Vergiss mal nicht! - Andy Neumann - E-Book

Vergiss mal nicht! E-Book

Andy Neumann

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Beschreibung

Ein Jahr nach der verheerenden Flutkatastrophe an der Ahr zieht Andy Neumann Bilanz. Persönlich, aber auch gesellschaftlich. Politische Verantwortung, Katastrophen- und Klimaschutz, Auswirkungen ungesteuerter Helferstrukturen: Die Themen sind gewichtig, Neumanns Bilanz streitbar. Wenig bis nichts hat sich verändert, meint der Autor. Und er fragt sich, was noch passieren muss, damit wir endlich handeln, anstatt zu vergessen.

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Andy Neumann

Vergiss mal nicht!

 

Zum Buch

Ernüchternde Bilanz an der Ahr Ein Jahr ist vergangen seit der schrecklichen Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021. Ein Jahr voller Höhen und Tiefen – für die Menschen im Ahrtal und für die Familie von Andy Neumann. Neben seiner persönlichen Situation sind es die »großen Themen«, die ihn nach der Flut oft bewegt und mit denen er sich sehr intensiv auseinandergesetzt hat:

- Warum gibt es bei echten Katastrophen keinen tragfähigen Katastrophenschutz?

- Welche Lehren ziehen wir, wenn es um den Umgang mit der Natur geht?

- Wann haben wir aufgehört, politische Verantwortung ernst zu nehmen?

- Und wieso können Helferstrukturen auch problematisch werden?

All das und mehr beleuchtet Neumann, angelehnt an ganz persönliche Eindrücke und Schilderungen aus dem vergangenen Jahr nach der Flut. Mit einem klaren Ziel: Lasst uns aus der Katastrophe lernen, sie ernst nehmen und die Schicksale an der Ahr nicht vergessen!

Andy Neumann wurde 1975 in Neuwied geboren. Er begann 1995 seine Kommissarausbildung beim Bundeskriminalamt und war anschließend neun Jahre lang als Ermittler im Terrorismusbereich tätig. Von 2008 bis 2010 absolvierte er sein Masterstudium an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster. Der Terrorismusbekämpfung und dem BKA blieb er treu. In seiner Freizeit ist Andy Neumann leidenschaftlicher Musiker. Im April 2020 erschien sein erstes Buch, »Zehn«, beim Gmeiner-Verlag, im Oktober 2021 folgte der SPIEGEL Platz 1-Bestseller »Es war doch nur Regen!?«. Neumann lebt mit seiner Familie im Ahrtal und wird dies auch weiterhin tun.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Carmen Therese Glöckner

ISBN 978-3-8392-7434-7

Vergiss mal nicht! Eine Denkschrift

Liebe Leserin, lieber Leser,

ich erspare Ihnen die Gedankengänge, die mich monatelang geplagt haben, wenn es um die Frage ging, wie ich der mal mehr, mal weniger subtilen Aufforderung meines Verlages, auf Es war doch nur Regen!? aufzusatteln, nachkommen könnte. Und springe direkt zum Ergebnis. Ein Essay. Ein kurzes, knappes Büchlein, das sich keiner kaufen muss, den es nicht wirklich interessiert, das aber (so meine Hoffnung) denen genügen wird, die sich damals dachten: Das hätte auch ein bisschen mehr sein dürfen.

Eine »Denkschrift« habe ich es genannt, und das mit gutem Grund. Denn, das werden Sie schnell erkennen, dieses Buch besteht nur zu einem kleineren Teil aus dem, was meiner Familie und mir widerfahren ist, nachdem der 14.08.2021 und damit der letzte Tag in Es war doch nur Regen!? vorbei war. Und zum deutlich größeren Teil aus den Themen, die nicht nur mich, sondern teils auch unser Tal seither bewegt haben.

Die manche oder viele hätten bewegen sollen.

Aus den Fragen, die sich gestellt haben, teils in der Nacht schon. Aus Antworten, die viel zu oft Adjektive wie »ernüchternd« oder »deprimierend« bis hin zu »erschütternd« oder »grotesk« verdient hatten. Eben aus Dingen, die mich nachdenklich gemacht haben, und von denen ich nicht nur hoffe, sondern auch erwarte, dass sie auch andere Menschen nachdenklich machen.

Was hier im Tal geschehen ist, darf nicht vergessen werden. Nun ist es aber so – wer wüsste es besser als wir? – dass das »Vergessen werden« ein Mechanismus ist, dem man sich nur mit aller Gewalt entziehen kann, und selbst dann nur mit Glück. Wenn Sie gegen Kriege am Rande Europas ins Rennen um mediale Aufmerksamkeit gehen, verlieren Sie, das darf ich Ihnen versichern.

Grundsätzlich völlig zu Recht.

Das macht es aber weder besser noch weniger enttäuschend!

Wenn es mir mit diesem Buch gelingt, ein klein wenig gegen das Vergessen anzukommen, das Bewusstsein für die epochale Katastrophe, unter der wir gelitten haben, ihre Folgen, ihre Lehren und die Themen, die mit ihr verbunden sind, wachzuhalten, und ich Ihnen am Ende vielleicht auch etwas zum Nachdenken gegeben habe, wäre mein Ziel erreicht.

Auch hier, so oder so: Ich danke Ihnen!

Kapitel 1 – Wieder hier

»Wie geht es euch?«

Keine Frage wurde mir in den vergangenen Monaten häufiger gestellt, und keine wäre schwerer zu beantworten. Auch mein Verlag stellte die Frage, und nicht nur das. Den Naturgesetzen des Verlagswesens folgend, stellte er die Frage auch stellvertretend für die enorme Menge an Menschen (Ich liebe euch alle!), die mein Buch in seinen bisher elf Auflagen gelesen haben. Ein zweites Buch solle ich schreiben. Die Menschen würden wissen wollen, wie es weiterging.

Ja, dachte ich mir, wüsste ich auch gerne. Hab aber keine Zeit, darüber nachzudenken. Geschweige denn, darüber zu schreiben. Bis ins Frühjahr 2022 hinein. Dann geschah einiges, was mich zum Umdenken bewegte.

Doch zurück zur Ausgangsfrage:

Richtig »gut« geht es mir nicht. Richtig »gut« geht es uns nicht. Richtig »gut« geht’s hier niemandem!

Es ist Frühjahr, dieses Buch wird im Juni 2022 fertiggestellt, und die Gemütslage ist, um es auf den Punkt zu bringen: müde! Wir sind müde, die Menschen um uns herum sind müde, das ganze Tal scheint müde zu sein. Und auch wenn das Frühjahr – die Blütenpracht, die ersten geöffneten Restaurants und Geschäfte – einiges bewegen konnten, ganz heilen konnten sie die Müdigkeit noch nicht. Dazu sind die Gründe zu stark, von denen ich im Wesentlichen drei nennen möchte:

Warten.

Enttäuschung.

Abstumpfen.

Um es gleich zu sagen: Ich habe keine Ahnung, ob das auf alle Menschen hier zutrifft, oder ob ich nur für mich selbst sprechen kann. Aber unterm Strich glaube ich schon, dass ich nicht ganz allein bin mit dieser Auflistung.

Warten tun wir nämlich alle! Auf Versicherungen, auf den Staat, auf Handwerker, auf letzte Möbel, auf schöneres Wetter, auf Dinge, über die wir uns freuen können …

Wir warten.

Seit fast einem Jahr.

Damit einher geht die Enttäuschung. Über Menschen, Firmen, Institutionen, die uns warten lassen. Über große und kleine Dinge, die nicht so funktionieren, wie wir uns das vorstellen. Und, nicht zu vergessen, die größte aller Enttäuschungen: die vollmundig versprochene, staatliche Unterstützung, repräsentiert in diesem Fall insbesondere vom Land Rheinland-Pfalz, das uns den Begriff »Enttäuschung« quasi auf die Innenseite unserer Lider tätowiert hat.

Schließlich also das Abstumpfen. Denn was sonst sollte helfen? Permanente Enttäuschung der eigenen Hoffnungen, andauerndes Warten, Vorankommen im Schneckentempo, in dem Wissen, dass auch dann, wenn man selbst es geschafft hat, um einen herum immer noch jahrelang so vieles in Trümmern liegen wird. Doch, man stumpft ab, glauben Sie mir.

Soweit die Kurzform.

Nun war ich ja nie der sonderlich hoffnungslose Typ, also lassen Sie sich bitte nicht einzig und allein davon beeinflussen, dass die Lage nach wie vor bescheiden ist. Ich wurde irgendwann mal gebeten, auf den Punkt zu bringen, was denn verhindert, dass ich, dass wir alle hier völlig durchdrehen – oder Schlimmeres? Da kamen mir ebenfalls drei Dinge in den Sinn:

Liebe.

Hoffnung.

Humor.

Einfache Worte, aber mächtige Schwerter gegen die drei Ungetüme weiter oben.

Und auch wenn bei mir persönlich, außer der Liebe, die Schneiden schon ordentlich abgewetzt sind, kämpfen kann ich noch. Und das reicht. Es hat bisher gereicht, und es wird auch weiterhin reichen. Denn, und da kommt der Realismus dazu, den die Hoffnung ja gern mal verdrängt: Es kann weiterhin nur besser werden, nicht schlechter. Gut, außer bei der Frage der Verantwortung, da hilft nicht mal mehr Gottvertrauen. Aber ansonsten wird es besser, Tag für Tag, Schritt für Schritt, Gewerk für Gewerk, Möbel für Möbel, Bild für Bild.

Und ich weiß so sicher, wie ich es nur wissen kann, dass ich eines Tages, und sollte es noch Jahre dauern, in meinem Garten sitzen und mir denken werde: geschafft! Das Schlechte wird verblassen, das Gute wird bleiben. Für die meisten von uns kann das Leben wieder so schön werden, wie es vorher war. Für zu viele von uns wird das nicht der Fall sein, denn wo Menschen verloren sind, kann auch die Zeit nicht alles heilen.

Was die Neumanns angeht:

Wir sind wieder zu Hause, und das bereits seit Mitte Februar. Wie sich das anfühlte, werde ich in den folgenden Kapiteln immer wieder kurz schildern. Wie es sich jetzt anfühlt, kann ich Ihnen sagen: verdammt gut! Ja, wir sind müde, sind von vielem enttäuscht, sind ordentlich abgestumpft. Aber wir sind auch hier, gesund und glücklich! Wir haben uns immer noch alle, unser Haus ist noch da, es ist alles wiederaufgebaut, in Teilen schöner als vorher. Verzeihen Sie mir, wenn ich das so deutlich schreibe, aber in solch einer Situation sollte man in diesem Tal weiß Gott einfach die Klappe halten und sich freuen. Also tue ich das auch.

Lassen Sie uns also tun, was richtig ist, und uns das vergangene Jahr noch einmal genauer ansehen, denn es gab auch außerhalb unseres Hauses genug, das sich zu beschreiben lohnt.

Kapitel 2 – Sommer

Nach dem 15.08.2021, dem Tag, an dem ich Es war doch nur Regen!? abschloss, blieb nicht mehr viel übrig vom Sommer. Und das bisschen war eher unschön. Das Ahrtal erlebte zum ersten Mal seit der Katastrophe, dass die Mechanismen der medialen Berichterstattung, sagen wir mal, eher auflagenorientiert als auf Partikularinteressen ausgerichtet funktionieren. Der Truppenabzug der USA aus Afghanistan und alles, was daraus folgte, verdrängte naturgemäß das Geschehen in einem eher kleinen und beschaulichen Teil der Bundesrepublik unmittelbar aus den Schlagzeilen, wenn auch nicht, wie gern behauptet wird, aus den Medien.

Und zum Glück schon überhaupt gar nicht aus den Herzen der Menschen, die gekommen waren und weiterhin kamen, um zu helfen. Die Welle der Hilfsbereitschaft blieb ungebrochen, ich glaube sogar, auf ihrem absoluten Höhepunkt. Es war, solang man wusste, welche Stellen man ansprechen musste, schier unmöglich, keine Unterstützung zu erhalten. Was allerdings auch daran lag, dass zu diesem Zeitpunkt die Anzahl der Gebäude an der Ahr, in denen irgendwer schon hätte aufbauen können, gen null tendierte. Also dominierten die Abrissaufgaben, und dafür fand sich immer jemand.

Ich zum Beispiel meine beiden unermüdlichen Cousins Björn und Dirk, die mir mit stoischer Gelassenheit quasi den halben Außenputz im Alleingang abstemmten. Und zwar vom Feinsten. Immer wieder ein Privileg, Menschen mit handwerklichen Fähigkeiten in der Verwandtschaft zu haben. Der Nachteil an der Stemmerei im ganzen Tal war, dass der Dreck einfach nicht weniger wurde. War es trocken, atmete man weiter Staub, und regnete es, badete man in Schlamm. Und es war ziemlich offensichtlich, dass dieser Zustand noch sehr lange andauern würde. Wirklich saubere Straßen und Gehwege sollte es für viele, viele Monate immer nur geben, wenn hochrangiger Besuch kam – letztmalig beim Kanzlerbesuch im März 2022 (!) beeindruckend dargestellt.

Ab dem 16.08.2021 ging ich wieder arbeiten, nach einer Ewigkeit, wie es mir vorgekommen war.

Sie müssen wissen, ich liebe meine Arbeit, und bei aller Priorität auf dem, was zu Hause getan werden musste, war es für mich schmerzhaft, so lange nicht arbeiten zu können (oder, um nicht undankbar zu klingen: zu müssen!).

Meine Leute hatten mir an meinem ersten Morgen im Büro eine Torte auf den Tisch gestellt Auf dieser stand »Willkommen zurück«.

Ich weinte. Kurz, aber ich tat es.

Und mir wurde erstmals, aber sehr deutlich bewusst, dass meine Emotionalität, sagen wir es mal vorsichtig, ganz minimal vom Vor-Flut-Zustand abwich. Diese Erfahrung sollte ich nicht zum letzten Mal gemacht haben. Und ich bin verdammt sicher, dass ich damit in diesem Tal nicht alleine bin.

Im darauffolgenden täglichen Trott aus Arbeiten, zu Hause weiter stemmen, trocknen, Müll entsorgen et cetera und nebenbei dem Versuch, halbwegs Zeit für die Familie aufzubringen, gingen, ach was, flogen die Wochen sprichwörtlich dahin. Ich könnte heute wirklich nicht mehr viel dazu sagen, wie die Sommerzeit ausging. Ich weiß aber noch, wie laut ich gelacht habe, als mir jemand sagte, die ADD als immer noch zuständige Behörde für den Einsatz an der Ahr habe in etwa kolportiert, die Infrastruktur sei wiederhergestellt. Ich hoffe bis heute, dass das eine Lüge war, denn schriftlich gefunden habe ich bis Anfang Oktober nichts dergleichen. Aber allein, dass alle der ADD eine solche Aussage zutrauten, spricht ja Bände. Glauben Sie mir, noch rein gar nichts war wirklich »wiederhergestellt« am Ende dieses Sommers.

Nun ja, »gar nichts« ist auch falsch. Mein Buch immerhin hatte ich am 31.08. fertig. Bis heute werde ich regelmäßig gefragt, wie ich das geschafft habe, daher die Antwort ein für alle Mal und für alle:

Ich habe keinen blassen Schimmer! Aber Kraft hat’s reichlich gekostet, das spüre ich heute noch.

Am 06.09.2021 war auch die Satzversion des Buchs fertig, doch das viel spannendere Ereignis an diesem Tag war:

Ich sagte als Zeuge aus! Bei Beamten des Landeskriminalamts Mainz, im Rahmen des Ermittlungsverfahrens gegen den damaligen Landrat des Kreises Ahrweiler. Ich werde ihn »DerdessenNamenichtgenanntwerdendarf« nennen, im Tal findet man durchaus auch andere Namen, die ich aus Gründen des Anstands jedoch nicht wiedergeben möchte.