Die geheimen Archive des Vatikan - Hubert Wolf - E-Book

Die geheimen Archive des Vatikan E-Book

Hubert Wolf

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Beschreibung

85 Kilometer Akten aus über tausend Jahren: Die Vatikanischen Archive sind die größten und ältesten der Welt. Vieles ist unzugänglich. Niemand darf frei herumstöbern. Hubert Wolf zeigt in seinem fesselnden Buch, wie man hier mit detektivischem Spürsinn Entdeckungen machen kann, die hinter die Kulissen von Tradition und Unfehlbarkeit blicken lassen. Von der rätselhaften Haltung des Papstes zum Holocaust über vergessene mächtige Frauen bis zu verborgenen Missbrauchsskandalen lässt er uns an Tiefenbohrungen in den Archiven teilhaben, die unser Bild von der Kirche nachhaltig verändern. Hubert Wolf ist mit Aufsehen erregenden Funden und Forschungen in den Vatikanischen Archiven international bekannt geworden. Er hat verstörende Skandale aufgedeckt – etwa Missbrauch und Mord im römischen Nonnenkloster Sant`Ambrogio – und die Hintergründe folgenreicher Entscheidungen erhellt, etwa zu Bücherverboten und Inquisitionsverfahren, zum Zölibat und zum Unfehlbarkeitsdogma und nicht zuletzt zur Haltung des Vatikan zu Nationalsozialismus und Holocaust. Warum hat der Papst geschwiegen? Hat er das überhaupt? Was wusste er? Die jüngste Freigabe der Akten aus dem Pontifikat Pius' XII. gibt Aufschluss: Hubert Wolf hat Tausende anrührende Bittbriefe von Juden an den Papst gefunden, deren Weg durch die vatikanischen Instanzen ermessen lässt, welche Informationen aus erster Hand in Rom landeten und wie man darauf reagierte. Das Buch beginnt mit diesen neuesten Funden. Von hier aus führt uns Hubert Wolf kundig und voller Überraschungen durch das Labyrinth der Archive, die noch längst nicht alle Geheimnisse preisgegeben haben.

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Hubert Wolf

DIE GEHEIMEN ARCHIVE DES VATIKAN

Und was sie über die Kirche verraten

C.H.Beck

Übersicht

Cover

INHALT

Textbeginn

INHALT

Titel

INHALT

EINLEITUNG: NADELN IM HEUHAUFEN

1. HEILIGER VATER, RETTEN SIE UNS BITTSCHREIBEN VON JUDEN AN PIUS XII.

Bittschreiben und Bittsteller

Antworten und Antwortschreiber

Das Bittschreiben von Franz Brinnitzer

Die Entscheidungsfindung im Fall Brinnitzer

Letzte Hoffnung Palästina

Gegen das Vergessen

2. DER PAPST, DER GESCHWIEGEN HAT PIUS XII. UND DER HOLOCAUST

Der «Stellvertreter»

Informationen zur hunderttausendfachen Ermordung der Juden

Pius XII. und das Wissen über den Holocaust

Das «Appunto» Angelo Dell’Acquas

Die Weihnachtsansprache des Papstes von 1942

Verlegt, verwechselt, verbrannt

Pius XII. erklärt sich

3. DOGMA ODER DIPLOMATIE PIUS XII. UND SEINE DEUTSCHEN PRÄGUNGEN

Eine typisch römische Biographie

Deutsche Jahre als Nuntius

Drei deutsche Traumata

Pragmatische Nachsicht: Die Weimarer Reichsverfassung

Große Vorsicht: Die Zentrumspartei

Demütige Geschmeidigkeit: Die Ökumene

4. TOTALKONTROLLE DES WISSENS DER INDEX DER VERBOTENEN BÜCHER

Zensur in Kirche und Staat

Der Fall Galileo Galilei: Eine Absage an die moderne Physik

Der Fall Charles Darwin: Evolution oder Schöpfung

Der Fall «Onkel Toms Hütte»

:

Angst vor dem Umsturz

Der Fall Leopold von Ranke: Gegen den Primat der Geschichte

5. TRIBUNAL FÜR EINEN TOTEN DIE THEOLOGIE VOR DER INQUISITION

Der Fall Johann Michael Sailer

Die «Armen Seelen» als Drahtzieher der Anklage

Das Inquisitionsgutachten Constantin von Schaezlers

Das Geheimnis des dreizehnten Konsultors

Die Akten verschwinden im Archiv

Denunziationen als Mittel der Politik

6. DIE INSZENIERUNG DES GEHEIMEN VON DEN TÜCKEN DER PAPSTWAHL

Wie wird man Bischof von Rom?

Inthronisation und Krönung im Lateran

Kardinäle und Wahlrecht

Konklave und Stimmzettel

Die Wandlung des Kardinals zum Stellvertreter Christi

Rituale und Symbole der Amtseinsetzung

Die nicht ganz geheime Wahl

7. ES WAR IMMER SCHON SO! ERKENNTNISSE AUS DEN ARCHIVEN FÜR EINE KIRCHENREFORM

Reform als Wesenselement der Kirche

Zurück zur Urform, vorwärts zur neuen Form

Menschenrechte und die Theologie des Judentums

Subsidiarität als Grundprinzip

Priesterinnen, Diakoninnen und Äbtissinnen

Einmalige und mehrfache Sündenvergebung

8. EHELOSIGKEIT ALS DOGMA DIE ERFINDUNG DES ZÖLIBATS

Verheiratete Priester in Geschichte und Gegenwart

Die Wurzeln des Zölibats

Zölibat, Priesteramt und Missbrauch

9. DIE UNFEHLBARKEIT DER PÄPSTE EIN BLICK HINTER DIE KULISSEN

1863: Pius IX. erfindet das ordentliche Lehramt

1870: Der Papst wird «unfehlbar»

Das Erste Vatikanum gegen das Konstanzer Konzil

Die Neuerfindung des Katholizismus

10. MORD AUF BEFEHL DER GOTTESMUTTER SKANDAL IM NONNENKLOSTER SANT’AMBROGIO

Lebende Heilige

Maria Luisa als Täterin und als Opfer

Eine sexuelle Beziehung mit dem Beichtvater

Die Vergiftung und Rettung Katharinas

Der Prozess vor der Inquisition

DANK

ANMERKUNGEN

Einleitung Nadeln im Heuhaufen

1. Heiliger Vater, retten Sie uns Bittschreiben von Juden an Pius XII.

2. Der Papst, der geschwiegen hat Pius XII. und der Holocaust

3. Dogma oder Diplomatie Pius XII. und seine deutschen Prägungen

4. Totalkontrolle des Wissens Der Index der verbotenen Bücher

5. Tribunal für einen Toten Die Theologie vor der Inquisition

6. Die Inszenierung des Geheimen Von den Tücken der Papstwahl

7. Es war immer schon so! Erkenntnisse aus den Archiven für eine Kirchenreform

8. Ehelosigkeit als Dogma Die Erfindung des Zölibats

9. Die Unfehlbarkeit der Päpste Ein Blick hinter die Kulissen

LITERATURHINWEISE

Einleitung Nadeln im Heuhaufen

1. Heiliger Vater, retten Sie uns Bittschreiben von Juden an Pius XII.

Der Text beruht auf folgenden Publikationen:

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2. Der Papst, der geschwiegen hat Pius XII. und der Holocaust

Der Text beruht auf folgenden Publikationen:

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3. Dogma oder Diplomatie Pius XII. und seine deutschen Prägungen

Der Text beruht auf folgenden Publikationen:

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4. Totalkontrolle des Wissens Der Index der verbotenen Bücher

Der Text beruht auf folgenden Publikationen:

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5. Tribunal für einen Toten Die Theologie vor der Inquisition

Der Text beruht auf folgenden Publikationen:

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6. Die Inszenierung des Geheimen Von den Tücken der Papstwahl

Der Text beruht auf folgenden Publikationen:

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7. Es war immer schon so! Erkenntnisse aus den Archiven für eine Kirchenreform

Der Text beruht auf folgenden Publikationen:

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8. Ehelosigkeit als Dogma Die Erfindung des Zölibats

Der Text beruht auf folgenden Publikationen:

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9. Die Unfehlbarkeit der Päpste Ein Blick hinter die Kulissen

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10. Mord auf Befehl der Gottesmutter Skandal im Nonnenkloster Sant’Ambrogio

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PERSONENREGISTER

Zum Buch

Vita

Impressum

EINLEITUNG

NADELN IM HEUHAUFEN

Das Archivio Vaticano. Einer von Robert Langdons Lebensträumen wurde wahr. … Das Bild, das er sich im Lauf der Jahre von diesem Raum gemacht hatte, hätte unzutreffender nicht sein können. Langdon hatte sich staubige Bücherregale vorgestellt, die von alten, zerfledderten Folianten überquollen, Priester, die bei Kerzenlicht die Bestände katalogisierten, Bleiglasfenster und Mönche mit Federkielen über Schriftrollen … was nicht einmal annähernd der Wirklichkeit entsprach. Auf den ersten Blick erschien der Raum wie ein dunkler Flugzeughangar, in dem jemand ein Dutzend freistehender Racquetballfelder mit gläsernen Wänden gebaut hatte …. Es waren Büchertresore, hermetisch gegen Feuchtigkeit und Wärme isoliert, luftdichte Kammern, die verhindern sollten, dass das alte Papier und Pergament noch weiter zerfiel. Sie zu betreten war wegen des dort herrschenden Unterdrucks und des geringen Sauerstoffgehalts lebensgefährlich, wenn nicht von außen ein fremder Bibliothekar die Sauerstoffzufuhr regulierte.[1]

Wer im Vatikanischen Geheimarchiv nicht wie Robert Langdon staubige Regale erwartet, wird diese berühmte Darstellung in Dan Browns Thriller Illuminati glaubwürdig finden – doch auch sie könnte unzutreffender nicht sein. Schon die famosen Büchertresore gehören schlicht in eine Bibliothek, Aktensafes wären für ein Archiv angemessener. In einem hat Dan Brown jedoch recht: Wer im Vatikanischen Archiv arbeiten darf, für den wird ein Lebenstraum wahr. Wer einmal die Droge Archivio Segreto Vaticano inhaliert hat, der muss immer wieder hin. Die Bannandrohungsbulle gegen Martin Luther in Händen zu halten, in der Registerüberlieferung Gregors VII. zu blättern und hier auf den berühmten Dictatus Papae von 1075 zu stoßen oder die Inquisitionsakten gegen Galileo Galilei vor sich zu sehen, lässt das Herz jeder Historikerin und jedes Historikers höherschlagen. Existiert für eine deutsche Stadt eine Urkunde aus dem elften Jahrhundert, ist man schon glücklich. In Rom aber hat man in dieser Zeit die ein- und ausgehende Korrespondenz Tag für Tag vor sich.

Das Vatikanische Archiv ist das einzige Archiv auf der Welt, das man nur durch täglichen Grenzübertritt mit einem Visum betreten kann. Forscherinnen und Forscher müssen jeden Tag über die Porta Santa Anna, wo sich der offizielle Grenzübergang befindet, von der Republik Italien in den Kirchenstaat, die Città del Vaticano, einreisen, um zum Eingang des Archivs im Cortile del Belvedere zu kommen. Dort muss man seine Tessera abgeben, oder – falls man noch keinen Benutzerausweis hat – sich einen ausstellen lassen. Dann bekommt man einen Schlüssel für die Garderobe. Dessen Nummer ist auch für die Bestellung von Akten an diesem Tag anzugeben.

Das Vatikanische Archiv ist nicht ganz einfach zu benutzen, manchmal geradezu mühsam. Inventare im Internet wie bei deutschen Staatsarchiven gibt es nicht. Man muss vor Ort in der Sala degli Indici, einem separaten Saal, in dem alle «Findmittel» in Regalen aufgereiht sind, auf speziellen PCs die PDFs der Inventare durchsuchen oder die handschriftlichen und getippten Repertorien wälzen. Die neueren Findbücher sind sehr präzise und umfassend, für manche Bestände existieren zum Teil aber nur summarische oder auch gar keine Übersichten. Oft erfährt man lediglich, dass eine tausend Blatt umfassende Schachtel «Affari diversi» enthält, was alles und jedes bedeuten kann. Manchmal juckt es einen einfach im kleinen Finger und intuitiv bestellt man den richtigen Bestand.

Vor allem aber muss man die Geschäftsgänge der Kurie, ihre einzelnen Behörden, Sekretariate und Kongregationen und die Ablagepraxis der jeweiligen Archivare im entsprechenden Untersuchungszeitraum genau kennen oder sich erst mühsam erarbeiten, um die richtigen Akten in den Lesesaal zu bestellen und sein Thema durch alle Stationen hindurch zu verfolgen. Das hat viel mit Kriminalistik zu tun. Durch die falsche Kombination von Indizien kann man leicht in die Irre geleitet werden. Dann war tagelange Arbeit umsonst. Manchmal kommt man sich vor wie Heinrich Schliemann beim Ausgraben von Troja. Man braucht eine ganze Reihe stratigraphischer Gräben, um die Goldader in einem bislang unbekannten Bestand aufzuspüren – oder eben auch nicht. Manchmal blättert man tagelang den Inhalt von Schachteln durch und siebt nur Sand. Und wenn man Glück hat, findet man es doch, das gesuchte Nugget, das oft recht unscheinbar daherkommt, aber zu glänzen beginnt, wenn man es am Ärmel des Jacketts reibt. Aber selbst wenn der große Fund zur eigenen Fragestellung ausbleibt, finden sich im Sand so viele andere interessante Spuren, dass man sich leicht ablenken lässt – und nicht selten ein ganz neues, völlig unerwartetes Thema entdeckt. Dann hat man nicht die Nadel im Heuhaufen gefunden, die man gesucht hat, dafür aber eine ganz andere.

Im Lesesaal gibt es rund siebzig Arbeitsplätze für die Forscherinnen und Forscher aus der ganzen Welt. Um die raren Plätze muss man sich lange im Voraus bemühen. Es gibt Steckdosen für Laptops an jedem Arbeitsplatz, Kugelschreiber und Füllhalter sind zum Schutz der Akten verboten, handschriftliche Notizen darf man nur mit Bleistift machen, einen Spitzer mitzunehmen, ist daher unbedingt empfehlenswert.

Im Cortile della Pigna, dem Innenhof zwischen dem Vatikanischen Archiv und der BAV, der Biblioteca Apostolica Vaticana, wird in einer aufgelassenen Kapelle in einer Cafeteria einer der besten Cappuccini Roms serviert, lebenswichtige Koffeinzufuhr, um viele Stunden anstrengender Archivarbeit mit Quellen in den unterschiedlichsten Sprachen und anspruchsvollen paläographischen Herausforderungen aller Art ohne Schaden an Leib und Seele zu überstehen. Zugleich ist diese Bar der wichtigste Treffpunkt für die Forscherinnen und Forscher. Hier wurde schon manches internationale Symposion und manche transatlantische Kooperation vereinbart.

Nach der Stärkung in der Bar wendet man sich wieder den etwa fünfundachtzig laufenden Kilometer Akten zu. Die Quellenmassen sind wahrlich immens. Die ältesten reichen ins achte Jahrhundert zurück. Auch wenn es schon vorher Sammlungen von Quellen gab, wurde das eigentliche Vatikanische Archiv erst von Paul V. im Jahr 1612 im Apostolischen Palast errichtet. Dazu wurden zunächst verstreute Archivmaterialien aus der Biblioteca Segreta der Engelsburg und der Apostolischen Kammer in das Vatikanische Archiv übertragen, das seither Jahr für Jahr durch Abgaben aus den verschiedenen Registraturen der kurialen Behörden wächst.

Das Archiv diente zunächst nur als interne Quellensammlung der Päpste. Erst 1880 wurde es der Forschung zugänglich gemacht, zunächst nur die mittelalterlichen Bestände, dann folgten immer mehr Archivalien aus Reformation und Früher Neuzeit. Seither hat sich die Praxis eingebürgert, dass die Päpste in chronologischer Reihenfolge immer wieder neue Bestände öffnen. Dabei werden jeweils alle Akten eines Pontifikats, vom ersten Regierungstag eines Papstes bis zu seinem letzten, zugänglich – ohne Unterscheidung der Quellengattungen. So machten zuletzt Johannes Paul II. 2003 und 2006 alle Akten Pius’ XI. (1922–1939) der Forschung zugänglich; 2020 folgte durch Franziskus die Apertura der Quellen des Pontifikats Pius’ XII. (1939–1958). Allein für das Pontifikat dieses Papstes gibt es rund vierhunderttausend Schachteln mit bis zu eintausend Blatt. Dass bestimmte Quellengattungen nach Ablauf einer Frist automatisch zugänglich werden, wie in deutschen Archiven meist üblich, ist im Vatikanischen Archiv nicht vorgesehen.

Die Erlaubnis, das Archiv konsultieren zu dürfen, hängt nicht – wie vielfach kolportiert – vom katholischen Taufbuch ab, sondern von der wissenschaftlichen Qualifikation des Antragstellers und der Empfehlung eines ausgewiesenen Wissenschaftlers. Katholiken arbeiten hier neben Protestanten, Agnostiker neben Muslimen. Priester und Nonnen bilden eher eine Minderheit.

Ein «Geheimarchiv» gibt es übrigens nicht nur im Vatikan. Segreto, «geheim», meint schlicht «privat» im Gegensatz zu einem öffentlichen kommunalen oder staatlichen Archiv. Das «Geheimarchiv» des Papstes ist also die Privatsammlung des Kirchenoberhaupts, so wie das Geheime Hausarchiv der Wittelsbacher in München das «private» Archiv dieser Adelsfamilie ist.

Inzwischen nennt sich das Vatikanische Archiv auch nicht mehr «geheim». Am 28. Oktober 2019 entschied Franziskus, dass das Archivio Segreto Vaticano (ASV) fortan Archivio Apostolico Vaticano (AAV) heißen sollte. «Geheimarchiv» klang dem argentinischen Papst offenbar zu sehr nach Geheimniskrämerei, nach Unter-der-Decke-Halten von Skandalen, nach einem Versteck für den Heiligen Gral und anderen Preziosen. Ein Geheimarchiv passte offenbar nicht mehr so recht zu der von der katholischen Kirche angesichts von Missbrauchs- und Finanzskandalen neu entdeckten Transparenz.

An der Faszination, die von diesem Archiv ausgeht, hat sich seit der Umbenennung jedoch nichts geändert. Auch unter dem neuen Namen bleibt das Vatikanische Archiv ein Eldorado der Geschichtswissenschaft, «soweit sie quellenmäßig arbeitet» (Karl August Fink).[2] Hier hat die katholische Kirche in gewisser Weise die Weltgeschichte eingelagert, denn es handelt sich um nicht weniger als das Archiv des ersten Global Players mit Informationsquellen auf der ganzen Welt.

Das Vatikanische Geheimarchiv oder jetzt: Apostolische Archiv ist zwar die größte Quellensammlung der Päpste, aber nicht das einzige vatikanische Archiv. Neben dem Vatikanischen Apostolischen Archiv und dem eigenständigen Archiv des Päpstlichen Staatssekretariats, die sich im Vatikanstaat selbst befinden, gibt es die Archive der Kongregation Propaganda Fide, zuständig für die «Verbreitung des Glaubens», der Kongregation für die Orientalischen Kirchen, der Apostolischen Pönitentiarie, die als kuriale Behörde Gnadenerweise gewährte, und vor allem der Glaubenskongregation, die die Überlieferungen der Römischen Inquisition und der Indexkongregation verwahrt. Diese eigenständigen Institutionen liegen auf italienischem Staatsgebiet. Von einem einheitlichen vatikanischen Zentralarchiv ist die Römische Kurie also immer noch meilenweit entfernt, obwohl Paul V., der Gründer des Archivs, dies bereits im Jahr 1610 angestrebt hatte.

Der 2. März 2020 war ein Meilenstein in der Geschichte der Öffnung der Vatikanischen Archive, denn an diesem Tag wurden erstmals die Bestände aus dem Pontifikat Pius’ XII. aus den Jahren 1939 bis 1958 für die Forschung zugänglich. Die Erwartungen waren und sind hochgesteckt: Endlich würde man die Fragen nach der Rolle dieses Papstes während der Schoah beantworten können. Endlich käme Klarheit in die Frage, ob und wie der Vatikan Pässe für Naziverbrecher wie Adolf Eichmann oder Josef Mengele ausgestellt hat, damit sie sich nach Südamerika oder auf andere Kontinente absetzen können – Stichwort Rattenlinie. Endlich wüsste man, warum der Vatikan sich 1948 gegen die Gründung des Staates Israel ausgesprochen hat. Die Abertausenden erstmals benutzbaren archivalischen Einheiten würden diese und noch hundert andere Fragen beantworten. Doch angesichts der Menge an Akten sind schnelle Antworten nicht zu erwarten.

Die ersten beiden Kapitel dieses Buches versuchen eine erste Annäherung an zwei große Forschungsthemen auf Grundlage dieser neu zugänglichen Bestände: Zunächst sind die Stimmen einiger der vielen tausend jüdischen Bittsteller aus ganz Europa zu hören, die den Papst flehentlich um Hilfe vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten baten. Die Akten geben Aufschluss darüber, ob Pius XII. ihnen geholfen hat oder nicht. Dann geht es um die Frage, was genau der Papst vom Holocaust wusste und warum er nicht öffentlich gegen die Ermordung von sechs Millionen jüdischen Menschen protestiert hat. Von hier führt der Weg durch das Labyrinth der Vatikanischen Archive mit immer wieder neuen Funden zur Buchzensur und Inquisition über den Zölibat und verschüttete Reformoptionen für die katholische Kirche bis zum Kampf um das Unfehlbarkeitsdogma und Mord und Missbrauch im römischen Nonnenkloster Sant’Ambrogio.

Für den Einblick in die Archive wurden Entdeckungen ausgewählt, die der Verfasser dieses Buches in den letzten vier Jahrzehnten in den Vatikanischen Archiven gemacht hat. Dazu kommt eine Reihe von neueren Entdeckungen, die bisher nicht oder kaum bekannt sind. Die Beispiele sollen einen Überblick über das Archiv und die Arbeit in ihm bieten. Vor allem aber ist ihnen gemeinsam, dass sie neue historische Einblicke bieten, wo bisher Legenden, Vermutungen und das offizielle Selbstbild der Kirche als einer traditions- und segensreichen Institution vorherrschen. Es sind einzelne Nadeln in einem Heuhaufen – teils gezielt gefunden, teils zufällig entdeckt –, der noch längst nicht alle Geheimnisse preisgegeben hat.

1.

HEILIGER VATER, RETTEN SIE UNS BITTSCHREIBEN VON JUDEN AN PIUS XII.

Heiliger Vater! Ich Endesunterzeichneter, Euer ergebenster Diener, wende mich heut zum ersten Mal an Eure Heiligkeit, da mir die Not über den Kopf wächst, und ich genau weiß, welch gutes treues Herz in Eurer Heiligkeit wohnt. Bemerken muss ich, dass ich Jude bin, also keine Berechtigung habe, bei Eurer Heiligkeit anzuklopfen, aber im festen Glauben, dass uns Menschen alle ein Gott regiert, wage ich es.[1]

So beginnt eines von vielen tausend Bittschreiben jüdischer Menschen, die den Vatikan während des Zweiten Weltkriegs erreichten. Franz Brinnitzer schrieb es am 27. Juli 1942, als Absenderadresse wurde Rom, Via Montecatini 5, angegeben, wo er mit seiner Frau Meta vorübergehend Unterschlupf gefunden hatte.

Bislang waren diese Briefe unbekannt.[2] Erst mit dem 2. März 2020, der Öffnung der Vatikanischen Archive für die Zeit Pius’ XII., der von 1939 bis 1958 auf dem Stuhl Petri saß, wurden diese zugänglich. Doch die Schreiben finden sich nicht in einem einzigen wohlsortierten Bestand, sondern verstreut über mehrere Archive in verschiedenen Aktenserien, wovon zwei zentral sind: Zum einen die Serie «Razza» in den Unterlagen der Commissione Soccorsi, die zur Zweiten Sektion des Staatssekretariats gehörte und deren Bestände sich im Apostolischen Archiv des Vatikans befinden; zum anderen die Serie «Ebrei» der Ersten Sektion, die sich im eigenständigen Archiv des Staatssekretariats befindet.

Bittschreiben und Bittsteller

Bislang lässt sich nur schätzen, um wie viele jüdische Menschen es sich genau handelt, die auf die Hilfe des Papstes hofften. Derzeit ist von rund 15.000 auszugehen. Eine bloße Addition der Namen aus den Serien «Ebrei» («Juden») und «Razza» («Rasse») greift zu kurz, weil es eine ganze Reihe von Doppelüberlieferungen gibt, wenn beide Sektionen des Staatssekretariats mit ein und demselben Fall befasst waren. Zudem dokumentieren diese beiden Fondi bei weitem nicht alle Bittschreiben jüdischer Menschen an den Heiligen Stuhl.

Aber was ist unter einem Bittschreiben eigentlich genau zu verstehen? Fünf Gattungen sind zu unterscheiden: Erstens ein Egodokument, in dem die bittstellende Person für sich selbst (und ihre Angehörigen) um Hilfe bittet. Zweitens Bittschreiben, die Verwandte und Freunde für jüdische Menschen verfasst haben. Drittens: Bittschreiben aus der Feder von Kirchenleuten oder einflussreichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die den Papst ebenfalls stellvertretend um Hilfe bitten. Dazu kommen als vierte Gattung Empfehlungsschreiben kirchlicher Persönlichkeiten, die den eigentlichen Bittschreiben beigelegt sind und den Kenntnisstand über die Bittsteller aus einer zusätzlichen Perspektive erweitern. Nicht zu vergessen sind fünftens Petitionen, in denen um einen öffentlichen Protest des Papstes gegen die Schoah oder grundsätzliche politische Interventionen zugunsten großer Gruppen von Deportationen verfolgter Juden gebeten wird.

Aber selbst mit diesem weiten Begriff von «Bittschreiben» sind nicht alle jüdischen Bittsteller erfasst. Nicht selten findet sich in den vatikanischen Quellen nur eine interne Aktennotiz zu einem jüdischen Menschen in Not, ohne dass ein ausdrückliches Bittschreiben beiliegt. Dieses kann an einem anderen Ort abgelegt oder verloren gegangen sein. Es kann sich aber auch um eine nur mündlich vorgebrachte Bitte gehandelt haben. Mit den Bittschreiben und ihren Absendern ist die Frage nach ihrem Selbstverständnis, aus dem heraus sie sich an den Heiligen Stuhl wandten, eng verbunden.

Das Bittschreiben von Franz Brinnitzer etwa unterscheidet sich von zahlreichen anderen Bittbriefen, denn Brinnitzer fällt sozusagen mit der Tür ins Haus: «Bemerken muß ich, daß ich Jude bin, also keine Berechtigung habe, bei Eurer Heiligkeit anzuklopfen.»[3]

Dieser Satz macht auf eine terminologische Grundproblematik im Hinblick auf den Begriff «Jude» aufmerksam. Es ist nicht immer eindeutig, wer damit jeweils gemeint ist. So definierten die Nürnberger Gesetze und auch die italienischen Rassegesetze, wer als Jude zu gelten hatte – Religion spielte dabei keine Rolle. In den Bittschreiben finden sich jedoch ganz unterschiedliche Selbstbezeichnungen der Betroffenen. Bei Brinnitzer ist die Sache relativ einfach: Er rechnet sich von der Abstammung und dem Glauben her eindeutig dem Judentum zu. Andere Bittsteller bekennen sich zwar als Angehörige des jüdischen Volkes, aber nicht des jüdischen Glaubens. Viele dieser «Juden» sahen sich – wie zahlreiche ihrer protestantischen oder katholischen Zeitgenossen – selbst zuerst als Italiener, Deutsche oder Franzosen. Und nicht zuletzt hatten sich viele der Bittsteller ganz bewusst als Erwachsene taufen lassen, andere waren schon als Kinder getauft worden, bei manchen waren schon die Eltern oder wenigstens ein Elternteil konvertiert. Damit waren sie nach Kirchenrecht Katholiken und erhofften sich als solche den Schutz der Kirche.

Antworten und Antwortschreiber

Auch die vatikanischen Mitarbeiter verwendeten unterschiedliche Begriffe, wie bereits die Bezeichnung der Archivbestände «Razza» und «Ebrei» zeigt, mit denen getaufte und nicht getaufte Juden gleichermaßen gemeint sein können. Nicht selten übernahmen die kurialen Mitarbeiter aber – bewusst oder unbewusst – einen faschistischen Sprachgebrauch, indem sie etwa von «cattolico non ariano», «katholisch nicht arisch» oder «non ariano battezzato», «nicht arisch und getauft» sprachen. Ferner tauchen immer wieder Formulierungen auf wie «hebraicae origines», «von Geburt an jüdisch», «di religione e stirpe israelitica», «von Religion und Rasse jüdisch», «race juive», «von jüdischer Rasse» oder «ebreo e appartenente a famiglia di razza ebraica», also «Jude und Angehöriger einer Familie jüdischer Abstammung».[4]

Diese verschiedenen sprachlichen Ausdrücke sind ein Indiz für eine Pluriformität des «Jüdischseins». Ihre jeweilige Verwendung erlaubt zumindest Rückschlüsse auf das Selbstverständnis der Bittsteller und die Sichtweise der kurialen Mitarbeiter. Und sie sind relevant, wenn es – jenseits der Einzelschicksale – um übergeordnete Fragen geht: Wie viele der Bittsteller waren gläubige Juden? Wie viele waren Konvertiten? Half die Römische Kurie möglicherweise solchen sogenannten katholischen Nichtariern häufiger als gläubigen Juden? Oder galten sie in Rom doch nur als Katholiken zweiter Klasse? Damit geht die Frage einher, ob sich bei den einzelnen Mitarbeitern der Kurie ein bestimmter Sprachgebrauch etabliert hat, der auf eine feindliche Einstellung «Juden» gegenüber schließen lässt. Gab es dezidierte Antisemiten? Und ausgesprochene Judenfreunde? Da diesen Mitarbeitern und ihren Memos eine entscheidende Rolle bei der Bearbeitung der Bittschreiben zukam, ist die Beantwortung dieser Frage von zentraler Bedeutung. Sie zeigt zugleich, dass bei diesem Thema eine Konzentration auf Pius XII. allein zu kurz greift.

Das Bittschreiben von Franz Brinnitzer

Das Bittschreiben von Franz Brinnitzer weist auf die Bedeutung der Unterstützung durch kirchliche oder staatliche Autoritäten oder angesehene Einzelpersönlichkeiten hin. Vatikanischer «Briefträger» für den schriftlichen Hilfeschrei der Eheleute Brinnitzer im Sommer 1942 war kein Geringerer als der langjährige Privatsekretär Pius’ XII., der Jesuitenpater Robert Leiber.

Der Jesuit legte das Bittschreiben nicht einfach auf den Schreibtisch seines obersten Chefs, Papst Pius XII., sondern hielt den Dienstweg ein. Er sandte es mit einem befürwortenden Begleitschreiben am 16. August 1942 an Mario Brini, den Sekretär der Commissione Soccorsi, der für die Hilfe zuständigen Kommission. Leiber konnte sicher sein, dass das Bittschreiben der Brinnitzers trotz der für vatikanische Ohren ungewöhnlichen Direktheit somit auf Wohlwollen treffen würde. Er schrieb: «Reverendissimo Monsignore, ich erlaube mir Ihnen … eine Bitte um Hilfe der Eheleute Brinnitzer [weiterzuleiten]. Die Form der Anfrage ist ein wenig seltsam; sie sind Juden auch der religiösen Konfession nach. Aber es sind gute Leute … was sie über ihren Sohn schreiben, entspricht der Wahrheit.»[5]

Brinnitzer selbst hatte dem Papst dazu geschrieben:

Ich muss etwas zurückgreifen. Meine liebe Frau und ich, beide Reichsdeutsche, wanderten sofort, als Hitler das Regime übernahm, von Bremen im Mai 1933 nach Amsterdam, wo wir dort einen Lunch-Room eröffneten und es uns gut ging. Unser einziger Sohn, der in Deutschland studierte, in Würzburg, Freiburg, auch Düsseldorf, bestand sein Physikum und sein Staatsexamen: Summa cum laude. Er war 1933 Stadtarzt in Barmen und Assistenzarzt dort im großen Krankenhaus. Er brauchte dort nicht zu gehen, da ich im Weltkrieg Frontsoldat war, aber sein Ehrgefühl ging über das Wohlleben.[6]

Der Brief schildert zwar die Migrationsgeschichte der Brinnitzers nach 1933 differenziert, über ihre Herkunft und Geschichte vor Hitlers Machtübernahme ist aus den vatikanischen Quellen jedoch nichts zu erfahren. Das macht auch die Grenze der dort verwahrten Unterlagen deutlich. Statt der vollständigen Lebensgeschichte findet sich hier nur der zentrale Ausschnitt der Verfolgungssituation, den die Menschen selbst für relevant erachteten. Alle übrigen Informationen müssen aus anderen Quellen, aus Datenbanken wie der internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, dem Holocaust Memorial Washington, den Arolsen Archives oder auch mithilfe gedruckter Literatur zeitaufwendig erhoben werden.

In diesem Fall ergeben die Recherchen in den nichtvatikanischen Quellen kurzgefasst folgende Informationen: Franz Alexander Walter Brinnitzer stammte aus Breslau, er war dort als Sohn von Joseph Brinnitzer am 5. Dezember 1879 in eine jüdische Familie hineingeboren worden. Seine spätere Frau Meta Priester erblickte das Licht der Welt am 15. Juni 1884 in Hohenmölsen als Tochter von Wilhelm und Amalie Priester. Meta und Franz heirateten 1905 in Berlin, als Berufe werden Kaufmann und Verkäuferin angegeben. Am 19. Januar 1906 wurde ihr Sohn Heinz Norman geboren. Die Familie siedelte irgendwann in den folgenden Jahren nach der Entlassung von Franz aus dem Kriegsdienst nach Bremen über. Jedenfalls beantragten Franz und Meta Brinnitzer im Jahr 1921 bei den dortigen Behörden einen Reisepass.

Das Bittschreiben an Pius XII. bietet nun eine ganze Reihe neuer Informationen. Zunächst berichtet Franz voller Stolz vom weiteren Lebens- und Bildungsweg seines Sohnes Heinz:

Er ging nach Italien und musste das zweite Mal in Turin und Rom seine Examen machen, die er alle mit Auszeichnung bestand. Er ließ sich in Rom nieder und hatte eine große Praxis, beliebt bei arm und reich. … Meine Frau und ich waren bis 1937 in Holland. Dort wurde dieselbe durch das feuchte Klima schwer nierenleidend, und rieten die dortigen Ärzte meinem Sohn uns sofort nach Rom kommen zu lassen, da Lebensgefahr bestand. Unser Sohn veranlasste uns in Amsterdam alle Verbindungen zu lösen, und unverzüglich zu ihm zu kommen. Heiliger Vater! Wir haben das beste Kind, und damit das schönste Geschenk, was uns der Herrgott geben konnte. Wir bekamen eine Villa in Frascati als Wohnung, und glaubten uns unter der großen Liebe unseres Kindes im Garten Eden. … Im September 38 machten die Judengesetze gegen Stranieri dem Traum ein Ende … Mein Sohn ging mit seiner Frau am Stichtag 12. 3. 39 nach Palästina, uns ein baldiges Nachkommen versprechend. … Als wir fast soweit waren fortzukommen, brach in Italien der Krieg aus. Und damit unsere Sorgen, denn bis dahin sorgte unser Sohn. Auch weiterhin schlugen wir uns tapfer durch, aber jetzt stehen wir notorisch vor dem Nichts. … Außerdem hat uns die Quaestur am letzten Sonnabend die Aufforderung gesandt, sofort Rom zu verlassen, sodass wir im wahren Sinne des Wortes verlassen im fremden Land stehen. Heiliger Vater, bei dem gütigen Allmächtigen bitte ich für mich und meine liebe Frau um eine Hülfe bei Ihnen, denn Sie wissen genau, wie alle Gläubigen, dass jede gute Tat belohnt wird. … Untertänigst, mit heißem und innigen Dank, Franz Brinnitzer.[7]

Die Entscheidungsfindung im Fall Brinnitzer

Wie wurde mit diesem Fall im Vatikan umgegangen? Das Bittschreiben Brinnitzers vom 27. Juli 1942 und der Begleitbrief Leibers vom 16. August wurden am 21. September in der Commissione Soccorsi bearbeitet. Monsignore Brini fasste die Causa in einem knappen getippten Appunto, einem Memo, zusammen: «Alter Jude befindet sich zusammen mit seiner Frau, nachdem der Sohn, ein Arzt, nach Palästina ausgewandert ist, in äußerster Not. Die Polizei hat sie aufgefordert, Rom zu verlassen. Sie bitten um eine barmherzige Hilfe des Heiligen Vaters. Pater Leiber empfiehlt sie.»[8] Solche Memos sind von zentraler Bedeutung, denn die Sachbearbeiter beeinflussten damit die weitere Entscheidungsfindung maßgeblich.

Im Fall Brinnitzer war die Erste Sektion nicht beteiligt. In dieser wurden in der Regel die Bittschreiben, die über die Nuntien hereinkamen, bearbeitet und – außer, wenn es um Brasilienvisa für getaufte Juden ging – nicht selten an die Zweite Sektion weitergeleitet. Da Leiber die Causa jedoch direkt bei Brini im eigentlich zuständigen Büro abgegeben hatte, entfiel dieser Schritt.

Brini reichte das Appunto an seinen Chef, den Substituten Giovanni Battista Montini weiter, der es mit in seine Privataudienz bei Pius XII. am 24. September 1942 nahm. Wie üblich notierte Montini die Entscheidung des Papstes in Kurzfassung handschriftlich auf dem Appunto: «Ex Aud. SSmi 24. 9. 42 L 500,– (f. profughi) GBM.»[9] Was in der Langversion bedeutet: Aus der Audienz beim Heiligen Vater am 24. September 1942. Bewilligt dem Bittsteller 500 Lire (aus dem Fonds für Flüchtlinge) Giovanni Battista Montini.

500 Lire klingen zunächst nicht nach viel. Tatsächlich aber hatten sie 1942 immerhin einen Wert von 40 US-Dollar, von denen zwei Personen einen Monat leben konnten. Das Audienznotat Montinis enthält aber noch einen anderen wichtigen Hinweis: Die Zuwendung sollte aus dem «Fonds für Flüchtlinge» kommen. Es gab auch einen «Fonds für die Juden», teilweise sprang auch die Vatikanbank direkt ein.

Der Fall Brinnitzer erreichte tatsächlich seinen Adressaten: den Papst. Das war keineswegs immer der Fall. Viele Causen wurden auf der Arbeitsebene entschieden und der Kardinalstaatssekretär unterschrieb lediglich die Weisungen, die ihm von seinen Mitarbeitern vorgelegt wurden. Welche Petitionen wurden Pius XII. denn überhaupt vorgelegt? Und welche nicht? Nahm er die Fälle getaufter Juden eher zur Kenntnis als andere? Spielte das Renommee des Bittstellers oder des «Briefträgers» die entscheidende Rolle? Fest steht, dass die Bittschreiben Pius XII. immer wieder und mit großer Regelmäßigkeit mit der Judenverfolgung konfrontierten, auch wenn ihm nur ein geringer Prozentsatz der tausenden von Schreiben persönlich vorgelegt worden sein sollte. Sein «Schweigen» zur Schoah beruht daher nicht auf Nichtwissen, sondern auf anderen Motiven.

Am 7. Oktober teilte Montini Leiber den Beschluss des Papstes offiziell mit. Der Heilige Vater bedauere sehr, angesichts der «zahllosen Bitten und der schwierigen Umstände» nicht mehr finanzielle Unterstützung gewähren zu können.[10]

Letzte Hoffnung Palästina

Der Fall Brinnitzer deutet an, wie unterschiedlich die Bitten jüdischer Menschen an den Papst sein konnten. Sehr häufig wird um eine finanzielle Unterstützung für das konkrete Überleben in den nächsten Wochen und Monaten gebeten. Bei solchen Fragen der Caritas konnte der Papst aus den eigenen Mitteln unmittelbar mit kleineren Beträgen unterstützen, diplomatische Rücksicht musste er dabei nicht nehmen. Aber in den Bittschreiben ging es um weit mehr: Ein anderer wichtiger Punkt war die Auswanderung, um dem Tod in einem nationalsozialistischen Vernichtungslager zu entkommen.

Am 26. September hatte auch Brinnitzer gegenüber Pater Leiber diesen Wunsch geäußert. Mit Blick auf die Auswanderung hatte er von einer Aktion gehört: Es solle die Möglichkeit bestehen, Italiener, die in Palästina als Kriegsgefangene von den Briten festgehalten wurden, mit Angehörigen von «Palästinensern» in Italien auszutauschen:

Mein Sohn ist in Haifa, seit mehr als drei Jahren, Palästinenser Bürger und medico, genau wie vorher viele Jahre in Rom. … Wenn es irgendeinen Weg geben würde, der uns in die Arme unseres einzigen Sohnes führen würde, so würde es Ihnen Ehrwürden der Allmächtige im Himmel lohnen uns zusammenzuführen. Ich kenne nicht den Weg, der dabei einzuschlagen ist, und wäre Ihnen für eine Angabe dazu innig dankbar … Mit innigem Dank für Ihre liebe Menschenfreundlichkeit, Ihre stets ergebenen Franz Brinnitzer und Frau.[11]

Leiber nahm das Anliegen der Brinnitzers am 12. Oktober auf und wandte sich direkt an Montini, ohne dieses Mal den Umweg über Brini zu wählen. Den Brief der jüdischen Eheleute mit der Idee eines Personenaustauschs legte er bei. Der Substitut wurde am 26. Oktober tätig. Er fragte bei der Botschaft des Vereinigten Königreiches beim Heiligen Stuhl an, ob im Zuge einer Familienzusammenführung prinzipiell die Möglichkeit bestehe, die Brinnitzers mit von den Briten in Palästina festgehaltenen Italienern auszutauschen und zu ihrem in Haifa lebenden Sohn auswandern zu lassen.

Die Antwort traf bereits am 29. Oktober 1942 im Staatssekretariat ein und war eindeutig: Nein. Damit schied eine diplomatische Lösung für die Emigration der Brinnitzers, die zwischen dem Heiligen Stuhl und der englischen Regierung zu vereinbaren gewesen wäre, aus. Botschafter Francis Osborne schob die Verantwortung den lokalen Behörden zu. «Die einzige Hoffnung, eine Erlaubnis zur Einreise für Herrn und Frau Brinnitzer nach Palästina zu erhalten, bestände für ihren Sohn, in Haifa bei den lokalen Autoritäten ein Einreisevisum für seine Eltern zu beantragen.»[12] Genau das hatte Heinz Brinnitzer seit 1939 vergeblich versucht. Am 9. November teilte Montini Pater Leiber den abschlägigen Bescheid der britischen Botschaft schriftlich mit.