist ja schrecklich! Ich dachte, es war ein Unfall. Ist er überfallen worden? Es fehlen fünfzigtausend Euro aus unserem Tresor. Vielleicht hatte er sie dabei. Jemand könnte ihn beobachtet haben, wie er das Bankhaus verließ. Heutzutage muss man ja mit allem rechnen!«
Brassoni und Goldini wechselten einen Blick.
»Aus Ihrem Tresor fehlen fünfzigtausend Euro? Und das sagen Sie uns erst jetzt?«
Marciani winkte ab.
»Es ist durchaus nichts Ungewöhnliches, dass einer von uns beiden Geld aus dem Tresor holt und es auf ein Konto einzahlt oder für Geschäfte verwendet. Allerdings tauschen wir uns im Vorfeld darüber aus. Als Nevio heute Morgen nicht erschien und das Geld verschwunden war, habe ich mir allerdings schon ein paar Gedanken darüber gemacht. Aber ich wollte ihm bis heute Mittag Zeit geben, falls es sich um eine dringende Angelegenheit handelte. Wissen Sie, Nevio und ich sind nicht nur Geschäftspartner, er ist auch mein Cousin. Sein und mein Vater haben die Bank hier aufgebaut, und Nevio trat nach dem Tod seines Vaters die Position des Geschäftsführers an. Wir hatten also immer vollstes Vertrauen zueinander, so wie es unsere Kunden in uns haben können!«
Goldini fand diese Einstellung etwas zu locker. Ein Bankhaus, bei dem nicht peinlich genau festgehalten wurde, wohin das Geld ging?
»Man hat bei Signor Scolari kein Bargeld gefunden. Er hatte nichts bei sich, nicht einmal eine Brieftasche oder ein Handy.«
»Das ist seltsam. Nevio hing ständig an seinem Handy. Ich kann mir nicht vorstellen, warum er seine persönlichen Sachen nicht bei sich hatte. Er muss sehr in Eile gewesen sein.«
»Davon gehen wir aus. Hat er in letzter Zeit irgendwie bedrückt gewirkt? Gab es Vorfälle, die darauf schließen ließen, dass er von jemandem bedroht wurde?«
Marciani schüttelte den Kopf. Dann erhob er sich plötzlich aus seinem Stuhl und strich sich den Anzug glatt.
»No, scusi, Signori Commissari, davon ist mir nichts bekannt. Nevio war wie immer. Es tut mir leid, was mit ihm passiert ist. Aber ich muss Ihnen leider sagen, dass ich um zehn Uhr einen wichtigen Termin habe. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden!«
Brassoni brodelte innerlich. Wie konnte dieser arrogante Fatzke es wagen, die Befragung einfach zu unterbrechen? Hatte er gar kein Mitgefühl mit seinem Cousin? Wollte er nicht, dass man seinen Mörder fand?
»Signor Marciani, es geht hier nicht um einen tragischen Unfall, sondern um einen kaltblütigen Mord. Wann wir das Gespräch beenden, entscheiden immer noch wir. Es sei denn, Sie möchten jetzt sofort mit uns zur Questura kommen!«
Der Geschäftsmann sog zischend Luft durch seine Zähne. Doch er hatte sich schnell wieder im Griff. Ein gefälliges Lächeln legte sich über sein Gesicht.
»Glauben Sie nicht, dass mir Nevios Tod nicht nahegeht. Aber ich bin so erzogen worden, dass ich meine Gefühle mit mir selber ausmache und nicht in der Öffentlichkeit zur Schau stelle. Natürlich werde ich Ihnen helfen, wo ich kann. Alleine schon Camilla zuliebe. Es wird für sie ein furchtbarer Schock sein, wenn Sie von seinem Tod erfährt. Umso wichtiger ist es, dass das Tagesgeschäft weitergeht. Damit Camilla finanziell abgesichert ist.«
»Weil sie die Erbin von Signor Scolaris Firmenanteil ist? Und Sie der ewige Zweite bleiben?«, konnte es sich Brassoni nicht verkneifen zu fragen.
»Das spielt keine Rolle«, behauptete Piero Marciani mit eisigem Lächeln.
»Signora Scolari ist übrigens ebenfalls verschwunden«, warf Goldini ein, nur um Marcianis Reaktion zu testen.
Diesmal wurde der Geschäftsmann blass.
»Camilla ist auch …? Es ist ihr etwas zugestoßen? Ist sie … tot?«
Seine Lippen zitterten. Der hochgewachsene Mann hielt sich für einen Moment an seinem Schreibtisch fest. Ein Bild, das viele Rückschlüsse auf seine Gefühle für die junge Frau zuließ.
»Wir hoffen, dass diese Sorgen unbegründet sind. Bisher ist sie nur nicht auffindbar. Wenn Sie uns dann bitte noch Signor Scolaris Büro zeigen würden? Ein paar Kollegen werden gleich hier eintreffen. Wir werden seinen Laptop mitnehmen und seine Geschäftsunterlagen durchsehen müssen.«
Brassonis Ton duldete keinen Widerspruch, aber Marciani gehorchte ohnehin widerstandslos. Offenbar hatte ihn Camillas Verschwinden härter getroffen als der Tod seines Partners. Er ging wortlos voran, öffnete Scolaris Bürotür und gab den Weg frei.
»Sehen Sie sich ruhig um. Ich weiß nicht, welche Papiere er gestern Abend noch durchsehen wollte. Vielleicht finden Sie es ja selbst heraus. Ich hoffe, er war nicht in kriminelle Machenschaften verstrickt.«
Brassoni warf einen überraschten Blick zurück. Was meinte Marciani damit? Traute er seinem Cousin so etwas zu? Die Antwort darauf würden sie herausfinden müssen. Sie würden Nevio Scolaris Leben ganz genau unter die Lupe nehmen und so schnell wie möglich aufdecken, wo dessen Frau abgeblieben war. Brassoni hatte Ispettore Colludi schon mit Contessa Pozzetti vorausgeschickt, um in der Wohnung des jungen Ehepaares nach dem Rechten zu sehen.
»Was ist mit ihrem Kollegen in dem anderen Büro? Signor …«, Brassoni überlegte kurz, wie der Name auf dem Schild geheißen hatte. »Signor Morrata. War er gestern Abend auch hier in der Bank? Hatte er guten Kontakt zu Signor Scolari?«
Marciani schüttelte den Kopf.
»Giancarlo war bis gestern in Urlaub. Eine Woche lang. Heute ist sein erster Tag. Nevio und er konnten sich ganz gut leiden, aber befreundet waren sie, glaube ich, nicht.«