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Was erwarten Sie von einem Omabuch? Rührende Geschichten, wie die Oma mit dem Strickstrumpf hinter dem Ofen sitzt und der Opa Pfeife rauchend hinter der Zeitung hervorlugt? Das ist doch Schnee von gestern! Die heutige "Generation Oma" ist mopsfidel, unternehmungslustig und mobil, dank iPhone und Internet mit der ganzen Welt vernetzt und immer up to date ... Nur eines hat sich nicht geändert: Die Großeltern kümmern sich immer noch liebevoll um ihre Enkel; so auch die Ich-Erzählerin, welche zu 14-tägig stattfindenden Oma-Tagen einlädt, bei denen immer "verflixt" Komisches passiert. Liebe Leserin, lieber Leser, begleiten Sie die Verfasserin auf eine amüsante Abenteuerreise und vergleichen Sie Omas »gute alte Zeit« mit Ihren eigenen Erfahrungen! Aber das ist noch nicht alles: Nach 40-jähriger Lehrtätigkeit im Fach Deutsch ist es nur verständlich, dass die Autorin noch irgendwo die Lehrerin raushängen lassen muss. Das tut sie durch die Erläuterung zahlreicher gebräuchlicher Redensarten, angefangen bei antiken Sentenzen bis zu den schnoddrigen Sprüchen aus der Jugendsprache.
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Seitenzahl: 302
Veröffentlichungsjahr: 2016
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wurde im Jahre 1945 als Tochter der Schriftstellerin Margarete Kubelka geboren und bekam das Talent zum ›Fabulieren‹ sozusagen in die Wiege gelegt. Nach dem Studium der Germanistik an der Universität Stuttgart sowie der Anglistik und Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg unterrichtete sie ab 1972 bis zu ihrer Pensionierung an der Realschule in ihrem Wohnort Karlsbad bei Karlsruhe. ›Verflixt, schon wieder Oma-Tag!‹ ist ihr erstes Buch. Der Text wird von eigenen Erfahrungen als begeisterte Großmutter von drei Enkeln gespeist und schildert humorvoll (unter Verwendung zahlloser Redensarten von der Antike bis zur Jugendsprache) die Beziehung zwischen Jung und Alt mit Seitenhieben auf die heutige Welt sowie die ›gute alte Zeit‹.
wurde 1959 geboren und lebt in Schirmitz bei Weiden. Mit einem scharfen Blick für das Wesentliche arbeitet er – selbst Autodidakt – seit mehr als zwanzig Jahren als Grafiker, Illustrator, Cartoonist und Schnellzeichner für private und gewerbliche Auftraggeber sowie Zeitschriften und Tageszeitungen. Situationskomik zieht sich dabei wie ein roter Faden durch seine Werke. Mit einem zwinkernden Auge hat er es vortrefflich verstanden, die Komik der Oma-Tag-Abenteuer zu visualisieren und das Buch auf diese Weise zu bereichern.
Erfahrungen einer ambitionierten Großmutter
mit ihren Enkeln
sowie allerlei Informatives
über das Leben heute und das Kindsein früher
mit 15 Karikaturen von Georg Zitzmann
Dieses Buch ist meiner Oma
Martha Kubelka
gewidmet,
die nicht nur einmal die Kastanien für mich
aus dem Feuer holte,
sowie meinen Enkeln Vincent und Jannis,
ohne die es kein OMABUCH geben würde,
außerdem meiner Enkelin Sophia,
die bei den Oma-Tagen nicht dabei sein kann,
weil sie noch zu klein ist.
Präludium:
Oma-Tag: Was das ist und warum er dringend gebraucht wird
Exkurs: Zur Funktion der Großmutter
Ouvertüre:
Die wahren Helden der Oma-Tag-Abenteuer: Vincent, Jannis und Sophia, meine Enkel
Die Oma-Tage:Eine göttliche Komödie in 13 Akten
Der 1. Oma-Tag:
Mit der Ritterburg in den Zoo, aus eins mach zwei
Exkurs: Die ›gute alte Zeit‹ der Autorin: ein Blick zurück
Intermezzo: Ein Zoobesuch früher und heute
Der 2. Oma-Tag:
Ein Weihnachtsmarkt ohne Coolnessfaktor, warme Plätzchen und heiße Computerspiele
Intermezzo: Weihnachtsmarkt und einige Aspekte des Konsumverhaltens im Vergleich mit der ›guten alten Zeit‹
Der 3. Oma-Tag:
Im Reptilium: Die Anakonda lässt freundlich grüßen
Der 4. Oma-Tag:
Eine Bootsfahrt im Stadtpark, bei der einer Tupperflasche eine tragende Rolle zufällt
Der 5. Oma-Tag:
Der Zirkus ist tot … (erster Versuch)
… es lebe der Zirkus (zweiter Versuch)
Intermezzo: Zirkus früher und heute
Der 6. Oma-Tag:
In Feld und Flur, am Busen der Natur: ein erforschtes Terrain mit Tiefgang
Der 7. Oma-Tag:
Auf dem Bauernhof: spektakuläre Einblicke in bäuerliches wie auch tierisches Treiben
Der 8. Oma-Tag:
Im Hallenbad, wo die Orangen blühn bzw. wo den Orangen etwas blüht
Intermezzo: Ein Besuch im Schwimmbad früher und heute
Der 9. Oma-Tag:
Unerwünschte vorsintflutliche Hautkontakte im Naturkundemuseum
Der 10. Oma-Tag:
Viel Theater im Theater und doch noch zu wenig
Intermezzo: Kindertheater früher und heute
Der 11. Oma-Tag:
Ein Ausflug nach Frankreich: kein Spaß im Spaßbad, ein Schloss am Park und Käse mit Spätfolgen
Der 12. Oma-Tag:
Vincent und Jannis fangen frische Fische, freilich anders als Fischers Fritz
Der 13. Oma-Tag:
Eine Pilzwanderung mit schmerzhaften Attacken von allen Seiten
Intermezzo: Die Bedeutung von Pilzen früher und heute
Finale:
Wehe, wehe, wehe! Wenn ich auf das Ende sehe!
Schlussakkord
»Verflixt, was ist denn eigentlich ein Oma-Tag?«, werden Sie sich wohl gefragt haben, liebe Leserin, lieber Leser, als sie das OMABUCH im Buchladen um die Ecke aus dem Stapel der Ladenhüter herausfischten! Sie kennen Muttertag und Vatertag, und nun wissen Sie nicht: Gibt es womöglich neuerdings noch Tochter-, Sohn-, Onkel-, Tanten-, Cousin-, Opa- und eben auch Oma-Tag? Das Leben scheint an Ihnen sang- und klanglos vorübergegangen zu sein, da sie vermutlich noch nie etwas von einem solchen Tag gehört haben.
Tatsächlich hat sich (von den meisten Leuten unbemerkt) in vielen Teilen der Welt ein Ehrentag für die Großmutter etabliert. Frankreich war hierbei der europäische Vorreiter, denn schon 1987 rief die Firma Kraft Jacobs Suchard einen Oma-Tag ins Leben, mit der Absicht, ihren Café Grand'Mère zu promoten. Inzwischen soll der französische Oma-Tag den dortigen Muttertag an Popularität übertreffen. In Deutschland wird ein offizieller Oma-Tag seit 2012 am zweiten Sonntag im Oktober begangen.
Aber unser Oma-Tag ist kein offizieller und auch kein kommerzieller: Er ist nicht die geniale Erfindung des Blumenhandels zur Absatzsteigerung ähnlich dem Valentinstag; er ist auch nicht die neueste Verkaufsstrategie diverser Nutzlosindustriezweige wie etwa Kölnischwasser-Produzenten, Filzpantoffel-Hersteller, der Pralinen- oder Angorawäsche-Fabrikanten. Nein: Unser Oma-Tag ist ein familiäres Event, bei dem die beiden Enkeljungen einzig und allein der Oma gehören sollen, nicht treffender zu formulieren, als es mein Enkel Vincent tut, wenn er sich von seinen Schulfreunden in der Kernzeitbetreuung verabschiedet:
»Tschüss, Leute, macht's gut, ich hau ab zum Oma-Tag! Da machen wir immer etwas ganz Besonderes!«
Und blitzschnell hat er sich in die Jacke geschmissen und die hin und wieder verschollene Mütze aufgezogen, um das Schulgebäude freudestrahlend zu verlassen.
Der geniale Gedanke, einen Oma-Tag einzuführen, kam meiner Familie, als wir einmal im Alltagstrott gemütlich beisammen saßen und betrübt feststellen mussten, wie uns allen die Zeit davonläuft. Aus Kindern werden Leute, ehe man nur einmal mit der Wimper gezuckt hat: Plötzlich sind sie erwachsen! Die eben noch als putzige Babys aus der Wiege krähten, laden nun die Oma, inzwischen in biblischem Alter (krumm und bucklig, mit dem einen oder anderen Zipperlein) und mit iPhone-gesteuertem Krückstock oder Rollator unterwegs, zu ihrer bevorstehenden Hochzeit ein.
Und die Zeit ist extrem schnelllebig: Zwischen Turnen, Leichtathletik, Musikalischer Früherziehung, Ergotherapie, Fußball, Handball, Tischtennis, Hip-Hop, Schwimmunterricht und was sonst noch an verpflichtender wöchentlicher Förderung geboten ist, sieht selbst eine Oma, die im gleichen Haus wohnt, den Enkel Vincent nur vorbeihuschen. Es sei denn, die Großmutter ist zu einem der rund um die Uhr unabdingbaren Bring-Hol-Fahrdienste eingeteilt. Aber mal ehrlich: Ein Enkel für maximal zehn Minuten auf einem der Rücksitze des Autos gibt nicht gerade viel her für intensive Kontaktpflege, geschweige denn Kommunikation! Und dann ist da schließlich noch der kleine Cousin Jannis, der nur wenige Kilometer entfernt wohnt. Genau genommen ist er ein unbekanntes Wesen, von dem Enkel Vincent und Oma immer nur die gesicherte Tatsache wahrnahmen, dass er beim Weihnachtstreffen der Familie wieder ein Jahr älter geworden und ein sichtbares Stück gewachsen war.
Deshalb gibt es also in unserer Familie ab sofort einen ganz persönlichen Oma-Tag. Alle zwei Wochen sind die beiden Enkel-Buben mit ihrer Großmutter unterwegs, und was da so alles passieren kann, werden Sie in meinem OMABUCH hautnah miterleben!
Liebe Leserin, lieber Leser, seien Sie mit von der Partie bei einer vergnüglichen Reise in die Facetten der Gegenwart unserer heranwachsenden Generation! Aber ich nehme Sie auch mit auf einen interessanten Streifzug durch die weite Welt der Sprichwörter und Redensarten, die uns schmunzeln und manchmal nachdenklich werden lassen.
Begleiten Sie mich nun in ein Stück Lebenswirklichkeit des 21. Jahrhundert, und nach einem kleinen Exkurs kann die Fahrt gleich losgehen.
In der ›guten alten Zeit‹, als Oma nicht Oma, sondern selbst noch ein omabedürftiges Kind war, hatte man bezüglich der Rolle der Großmutter ein ähnliches Verständnis wie heute. Nicht selten lebten mehrere Generationen in einer Wohnstätte zusammen; die zunehmende Vereinzelung des Menschen mit all ihren Vor- und Nachteilen sollte erst noch kommen. Dadurch war die Oma in vielen Familien praktisch Mutterersatz; sie sprang oftmals regelmäßig, manchmal nur gelegentlich, zur Betreuung der Enkel ein. Dies muss in der Kleinfamilie nicht mehr unbedingt der Fall sein. Ob integriert in die Familie oder aushäusig mit einem eigenen Haushalt, die Oma diente schon von Alters her dazu, mit den Enkeln all das zu unternehmen, wozu die Eltern keine Zeit, kein Geld oder keine Lust hatten.
Die Enkeleltern sahen in ihren Müttern besonders charakterstarke Persönlichkeiten, die von Natur aus mit nie endender Geduld, unbegrenzter Leidensfähigkeit und einer gehörigen Portion Stressresistenz ausgestattet waren, sodass man ihnen gnadenlos den dreizehnten Zirkusbesuch zumuten konnte, um nur eines der Aktionsfelder zu nennen. Schwimmbad, Museum, Zoo, Stadtpark, Weihnachtsmarkt und Theater waren andere beliebte Ziele, die den durch diverse (insbesondere berufliche) Pflichten oft genervten Eltern meilenweit zum Halse raushingen.
Das kam und kommt unter anderem davon, dass kleine Kinder durchweg einen ausgeprägten rituellen Wiederholungszwang haben: Orte, die ihnen bei einem ersten Besuch gefallen haben, wollen sie immer wieder besuchen; Späße und Spiele, die man mit ihnen gemacht hat, gewinnen sie sofort lieb und wollen sie ein ums andere Mal erleben; es wird ihnen nie langweilig dabei. Wer kennt es nicht: das schon seit Ewigkeiten zelebrierte Hoppe-Reiter-Spiel, bei dem der Hosenmatz auf dem Schoß des Erwachsenen sitzt und mit dem Kopf nach unten gekippt wird, als wolle man ihn herunterstoßen. Meine Oma sang dabei:
»Hoppe, hoppe, Reiter, wenn er fällt, dann schreit er, fällt er in den Sumpf, dann macht der Reiter plumps«, was wohl von jeher das gängige Procedere gewesen sein dürfte. Das Kind gluckste und jauchzte bei diesem simplen Späßchen vor Entzücken, und ab erfolgtem Spracherwerb, wenn nicht schon pantomimisch, signalisierte es so gut wie sicher:
»Noch einmal, noch einmal, noch einmal von vorne!«
Diese Manie des ständigen Wiederholens von lustvollen Dingen (die auch schon bei Erwachsenen beobachtet worden sein soll) erfordert ein hohes Maß an Durchhaltevermögen auf Seiten der Eltern, sodass diese froh sind, das eine oder andere an die Oma delegieren zu können. Die Meinung in der ›guten alten Zeit‹ ging ohnehin in die Richtung, dass die ältere Dame den lieben langen Tag nichts zu tun hat, was damals eher zugetroffen haben mag als heute, wo dies durch die vielfältigen Aktivitäten der mopsfidelen und finanziell oft gut abgesicherten Alten (die sich nicht so leicht aufs Abstellgleis schieben lassen) eher widerlegt ist.
Aus der Sicht der Enkel ist die Oma eine Person, die Nerven wie Drahtseile hat und, verglichen mit den Eltern, über ein Vielfaches an Geduld und Nachgiebigkeit verfügt, wodurch sie vieles erlaubt, was bei Mama und Papa streng verboten ist. Kinder zu verziehen ist von jeher das unbestrittene Privileg der Großmütter (und Großväter).
So kommt es, dass Omas alle Augen zudrücken, wenn die Enkel Dreck am Stecken haben, oft auch dann noch, wenn es um gravierende Verstöße oder gar krumme Sachen geht. Großmütter entschuldigen diese Schandtaten und lassen auch mal Fünfe gerade sein, und wenn nicht, verzeihen sie zumindest großmütig. Aber was das Wichtigste ist: Sie helfen ihren Enkeln aus der Klemme, wenn sie etwas auf dem Kerbholz haben.
Nicht selten bilden Enkel und Oma eine geheimbundartige Verschwörung gegenüber den Eltern, wobei in diesem Fall gar mancherlei zwischen den Parteien vertraulich bleibt (durch ein Gelübde der Verschwiegenheit) mit dem doppelten Zweck, erstens: das dünne Nervenkostüm der überlasteten Eltern rücksichtsvoll zu schonen und zweitens: das arme Kind vor Tadel oder Strafe zu bewahren.
Immer, wenn es im Kinderleben brenzlig wird, ist die Großmutter die Helferin in der Not, auch deshalb, weil sie stets ein offenes Ohr für die Unmündigen (und nach Jahr und Tag auch für die Mündigen) hat, die bei der Oma gern ihr Herz ausschütten.
Beharrlich und gelassen stellt sich die Oma schützend vor die Enkel, sei es, dass sie etwas auf ihre Kappe nimmt oder kleinere Patzer unter den Teppich kehrt, sei es, dass sie für die Übeltäter in die Bresche springt. Nicht selten setzt sich die Großmutter dabei ganz heftig in die Brennnesseln, vor allem dann, wenn die Enkeleltern ihre Früchtchen an die Kandare nehmen wollen, um einmal andere Saiten bei ihnen aufzuziehen, da sie die Abkömmlinge und ihr Verhalten nicht unbedingt durch Omas rosarote Brille sehen.
Wie kaum ein anderer Mensch auf Gottes Erdkreis bemüht sich eine Oma unbeirrbar, die Kinder ihrer Kinder zu verstehen. Und wenn ihr einmal etwas allzu fremd dünkt (wenn diese jungen Hüpfer ganz anders als sie selbst zu ticken scheinen), begegnet sie dem Neuen meist mit Toleranz.
(So sagte meine Großmutter gewöhnlich, wenn sich die Tochter [meine Mutter] voll Empörung über Bärte, Pilzköpfe und Schlaghosen ihrer drei Söhne echauffierte:
»Ach, lass ocke, Reti, lass ocke, das machen die jungen Leute halt heute so!«)
So war es früher, und so ist es auch heute: Was immer auch geschieht, die Oma nimmt die Enkel unter ihre Fittiche, um jedes Ungemach der Welt von ihnen fernzuhalten!
Wegen dieser bewundernswerten, durch nichts zu erschütternden Solidarität werden die Omas aller Zeiten von den Enkeln aller Zeiten grenzenlos geliebt.
Bevor der erste Oma-Tag beginnen kann, muss ich Sie leider noch etwas auf die Folter spannen, liebe Leserin, lieber Leser, denn Sie sollten meine Enkel erst ein wenig kennenlernen. Dazu brauchen wir nun nicht unbedingt bei Adam und Eva anzufangen, aber wir kommen nicht umhin, dass ich für Sie ein wenig ausführlicher aus dem Nähkästchen plaudere:
Vincent ist der ältere der beiden Buben. Er wurde im Jahre 2005 nach kurzem Im-Trüben-Fischen als Nachkömmling der Patchwork-Familie meines ältesten Sohnes aus dem großen Teich geangelt. Er hat noch einen älteren Bruder und eine erwachsene Schwester, die beide längst ausgezogen sind, sodass er quasi als Einzelkind aufwächst.
Beide Eltern haben einen anstrengenden Fulltime-Job in einer 100 km entfernten Metropole, und Vincent – über alle Maßen lebhaft, unbeschwert und kommunikativ – ist schon seit seinem zweiten Lebensjahr begeistertes Krippen- bzw. Kernzeit-Kind. Gern tauscht er sich mit anderen Kindern gleich welchen Alters aus, am liebsten über Lego, Star Wars, Ninjago oder Harry Potter. Zu Hause beschäftigt er sich ebenfalls bevorzugt mit diesen Dingen.
Obwohl er sich (bei uninteressanten Beschäftigungen wie beispielsweise Hausaufgaben) nur schwer konzentrieren kann, baute er unter anderem das aufwändige Lego Harry Potter Zauberinternat Hogwarts, das für Kinder zwischen acht und vierzehn Jahren empfohlen wird, bereits als Sechsjähriger selbständig nach Bauanleitung zusammen, ohne je die Geduld zu verlieren. Sein größter Wunschtraum ist der Todesstern, die monumentale Star Wars Raumstation aus 3803 Einzelteilen, die schlappe 500 Euro kostet und mit ihrem stattlichen Durchmesser von 50 cm ein ernsthaftes Aufstellungs- und Aufbewahrungsproblem (nicht nur im Sozialen Wohnungsbau) darstellt.
Vincent ist verrückt nach Musik und Tanz und merkt sich schnell Lieder aller Art, besonders die von Musicals, die er mit seinen Eltern besucht hat. So hört man ihn im Hausflur fröhlich trällern: »Ich war noch niemals in New York« von Udo Jürgens oder: »Geboren, um zu leben« von der Gruppe Unheilig. Auf jeden Fall hat er jedes Mal die Lacher auf seiner Seite, wenn er auf entsprechende Nötigung hin sein ›Viva Colonia‹ zum Besten gibt, einen Song der Kölner Band De Höhner mit dem Refrain:
»Da simmer dabei! Dat is prima! Viva Colonia! Wir lieben das Leben, die Liebe und die Lust. Wir glauben an den lieben Gott und han auch immer Durst.«
Neben spannenden Kinderbüchern spielt vor allem modernes Equipment aller Art eine ausgeprägte und prägende Rolle im Leben von Enkel Vincent. Wenn man es zuließe, würde er pausenlos in die Röhre glotzen, spannende Abenteuer-CDs anhören oder sich auf dem iPad oder der kürzlich erworbenen Wii Konsole bei den neusten Geschicklichkeitsspielen verausgaben. Schon längst hätte der Bub viereckige Augen bekommen und wäre zum kindlichen Nerd geworden, würden nicht die Eltern strikt Einhalt bei den modernen Leidenschaften gebieten, indem sie den Medienkonsum zeitlich reglementieren. Dann bleibt dem Schlitzohr nur die Chance, der Mutter heimlich, still und leise das iPhone zu entwenden, das in der größten Not ein wenig Spielspaß auf seinem viel zu kleinen Bildschirm bietet.
Was Computer angeht, ist Enkel Vincent seinem Alter fraglos um einiges voraus (zumindest im Vergleich zu seinem Vater, dem PowerPoint und Excel im ganzen Leben ein ziemliches Rätsel geblieben sind), vor allem aber in punkto Selbstständigkeit. Diese zeigte sich schon im holden Alter von zwei Jahren, als er an seinem allerersten Kindergartentag in der völlig fremden Umgebung und mit zirka dreißig lärmenden Knirpsen und Knirpsinnen (im Sinne einer geschlechtergerechten Sprache) konfrontiert nach wenigen Minuten zu seiner Mutter sagte:
»Tschüss denn, Mama!«
Er hat auch nicht das geringste Problem damit, bei Freunden zu übernachten, da er, wie schon erwähnt, kontaktfreudig und unkompliziert ist.
Inzwischen drückt Vincent schon die Schulbank, was er als notwendiges Übel betrachtet. Einerseits braucht er das unattraktive Etablissement Schule, weil eben nur dort die gleichgesinnten Kumpels anzutreffen sind, andererseits entspricht das dargebotene Programm nicht unbedingt seinem individuellen Geschmack, das heißt, es interessiert ihn nicht besonders. Er lässt es spurlos über sich ergehen, indem er sich nicht groß ins Zeug legt, sondern einfach das tut, was zu tun ist, gar niemals nur ein Quäntchen mehr, um dann zum lustvolleren Teil des Tages überzugehen.
Besonders verhasst sind ihm sämtliche mit Pinsel, Bleistift, Wachsmalkreiden auszuführenden kreativen Ausdrucksformen wie Malen oder Zeichnen, eine erbliche Belastung von väterlicher Seite.
(Es ist ein offenes Geheimnis, dass sich Vincents Vater jede Art von künstlerischen Aufgaben bis hin zum Abitur von seiner Mutter, der jetzigen Oma-Tag-Veranstalterin, fertigen ließ, die das Zeug im Normalfall bei echten Künstlern abkupferte.)
Nun aber endlich zu Jannis, dem Cousin aus dem Nachbardorf: Er ist zwei Jahre jünger als Vincent und hat inzwischen zur Verstärkung die niedliche Babyschwester Sophia bekommen, die sich aufgrund von Zerbrechlichkeit leider noch nicht für Oma-Tage eignet. In gewisser Weise sind die zwei Kinder doppelt gestraft, denn beide Elternteile sind engagierte Lehrer und haben daher sowohl die Fachkenntnis als auch das entsprechende Sendungsbewusstsein, bei ihren Nachkommen die hehrsten Erziehungsziele zu verwirklichen.
Die Artigkeit des kleinen Jannis ist vordergründig in der Tat beachtlich und scheint einen Erfolg des pädagogisch geschulten Ehepaares zu signalisieren. Andererseits kann erfahrungsgemäß davon ausgegangen werden, dass es sich bei der Folgsamkeit des Musterknaben nur um einen kurzfristigen Ausrutscher handelt, denn der Volksmund weiß schon seit Langem zu berichten: ›Lehrers Kinder, Pfarrers Vieh gedeihen selten oder nie.‹
Jannis hat viel auf dem Kasten: Seit dem dritten Lebensjahr kann er fast flüssig lesen und ein wenig schreiben, was er sich selbst beigebracht hat, da ihn die Kulturtechniken brennend interessierten und er im Gegensatz zu seinem Cousin Vincent das zum Büffeln nötige Sitzfleisch mitbringt. Er hat einen (zu) früh ausgeprägten Hang zum Philosophischen, der durch den Besuch des Katholischen Kindergartens am Ort verstärkt wird.
So denkt Jannis schon nach über den Tod, über Gott und die Welt (im eigentlichen Sinne der Worte), wobei er seine Schwierigkeiten mit und seine (berechtigten) Zweifel an dem dort vermittelten Gottesbild hat, an dem sich augenscheinlich in den letzten hundert Jahren nicht viel verändert hat:
Gott(vater) geistert weiterhin als alter Mann mit langem, weißem Bart durch fromme Geschichten, Lieder und Gebete. Nachsichtig und kritisch schaut der gütige Greis rund um die Uhr von seinem wolkenweichen Hochsitz im Himmel auf das zweifelhafte Tun und Treiben seiner undankbaren Geschöpfe herab: eine wahrlich naive Gottesvorstellung, die, so möchte man meinen, schon seit den bahnbrechenden Erkenntnissen der geistesverwandten Herren Giordano Bruno, Nikolaus Kopernikus und Galileo Galilei überholt ist, die seinerzeit mit dem geozentrischen Weltbild gründlich aufgeräumt hatten (was ihnen diverse persönliche Nachteile einbrachte, vom Hausarrest bis hin zum Scheiterhaufen).
(Nichts für ungut: Das oben erwähnte skurrile Gottesbild sowie die einengende Sexualmoral, nach der mittellose Familien mit einer großen, schlecht versorgten Kinderschar durch die Losung ›Seid fruchtbar und mehret euch‹ mit weiteren hungrigen Mäulern bereichert werden, hatten Oma schon seit ihrer Jungmädchenzeit gehörig irritiert und bewegten sie später dazu, die Kirchenaustrittserklärung zu unterschreiben.)
Jetzt aber: Butter bei die Fische, liebe Autorin! Zurück zu Jannis und seiner Nachdenklichkeit!
Die Frage nach Gott beschäftigt das Kind über Gebühr, und so kommt es, dass es seinen hilflosen Eltern in diesem Zusammenhang nicht selten existenzielle Fragen stellt, die (bedauerlicherweise) noch kein Mensch auf Gottes Erdboden hat je beantworten können. So fragte Jannis, der die endlose Silvesterknallerei der quälerischen Lautstärke wegen überhaupt nicht leiden kann, einmal seinen Vater (der unbeschwert, ohne Konfession und gottlos [zumindest was die oben erwähnte Gottesvorstellung angeht] aufgewachsen ist):
»Gell, Papa, Gott hat an Silvester entsetzliches Ohrenweh«, … dann zweifelnd: »Hat Gott überhaupt Ohren …?«
Der bedauernswerte, sensible Junge muss sich mit Grausen bildlich vorgestellt haben, wie der arme alte Mann da oben im Himmel auf seinen weißen Wolken sitzt, während Kanonenschläge, Luftheuler, Kugelbomben pfeifend an seinen empfindlichen Ohren vorbeizischen, sodass er denken mag: ›Herr, lass Abend (oder besser noch: Morgen) werden!‹
Verträumt und nachdenklich ist Enkel Jannis weit mehr als Cousin Vincent den geistigen Genüssen zugetan. Er hat schon früh sprechen gelernt und redet daher auf einem hohen sprachlichen Niveau, was bisweilen etwas altklug klingen kann. Schimpfwörter oder Ausdrücke der Jugendsprache benutzt er nie, ganz anders als Vincent, der frei von der Leber weg babbelt, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.
Jannis ist ein höfliches Geschöpf, das durch geschickte pädagogische Lenkung früh gelernt hat, ›bitte‹ und ›danke‹ zu sagen. Das ist ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er einmal auf die Frage seiner Mutter: »Jannis, hilfst du mir beim Aufräumen?« voll daneben, aber doch äußerst geschickt mit »Nein danke!« geantwortet haben soll.
Wie ein Bücherwurm frisst sich Jannis gemächlich durch die Kinderliteratur, in Büchereien oder Buchausstellungen ist er der jüngste, gern gesehene Dauergast. Seine Präferenzen wechseln mit zunehmendem Alter. Die Lesebegeisterung begann im Kleinkindalter mit der Disneyausgabe des ›Dschungelbuchs‹, die durch die vielen bunten Bilder von Mogli, Balu und Baghira für Leseanfänger besonders ansprechend ist. Danach wandte sich Jannis dem Pumuckl zu, der schon zu Omas Zeit sein Unwesen trieb und nun zum Favoriten des Enkels wurde.
Jannis' Eltern sind von der Lesewut des Sprösslings ausgesprochen angetan, weil Leselust ein wesentlicher Programmpunkt des Erziehungskanons ist, denn: Belesenheit ist mit Sicherheit nie ein Fehler! Und außerdem, wie meinte doch der Alte Fritz schon seinerzeit im 18. Jahrhundert? »Bücher sind kein geringer Teil des Glücks!«
Aber Jannis gefällt auch das kontemplative Angeln, was seinen Vater weniger entzückt, weil ihm bei dieser Action die ekelhafte Aufgabe des Totschlagens der eben noch feuchtfröhlichen Wasserwesen zufällt. Sich dem Kind zu verweigern, ist ihm als fairem Vater aber nicht möglich, war er doch selbst einst heftig mit dem Angelvirus infiziert.
Auf den Punkt gebracht, kann man sagen: Vincent und Jannis sind trotz der engen Blutsbande extrem unterschiedliche Charaktere, wobei das Kurioseste dabei ist, dass die Kinder sämtliche Mendelschen Gesetze Lügen strafen, da der sanfte, zarte Jannis bis ins winzigste Detail den introvertierten Wesenszug von Vincents Vater geerbt hat, der sich nachweislich das Sprichwort ›Reden ist Silber, Schweigen ist Gold‹ zum Lebensmotto erkoren hat. In munterster Gesellschaft kann er sich stundenlang bedeckt halten, indem er stumm wie ein Fisch dabeisitzt, wobei er hin und wieder zum Lachen in den Keller geht. Selbst im privatesten Familienkreis vermeidet er die Wörtlichkeit: So unterhält er sich mit seiner Mutter im unteren Stockwerk einzig und allein per Email, anstatt etwa zu telefonieren oder besser noch: auf einen Plausch bei einer guten Tasse Kaffee vorbeizuschauen.
So wie sein Onkel zieht sich Jannis bisweilen in sein Schneckenhaus zurück und wendet alles Augenmerk mehr auf sein Innenleben, ist eher ein Beobachter mit wachem Blick denn ein Akteur, wodurch er etwas melancholisch wirken kann.
Sein Cousin Vincent ist ein Sonnyboy, der ständig unter Strom steht, der wie Schmidts Katze abgehn kann, wenn etwas nicht nach seinem Kopf geht. Er hat es faustdick hinter den Ohren, denn Regeln und Verbote ignoriert er für gewöhnlich, sodass bei seinen armen Eltern nicht selten Polen offen ist. Wenn diesen irgendwann der Kragen platzt und sie dem frechen Knirps eins auf den Deckel geben, heult Vincent theatralisch Rotz und Wasser (an dem er ziemlich nah gebaut ist), um es am nächsten Tag genauso bunt zu treiben.
Schuld sind die Gene: Das Kind kann nichts dafür! Es ist mit dem aufbrausenden, überschäumenden Temperament seines Onkels zur Welt gekommen, der von Kindesbeinen an bis in die späte Jugendzeit total erziehungsresistent war so wie nun der Sohn des Bruders. Die altbekannte Formel ›Wie der Vater, so der Sohn‹ (laut Volksmund eine unumstößliche biologische Wahrheit) hat bei den beiden Enkeljungen nicht im Entferntesten gegriffen.
Doch Blut ist dicker als Wasser: Obwohl vom Gemüt her grundverschieden und trotz des Altersunterschieds von gut zwei Jahren sind beide Buben nicht von schlechten Eltern. Sie mögen sich wie ziemlich beste Freunde, die miteinander, wenn denn von Nöten, durch Dick und Dünn gehen würden. Immer gut gelaunt und voll unbändiger Lebensfreude können sie jeden um den Finger wickeln, sodass man sie ins Herz schließen muss. Wen sollte das auch groß verwundern, sind sie doch beide (jeder auf seine ganz besondere Art) zwei richtig gnitze Typen.
Um den Oma-Tag nicht weiter auf die lange Bank zu schieben, sondern alles zügig unter Dach und Fach zu bringen, fand umgehend ein zeitraubender Familienrat zur Erörterung der diffizilen Frage statt, welches Ziel sich für die Oma-Tag-Premiere anbot.
So viele Menschen, so viele Meinungen! Da Vincent, der Ältere, mit Oma im selben Haus wohnt, musste bei ihm nicht mit Berührungsängsten gerechnet werden. Aber wie sah es mit Jannis aus? Zwei Jahre jünger als Vincent, kannte er seine Oma kaum, höchstens vom bereits erwähnten Weihnachtsessen oder Stippvisiten zwecks Ablieferung von Geschenken an Geburtstagen. Es war zu befürchten, dass er des ungewohnten Umgangs wegen fremdelte. Also, keine Experimente! War es sinnvoll, ein Ziel in der Nähe auszuwählen, um bei Bedarf auf der Stelle kehrtmachen zu können? Es sollte auf jeden Fall ein geschützter Bereich sein, wo keine Autos fuhren, sodass die Enkel nicht gefährdet wären. Auf diese Weise würde man den Ball flach halten können!
Nach langem Hin und Her war alles in trockenen Tüchern: Man einigte sich auf einen Zoobesuch. Dort, so priesen Omas Söhne und ihre Frauen, befinde sich, in das Tierspektakel integriert, ein toller Spielplatz mit Wasserquelle, der Kinderherzen höher schlagen lasse, wo sich die Buben stundenlang beschäftigen würden. Oma könne dabei eine ruhige Kugel schieben, sie solle sich mit ausreichend Lesestoff bewaffnen, man habe dort mit Kindern keine nennenswerte Arbeit.
›Schön und gut‹, dachte Oma, ›man kann natürlich den praktischen eReader mitnehmen‹, aber eigentlich sah sie schon den Sinn des Oma-Tags verfehlt, denn dieser war ja just ins Leben gerufen worden, damit die Großmutter endlich mit den verplanten Enkeln in engeren Kontakt treten konnte. Trotz dieses Vorbehalts willigte Oma ein, weil sie endlich Nägel mit Köpfen machen wollte und ihr auch ganz egal war, wohin und wie und was, Hauptsache mal einen Anfang gemacht! Und allzu stressig sollte es am ersten Oma-Tag nicht unbedingt sein. Nichts ist schlimmer als eine motzende, ungeduldige Oma, dann besser keine!
Endlich gab es grünes Licht! Omas Kinder machten noch ein Mordstamtam, indem sie ihre Mutter hundertfach ermahnten, dass sie absolut alle Augen auf die beiden Kleinkinder zu richten habe; es lauerten in der großen weiten Welt vielfältige Gefahren, die von einer älteren Person übersehen werden könnten, und insbesondere der sensible jüngere Enkel Jannis sei vorsichtshalber wie ein rohes Ei zu behandeln.
Oma sah das etwas lockerer, sie würde das Kind schon schaukeln, war sie doch quasi ein alter Hase und neben ihrer Funktion als Mutter dreier eigener Kinder als Lehrerin fast vierzig Jahre lang mit fremden Abkömmlingen aller Altersstufen betraut gewesen und dazu als Kinderflüsterer verschrien (weit über die Region hinaus).
»Och, Kids«, sagte ich deshalb zur Beschwichtigung beim Abschied: »Jetzt macht mal keinen Heckmeck! Das kriegen wir doch alles hin! Lasst euch deswegen keine grauen Haare wachsen! Macht's gut, ich steche in See zum ersten Oma-Tag. Nur keine Panik auf der Titanic, wird schon schief gehen!« … (und das tat es dann ja auch.)
»Halt die Ohren steif, Mutter!«, riefen sie mir noch hinterher, und ich war froh, als ich sie endlich loshatte und die Sache nun geritzt war.
Jetzt hieß es erst einmal, einen kühlen Kopf zu bewahren und die Logistik akribisch durchzuplanen: Ich stopfte die zwei neuen himmelblauen Oma-Tag-Rucksäcke (Prädikat sehr gut, Stiftung Warentest) und die darin befindlichen Tupperdosen (auslaufsicher, Farben unbedenklich, lebenslange Garantie) voll mit Schokoladeriegeln, Bananen, Brezeln, Lutschern, Gummibärchen und Getränken. Dazu: (sicher ist sicher!) Küchenrolle, Tempotaschentücher, Klopapier, Plastiktüten, Jodtinktur, Heftpflaster, Mullbinden, Dreieckstuch für jede Art eventueller unvorhersehbarer Pannen, Unpässlichkeiten oder Missgeschicke. Dann in einen Extrakorb: grell gefärbte Kunststoffförmchen, Schippchen, Eimerchen, Lasterchen, Baggerchen, einen (da Rechen-chen nicht geht) putzigen Rechen, Playmobilfiguren und noch ein paar andere Belanglosigkeiten, welche das Durchschnittskleinkind zum Sandeln benötigt. Mit Mühe und Not wurde der ganze Kram in den knallroten Mini Cooper gequetscht.
Der Countdown läuft! Zunächst galt es, Enkel Vincent aus dem Kindergarten abzuziehen. Es erwies sich als schwierig, ihn aus seiner Phantasiewelt herauszureißen, denn er war gerade dabei, dramatische Szenen aus den Star Wars Episoden nachzuspielen:
»Ich bin Anakin Skywalker, Oma! °Eines Tages werde ich der mächtigste Jedi aller Zeiten sein.°1 Ich bin unbesiegbar!«
Aber der neue Slogan ›Heute ist Oma-Tag, da machen wir etwas ganz Besonderes‹ ließ ihn dann doch zu Jacke und Mütze greifen.
»Musste noch mal aufs Klo?«, fragte ich vorsichtshalber, in der Gewissheit, dass das in der Kita ein einfaches Unterfangen wäre, während es im weitläufigen Zoo möglicherweise …
»Nee, ich muss net, ich will noch mein Spielzeug zu Hause holen.«
»Was für ein Spielzeug denn? Oma hat doch schon alles eingepackt!«
»Auch die Ritterburg?«, fragte Vincent und legte seine Kinderstirn in Sorgenfalten, während er mich mit seinen meterlangen, rabenschwarzen Wimpern gewinnend anklimperte.
»Nee, welche Ritterburg meinst du?«
»Na, die aus dem Sandkasten!«
Der Schreck fuhr mir in die Glieder, denn ich sah sie leibhaftig vor mir, diese mausgraue Plastikburg, über die ich oft gestolpert war, ein unförmiges Monster, welches (wenn aufgeräumt) den Sandkasten fast lückenlos bedeckte.
»Ähm, äh, die Ritterburg kann nicht mit!«, sagte ich verhalten, »Oma ist schon alt, die kann so etwas Riesiges nicht tragen.« – Da hatte ich aber auf Granit gebissen! Mein Enkel war nicht von seiner fixen Idee abzubringen, denn er sagte mit unerbittlichem Durchsetzungswillen:
»Dann hab’ ich null Bock! Ohne Ritterburg geh' ich nicht!«
Was willst du da machen als frischgebackene Oma-Tag-Veranstalterin? Ich stellte mir vor, wie sich meine beiden Söhne den Bauch vor Lachen halten würden, wenn ihre Mutter noch vor Beginn des eigentlichen Oma-Tags unverrichteter Dinge wieder zu Hause einlief. (Da würde Oma aber keine besonders gute Figur machen!) Warnend und drohend versuchte ich ein letztes Mal, die Sache abzuwürgen, indem ich mit fester Stimme sagte:
»Aber ich trag' sie auf keinen Fall!«
»Das ist doch Kiki, Oooma!«, versicherte Vincent, indem er große Töne spuckte. »Ich bin der Stärkste in der Kita, ich trag' sie selbst. Oma, verlass dich einfach mal auf Anakin!«
Um nicht in letzter Minute noch °ein blaues Wunder zu erleben°2, bog ich notgedrungen in unsere Straße ein. Vincent fegte wie der Blitz zum Sandkasten, um sich des Plastikungetüms zu bemächtigen und es zum Fahrzeug zu schleppen. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie da zum Auto läuft: die sperrige graue Ritterburg mit zwei kurzen Beinen darunter, ein großer Kinderkopf, dessen kleines Kinn auf den Burgzinnen ruht, und die zarten Händchen, die den Rest umklammern.
Mit Ach und Krach drückten wir das unförmige Spielzeug in den Kofferraum zu den schon verstauten Oma-Tag-Gerätschaften, dazu noch 26 silbrig glänzende Ritter, welche (die günstige Gelegenheit beim Schopf gepackt) gleichfalls aus dem Sandkasten abgezogen worden waren, denn was wäre eine Ritterburg ohne die alten Rittersleut’?
Die Abholung von Jannis verlief wider Erwarten unproblematisch. Obwohl mir von den besorgten Eltern eindrucksvoll ausgemalt worden war, dass der Oma-Tag am seidenen Faden hing, da ihr empfindsames Kind ein rechter Hasenfuß sei und so sicher wie das Amen in der Kirche keinesfalls in Omas Auto einsteigen werde und falls doch, es innerhalb von Minuten Heimweh bekomme und deshalb zu plärren anfange, passierte nichts dergleichen. Ganz im Gegenteil: Die fröhliche Gesellschaft steuerte bei Udo Lindenbergs ›Cello‹ (Vincents Lieblingslied, bei dem der Fünfjährige aus voller Brust die pikanten Zeilen des Refrains mitsingt:
»Du spieltest Cello in jedem Saal in unserer Gegend, ich saß immer in der ersten Reihe, und ich fand dich so erregend …« ) und lustigem Enkelgeplapper den Zoo in der nahegelegenen Großstadt an.
Ich hoffte inständig, einen Parkplatz unweit des Eingangs zu erwischen, aber das war eine reine Illusion; wie es schien, gab es noch mehr Oma-Tag-VeranstalterInnen an einem sonnigen Mittwoch wie diesem. Es blieb uns deshalb nicht viel anderes übrig, als etwas entfernt an einer viel befahrenen Hauptverkehrsstraße auf der gegenüberliegenden Seite des Zoos anzuhalten. Zwar war mir nicht ganz klar, wie ich ohne die helfenden Hände einer Begleitung mit zwei kleinen Kindern, zwei Rucksäcken, Handtasche, Korb und Ritterburg die andere Straßenseite erreichen sollte. Aber eines war klar wie Kloßbrühe: Oma würde die Ritterburg nicht tragen!
Dies zu tun hätte bedeutet, dass ich an künftigen Oma-Tagen ebenfalls als belad- und belastbarer Gepäckesel für allerhand neue Abartigkeiten würde dienen müssen, und wie heißt es doch so schön? °Wehret den Anfängen!°3, ein in der Kindererziehung (aber natürlich auch anderswo, beispielsweise in der bürgerlichen Ehe) von jeher bewährtes Postulat.
Nun aber: erst einmal forsch hineingelangt in den brechend vollen Kofferraum des kleinen Mini Cooper! Vincent bekommt Ritterburg und Oma-Tag-Rucksack, Jannis wird ebenso mit seinem neuen Ränzlein beladen, Oma selbst behält Korb, Tasche und den jüngeren Enkel fest an der Hand. Schon steuert die laufende Ritterburg mit ihrem Tross die vierspurige Straße an.
Logischerweise ist eine halbe Ewigkeit Rot, das heißt im Klartext: geduldig warten mit Kindern, Korb, Tasche, Rucksack und der Ritterburg natürlich!
Grün, los geht's! Ab durch die Mitte! Zwei, drei, vier, fünf Gickelschrittchen, alles geht erstaunlich gut, doch schon fegt ein Radfahrer heran. Man kennt sie von den autofreien Einkaufsstraßen der Innenstädte, diese Verkehrsteilnehmer, die gesperrte Straßen und rote Ampeln ignorieren und nicht einsehen wollen, dass ein Fußgängerüberweg (nomen est omen) nicht als Rennstrecke für Mountainbiker dienen sollte.
Als er uns überholt, spürt Vincent den unerwarteten Luftzug um die Stupsnase wehen, wendet neugierig den Kopf, sodass sich das haltende kesse Kinn unwillkürlich von der Monsterburg löst. Schon kommt das unförmige Spielzeug ins Wanken, und – plumps, batsch, ratsch – schlägt es mit scharrendem, dann knackendem, Unheil verheißendem Geräusch auf dem Straßenpflaster auf, das mit seinem changierenden, dunklen Mausgrau geschmacklich vorzüglich mit der etwas helleren Farbnuance der Ritterburg harmoniert.
Und schon haben wir den Salat! Da liegt sie nun im Dreck zwischen den hupenden Autos – denn inzwischen zeigt die Fußgängerampel wieder Rot – und was das Allerbeste ist: Statt einer einzigen Ritterburg haben wir nun ihrer zwei. An der einen Seite ist ein größerer Wachturm abgebrochen, denn das billig schäbige Plastikmaterial ist für einen Crash mit hartem Kopfsteinpflaster nicht ausgelegt.
»Jannis, kannst du mal die andere Ritterburg nehmen?«, fragt Vincent ungerührt den jüngeren Cousin, der hilfsbereit zugreift, denn es kommt ihm nicht ungelegen, bei dem älteren Cousin am ersten Oma-Tag ein paar Lorbeeren einheimsen zu können. Unter Pfeifen, Schimpfen und Stinkefinger-Drohung der wartenden Autofahrer erreichen wir unbeschadet den Bürgersteig vor dem Zoo! Eine dort harrende aufgedonnerte Dame (vermutlich kinderlos), die das ganze Drama mit angesehen hat, wettert noch los:
»Ihnen sollte man nicht zwei kleine Kinder anvertrauen, das ist unwürdig, wie Sie den kleinen Mann ein dermaßen unhandliches, schweres Spielzeug schleppen lassen! So etwas hätte es zu meiner Zeit gewiss nicht gegeben!«
Die dumme Giftspritze ignorierten wir (°die konnte uns doch glatt den Buckel runterrutschen°4), und Oma machte sich mit dem Gefolge schon leicht genervt auf die Suche nach dem gepriesenen Garten Eden, der dann zum Glück nicht schwer zu finden war. Wir erreichten ihn problemlos und erleichtert mit Sack und Pack. Vincent schien sich dort schon auszukennen, denn ehe ich mich versah, war die Ritterburg, die sich so wundersam vermehrt hatte wie einst Brot und Fische bei Jesus (wobei jener ohne jeden Hokuspokus die Dinge nicht nur verdoppeln, sondern sogar um ein Vielfaches vermehren konnte, sodass in den biblischen Zeiten tausende Bedürftige beispielsweise von drei Brotlaiben und zwei Fischen satt werden konnten) in den Dreck geworfen und Vincent selbst auf einem gefährlich anmutenden, haushohen Kletterturm verschwunden.
»Der Win-sent ist weg«, flötete Jannis mit seinem dünnen, hohen Stimmchen, und ich fragte mich ernsthaft, ob das an Zirkusakrobatik gemahnende Gestell womöglich zu den besagten Gefahren gehörte, vor denen die fürsorglichen Eltern im Vorfeld eindringlich gewarnt hatten.
»Der kommt schon wieder, keine Angst!«, sagte ich tröstend zu meinem besorgten Enkel.
Nach einiger Zeit war Vincent die schwingenden Strickleitern wieder heruntergeklettert, und sogleich spielten die beiden Cousins in Frieden und Eintracht an der nicht weit entfernten Pumpe, von der sie größere Wassermengen in Eimern zu der im Sand liegenden zweigeteilten Ritterburg trugen, die nach und nach auf natürliche Weise ihre mausgraue Farbe in ein dezentes, warmes, gefälliges Kackbraun verwandelte. Die Kinder waren ganz in ihrem Element!