Vergib uns unsere Unschuld - Josef Imbach - E-Book

Vergib uns unsere Unschuld E-Book

Josef Imbach

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Beschreibung

Wo ist die Grenze zwischen Verantwortung übernehmen und Selbstaufopferung? Sind Fürbitten und Gebete nur eine Möglichkeit, Verantwortung von uns zu weisen? Und macht Verantwortung und die damit verbundene Macht den Menschen böse? Diese und viele weitere Fragen zum Thema Verantwortung stellt sich Josef Imbach in diesem Buch. Dabei beschäftigt er sich nicht nur mit den moralischen und religiösen Hintergründen, sondern liefert auch praktische Hinweise, was wir selbst beitragen und wie wir aktiv werden können, anstatt Ausreden zu suchen und uns unsere eigene Unschuld einzureden. Denn jeder Einzelne kann etwas bewirken.

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Josef Imbach

Vergib uns unsere Unschuld

Josef Imbach

Vergib uns unsereUnschuld

Kleiner Traktat über Verantwortung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2023

© 2023 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: Vogelsang Design, Jens Vogelsang, Aachen

Innengestaltung: Crossmediabureau

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

ISBN

978-3-429-05819-7

978-3-429-05240-9 (PDF)

978-3-429-06591-1 (ePub)

Inhalt

Statt eines Vorworts ein paar Momentaufnahmen

Grenzfälle oder Ein Kapitel mit lauter Fragen

Versprochen ist versprochen?

Der Anwalt und der Mörder

Der Arzt und der Folterknecht

Wenn der Retter zum Richter wird

Der Traum von der Freiheit

Freiheit von … oder Freiheit zu …?

Verantwortung und Glaube

Apokalypse statt Jüngstes Gericht oder Die Angst als treibende Kraft

Die Last der Freiheit

Die Starken und die Schwachen

Fundamentalismus und Fanatismus als Rückhalt

Exkurs: Gewissensfreiheit – eine Gefahr?

Flucht vor Verantwortung

Auch Nichttun zeitigt Folgen

Vertuschen, verharmlosen, verdrängen …

Verantwortung abgeben

Verantwortung und Vertrauen

Das Subsidiaritätsprinzip

Die Kirche hat ein Subsidiaritätsproblem

Zoff mit dem Bischof

Religion als Alibi?

Weltflucht?

Bleibt der Erde treu!

Die Sache mit dem Bittgebet

Religion und Politik

Was das Gleichnis vom Samariter auch noch impliziert

Über das Verhältnis von Nächstenliebe und Gottesliebe

Je größer die Macht, desto schwerwiegender die Verantwortung

Keine Macht für niemand?

Zwischenspiel im Himmel

Der Koch, die Schriftstellerin und der Scharlatan

Kleine Methodenlehre

Macht und Moral

Was tun?

Keine Angst vor dem schlechten Gewissen!

Damit die Moral nicht im Müll landet

Was Einzelne bewirken können

Stichwort Klimajugend oder Sand im Getriebe

Dank

Anmerkungen

Statt eines Vorworts ein paar Momentaufnahmen

Solange es Menschen gibt, gibt es auch Verantwortung, und damit die Stimme, die zur Verantwortung ruft: »Adam, wo bist du?« – und zu Kain: »Wo ist dein Bruder?«

Fritz Buri,Verantwortung übernehmen,Bern 1987, 58.

Aus meiner Erinnerung taucht ein kleiner etwa dreijähriger Junge auf, der klettert mit einem Fuchsschwanz in der Hand vom Stuhl auf den Frühstückstisch. Er hat sich in den Kopf gesetzt, den Tisch entzweizusägen. An der Kante setzt er an, erst geht es ganz leicht, doch wie die Tischplatte dicker wird, gibt er auf. Versucht es an anderer Stelle von Neuem. Das wiederholt sich gleich mehrere Male. Bis sein vier Jahre älterer Bruder in die Küche kommt und sich die Haare rauft. Er versetzt mir einen kräftigen Stoß, sodass ich vom Tisch auf den Boden stürze. Schreit mich an. Aus gutem Grund. Meine Mutter hatte ihn beauftragt, während ihrer Abwesenheit auf mich achtzugeben. Offensichtlich war ihm bewusst, dass er verantwortlich war für den von mir angerichteten Schaden.

Am 24. Juni 2021 veröffentlichte Die Zeit eine Nachricht von Seltenheitswert. Eine junge Frau will ein ihr zustehendes Millionenerbe dem Staat überlassen und damit »der Gesellschaft zurückgeben«. Einfach so. Sie möchte keine Stiftung mit ihrem Namen gründen und dann praktisch allein bestimmen, was mit dem Geld passiert. Das Geld gehöre ihr nicht, sagt sie. Sie habe es nicht verdient. Niemand, sagt sie, entziehe sich der Verantwortung so sehr wie Superreiche. »Wir sollten uns nicht darauf verlassen, dass reiche Menschen wohlwollend genug sind, die Ressourcen fair zu verteilen.«

»Gott, der Herr, nahm den Menschen und gab ihm seinen Wohnsitz im Garten von Eden, damit er ihn bearbeite und hüte.« So steht’s im ersten Buch der Bibel (Gen 2,15). Die Aussage beinhaltet einen Auftrag. Das abschließende »Hüten« deutet darauf hin, dass das »Bearbeiten« nicht im Sinn von ausbeuten, sondern von pflegen zu verstehen ist. Wohl stoßen wir in der Bibel immer wieder auf Mahnungen, Aufforderungen oder Geschichten, welche uns an unsere Verantwortung erinnern. Sie vermitteln jedoch (wie wir im Verlauf dieser Abhandlung öfter sehen werden) keine konkreten Anleitungen zum Verhalten angesichts komplexer Sachfragen. Hingegen fehlt es nicht an Wegweisungen, Impulsen und Visionen, die uns ermutigen, uns einzusetzen für eine gerechtere Gesellschaftsordnung und für eine bessere Welt.

Der Roman Deutschstunde von Siegfried Lenz spielt zur Zeit des Nationalsozialismus. Hauptfigur ist Siggi Jepsen, Sohn eines Polizeihauptwachtmeisters. Der soll einen Aufsatz schreiben über »Die Freuden der Pflicht«, ein Thema, das er autobiografisch abhandelt. Dabei kommt er darauf zu sprechen, dass seine ganze Jugend im Zeichen der ›Pflicht‹ stand: »Mein Vater. Der ewige Ausführer. Der tadellose Vollstrecker.« Schützenhilfe erhält Siggi von anderer Seite: »Wenn du glaubst, dass man seine Pflicht tun muss, dann sage ich dir das Gegenteil: Man muss etwas tun, das gegen die Pflicht verstößt. Pflicht, das ist für mich nur blinde Anmaßung. […] Es hat manch einen gegeben, den hat es bewahrt, weil er zur rechten Zeit nicht seine Pflicht getan hat. – Dann hat er nie seine Pflicht getan, sagte mein Vater trocken.« – Wenn die Pflicht ruft, schleicht sich die Verantwortung davon.

Anne Beaumanoir (1923–2022) war eine französische Kämpferin der Résistance, Retterin von Juden und Medizinerin. In ihrem Buch Annette, ein Heldinnenepos sagt die Schriftstellerin Anne Weber über sie: »Was sie tat, ist richtig, vielleicht hat sie nicht das Recht, aber sie hat die Gerechtigkeit auf ihrer Seite.«

Verantwortungsbewusst, verantwortungslos – Begriffe, mit denen wir häufig konfrontiert werden. Gibt es auch etwas dazwischen? In der Nummer 3/2022 der Zeitschrift Sendbote des heiligen Antonius stoße ich im Editorial auf einen Ausdruck, den ich bisher noch nie gehört habe: verantwortungsarm.

Postskriptum

Der von mir angesägte Tisch verblieb noch während Jahren in der Küche. Nur dass ihn seither, ungewöhnlich für unsere damaligen Verhältnisse, eine Decke zierte.

Grenzfälle oder Ein Kapitel mit lauter Fragen

Von einem verantwortungsbewussten Menschen erwartet man, dass er ehrlich ist. Und dass er keinesfalls lügt. Lügen – was versteht man unter diesem Begriff?

Der Schweizer Dichter Gottfried Keller, ein Pädagoge von Großformat, obwohl (oder weil?) Junggeselle, vermag uns auf die Sprünge zu helfen. In seiner Novelle Frau Regel Amrain und ihr Jüngster geht es unter anderem um die Erziehung zur Wahrhaftigkeit.

Wie schwer merken die wackeren Erziehungsleute ein früh verlogenes und verblümtes inneres Wesen an einem Kinde, während sie mit höllischem Zeter über ein anderes herfahren, das aus Übermut oder Verlegenheit ganz naiv eine vereinzelte derbe Lüge gesagt hat. Denn hier haben sie eine greifliche bequeme Handhabe, um ihr donnerndes Du sollst nicht lügen! dem kleinen erstaunten Erfindungsgenie in die Ohren zu schreien. Wenn Fritzchen eine solche derbe Lüge vorbrachte, so sagte Frau Regel einfach, indem sie ihn groß ansah: »Was soll denn das heißen, du Affe? Warum lügst du solche Dummheiten? Glaubst du, die großen Leute zum Narren halten zu können? Sei du froh, wenn dich niemand anlügt, und lass dergleichen Späße!« Wenn er eine Notlüge vorbrachte, um eine begangene Sünde zu vertuschen, zeigte sie ihm mit ernsten, aber liebevollen Worten, dass die Sache deswegen nicht ungeschehen sei, und wusste ihm klarzumachen, dass er sich besser befinde, wenn er offen und ehrlich einen begangenen Fehler eingestehe; aber sie baute keinen neuen Strafprozess auf die Lüge, sondern behandelte die Sache, ganz abgesehen davon, ob er gelogen oder nicht gelogen habe, sodass er das Zwecklose und Kleinliche des Herauslügens bald fühlte und hiefür zu stolz wurde. Wenn er dagegen nur die leiseste Neigung verriet, sich irgend Eigenschaften beizulegen, die er nicht besaß, oder etwas zu übertreiben, was ihm gut zu stehen schien, oder sich mit etwas zu zieren, wozu er das Zeug nicht hatte, so tadelte sie ihn mit schneidenden harten Worten und versetzte ihm selbst einige Knüffe, wenn ihr die Sache zu arg und widerlich war. Ebenso, wenn sie bemerkte, dass er andere Kinder beim Spielen belog, um sich kleine Vorteile zu erwerben, strafte sie ihn härter, als wenn er ein erkleckliches Vergehen ableugnete.1

Solche Sätze verdienten es, vertieft zu werden. Nicht eine einzelne Unwahrheit eines »Erfindungsgenies« ist moralisch verwerflich, sondern das »verlogene Wesen«.

Lügt ein Kind, welches aus purer Lust am Fantasieren oder einfach nur aus Prahlerei irgendwelche Dinge erfindet? Täuscht ein Kumpel am Wirtshaustisch seine Kumpane, wenn er sie mit Geschichten eindeckt, die er angeblich selbst erlebt hat und die in Wirklichkeit allesamt erstunken und erlogen sind? Immer wieder gibt es Menschen, die Gewissensbisse empfinden, weil sie erfundene Dinge erzählt haben, um andere zu beeindrucken oder um sie das Staunen oder das Fürchten oder das Lachen zu lehren.

Was die angeblich wahren Geschichten betrifft, die oft herumerzählt werden von Leuten, die genau wissen, dass nichts dran ist, lohnt es sich nicht einmal, darüber zu reden. Mit dem »verlogenen Wesen«, von dem Gottfried Keller spricht, haben die nichts gemein. Da geht es schlicht um Unterhaltung. Und die ist nun einmal nicht wahr oder unwahr, sondern gut oder schlecht, spannend oder langweilig, erheiternd oder öde.

Dazu eine Klarstellung in eigener Sache: Auch ich erzähle gelegentlich Geschichten, für deren Wahrheitsgehalt ich schon deshalb garantieren kann, weil ich sie selbst erfunden habe.

Wer Seemannsgarn spinnt oder Jägerlatein redet, bekundet zweifellos einen etwas lockeren Umgang mit Tatbeständen – meist zur Erheiterung oder zum Zeitvertreib der anderen. Heißt es aber in der Bibel nicht ausdrücklich »Du sollst nicht lügen«? Nein, so steht’s dort nicht. Dort steht vielmehr – und jetzt wird es todernst: »Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen« (Ex 20,16; vgl. Deut 5,20). Verurteilt werden Verleumdung, falsches Zeugnis, Rufmord, Ehrverletzung … Es geht also immer um einen Schaden, den Menschen durch ihre Aussagen anrichten, oder um einen Vorteil, den sie sich zum Nachteil anderer verschaffen. Mit einem Wort: Es geht nicht um Wahrheit oder Unwahrheit als solche, sondern um Wahrhaftigkeit oder Unwahrhaftigkeit, um Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit, um Menschlichkeit oder Unmenschlichkeit.

Und immer und in jedem Fall um Verantwortung.

Eine Aussage, die den Tatsachen nicht entspricht, kann aus Verantwortung geradezu geboten sein. Beispiele? Da stürmen Bewaffnete ein Haus, in dem sie einen Menschen vermuten, den sie umbringen wollen – wer würde da nicht behaupten, dass sich hier keiner versteckt!? Ein Patient, der mit einem Herzinfarkt auf der Intensivstation liegt, erkundigt sich bei seiner Frau, ob sie den Konkurs seines Betriebs habe abwenden können. Soll sie ihm jetzt die Wahrheit sagen, nämlich dass da nichts mehr zu machen war? Und damit riskieren, dass der Mann vor lauter Aufregung das Zeitliche segnet? Muss die Frau in diesem Fall nicht schon aus reiner Barmherzigkeit ›lügen‹? Die Beispiele zeigen, dass es Situationen gibt, in denen es nicht nur ein Recht auf ›Lüge‹, sondern sogar eine Pflicht zu ›lügen‹ gibt. Wobei der Begriff ›Lüge‹ in einem solchen Fall dem Sachverhalt in keiner Weise gerecht wird. Eben weil es nicht um Wahrheit oder Unwahrheit geht, sondern um Verantwortung.

Versprochen ist versprochen?

Wenn es darum geht, Leben zu retten, mag die Entscheidung, aus Verantwortung die Unwahrheit zu sagen, leicht fallen.

Schwieriger ist wohl der Entschluss, ein gegebenes Versprechen rückgängig zu machen. Warum denn sollte die Maxime versprochen ist versprochen plötzlich keine Geltung mehr haben? Oder gibt es vielleicht Gründe, die einen geradezu nötigen, wortbrüchig zu werden?

Im alttestamentlichen Buch der Richter findet sich eine Episode, die einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Im ostjordanischen Gilead herrscht Krieg zwischen dem Volk Israel und den Ammonitern. In dieser prekären Situation lässt sich der Heerführer Jiftach zu einem Versprechen verleiten.

Wenn du [Gott] die Ammoniter wirklich in meine Hand gibst und wenn ich wohlbehalten von den Ammonitern zurückkehre, dann soll, was immer mir aus der Tür meines Hauses entgegenkommt, dem Herrn gehören und ich will es als Brandopfer darbringen. Darauf zog Jiftach gegen die Ammoniter in den Kampf und der Herr gab sie in seine Hand. […]

Als Jiftach nach Mizpa zu seinem Haus kam, siehe, da kam ihm seine Tochter entgegen mit Handtrommeln und Reigentänzen. Sie war sein einziges Kind. Und es geschah, sobald er sie sah, zerriss er seine Kleider und sagte: Weh, meine Tochter! […] Habe ich doch dem Herrn gegenüber meinen Mund zu weit aufgetan und kann nun nicht mehr zurück. Sie erwiderte ihm: […] Tu mit mir, wie es aus deinem Mund hervorgegangen ist (Ri 11,30–36).

Und der Vater? »Tat ihr, wie er gelobt hatte« (Ri 11,39). Versprochen ist versprochen.

Versprechen muss man halten, daran besteht kein Zweifel. Aber verlangt Gott das auch, wenn das Leben des eigenen Kindes auf dem Spiel steht? Jiftach konnte ja nicht damit rechnen, dass ihm bei seiner Heimkehr aus der Tür seines Hauses anstelle eines Hundes oder einer Katze seine Tochter entgegenkommen würde.

Da stellt sich schon die Frage, ob ein Versprechen, das in Unkenntnis der Folgen gemacht wurde, verbindlich ist. Oder ob die Verantwortung gebietet, wortbrüchig zu werden.

Dieses Problem stellt sich auch in unserem Alltag – beispielsweise wenn zwei Menschen geloben, einander zu lieben und zu achten, in guten und in schlechten Zeiten, bis dass der Tod sie scheidet.

Realistischerweise wird man zugestehen müssen, dass eine Ehe aus vielen und sehr unterschiedlichen Gründen derart zerrüttet sein kann, dass eine Weiterführung der Beziehung unzumutbar ist. Ehen scheitern bekanntlich nicht nur an der Untreue des Partners oder der Partnerin, sondern auch am Auseinanderleben – oft trotz allen guten Willens. Tatsächlich kann es Situationen geben, in denen eine Trennung oder eine Ehescheidung die bessere Lösung ist als ein Zusammenleben, das für beide Teile mit übermenschlichen Belastungen verbunden ist.

Im Übrigen gilt noch immer der alte römische Rechtsgrundsatz, der in der Moraltheologie zwar bekannt ist, in der Praxis aber kaum berücksichtigt wird: »Ad impossibilia nemo tenetur – Unmögliches kann man von niemandem verlangen.« Fans und Freundinnen der lateinischen Sprache zuliebe sei hier noch ein weiteres einleuchtendes Prinzip zitiert, das in der Antike Geltung hatte (aber schon damals nicht immer angewandt wurde): »Ultra posse nemo obligatur – niemand ist zu etwas verpflichtet, das die eigenen Möglichkeiten übersteigt.«

Ein Versprechen wird immer unter ganz bestimmten Voraussetzungen abgegeben. Oft können Umstände eintreten, die gar nicht bedacht oder schlicht unvorhersehbar waren. Ist, wer ein Versprechen nicht einhält, weil die damit verbundenen Anforderungen die eigenen Möglichkeiten übersteigen, wortbrüchig? Sind Fälle denkbar, in denen man ›wortbrüchig‹ werden muss – aus Verantwortung?

Der Anwalt und der Mörder

Ein Anwalt übernimmt die Verteidigung eines Mannes, der des Mordes beschuldigt wird. Der Tatbestand erscheint ihm offensichtlich; zu erdrückend sind die Beweise. Aber der Täter leugnet. Wie soll sich sein Rechtsbeistand verhalten, wenn er sich sicher ist, dass sein Klient schuldig ist? Wohlgemerkt, es geht hier nicht um mildernde Umstände (Tötung im Affekt usw.). Wenn der Rechtsanwalt einen Menschen verteidigt, muss er sich voll und ganz hinter ihn stellen. Oder er lässt es bleiben.

Ist es ethisch vertretbar, die Verteidigung eines mutmaßlichen Mörders zu übernehmen, von dessen Schuld man überzeugt ist?

In ihrem Roman Bis er gesteht (der sich auf einen realen und besonders tragischen Fall bezieht!) beschreibt die Krimiautorin und Gerichtsreporterin Christine Brand, wie ein Anwalt sich zu dieser Frage äußert.

Ich beurteile den Fall einzig aufgrund der Aktenlage. Komme ich zum Schluss, dass die Beweislage nicht ausreicht, um meinen Mandanten der Tat zu überführen, dann will ich gar nicht wissen, ob er sie begangen hat oder nicht. […] Entscheidet er sich, auf unschuldig zu plädieren, dann unterstütze ich ihn dabei. Falls die Beweislage schwierig oder aussichtslos für ihn ist, weise ich ihn natürlich auch auf andere Strategien hin, zum Beispiel auf ein Geständnis. Ich erkläre ihm, was aus meiner Sicht die beste Taktik wäre. Aber letztlich bleibt es immer seine Entscheidung.

Sie fragen sich nun sicher, ob ich es mit meinem Gewissen vereinbaren kann, einen Mörder zu verteidigen, wenn ich nicht von dessen Unschuld überzeugt bin, oder mehr noch: wenn ich vielleicht sogar von dessen Schuld überzeugt bin. […] Meine Meinung spielt keine Rolle. Wenn eine Tat nicht bewiesen werden kann, steht die Wahrheit nicht fest.

Einen wegen Mordes angeklagten Menschen zu verteidigen, bedeutet nicht, die Tat gutzuheißen oder sich mit dem Täter zu identifizieren. Es bedeutet einzig, die Rechtsstaatlichkeit zu wahren und zu verteidigen. […] Es ist meiner Meinung nach nicht eine Frage der Moral, ob man einen des Mordes beschuldigten Menschen verteidigt – es ist eine Frage des Glaubens an den Rechtsstaat und die Annahme, dass jeder Mensch als unschuldig gilt, bis das Gegenteil bewiesen ist.2

Alles klar? Oder vielleicht doch nicht? Reichen die juristisch gegebene Unschuldsvermutung und die Berufung auf die Rechtsstaatlichkeit aus, um ein Mandat guten Gewissens anzunehmen?

Ein ähnliches Dilemma stellt sich, wenn eine Strafverteidigerin einen Betrüger vor Gericht vertreten soll. Wie bezahlen Wirtschaftskriminelle ihre Anwälte? Müssen sich die Geschädigten nicht fragen, ob ihr Geld jetzt womöglich auf deren Konto fließe?

Laut der Schweizer Zeitschrift Beobachter wurden im Oktober 2021 in Genf zwei Immobilienmakler zu Gefängnisstrafen von je vier Jahren verurteilt.3 Gemäß dem Strafgericht belief sich die durch ihre Betrügereien entstandene Schadensumme auf 20 Millionen Franken. Mit dem Geld finanzierten sich die beiden ein Luxusleben – und womöglich ihre eigene Strafverteidigung.

Gerade bei Wirtschaftsdelikten stehen Anwältinnen und Rechtsbeistände vor einem fast unlösbaren Konflikt, wenn sie eine Verteidigung übernehmen. Einerseits gibt es ein Verteidigungsrecht für Angeklagte. Nimmt der Anwalt von seiner Klientel illegal erworbenes Geld für seinen Einsatz an, setzt er sich der Anklage wegen Geldwäscherei aus. Was soll er davon halten, wenn Beschuldigte ihm versichern, die Kosten würden von der Ehefrau oder von Verwandten beglichen? Natürlich können Anwältinnen und Verteidiger die Staatsanwaltschaft um die Freigabe bereits beschlagnahmter Gelder ersuchen oder sich als amtliche Verteidiger einsetzen lassen. In diesem Fall übernimmt nach Schweizer Recht der Staat das Honorar. Allerdings liegt der Stundenansatz dann in der Regel um einiges tiefer – renommierte Kanzleien verlangen oft das Zwei- bis Dreifache. Dazu die Juristin Jessica Walter: »Als Anwältin signalisiere ich damit der Staatsanwaltschaft Zweifel an der Rechtschaffenheit meines Mandanten. Das ist standesrechtlich sehr problematisch, denn damit würde ich einen sogenannten Klientenverrat begehen.«4

Wie man es auch dreht und wendet – Verantwortung ist nicht nur ein großes Wort, sondern häufig auch mit großen Belastungen oder Beeinträchtigungen verbunden.

Der Arzt und der Folterknecht

In einem ungleich tragischeren Zwiespalt befindet sich der portugiesische Arzt Amadeu de Prado, eine der Figuren in Pascal Merciers Roman Nachtzug nach Lissabon. Er selbst ist während der Diktatur Salazars durch die Hölle der Folter gegangen. Eines Tages wird der Geheimdienstoffizier Mendes, einer der gefürchtetsten »Schlächter von Portugal«, nach einem Herzanfall in Prados Praxis gebracht. Dieser erkennt sogleich, dass schon der geringste Aufschub tödlich sein würde. Wie leicht wäre es, den Mann einfach sterben zu lassen! Ein paar Sekunden der Untätigkeit würden genügen. »Einfach nichts tun! Nichts!«5 Doch ohne zu zögern setzt der Arzt die rettende Spritze. Und wird anschließend sogar von Patienten, für die er sich in der Vergangenheit aufgeopfert hat, als Verräter bezeichnet, weil er einem Schergen, der nun sein blutiges Regime weiterhin ausüben wird, das Leben gerettet hat. Seine einzige Rechtfertigung: »Er ist ein menschliches Wesen, eine Person.«6

Das erinnert an den Arzt in Natascha Wodins Roman Die gläserne Stadt, der es »als Mensch und als Arzt« für seine Pflicht hält, »jedem zu helfen, jeden zu behandeln, wer immer es sei, ob ein Heiliger oder ein Massenmörder, auch Stalin, auch Hitler, jeden. Es sei nicht seine Sache, über das Böse zu richten, es sei seine Sache, die Menschen von Schmerzen und Krankheiten zu befreien.«7

Wenn aber durch eine unterlassene Hilfeleistung größeres Leid – Verfolgung, Folter, Tod – vermieden werden kann? Ist der hippokratische Eid in einem solchen Fall verpflichtend? Könnte der Verweis darauf nicht auch der Rechtfertigung dienen, sich der Verantwortung zu entziehen?

Dass und weshalb die Entscheidung nicht einfach auf eine Alternative hinausläuft, sondern sich weit komplexer darstellt, zeigt Mercier, dessen Arzt in der Folge von mancherlei Selbstzweifeln geplagt wird, die er in seinen Eintragungen schriftlich festhält.

Habe ich es für ihn getan? […] Ich möchte nicht denken müssen, dass mein Tun hinter meinem Rücken von ganz anderen Motiven gelenkt wird als denjenigen, die ich zu kennen meine. Aber bei ihm? […] Habe ich es in Wirklichkeit für mich selbst getan? Um vor mir als guter Arzt und tapferer Mensch dazustehen, der die Kraft hat, seinen Hass niederzuringen?

Ich bin Arzt – das ist es, was ich der empörten Menge entgegenhielt. Ich hätte auch sagen können: Ich habe den hippokratischen Eid abgelegt, und ich werde ihn nie brechen. Wie hätte ich mich [gegen jene, die mich nun als Verräter bezeichnen] verteidigen können? Ein jeder verdient es, dass man ihm hilft, am Leben zu bleiben, ganz gleich, was er getan hat. Wir haben nicht zu richten über Leben und Tod.

Was aber, wenn daraus Folter und Tod für andere erwachsen? Schießen wir nicht auf jemanden, den wir auf jemanden schießen sehen? Der Arzt allerdings hätte gar nicht zur Waffe greifen müssen, um den Büttel sterben zu lassen. Er hätte lediglich nichts zu tun brauchen zu dessen Rettung.

Solche Überlegungen können seine Bedenken nicht ausräumen.

Wie würde es mir jetzt gehen, wenn ich ihn hätte sterben lassen? Wenn mich die anderen, die mich anspucken, gefeiert hätten für meine tödliche Unterlassung?

Auf seinen Einwand, dass er einfach nicht anders konnte, wendet eine Bekannte ein:

»Das ist ganz unerheblich. Stell dir einfach vor, der Mann wird gesund. Er zieht seine Uniform an und gibt seine mörderischen Befehle. Stell es dir vor. Stell es dir ganz genau vor. Und nun urteile selbst.«

Die Antwort:

Was könnte ich ihr entgegnen? Was? WAS?8

Ja – was könnte er ihr entgegnen?

Immer wieder sind Menschen mit Situationen konfrontiert, die sie schlichtweg überfordern. Egal wie sie sich entscheiden – ein ungutes Gefühl bleibt zurück.

Wenn der Retter zum Richter wird

Noch akzentuierter stellt sich das Problem, wenn es direkt um Leben und Tod geht, genauer: um Triage.

Stellen Sie sich vor, Sie stehen im Flur eines Krankenhauses und zwei Patienten werden in Betten hineingefahren, eine 92-jährige Frau und ein 21-jähriger Mann, der auch mit medizinischer Hilfe nur eine Chance von 25 Prozent hat, zu überleben. Beide Patienten müssen beatmet werden, sonst sterben sie sicher. Sie haben im Krankenhaus aber nur ein Beatmungsgerät. Was tun Sie? Sie haben grundsätzlich drei Möglichkeiten. Erstens, Sie losen, weil beide die gleichen Chancen bekommen sollen. Zweitens, Sie retten die ältere Dame, die die besseren Erfolgsaussichten hat. Oder, drittens, Sie versuchen den jungen Mann zu retten, weil er die längere Lebenserwartung nach der Heilung hat.9

Die vierte Möglichkeit, nämlich keinen der beiden zu retten, wäre derart absurd, dass wir sie gar nicht erst in Erwägung ziehen.

Was also tun? Welche Entscheidung ist am ehesten zu verantworten? Ist das Kriterium die Länge der rettbaren Restlebenszeit? Dem widerspricht ein Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts, dem zufolge menschliches Leben »ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des Einzelnen gleichen verfassungsrechtlichen Schutz« genießt.10 Es darf also keinesfalls nach Alter, Geschlecht, Religion oder irgendeinem anderen Kriterium (z. B. der Dauer der zu erwartenden Restlebenszeit) entschieden werden. Entscheidend ist demnach einzig die bessere Erfolgsaussicht.

Im Detail wird es noch schwieriger. Was, wenn sich nach ein, zwei Tagen herausstellt, dass die Überlebenschancen der alten Dame schwinden? Lassen wir sie sterben, um mit dem Gerät das Leben eines anderen Menschen zu retten? Die psychische Belastung des Mediziners oder der Ärztin wird damit bis zum Äußersten gesteigert. Daran können Menschen zerbrechen. Überdies: Was passiert, wenn zwei Erkrankte genau die gleichen Überlebenschancen haben? Und soll im Extremfall zuerst das Pflegepersonal gerettet werden – jene Menschen also, ohne deren Hilfe andere sterben?

Leben gegen Leben – das Problem stellt sich mitunter auch im privaten Bereich. Manche werden sich an die italienische Kinderärztin und Abtreibungsgegnerin Gianna Beretta Molla (1922–1962) erinnern, die 2004 heiliggesprochen wurde. Als sie mit ihrem vierten Kind schwanger ging, stellte sich heraus, dass sich ein gutartiger Tumor im Gebärmuttereingang gebildet hatte. Der Arzt riet ihr zunächst, einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen, was Gianna Molla jedoch ablehnte. Auch die Entfernung der Gebärmutter kam für die Mutter nicht infrage, da dies den Tod des Kindes bedeutet hätte. Daher wurde das Fibrom während der Schwangerschaft mittels einer komplizierten Operation entfernt. Als das Kind schließlich durch einen Kaiserschnitt zur Welt kam, traten bei Molla Komplikationen auf, an denen sie starb.