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Päpste haben das Licht der Aufklärung als Ketzerei verdammt. Aufklärer wie Voltaire wollten die Kirche vernichten. Vermittelnde Versuche, dem Katholizismus selbst eine Aufklärung zu verordnen, wurden als "Zeit-Irrtümer" verurteilt. Hubert Wolf zeichnet in meisterhaften Fallstudien den epochalen Konflikt nach und macht deutlich, warum sich eine katholische Aufklärung bis heute gegen Widerstände durchsetzen muss.
Wenn von den "Werten des Westens" die Rede ist, werden Christentum und Aufklärung gern in einem Atemzug genannt und gegen andere Religionen in Stellung gebracht. Dabei wird übersehen, wie hart der Vatikan bis ins 20. Jahrhundert gegen das "Licht der Vernunft" zu Felde gezogen ist. Hubert Wolf erklärt, warum die Päpste mehr Angst vor Demokratie und Aufklärung hatten als vor Romfreundlichen Diktaturen, wie katholische "Laien" für ein Ende ihrer Unmündigkeit kämpften, aufgeklärte Theologen sich von Rom emanzipierten und demokratische Politiker für ihren katholischen Glauben stritten. In den letzten Jahrzehnten hat die Kirche ihre militante Ablehnung der Aufklärung revidiert, Traumata verarbeitet, sich geöffnet. Aber noch immer sind Demokratie und Aufklärung keine Selbstverständlichkeit. Das engagierte Buch klärt den Katholizismus über seine Konfliktgeschichte mit der Aufklärung auf, um ihn endlich mit ihr zu versöhnen.
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Hubert Wolf
Verdammtes Licht
Der Katholizismus und die Aufklärung
C.H.Beck
Päpste haben das Licht der Aufklärung als Ketzerei verdammt. Aufklärer wie Voltaire wollten die Kirche vernichten. Vermittelnde Versuche, dem Katholizismus selbst eine Aufklärung zu verordnen, wurden als «Zeitirrtümer» verurteilt. Hubert Wolf zeichnet in meisterhaften Fallstudien den epochalen Konflikt nach und macht deutlich, warum sich eine katholische Aufklärung bis heute gegen Widerstände durchsetzen muss.
Hubert Wolf ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität Münster. Er wurde mit dem Leibnizpreis der DFG, dem Communicator-Preis und dem Gutenberg-Preis ausgezeichnet. Bei C.H.Beck erschienen von ihm zuletzt die Bestseller «Die Nonnen von Sant’Ambrogio» (42013), «Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte» (2015), «Konklave. Die Geheimnisse der Papstwahl» (22017) sowie zuletzt «Zölibat. 16 Thesen» (2019).
Verdammtes Licht!
Prolog: Unmöglich? Katholische Aufklärung
Die «Pfützen der protestantischen Aufklärer»
Rütteln am Tabu
Katholische Aufklärung als Widerspruch in sich
Viele Lichter statt einer Aufklärung
Katholizismen im Plural statt Katholizismus im Singular
Benedikt XVI., die Aufklärung und der Islam
Zwei Lichter, eine Quelle
1: Offen für Erleuchtung? Die vielfältigen Optionen der katholischen Kirche
Mythos Reformunfähigkeit
Aufbrüche und Rückschläge
Wider die Einsamkeit des Papstes
Mehr Verantwortung für die Teilkirchen
Die Stimme der Laien bei Bischofswahlen
Mächtige Frauen
Mythos Trient
Denken statt Nicken
2: Dunkelmänner oder aufgeklärte Gelehrte? Römische Zensoren und die Moderne
Offenbarung gegen Wissenschaft
Zensur als Normalfall
Inquisition und Indexkongregation
Absage an die moderne Physik
Evolution oder Schöpfung
Protestantische Häresien
Geschichte versus Dogma
Gescheiterte Totalkontrolle
3: Ein emsländischer Durchblicker? Ludwig Windthorsts Politik aus dem Glauben
Zwischen den Zeiten
Ein aufgeklärter Katholik?
Aufstieg der Ultramontanen
Religiöse Toleranz in Muffrika
Der ungeliebte Preußenstaat
Gleiches Recht für alle
Erschossen – und auferstanden
Was bleibt
4: Mündige Laien? 100 Katholikentage als Suchscheinwerfer
Nicht ohne Revolution
Nicht ohne Reform
Nicht ohne Gestaltungswillen und Glaubenserfahrung
Nicht ohne Repräsentation des ganzen Spektrums
Nicht ohne Frauen
Nicht ohne Werte für Staat und Gesellschaft
«Freudig und furchtlos ans Werk»
5: Dunkle Seiten des Absolutismus? Die katholische Kirche zwischen Monarchie und Kollegialität
Papalismus und das Erste Vatikanum
Die Alternative des Konstanzer Konzils
«Repraesentatio» als Schlüsselbegriff
Mystischer Leib und streitende Kirche
Stiefkinder der Kirchengeschichte
Neue Fokussierungen
6: Friedenslichter? Matthias Erzberger und der Vatikan
Drei Nuntien und ein Auditor
Nachrichten und andere Gefälligkeiten
Der direkte Draht nach Rom
Gegen den Kriegseintritt Italiens
Erzbergers Antwort auf die Römische Frage
Friedenssucher
Vaterlandsverräter oder Agent Deutschlands
7: Ein römischer Nachtwächter? Nuntius Eugenio Pacelli als politischer Kleriker
Zwischen Religion und Politik
Zwischen Politicanti und Zelanti
Römische Vorgaben für den Nuntius
Republik oder Kaiserreich?
Die Circostanze der Weimarer Koalition
Das heikle Terrain der Ökumene
Priesterliche Frömmigkeit und diplomatisches Geschick
8: Verdammte Finsternis? Die römische Inquisition und der Rassismus
Die Öffnung des Archivs der Glaubenskongregation
«Mein Kampf» auf dem Index der verbotenen Bücher?
Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit den «Zeitirrtümern»
Der Papst und sein Kardinalstaatssekretär
Pläne für einen «Syllabus gegen den Rassismus»
Gleichheit aller Menschen vor Gott. Die Gutachten von März 1935
Zusammengefasste Irrtümer. Die 47 Propositiones von Mai 1935
Rassismus als «sozialer Modernismus». Die Voten der Konsultoren
Ein Entwurf in verständlicher Sprache. Die Kommission des Jahres 1936
Die 24 Propositiones von Oktober 1936
Der «Syllabus gegen den Rassismus» der Studienkongregation
Aufgeschoben, aber nicht aufgehoben
Die nicht erschienene Anti-Rassismus-Enzyklika
Pläne für die Exkommunikation Hitlers
Neues zur Enzyklika «Mit brennender Sorge»
Deutsche Bischöfe in Rom
Kardinal Faulhabers Entwurf
Pacellis Redaktion
Zusammenschau von Syllabus und Enzyklika
Zwölf Thesen zur Verurteilung des Rassismus
9: Kampf ums Licht? Katholiken und Muslime zwischen Aufklärung und Fundamentalismus
Antimodern, fundamentalistisch und undemokratisch
Katholizismen und Menschenrechte
Die katholische Kirche und die Französische Revolution
Ultramontane gegen Liberale
Antimodernismus auf die Spitze getrieben
Verdammte und geliebte Freiheiten
Das Revolutionstrauma der Päpste
Die unklaren Grenzen von Kirche und Staat
Annäherungen an die Demokratie
Die Wende auf dem Konzil
Die gelungene Integration der Katholiken
Ein Weg auch für Muslime
Die Religionen der Globalisierungsverlierer
Ein lohnender Vergleich
Epilog: Möglich! Warum das Licht der Aufklärung heute vor Historikern geschützt werden muss
Expedition zu den Quellen
Eine neue Bedrohung der Fakten
Der nackte Kaiser
Re-Turn zu den Quellen
Der Streit ums Priesterseminar
Der Streit ums Reichskonkordat
Quellen verpflichten
Anhang
Dank
Anmerkungen
Prolog: Unmöglich? Katholische Aufklärung
1. Offen für Erleuchtung? Die vielfältigen Optionen der katholischen Kirche
2. Dunkelmänner oder aufgeklärte Gelehrte? Römische Zensoren und die Moderne
3. Ein emsländischer Durchblicker? Ludwig Windthorsts Politik aus dem Glauben
4. Mündige Laien? 100 Katholikentage als Suchscheinwerfer
5. Dunkle Seiten des Absolutismus? Die katholische Kirche zwischen Monarchie und Kollegialität
6. Friedenslichter? Matthias Erzberger und der Vatikan
7. Ein römischer Nachtwächter? Nuntius Eugenio Pacelli als politischer Kleriker
8. Verdammte Finsternis? Die römische Inquisition und der Rassismus
9. Kampf ums Licht? Katholiken und Muslime zwischen Aufklärung und Fundamentalismus
Epilog: Möglich! Warum das Licht der Aufklärung heute vor Historikern geschützt werden muss
Personenregister
«Da riefen viele: Bringt uns Licht, wer kann die Dunkelheit ertragen! Blind und im Finstern sein gilt gleich. Man brachte Licht – und Heiterkeit erblickte man auf vieler Antlitz.» So schrieb Christoph Martin Wieland in einem Gedicht mit der Überschrift «Die Feinde der Aufklärung» im Deutschen Mercur. «Nur einige verdross das Licht», so fuhr Wieland fort: einen alten Mann mit schwachen Nerven, einen Kranken mit Augenentzündung, einen Schläfer, der nicht aufwachen will, und vor allem einen «süßen jungen Schwärmer», der überzeugt ist, dass «im Dunkeln alles schöner» ist. Er sagt: «Kaum kam das Licht, weg war mein Geist, mein lieber Geist! – Verdammtes Licht!» Verdammtes Licht, das den schönen Traum seiner «Feenwelt» zerstört und ihn zwingt, die wirkliche Welt in ihrer Realität anzunehmen. Der Aufklärer Wieland ist überzeugt: Schwärmern kann man nicht helfen. Er ruft den Dunkelmännern zu: «Geht ihr ins Dunkle, uns lasst Licht.»
Christoph Martin Wieland rechnete in diesen Versen sicher auch mit seiner eigenen Vergangenheit ab. Er selbst war ein überzeugter pietistischer Schwärmer gewesen, der das verdammte Licht der Aufklärung scheute, und hatte sich zu einem ebenso überzeugten Aufklärer gewandelt. Zu denen, die mystische Dunkelheit bevorzugen, zählte Wieland aber insbesondere die katholische Kirche. Und in der Tat scheinen Aufklärung und Katholizismus grundsätzlich unvereinbar zu sein, sie verhalten sich wie Feuer und Wasser: Man kann entweder ein aufgeklärter moderner Mensch oder ein gläubiger Katholik sein, beides zugleich ist unmöglich.
Solche und ähnliche Urteile kann man immer wieder hören – interessanterweise nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der katholischen Kirche selbst. Nichtkatholische Kritiker halten die Kirche und ihre Lehren oft für grundsätzlich aus der Zeit gefallen, zumindest aber sei sie seit der Epoche der Aufklärung und der Französischen Revolution von 1789 endgültig nicht mehr zeitgemäß. Der katholische Glaube gilt ihnen als die Religion für die Dummen und Unaufgeklärten, die Unvernünftigen und Ewiggestrigen, die in der Neuzeit noch nicht wirklich angekommen, sondern den Werten des Mittelalters verpflichtet sind. Katholiken scheuen ihrer Ansicht nach das unbarmherzige Licht der Vernunft. Diese Kritiker betrachten die katholische Kirche vielfach als autoritäres System, das allenfalls Irrlichter hervorbringt, das helle Licht der Vernunft verdammt und stattdessen mystisches Halbdunkel bevorzugt. In diesem Zusammenhang wird dann der Protestantismus mitunter als die modernere und zeitgemäßere Form des Christentums gefeiert, weil es angeblich ohne Luther und die Reformation des 16. Jahrhunderts die Aufklärung des 17. und vor allem des 18. Jahrhunderts nicht gegeben hätte.
Traditionalistisch orientierte Katholiken denken bezeichnenderweise in ganz ähnlichen Dichotomien. Sie danken ihrem Gott täglich auf Knien, dass sie in der einen heiligen katholischen Kirche, dem «Haus voll Glorie», vor dem verdammten, weil im letzten evangelischen und daher häretischen Licht der Aufklärung bewahrt worden sind. Für sie steht Aufklärung für die schrankenlose Herrschaft der im Grunde äußerst begrenzten menschlichen Vernunft, die sich anmaßt, mit jeglicher kirchlichen Autorität auch die Existenz Gottes selbst zu leugnen, zumindest jedoch seine Offenbarung in der Geschichte.
Dabei verbindet die beiden einander scheinbar absolut ausschließenden Systeme Aufklärung und Katholizismus eine durchgängige Lichtmetaphorik. Der «Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit» soll nach Ansicht der Aufklärer mithilfe des hellen Lichts der Vernunft geschehen. Möglichst viele Sachverhalte, die bislang im Dunkeln lagen, sollen aufgeklärt oder zumindest aufgehellt werden. Hellmachen, Lichtwerden und Erleuchten sind nicht umsonst die wichtigsten Synonyme für Aufklären und Aufklärung, die im Französischen les lumières heißt.
Auch im Katholizismus spielt die Lichtmetaphorik eine zentrale Rolle. «Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht. Über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf» (Jesaja 9,1), lautet der Beginn der ersten Lesung in der Mitternachtsmesse am Heiligen Abend. Und am ersten Weihnachtsfeiertag wird in allen katholischen Kirchen weltweit der Prolog des Johannesevangeliums in der feierlichen Messe vorgetragen, in dem es heißt: «Und das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfasst» (Johannes 1,5). Der Sohn Gottes, der ewige Logos – nicht Mythos –, ist in der Welt erschienen, um den Menschen untrügliche Kunde von Gott zu bringen, sie mithin über Gottes Willen aufzuklären. Jesus Christus, das «wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt» (Johannes 1,9). In der Osternacht wird die Osterkerze mit dem Ruf «Lumen Christi» – das Licht Christi – in die dunkle Kirche getragen. Licht ist das Zeichen für Auferstehung und ewiges Leben. Katholizismus und Aufklärung haben – nach ihrem jeweiligen Selbstverständnis – also gleichermaßen die Aufgabe, die Dunkelheit zu vertreiben, Licht zu verbreiten und so gelungenes Leben zu ermöglichen.
Das Licht der Vernunft hat allerdings zwei Seiten: Es zielt einerseits auf die «vernünftige» Einrichtung der Welt mit gerechten Institutionen und unvoreingenommenen Fortschritten im Wissen. Andererseits ist es aber ein kritisches Licht, das zwar mit Aufklärung kompatibel erscheint, nicht aber mit Religion und Christentum. Kritik gilt, wie schon Kant bemerkte, als ein säkulares Phänomen. Die Religion in ihrer vorgeblichen Heiligkeit wolle sich dabei «gemeiniglich der Kritik entziehen». Dabei ist Religion allgemein und das Christentum im Besonderen selbst die vielleicht wichtigste Form des kritischen Bewusstseins. Denn hier geht es um das Göttliche als Ganzes und Heiles, das in kritischer Distanz zu den Erscheinungen der Welt steht.
Religion hat daher immer eine weltkritische Funktion. Sie muss aber auch selbstkritisch sein. Schon innerhalb der Bibel gibt es ganz selbstverständlich Religionskritik von der Kultkritik eines Amos bis zur Ideologiekritik eines Hiob. Wenn sich katholische Theologie als kritisch-normative Begleiterin kirchlicher Praxis versteht, als «des Glaubens eigenes Denkprojekt» (Carl Heinz Ratschow), dann kann man sie durchaus mit Edward Schillebeeckx als «kritische Theorie der gläubigen Praxis» bezeichnen. Sie betet nicht nur den faktischen Glauben nach und rekonstruiert bestehende kirchliche Institutionen, sondern muss diese eben auch und gerade kritisch überprüfen, um so an ihrer Neugestaltung mitwirken zu können. Traditionskritik, Bibelkritik, Dogmenkritik, Ideologiekritik, Kirchenkritik und Selbstkritik gehören ganz selbstverständlich zu einer neuzeitlichen katholischen Theologie, die gerade dadurch zu einer Unterscheidung der Geister beiträgt und so einen konstruktiven Beitrag zur Reform der Kirche leisten kann.
Dieses Buch geht daher von der Überzeugung aus: Aufgeklärte Vernunft und katholischer Glaube müssen einander keineswegs widersprechen, vielmehr sind das Licht des Glaubens und das Licht der Vernunft zwei Birnen in ein und derselben Lampe, die am Ende nur miteinander hell genug sind. Es gibt kein verdammtes Licht, weder der Vernunft noch der Offenbarung.
Deshalb gibt es selbstverständlich auch katholische Aufklärung – und zwar nicht nur als einmalige vergangene historische Epoche, sondern auch als ständige unverzichtbare Aufgabe der Kirche. Vielleicht sollte man für die Neuzeit sogar von einer absoluten Notwendigkeit fortwährender katholischer Aufklärung sprechen. Denn eine Religion, die das manchmal unbarmherzige und gleißende, wirklich verdammte Licht der Aufklärung scheut, hat etwas zu verstecken und mag heutzutage kaum noch zu überzeugen.
Es geht aus kirchenhistorischer Perspektive somit nicht nur um Aufklärung im Katholizismus, das heißt, es geht nicht nur darum, eine einmalige geschichtliche Phase der katholischen Aufklärung, die von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gedauert hat, historisch zu erforschen, sondern es geht vor allem um die immer neue historische Aufklärung über den Katholizismus in seinem geschichtlichen Gewordensein, über seine Chancen und Grenzen. Die Kirche muss das verdammte Licht der historischen Vernunft aushalten. Vertuschungen sollten angesichts der derzeitigen Systemkrise endgültig vorbei sein, wenn Papst, Bischöfe und katholische Kirche es mit der vielbeschworenen Transparenz wirklich ernst meinen.
Ämter und Strukturen, Disziplin und Lehre, Normen und Werte der Kirche sind nämlich nicht vom Himmel gefallen, sondern haben sich im Laufe der Geschichte herausgebildet. Die katholische Kirche ist nicht von Jesus Christus gegründet worden. Auch wenn sie sich auf ihn zurückführt, geht ihre institutionelle Gestalt nicht auf ihn zurück, wie immer wieder gerne behauptet wird, um Veränderungen und Reformen in der Kirche als prinzipiell unmöglich erscheinen zu lassen. Die katholische Kirche hat vielmehr tiefgreifende historische Entwicklungen hinter sich – und vor sich. Eine der Hauptaufgaben der Kirchengeschichte als theologischer Wissenschaft ist es daher, diese Wandlungsprozesse und immer neuen Inkulturationen zu rekonstruieren und so zur Selbstaufklärung der katholischen Kirche gegen den Widerstand unhistorischer Fundamentalismen und Traditionalismen beizutragen. Damit versucht die Kirchengeschichte auch, dem Imperativ gerecht zu werden, der im Sinne Immanuel Kants mit der Aufklärung bis heute eng verbunden ist: Sapere aude! Wage es, weise zu sein! Und zugleich kommt sie so einer Aufforderung des ersten Petrusbriefes nach, die trefflich zu Kants Imperativ passt. Der Verfasser dieses Schreibens verlangt nämlich von den Christen mit allem Nachdruck, stets bereit zu sein, «jedem Rede und Antwort zu stehen, der euch nach dem Grund eurer Hoffnung fragt» (1. Petrus 3, 15).
Es geht also darum, auf alle Fragen nach dem Inhalt des christlichen Glaubens und der Gestalt der Kirche vernünftige, wissenschaftlich nachprüfbare und plausible Antworten zu geben. Die Geschichte wird dabei als theologischer Erkenntnisort verstanden, der nur mit historischen Methoden adäquat befragt werden kann. Nicht umsonst hat die katholische Kirche spätestens auf dem Konzil von Trient neben der Heiligen Schrift auch die Tradition als zweite wesentliche Erkenntnisquelle für Theologie und Kirche definiert. Denn die Schrift bedarf der ständigen Aktualisierung im lebendigen Traditionsprozess, will sie nicht in einem biblizistischen Fundamentalismus erstarren.
Der breite kirchliche Traditionsstrom bietet unzählige Schätze, die nur gehoben werden müssen, um die Kirche über ihre Möglichkeiten heute aufzuklären. Einige der Leitfragen der Aufklärung über den Katholizismus lauten: Welche Modelle haben sich in der Geschichte bewährt und welche nicht? Welche Konzepte wurden unterdrückt oder vergessen und aus welchen Gründen? Welche Alternativen gibt es in der Tradition zu den angeblich ewigen Wahrheiten, die von den Traditionalisten mit ihrem Lieblingssatz «Es-war-immer-schon-so» verteidigt werden? Wie haben Katholikinnen und Katholiken in der Geschichte der Kirche versucht, ihren Glauben in immer neue kulturelle und politische Kontexte hinein zu vermitteln? Und nicht zuletzt: Welche legitimen Transformationen von Form und Inhalt, von Glaube und Kirche, hat es dabei gegeben?
Es geht, kurz gesagt, um immer neue Aufklärung über die katholische Kirche in all ihren geschichtlichen Erscheinungsformen. Eine so betriebene Kirchengeschichte versteht sich als kritisches Bewusstsein der Kirche.
Das vorliegende Buch geht von einer grundsätzlichen Reformierbarkeit und ständigen Reformbedürftigkeit der katholischen Kirche im Sinne der ecclesia semper reformanda aus. Die Aufklärung über die eigene Geschichte mit all ihren Möglichkeiten kann der Kirche als Institution und den Gläubigen ein Licht aufstecken, das in einer Zeit voller Irrlichter Orientierung vermittelt und in einer Epoche voller Fake News vernünftige und verlässliche Informationen liefert. Auch historische Missstände, kirchliches Versagen und das Scheitern von Päpsten, Bischöfen und einfachen Gläubigen müssen dabei ohne Wenn und Aber aufgeklärt und ausgeleuchtet werden. Licht kann dann durchaus zum verdammten Licht werden. Vertuschen und Verschweigen gehören genauso wenig wie Polemik und Apologetik zum Instrumentarium einer ehrlichen Aufklärung, wie Kirchengeschichte sie betreiben sollte.
Natürlich kann dieses Konzept von Kirchengeschichte als Aufklärung über die Kirche hier nur an wenigen ausgewählten Beispielen vorgestellt und erprobt werden, die aber zentrale Aspekte der Geschichte der Kirche behandeln. Die Kapitel dieses Buches verstehen sich als «Fragmente, in denen aber hoffentlich das Ganze aufleuchtet», wie Paul Ricœur es treffend formuliert hat. Es handelt sich um in sich abgeschlossene Miniaturen, die auch für sich gelesen werden können, aber hoffentlich als Ganzes eine Ahnung von den historisch verbürgten Möglichkeiten der katholischen Kirche vermitteln.
Denn bei Licht betrachtet erweist sich etwa die Rede von der Reformunfähigkeit der katholischen Kirche als Mythos. Die Kirchengeschichte kann darüber aufklären, dass die Kirche immer wieder produktiv auf Herausforderungen reagiert hat und dabei einen wahren Schatz alternativer Konzepte und Modelle entwickelt hat. Andererseits gelten die Inquisitoren und Zensoren der Indexkongregation als Dunkelmänner der Geschichte par excellence. Die Öffnung des Archivs der Kongregation für die Glaubenslehre, des geheimsten aller Kirchenarchive, setzt ihr verborgenes Tun erstmals dem frechen Licht der historischen Wissenschaft aus und ermöglicht überraschende Erkenntnisse zu manchmal überraschend aufgeklärten Zensoren.
Für die Römische Kurie war das eigenständige politische Handeln katholischer Laien nicht vorgesehen. Rom gab Weisungen und katholische Politiker parierten. Eine kritische Rekonstruktion der Politik aus dem Glauben, wie sie Ludwig Windthorst betrieb, bringt demgegenüber hinter dem angeblich ultramontanen Zentrumsmann einen aufgeklärten Katholiken zum Vorschein, der für eine politische Autonomie gegenüber römischer Bevormundung eintritt. Ferner zeigt eine den Prinzipien der Aufklärung verpflichtete Geschichte von hundert Katholikentagen mündige Laien, die anders, als oft beschrieben, päpstlichen Weisungen mitunter ausdrücklich nicht folgten und gerade kein gleichgeschalteter Transmissionsriemen päpstlicher Verkündigung waren. Die Kirchengeschichte kann auch ein helles Licht auf alternative Modelle zur absoluten Papstmonarchie in der katholischen Kirche werfen, wie sie 1870 mit dem Unfehlbarkeitsdogma errichtet worden ist. Das Große Abendländische Schisma, das von 1376 bis 1417 dauerte, konnte nämlich nur durch ein ökumenisches Konzil als kollegiale Instanz, die über dem Papst steht, beendet werden.
Und vor allem: Kirchengeschichte wird von Personen gemacht, die manchmal nicht in vorgefertigte Schubladen passen, wenn man ihr Tun ohne ideologische Scheuklappen historisch-kritisch ausleuchtet. Der linke Katholik Matthias Erzberger etwa, der mit kreativen Ideen wie der Verlegung des Heiligen Stuhls nach Liechtenstein hervortrat, erweist sich zugleich als enger Vertrauter des päpstlichen Nuntius in Deutschland. Ein strenger Kurialer wie Eugenio Pacelli, der spätere Pius XII., verhielt sich als Nuntius in Deutschland äußerst flexibel im Umgang mit der Weimarer Reichsverfassung, die für ihn wegen des fehlenden Gottesbezugs eigentlich gar keine Legitimität hatte. Wie ausgerechnet antimodernistische Mittel die Finsternis von Rassismus und Antisemitismus vertreiben sollten, zeigen schließlich die Maßnahmen Pius’ XI. gegen Hitler auf ganz überraschende Weise. Und nicht zuletzt zeigt das verdammte Licht der Geschichtswissenschaft, dass die Katholiken für die protestantischen Kulturkämpfer gleichsam die Muslime des 19. Jahrhunderts waren, dass aber der Streit innerhalb einer Religion oder Konfession oft größer war als der Clash of Civilisations zwischen den Religionen.
Hoffentlich bringen diese Beiträge ein wenig Licht in die Kirchengeschichte und rufen auch ein wenig Heiterkeit beim Leser hervor. Wer freilich Feenwelten und Schwärmereien erwartet und das verdammte Licht fürchtet, der frage vor der Lektüre seinen Arzt oder Apotheker.
Prolog
«Aufklärung im wahren Sinn des Wortes ist gleichbedeutend mit Erkenntnis, und einen Menschen aufklären heißt, ihm eine richtige, mit der objektiven Wirklichkeit übereinstimmende Erkenntnis einer Sache mitteilen. In diesem Sinne ist die Aufklärung vollkommen berechtigt und notwendig, sowohl in profanen wie in religiösen Dingen. Von dieser wahren ist aber die falsche Aufklärung, welche sich im 18. Jahrhundert in Deutschland unter dem spezifischen Namen ‹Aufklärung› auf dem religiösen Gebiet geltend zu machen suchte, wohl zu unterscheiden. Sie ist nach der Definition Kants … ‹der Ausgang der Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit›, das heißt mit anderen Worten: die falsche Aufklärung ist die schrankenlose Herrschaft der menschlichen Vernunft mit Verwerfung einer jeden Auctorität, ihr letztes Ziel ist die Verherrlichung des Naturalismus in seinen verschiedenen Gestalten im Gegensatze zur übernatürlichen geoffenbarten Religion.» – Mit diesen Formulierungen beginnt der Kirchenhistoriker und spätere Mainzer Bischof Heinrich Brück seinen Artikel «Aufklärung, wahre und falsche» in der zweiten, 1882 erschienenen Auflage des Wetzer und Welte’schen Kirchenlexikons.[1] Brück fährt fort: «Diesen Zweck verfolgen mehr oder weniger alle Anhänger der falschen Aufklärung, mögen sie noch einige Reste des positiven Glaubens sich erhalten oder ganz mit demselben gebrochen haben. Diese naturalistische, höchst verderbliche, Glauben und Sitten untergrabende Richtung ging aus dem Schoße des Protestantismus hervor, drang aber auch in katholische Kreise ein und war überall von den schlimmsten Wirkungen begleitet.»[2]
Nach der Beschreibung der ganz und gar verderbten protestantischen Aufklärung kommt der Verfasser auch auf die «falsche» Aufklärung im Katholizismus zu sprechen. Er macht dabei folgende Ursachen für das Eindringen der Aufklärung in die katholische Kirche geltend: «Die gallikanisch-staatskirchlichen Grundsätze, welche an den Höfen herrschten, die sittliche Fäulnis des hohen Adels, welcher mit einer äußeren Glätte zugleich den Unglauben und die Frivolität der französischen Salons sich angeeignet hatte, die Verweltlichung eines Teils des höheren Klerus und insbesondere die Tätigkeit der geheimen Gesellschaften, wie der Illuminaten, hatten die Gemüter schon hinlänglich für das Gift der falschen Aufklärung empfänglich gemacht.»[3] Mittelschicht und Bauerntum seien kaum betroffen gewesen, stark dagegen die Theologen und vor allem zahlreiche gebildete Benediktiner. Anstatt aus den Quellen der Konzilien und Kirchenväter zu schöpfen, wandten sich die aufgeklärten Professoren der Theologie, so Brück wörtlich, «nur zu sehr den Pfützen der protestantischen Aufklärer zu, deren seichtes Geschwätz als der Inbegriff aller Weisheit gepriesen war».[4] Bald sei die gesamte theologische Landschaft Deutschlands davon infiziert worden. Die Aufklärung blieb laut Brück aber nicht auf die Theorie beschränkt, sondern richtete auch im kirchlichen Leben große Verheerungen an. «Recht augenfällig traten dieselben in der Liturgie hervor, die man ihres höheren, mystischen Elements beraubte.»[5] Die neuen Gesang- und Gebetbücher ließen nach Ansicht Brücks die echt christlichen und volkstümlichen Andachten vermissen und boten statt der glaubensvollen Gesänge und Gebete «verwässerte und langweilige Erzeugnisse der Aufklärung».[6]
Außerdem kritisiert Brück, dass die Aufklärer die lateinische Sprache durch die jeweilige Muttersprache ersetzen wollten. Und weiter: «Vermöge der inneren Verwandtschaft zwischen den katholischen und protestantischen Aufklärern, eiferten erstere auch für die religiöse Toleranz, das heißt den Indifferentismus, und gegen die Kontroverspredigten. Ein charakteristisches Merkmal der Aufklärer ist ihre Feindschaft gegen das Ordensleben, dem sie durch ihre Reformprojekte den Todesstoß versetzen wollten. Endlich schwärmten dieselben für Nationalkirchen, deren Grenzen mit den einzelnen Territorien zusammenfallen sollten.»[7] Insbesondere zahlreiche Fürstbischöfe der Reichskirche taten sich in Brücks Augen als schlimme Reformer hervor. Aber, so der Kirchenhistoriker abschließend, «zum Glück scheiterte das ganze Unternehmen an der Festigkeit des katholischen Volkes, der Treue des Klerus und an dem Widerstande, welchen, gleich dem römischen Stuhl, die Domkapitel den Plänen der neuerungssüchtigen Kirchenfürsten entgegensetzten».[8]
Wenn es nach dem Ende des 19. Jahrhunderts führenden katholischen Lexikon ginge, wäre die Frage nach der Bewertung der «katholischen Aufklärung» eindeutig negativ beantwortet. Dies fällt umso mehr ins Gewicht, als nicht nur der entsprechende Artikel im Lexikon für Theologie und Kirche[9] aus dem Jahr 1930 als Nachfolger des Wetzer und Welte, sondern auch die einschlägigen Hand- und Lehrbücher der Kirchengeschichte fast durchgängig bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts an diesem eindeutigen Verdikt der Aufklärung als Epoche im Allgemeinen und der «katholischen Aufklärung» im Besonderen – wenn auch sprachlich mitunter etwas abgemildert – festhielten, wie Bernhard Schneider in seinem 1998 erschienenen großen Forschungsüberblick überzeugend nachgewiesen hat.[10]
Aufklärung ist demnach etwas dem Katholizismus und der katholischen Kirche grundsätzlich Wesensfremdes. Sie hat ihren Ursprung in der evangelischen Häresie: Sie ging – wie es der Tübinger neuscholastische Philosoph Ludwig Baur 1930 formulierte – «von der protestantischen Theologie aus», aber «der aufklärerische Geist drang auch in die katholische Theologie ein». Ihre theoretischen Kennzeichen waren laut Baur: unbegrenzter Rationalismus, Ablehnung aller Autorität in Staat und Kirche, Naturalismus und Moralismus, Streben nach dem falschen «Ruhm der Wissenschaftlichkeit», «Erschütterung des Glaubens an eine übernatürliche Offenbarung» und ein «platte[r] Utilitarismus». Auf dem Feld der Praxis «zersetzte und lähmte» die Aufklärung demnach alles, was katholische Frömmigkeit ausmacht: Wallfahrten, Heiligen- und Reliquienverehrung, Prozessionen, die wahre Mystik des Messopfers durch Bekämpfung des Lateins als Liturgiesprache, Zölibat und Mönchtum. Kirchenpolitisch galt die Aufklärung schon wegen ihrer vermeintlich protestantischen Ursprünge als eine Los-von-Rom-Bewegung.[11]
Als Träger der falschen Aufklärung innerhalb der katholischen Kirche identifizierte die einschlägige katholische Forschung vor allem zwei Gruppen: katholische Theologieprofessoren, die sich durch die Lektüre gefährlicher protestantischer Autoren mit dem aufgeklärten Virus infizierten, und zahlreiche adelige Fürstbischöfe der Reichskirche, die nach dem Westfälischen Frieden von «gallikanischen» und «nationalkirchlichen» Ideen umgetrieben waren, die letztlich auf eine «gefährliche» konfessionelle Toleranz, auf eine unmäßige Betonung des episkopalen Selbstbewusstseins und die Verweigerung des dem Papst geschuldeten Gehorsams hinausliefen. Als Gegner der Aufklärung werden das einfache katholische Volk, der Großteil des niederen Seelsorgeklerus und vor allem die Römische Kurie und der Papst genannt. Ihnen sei zu verdanken, dass die katholische Kirche diese Infektion trotz einiger Krankheitssymptome im Letzten unbeschadet überstanden habe.[12]
Dass die Ansicht, die Aufklärung stehe «dem Christentum feindselig»[13] gegenüber und eine «katholische Aufklärung» sei prinzipiell unmöglich, bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts den Mainstream der katholischen Historiographie dominierte, mag einigermaßen überraschen, hatte es doch bereits kurz nach der Jahrhundertwende entscheidende Ansätze zu einer grundsätzlich neuen, positiven Bewertung der entsprechenden Entwicklungen gegeben. Federführend war der Würzburger Kirchenhistoriker Sebastian Merkle, der 1908 auf einer Historikertagung in Berlin eine viel beachtete Rede über «Die katholische Beurteilung des Aufklärungszeitalters» vortrug.[14]
Merkle hielt eine «schlechthinnige Verdammung» der Aufklärung als «einer missliebigen Epoche»[15] für historisch nicht tragbar. «Epitheta wie geistlos, fad, schal, seicht, wässerig, verschwommen, oberflächlich, armselig, frech, schamlos, widerwärtig, ekelhaft, frivol, blasphemisch» – wie sie die katholischen Apologeten gebrauchten – seien für die kirchenhistorische Forschung völlig unbrauchbar.[16] Nur wer das Interesse einer bestimmten Schule mit dem der Kirche verwechsle, dürfe von solcher Ungerechtigkeit einen Nutzen erwarten. Der Würzburger Kirchenhistoriker trat mit Nachdruck für eine wissenschaftlich fundierte, gerechte Beurteilung der Aufklärung ein, die Licht und Schatten dieser Bewegung aus den Originalquellen selbst historisch-kritisch zu erheben habe,[17] anstatt sie nur «einseitig nach den Berichten ihrer zeitgenössischen Gegner»[18] zu bewerten. Dabei nahm Merkle einerseits die «dunklen Seiten im Bilde der Aufklärungsepoche»[19] durchaus ernst, distanzierte sich aber auch andererseits von der Vorstellung, die Aufklärung «kanonisieren zu wollen».[20]
Er kam zum Schluss, die Aufklärung sei das «naturnotwendige Produkt der vorhergehenden Entwicklung» und das «Mittelglied zwischen dem stagnierenden Traditionalismus, ihrer Vorgängerin, der ermatteten Scholastik», und der «in engerer Fühlung mit Natur und Geschichte arbeitenden katholischen Wissenschaft» seiner Zeit gewesen. Wörtlich: «Sie war das Durchgangsstadium zu einer neuen Zeit. Die Aufklärung hat ihr gerüttelt Maß an Fehlern, aber so abgrundtief schlecht, wie man sie gemacht hat, ist sie nicht gewesen.»[21] Und vor allem: Charakterisierungen, die für die protestantische Aufklärung zutreffend seien, dürften nicht einfach «unbesehen auf die katholische Aufklärung übertragen» werden.[22]
Merkles Berliner Rede rief heftige Kontroversen hervor.[23] Der Tübinger Kanonist Johann Baptist Sägmüller warf ihm sogar ausdrücklich Unkirchlichkeit vor, weil er seine Sicht von katholischer Aufklärung für häretisch hielt. Dies führte nicht zuletzt dazu, dass Merkle seinen Namen auf dem Index der verbotenen Bücher wiederfand. Erst nach einem halben Jahrhundert wurde seine Position innerhalb der katholischen Wissenschaft rezipiert, wie sich exemplarisch anhand der zweiten Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche von 1957 zeigen lässt. Jetzt, am Vorabend des Zweiten Vatikanischen Konzils, fand die Aufklärung eine ausgewogene Beurteilung. Die Kirche habe – so Eduard Hegel, der Verfasser des einschlägigen Artikels – gegenüber der Aufklärung teils in Abwehrstellung gestanden, teils aber auch ihre positiven Anregungen aufgenommen: «Über den gefährlichen Konsequenzen, die sich aus einem schrankenlosen Rationalismus und Liberalismus, vor allem aus der Ablehnung der Metaphysik, aber auch aus dem naturrechtlichen Kirchenbegriff ergaben, hat man auf katholischer Seite vielfach die positiven Anknüpfungspunkte und Wirkungen übersehen (Förderung der positiven Theologie, besonders der theologischen Quellenforschung, der liturgischen Erneuerung und der christlichen Verkündigung, die Konzentration der Seelsorge, die gestärkte Stellung des Pfarrers und Bischofs) und katholische Bemühungen dieser Art als unkirchlich verdächtigt (Kampf gegen Aberglauben und Missbräuche des religiösen Brauchtums, textkritische Behandlung der Bibel). Inwieweit von gesundem Fortschritt zu reden ist oder inwieweit die kirchliche Linie verlassen worden ist, muß von Fall zu Fall untersucht und beurteilt werden.»[24]
«Katholische Aufklärung» schien sich seitdem als historische Realität wie als Forschungsbegriff innerhalb der katholischen Kirche und Wissenschaft etabliert zu haben. Ein Großteil der katholischen Historiographie hat diese differenzierte und im Wesentlichen positive Beurteilung einer «katholischen Aufklärung» aufgenommen. Überdies fungierte hier das Zweite Vatikanische Konzil als Katalysator. Georg Schwaiger konnte 1967 sogar von einer endgültigen Rehabilitation des Begriffs sprechen, nachdem das Konzil «die Anliegen der katholischen Aufklärung weithin aufgegriffen» habe.[25] Aufklärung und Katholizismus galten nun als weitgehend kompatibel. Die «katholische Aufklärung» wurde als «grundsätzlich rechtgläubige Reformbewegung»[26] betrachtet, die dadurch charakterisiert gewesen sei, dass sie aus dem «konfessionellen katholischen Milieu» hervorgegangen sei und an den «Glaubenslehren der katholischen Kirche» festgehalten habe.[27]
Aber dieser Konsens trügt. Denn die Versöhnbarkeit von Aufklärung und Katholizismus wurde von Profanhistorikern grundsätzlich infrage gestellt, die die «katholische Aufklärung» als eine contradictio in adiecto ansahen. Hier ist zunächst Karl Otmar von Aretin zu nennen, der in den 1980er-Jahren «zwischen Aufklärung und Katholizismus keine Verbindung im positiven Sinn» feststellen konnte. Vielmehr sei der einzige Berührungspunkt der sogenannten katholischen mit den eigentlichen Aufklärern die «gemeinsame Gegnerschaft gegen Rom» und gegen den Barockkatholizismus gewesen.[28] Die Rückständigkeit der Römischen Kurie bildete demnach «die Basis der Illusion, … dass es eine Form gäbe, in der katholische Aufklärung als Versöhnung des Katholizismus mit der Aufklärung möglich wäre».[29] In eine ähnliche Richtung ging auch Peter Hersche, der von der «Unmöglichkeit einer ‹aufgeklärten Religion›» sprach.[30]
Noch weitergehend stellte dieses Konzept im Rahmen der Trierer Tagung «Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland» 1988 der damals noch evangelische Historiker Harm Klueting infrage, der später zum Katholizismus konvertieren und 2011 sogar die Priesterweihe empfangen sollte.[31] Im Anschluss an den evangelischen Kirchenhistoriker Klaus Scholder unterschied Klueting zwischen einer systemsprengenden Aufklärung «gegen Theologie und Kirche» und einer systemimmanenten «Aufklärung mit und durch Theologie und Kirche».[32] Die erstere verstand Klueting als «Aufklärung im katholischen Deutschland», die dem Wesen des Katholizismus fremd geblieben und feindlich von außen in die katholische Kirche eingedrungen sei, um sie zu zerstören.[33] Die zweite dagegen definierte er als «katholische Aufklärung»: Auch in der katholischen Kirche seien bereits im 17. Jahrhundert die wesentlichen Tendenzen der Aufklärung in nuce vorhanden gewesen, die sich seit 1763, also nach Ende des Siebenjährigen Krieges, durch eine verstärkte Rezeption evangelisch-aufgeklärter Traditionen und innerkatholischer Reformströmungen zu dem verbunden hätten, «was als ‹katholische Aufklärung› bezeichnet wird».[34]
Ein grundsätzliches «Heimatrecht»[35] innerhalb der katholischen Kirche gestand Klueting der katholischen Aufklärung jedoch nicht zu. Er charakterisierte sie vielmehr als «Übergangserscheinung» und Bündnis auf Zeit zwischen zwei gegensätzlichen Elementen: dem tridentinischen Katholizismus und der Aufklärung als «im Kern auf Säkularisierung angelegten geistig-sozialen Prozess». Katholische Aufklärung war für ihn nichts anderes als eine dem Wunschdenken mancher kirchlicher Kreise entsprechende Selbsttäuschung: «Solange diese Illusion einer Versöhnung oder Verbindung von Katholizismus und Aufklärung bestand, solange gab es katholische Aufklärung.» Der Begriff sei notwendig, um die «Übergangserscheinung, die im Zeichen dieser Illusion stand, erfassen zu können».[36] Der Sonderweg der «katholischen Aufklärung» sei aber kaum in den eigentlichen religionskritischen Aufklärungsprozess eingebunden gewesen.[37]
Die ultramontanen Autoren des 19. Jahrhunderts und die hier vorgestellten modernen Historiker sind sich in einem Punkt überraschenderweise weitgehend einig: Beide Gruppen konstatieren, die Aufklärung sei der katholischen Kirche wesensfremd. Es gebe zwar Aufklärung im katholischen Deutschland, aber die «katholische Aufklärung» sei letztlich keine Aufklärung gewesen, weil ihr wesentliche Elemente derselben fehlten. Und sie sei eine Übergangserscheinung geblieben, die endgültig und ohne bleibende Folgen vergangen sei.
Die Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit einer «katholischen Aufklärung» hängt aber entscheidend von zwei Faktoren ab, die zugleich die beiden Komponenten des Begriffs «katholische Aufklärung» bilden. Im Grunde steckt hinter all den Kontroversen ein Streit um eine sachgemäße Bestimmung des Aufklärungsbegriffs auf der einen und des Kirchenbegriffs auf der anderen Seite. Bezeichnenderweise wurden beide Fragen bislang nie umfassend angegangen.[38]
Bereits bei einer genaueren Analyse der Merkle-Kontroverse zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird deutlich, dass die Kontrahenten von ganz unterschiedlichen Aufklärungsbegriffen her argumentierten. Die Neuscholastiker um Johann Baptist Sägmüller[39] und Adolf Rösch[40] übernahmen interessanterweise die Definition, die Ernst Troeltsch 1897 in der dritten Auflage der Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche vorgelegt hatte. Troeltsch hatte die Aufklärung als «Beginn und Grundlage der eigentlich modernen Periode der europäischen Kultur und Geschichte» und als «Gegensatz zu der bis dahin herrschenden kirchlich und theologisch bestimmten Kultur» charakterisiert. Ihr Rationalismus und ihr Kampf gegen den kirchlichen Supranaturalismus verleihen ihr dabei «einen relativ einheitlichen Charakter». Und weiter: «Ihr Wesen ist demnach der Widerspruch gegen den bisherigen Zwiespalt von Vernunft und Offenbarung und gegen die praktische Herrschaft der supranaturalen Offenbarung über das Leben. Eine immanente Erklärung der Welt aus überall gültigen Erkenntnismitteln und eine rationale Ordnung des Lebens im Dienste allgemeingültiger praktischer Zwecke ist ihre Tendenz.»[41]
Aufklärung wäre demnach eine einheitliche Bewegung, die eine Offenbarung Gottes in der Geschichte grundsätzlich ablehnt und einem unbeschränkten Rationalismus und Immanentismus huldigt. Wenn diese Definition zuträfe, entzöge die Aufklärung der christlichen Religion im Allgemeinen und der katholischen Kirche im Besonderen ihre Daseinsgrundlage. Sie strebt im Sinne eines Fortschrittsmodells oder Stadiengesetzes sogar danach, das Christentum als Offenbarungsreligion durch Aufklärung zu ersetzen. Der liberale evangelische Denker Ernst Troeltsch und die ultramontanen katholischen Theologen Sägmüller und Rösch gehen von einem systematischen, apriorischen, einheitlichen Aufklärungsbegriff aus, der qua definitionem in unaufhebbarem Widerspruch zur katholischen Kirche stehen muss, sodass es eine «katholische Aufklärung» nicht geben kann.
Merkle lehnte als Historiker dagegen vorgegebene systematische Begriffe grundsätzlich ab. Er plädierte vielmehr dafür, zuerst einmal historisch-kritisch die Phänomene der «Aufklärung» genannten Epoche anhand der Quellen ihrer Vertreter, nicht aus den Polemiken ihrer Gegner zu analysieren. Das Ergebnis dieser historischen Rekonstruktion ist eine äußerst vielschichtige und komplexe Bewegung, die ein ganzes Spektrum von Positionen aufweist. «Die Binsenwahrheit, dass es eine radikale Richtung innerhalb der katholischen Aufklärung gab, braucht man wahrlich nicht immer aufs Neue zu wiederholen; noch niemand hat sie bestritten. Dass aber die gesamte katholische Aufklärung dem Rationalismus und Indifferentismus … gehuldigt habe, dass der Kampf gegen den Supranaturalismus geradezu ihr Wesen ausmache, für diese exorbitante allerneueste Behauptung ist man allen Bemühungen zum Trotz den Beweis schuldig geblieben und wird ihn immer schuldig bleiben müssen.»[42] Wenn die Aufklärung aber eine vielgestaltige Bewegung war, sodass die französische Bezeichnung les lumières als Pluralbegriff die Sache eher trifft als der deutsche Singular, und wenn eine grundsätzliche Kritik an Offenbarung und Offenbarungsreligion nicht ihren Wesenskern ausmacht, dann kann es aufgeklärtes Denken und Handeln durchaus auch innerhalb der katholischen Kirche geben, dann ist originäre katholische Aufklärung möglich, die an Grundtendenzen der Aufklärungsepoche produktiv partizipiert.
Es handelt sich im Grunde genommen um einen Streit zwischen einem eher systematisch-deduktiven und einem eher historisch-induktiven Ansatz in Philosophie, Geschichte und Theologie. Wer einem einheitlichen Systembegriff von Aufklärung im genannten Sinne folgt, der muss «katholische Aufklärung» ablehnen, wer die historische Pluriformität zu ihrem Recht kommen lässt, für den kann es genuine katholische Aufklärung geben und nicht nur feindliche, dem Katholizismus wesensfremde Aufklärung, die auch ins katholische Deutschland eingedrungen ist.
Heute wird in den einschlägigen Lexikonartikeln[43] und Publikationen[44] weitgehend auf einen einheitlichen Systembegriff von Aufklärung verzichtet. Stattdessen werden mehrere Leitbegriffe und Grundtendenzen namhaft gemacht, die für die «nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner zu bringenden Strömungen»[45] der Aufklärung typisch gewesen seien: Kritik und Emanzipation, Anthropozentrismus und Diesseitsorientierung, Vernunftautonomie und Plausibilitätsdenken sowie Perfektibilitätsglaube und Utilitarismus. Tatsächlich kann man Elemente all dieser Grundtendenzen in mehr oder weniger großem Umfang und je eigener Ausprägung in Teilen der katholischen Kirche des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts finden. Sie wurden entweder produktiv rezipiert oder innerhalb des Katholizismus eigenständig entwickelt. Hierher gehören die Rezeption der historisch-kritischen Methode in der Exegese und die kritische Überprüfung von Kirchenverfassung und Liturgie; die Emanzipation der Bischöfe als Nachfolger der Apostel von römischer Bevormundung und das neue Selbstbewusstsein der Pfarrer; Reformen, die die Bildung breiter Gesellschaftsschichten und die Verbesserung der Lebensbedingungen im Hier und Jetzt zum Ziel hatten und an die Stelle einer bloßen Jenseitsvertröstung traten; eine vernünftige Begründung des katholischen Glaubens in Auseinandersetzung mit zeitgenössischen philosophischen Konzepten; Betonung der moralischen Implikationen des katholischen Glaubens und Einführung des Kriteriums der Nützlichkeit bei Orden, der Seelsorge oder der Wissenschaft.[46] Auch an der Römischen Kurie ging die Aufklärung keineswegs folgenlos vorbei. Benedikt XIV., Papst von 1740 bis 1758, gilt als einer der gebildetsten Menschen seiner Zeit, als Papst der Aufklärung, wenn nicht sogar als aufgeklärter Papst.[47] Mit Voltaire führte er eine zwar kurze, aber freundliche Korrespondenz, und er stieß zahlreiche zukunftsweisende Reformen an. Zum ersten Mal wurden in seinem Pontifikat auch die Verfahren der Buchzensur schriftlich festgehalten – allerdings mit dem Ziel, die Rezeption radikal-aufklärerischer Schriften durch Katholiken effizienter zu verhindern. Er versuchte also, zugespitzt formuliert, mit den Mitteln der Aufklärung Aufklärung zu verhindern.[48] Solche scheinbaren Paradoxien verdeutlichen die schillernde Weite des Aufklärungsbegriffs.
Der Verzicht auf einen einheitlichen Systembegriff ermöglicht es, von katholischer Aufklärung zu sprechen, die «im Allgemeinen im Rahmen der Offenbarungsreligion» verblieb und sich in Form eines «aufgeklärten ‹Reformkatholizismus›» zeigte, dem es darum ging, eine «bessere Kirche und einen geläuterten Glauben» zu schaffen, der den Anforderungen der Zeit entsprach, wie es Rudolf Reinhardt zusammenfasst. Der Kirchenhistoriker verdeutlicht einen typischen Grundzug katholischer Aufklärung an ihrem Umgang mit Wundern: prinzipielles Festhalten an einem vernünftigen Wunderglauben, aber Bekämpfung der abergläubischen Wundersucht.[49]
Mit dem Begriff «Reformkatholizismus» ist bereits der Bogen zur zweiten Komponente im Terminus «katholische Aufklärung» geschlagen. Es geht um den Kirchenbegriff und damit um eine Kernfrage der katholischen Ekklesiologie, die unausgesprochen hinter all den Auseinandersetzungen um die Möglichkeit einer katholischen Aufklärung steht; erneut, ohne dass diese Frage jemals ausdrücklich thematisiert worden wäre.
Es ist einleuchtend: Wer einen neuscholastischen Kirchenbegriff vertritt, der von Ewigkeitswerten ausgeht, für den muss Aufklärung, die auf Geschichtlichkeit der Wirklichkeit, auf Veränderbarkeit und Reformierbarkeit von Institutionen setzt, als etwas dem Wesen der Kirche Fremdes erscheinen. Eine solche Ekklesiologie steht fraglos hinter der Position von Heinrich Brück.
Der Ausgangspunkt einer solchen Ekklesiologie ist eine apriorische dogmatische Wesensbestimmung der Kirche. Demnach gilt als Glaubenssatz, was Ludwig Ott in seinem Grundriss der katholischen Dogmatik schreibt: «Die Kirche wurde von dem Gottmenschen Jesus Christus gegründet. De fide.»[50] Daraus leitet sich ab – wie es Matthias Höhler in seiner Monographie Das dogmatische Kriterium der Kirchengeschichte treffend formuliert hat –, dass Wesen, Verfassung, Lehre und Disziplin der Kirche ihrer Natur nach unveränderlich sind. Deshalb müssen sie genauso bleiben, wie Jesus Christus sie von Anfang an eingesetzt hat. Eine historische Entwicklung der Kirche kann es deshalb qua definitionem nicht geben. Fehlentwicklungen, mögliche «De-formationen» der Kirche, sind ebenfalls von vornherein ausgeschlossen, «Re-formen» deshalb weder möglich noch überhaupt notwendig.[51] Eine produktive Auseinandersetzung mit und eine Aneignung von aufgeklärten Forderungen, die zu Veränderungen der Kirche als Antwort auf die Herausforderungen der jeweiligen Zeit führen, ist dadurch absolut unmöglich. Der ewige, göttlich legitimierte Wahrheitsanspruch der Kirche und zeitbedingte Vernunftansprüche schließen sich aus. «Katholische Aufklärung» ist schlicht undenkbar.
Dieser statischen dogmatischen Ekklesiologie liegt ein ahistorischer Systembegriff zugrunde, dem Merkle und mit ihm zahlreiche neuere katholische Kirchenhistoriker eine historische Ekklesiologie gegenüberstellen, die den Weg der Kirche durch die Zeit zu beschreiben sucht und dabei zahlreiche Entwicklungen und Veränderungen in Verfassung, Lehre und Disziplin der Kirche feststellen muss. Das Ernstnehmen des Entwicklungsgedankens impliziert eine grundlegende Reformnotwendigkeit und Reformfähigkeit der Kirche.[52]
Dahinter steht im Grunde die alte Vorstellung einer ecclesia semper reformanda,[53] einer Kirche, die der stetigen Erneuerung und Reform bedarf. Diesem Kirchenbild folgt auch das Zweite Vatikanische Konzil, das unter anderem vom wandernden Gottesvolk auf dem Weg durch diese Zeit spricht. Im Ökumenismusdekret heißt es, die Kirche werde auf dem «Wege ihrer Pilgerschaft von Christus zu dieser dauernden Reform gerufen, deren sie allzeit bedarf, soweit sie menschliche und irdische Einrichtung ist».[54]
Mit der Anerkennung oder Ablehnung des Prinzips der ständigen Erneuerung und Reform ist aber ein Zweites verbunden. Wenn Christus die Kirche so gegründet hat, wie sie heute ist, dann gilt der Einheitsgrundsatz nicht nur diachron, sondern auch synchron. Dann muss man, wie es von neuscholastischen und ultramontanen Theologen durchaus getan worden ist, einen Einheitskatholizismus postulieren, in dem es keinerlei Richtungen und Parteien geben darf. Dann gibt es nur die eine wahre heilige katholische Kirche, und alles andere sind häretische Abspaltungen, die das Epitheton «katholisch» nicht verdienen. Ein «Reformkatholizismus» oder gar «Reformkatholizismen» sind in dieser Ekklesiologie nicht denkbar. Ausgehend von diesem Kirchenbegriff kann es auch keine «katholische Aufklärung» als eine unter vielen Strömungen innerhalb der Kirche geben. Es gibt eine einheitliche katholische Kirche als monolithischen Block, und das römische Lehramt, genauer, der Papst als Vicarius Christi, definiert, was katholisch ist und was nicht. Und «aufgeklärt» ist kein dem übernatürlichen Wesen der Kirche entsprechendes und geziemendes Attribut.
Wer dagegen ein induktives historisches Kirchenbild von unten vertritt, der kann nicht nur geschichtliche Veränderungen der Kirche feststellen, sondern muss vom historischen Befund her die Annahme eines Einheitskatholizismus ablehnen. Ein Großteil der neueren katholischen Kirchengeschichtsschreibung geht von einer pluriformen Gestalt des Katholischen aus, von mehreren gleichzeitig nebeneinander existierenden Realisationen von Kirche. Rudolf Reinhardt spricht mit Blick auf die Frühe Neuzeit von verschiedenen legitimen Katholizismen im einen Katholizismus.[55] Thomas Michael Loome führt diese mit Blick auf das 19. und 20. Jahrhundert auf Grundtendenzen zurück, die sich im Extrem zu zwei einander in wesentlichen Punkten widersprechenden Katholizismen – einen eher zentrifugalen und einen eher zentripetal auf Rom ausgerichteten – verdichtet und im Lauf der Geschichte miteinander um die Vorherrschaft innerhalb der katholischen Kirche gerungen hätten.[56]
Zugespitzt formuliert, steht nach dieser historischen Ekklesiologie ein Katholizismus I, der als Romanismus, Jesuitismus, Papalismus und Barockkatholizismus im 17. und 18. Jahrhundert und als Ultramontanismus, Infallibilismus, Neuscholastik und Integralismus im 19. und 20. Jahrhundert firmierte, einem Katholizismus II gegenüber, der die Etiketten Gallikanismus, Febronianismus, Episkopalismus, Jansenismus und Josephinismus in der Frühen Neuzeit und katholischer Liberalismus, Modernismus und Reformkatholizismus in der Neuzeit trug. Beide werden als legitime Ausgestaltungen des Katholischen betrachtet, wobei der Katholizismus I als aufklärungsfeindlich und der Katholizismus II als aufklärungsfreundlich gelten und letzterer mitunter sogar ausdrücklich als «katholische Aufklärung» bezeichnet wird. Demnach hat es eine katholische Aufklärung gegeben, die aber nicht die ganze katholische Kirche erfasst hat. Für den einen Katholizismus waren Kirche und Aufklärung durchaus kompatibel und einander nicht wesensfremd. Für den anderen Katholizismus war «katholische Aufklärung» dagegen ein Ding der Unmöglichkeit.
Interessanterweise hat sich kein Geringerer als Benedikt XVI. im Gefolge der Irritationen, die seine Regensburger Rede im Hinblick auf das Verhältnis der katholischen Kirche zum Islam ausgelöst hatte, in den Diskurs um die grundsätzliche Kompatibilität von Aufklärung und Religion im Allgemeinen und «katholische Aufklärung» im Besonderen eingeschaltet.[57] In einer Ansprache an die Mitarbeiter der Römischen Kurie vom 22. Dezember 2006 verglich der Papst die Situation des heutigen Islam mit der Lage der katholischen Kirche seit Beginn der Neuzeit. Er wies dabei auf die zahlreichen Entwicklungs- und Anpassungsprozesse hin, die der Katholizismus infolge der Herausforderungen durch die Aufklärung durchlaufen habe. Benedikt XVI. würdigte diese durchaus positiv und hielt fest, dass «die islamische Welt heute mit großer Dringlichkeit sich vor einer ganz ähnlichen Aufgabe findet, wie sie den Christen seit der Aufklärung auferlegt ist und vom II. Vatikanischen Konzil als Frucht eines langen Ringens für die katholische Kirche zu konkreten Lösungen geführt wurde».[58]
Die Möglichkeit einer Versöhnung beziehungsweise produktiven Auseinandersetzung von katholischer Kirche und Aufklärung ist für Benedikt XVI. gerade keine Illusion. Im Gegenteil. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert gehören ihre Anliegen und Forderungen zu den Herausforderungen für die katholische Kirche schlechthin, die sich in langem Ringen immer wieder damit auseinandersetzen muss. Das Zweite Vatikanische Konzil war für Benedikt XVI. ein gelungenes Beispiel dieser produktiven Aneignung. Aufklärung ist nicht prinzipiell kirchen- oder katholizismusfeindlich, sie ist auch nicht grundsätzlich religionsfeindlich. Sie ist vielmehr eine Grundvoraussetzung für Religiosität in der Moderne. Deshalb müssen alle Religionen – auch die vielfältigen Strömungen des Islams –, wollen sie «in der Welt von heute»[59] bestehen, sich mit der Aufklärung auseinandersetzen. Dabei kommt es nach Ansicht Benedikts XVI. zum offenen Dialog oder Disput von zwei gleichberechtigten Partnern, wobei die Religion darauf achtet, eine «Diktatur der positivistischen Vernunft, die … Gott ausschließt», zu vermeiden, andererseits aber die Aufklärung darauf achtet, dass ihre grundlegenden Forderungen wie die Menschenrechte oder die Meinungs- und Religionsfreiheit in der jeweiligen Religion respektiert werden.[60]
Benedikt XVI. ging dabei nicht von einem abgeschlossenen Prozess aus, von einer Situation, in die die Kirche einmal in der historischen Epoche der Aufklärung gestellt war. Er spricht vielmehr von einer dauernden Aufgabe, die den Christen seit der Aufklärung gestellt ist. Er erhebt damit Aufklärung nicht nur zu einem Strukturmerkmal von Christentum und Katholizismus seit der Epoche der Aufklärung, sondern zu einem Wesenszug neuzeitlicher Religiosität überhaupt.[61]
Und in der Tat rezipierte erst das Zweite Vatikanum insbesondere in seiner Erklärung über die Religionsfreiheit[62] maßgebliche Leitideen der Aufklärung für die katholische Kirche. Auch in der Ekklesiologie kam das Konzil mit der produktiven Aufnahme des Entwicklungsgedankens und dem Konzept der ecclesia semper reformanda maßgeblichen Forderungen der katholischen Aufklärung nach, was am rechten Rand der Kirche und außerhalb in fundamentalistischen Kreisen zum Vorwurf führte, die falsche Aufklärung und der verderbliche Modernismus seien durch eine Umleitung des Rheins in den Tiber in die wahre Kirche eingedrungen, um sie zu vernichten.
Am Beispiel der Offenbarungskonstitution «Dei verbum» lässt sich, wie Max Seckler und Michael Kessler nachgewiesen haben, der kreativ-produktive Umgang des Konzils mit Anfragen der Aufklärung besonders eindrücklich zeigen. Galt doch die Aufklärung weithin als prinzipielle Infragestellung von Offenbarungskategorie und Offenbarungsreligion.[63] In dezidierter Zurückweisung aller aufgeklärten Forderungen hatte das Erste Vatikanische Konzil in seiner Offenbarungskonstitution «Dei filius» vom 24. April 1870[64] in einer heftigen «Abwehrreaktion» gegen den neuzeitlichen Autonomieanspruch die totale Abhängigkeit der menschlichen Vernunft von der übernatürlichen, göttlichen Wahrheit eingeschärft:[65] Gott offenbart Sätze, die – weil übernatürlichen Ursprungs – übervernünftig sind. Sie können von der Vernunft nicht hinterfragt werden, sondern sind als Wahrheiten schlicht zu glauben. Dieses «instruktionstheoretische Offenbarungsmodell» war ein Schlag ins Gesicht der Aufklärung. Offenbarung wird auf «göttliche Belehrung» eingegrenzt. Es geht, so Seckler, um ein «gehorsames Fürwahrhalten von uneinsichtigen veritates revelatae».[66]
Die Konstitution «Dei verbum»[67] des Zweiten Vatikanums verzichtete dagegen bewusst auf dieses doktrinäre Offenbarungsverständnis und fasste Offenbarung als ein dem ganzen Menschen, also auch seiner Vernunft zugängliches Kommunikationsgeschehen, als historische Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus auf. In «Dei verbum» geht es nicht mehr um übervernünftige Belehrung, denn Gott offenbart nicht Sätze, sondern sich selbst. Die Überwindung des instruktionstheoretischen Modells muss – wie Seckler hervorhebt – als «Spätwirkung der Offenbarungskritik der Aufklärung» interpretiert werden, die «einen Holzweg des Offenbarungsdenkens freigelegt» und die Kirche zum Umdenken gezwungen hatte.[68] Statt zweier «feindseliger Prinzipien» Aufklärung und Offenbarung wird heute ein «enger sachlicher Zusammenhang» zwischen beiden gesehen, der schon rein semantisch betrachtet in den Begriffen Auf-klärung und Offen-barung deutlich wird und für das Konzept einer «katholischen Aufklärung» stehen könnte, die beide Anliegen idealtypisch zu integrieren vermag. Seckler schreibt: «Beiden geht es, wenngleich auf verschiedene Weise, um Erhellung; beide beziehen sich dabei auf ursprüngliche Lichterfahrungen und letztlich auf Gott als Quelle allen Lichtes; beide verfolgen ihren Wahrheitsdienst als ein letztes Anliegen um der schließlichen Befreiung und Erlösung des Menschen willen, auch wenn dabei sakrale und profane Aspekte auseinandertreten.»[69] Eine sich selbst über ihre Grenzen aufklärende Vernunft ist offen für Offenbarung im Sinne der Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus, und die Offenbarung flüchtet sich nicht länger in übervernünftige Instruktionen, sondern stellt sich den Anfragen der Vernunft und der Verantwortung aufgeklärten Denkens.[70]
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«Wir wissen, dass es an diesem Heiligen Stuhl schon seit einigen Jahren viele gräuliche Missbräuche in geistlichen Dingen und Exzesse gegen die göttlichen Gebote gegeben hat, ja, dass eigentlich alles pervertiert worden ist. So ist es kein Wunder, wenn sich die Krankheit vom Haupt auf die Glieder, das heißt von den Päpsten auf die unteren Kirchenführer ausgebreitet hat. Wir alle … sind abgewichen, ein jeder sah nur auf seinen eigenen Weg, und da ist schon lange keiner mehr, der Gutes tut, auch nicht einer.»
Diese Worte stammen nicht von einem zeitgenössischen Kritiker der katholischen Kirche, sondern von Papst Hadrian VI. im Jahr 1523. Keine zwei Jahre zuvor hatte Martin Luther sich auf dem Wormser Reichstag geweigert, seine Thesen zu widerrufen, woraufhin die Reichsacht über ihn verhängt wurde – ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Kirchenspaltung.