Verhaltens-Philosophie - Peter W. Richter - E-Book

Verhaltens-Philosophie E-Book

Peter W. Richter

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Beschreibung

Noch ein Ratgeber zum Thema "Richtige Lebensführung"? Nein, beim vorliegenden Buch handelt es sich vielmehr um eine nüchterne Sicht auf den Menschen als "Lebewesen", als Produkt der natürlichen Evolution. Inspiriert von den Erkenntnissen der modernen Verhaltensforschung, soll es den Kompass unserer philosophischen Selbstreflexion, der durch die neueren Strömungen des öko-kapitalistischen Zeitgeistes durcheinander geraten ist, wieder zurechtrücken. In den recht unterschiedlichen Aufsätzen geht es sowohl um unsere biologischen Wurzeln, wie Instinkte und Triebe, als auch um unsere höheren geistigen Fähigkeiten, auf deren Grundlage herausragende zivilisatorischen Errungenschaften ermöglicht, aber auch manche gravierende Irrwege beschritten wurden. So soll das Buch letztlich einen Beitrag zur einem harmonischen, nachhaltigen Gestaltung unserer Lebensumstände - im Großen wie im Kleinen - leisten. In der vorliegenden 2. Auflage wurde ein ausführlicher Artikel über künstliche Intelligenz (KI) hinzugefügt.

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Kennzeichnend für die heutige Philosophie ist vordergründig ihre Hinwendung zur Sprache und zur Neurologie. In diesen beiden Strömungen wird der menschliche Geist zum einen durch den öffentlichen Diskurs, zum anderen durch das interne nervliche Geschehen bestimmt. Vor diesen Hintergrundfolien werden gegenwärtig mannigfaltige philosophische Systeme und Behauptungen aufgestellt, die nach Auffassung des Autors jeweils nur Teilaspekte der menschlichen Person beleuchten und damit zu fragmentarisch sind, um die großen Fragen der Zeit beantworten zu können. Erforderlich ist nach Auffassung von P.W. Richter ein ungeschminkter Blick auf das Gesamtbild menschlich Verhaltens, wie ihn schon die großen Philosophen der Neuzeit versucht haben.

In diesem Sinne stellt er den gegenwärtigen Tendenzen die „Verhaltensphilosophie“ entgegen, die nicht den Geist, sondern das „Lebewesen“ in den Mittelpunkt des Denkens rückt. Damit wendet er sich gegen eine von ihm diagnostizierte Fehlstellung westlichen Denkens: „Die Verblendung im menschlichen Geiste.“

Peter Werner Richter, geboren 1946 in Schleswig-Holstein, wuchs in Freiburg auf. In seiner Jugend interessierte er sich für Biologie, Verhaltensforschung und Psychologie. Er studierte Volkswirtschaft und Regionalplanung und siedelte nach der Wende in den Osten Deutschlands über, wo er in einer mittelgroßen Stadt als Stadtplaner arbeitete. Literarisch wurde er erst spät tätig, zunächst mit Romanen, dann mit Kurzbeschichten und Gedichten. Erste Anklänge der Philosophie zeigten sich im Band „Deutsche immer Kartoffeln“, in dem es um die Verwunderung des Protagonisten über die verqueren Trends in Kultur und Politik geht. Damit war der Weg zur Beschäftigung mit Anthropologie und Philosophie fast zwangsläufig festgelegt.

Heute lebt P.W. Richter in einem kleinen Dorf in Brandenburg und widmet sich nur noch dem Schreiben.

Inhalt

Vorwort

Im Mittelpunkt das Lebewesen –

Verhaltensphilosophie

Zug der Zeit –

Hypermoderne

In meinem Metier bin ich König –

Virtuelle Reviere

Erleben, was der andere fühlt oder denkt –

Empathie

Mensch und Standardtier –

Homo naturalis

Auf der sicheren Seite –

Der ehrenhafte Rückzug

Autoritäre Wörter –

Projektive Konstruktionen

Was man hat, hat man –

Philosophie des Zweitbesten

Ein brauchbares Konzept –

Demokratie

Es kommt auf uns zu ...

KI - epochale Herausforderung

Nachwort

Stichwortverzeichnis

Literatur

Vorwort zur ersten Auflage

Warum Verhaltensphilosophie?

Ein neuer Begriff, der zwar im Internet schon an vereinzelten Stellen auftaucht, dort aber auf die Bedeutung als Verhaltens-Konzept für bestimmte Organisationen – Firmen, Vereine – reduziert ist. Verhaltensphilosophie im Sinne dieses Buches ist wesentlich weiter gefasst. Sie möchte die Kluft, die gedanklich zwischen Mensch und Tier herrscht, überwinden, indem sie allgemein vom „Lebewesen“ als Hintergrundfolie der Theoriebildung ausgeht. Dieser Grundgedanke, der im ersten Essay näher beleuchtet wird, durchzieht mehr oder weniger alle folgenden Ausführungen. Er ist zweifellos mit einer Herabstufung des Menschen in seiner Position gegenüber den Tieren, verbunden. Dies wird als Voraussetzung gesehen, will man die global-gesellschaftlichen und -umweltlichen Krisen bzw. Katastrophen auch nur ansatzweise bewältigen.

Denn es kommt auf die Basis an, auf die Grundannahmen, auf die wir unsere Schlussfolgerungen bauen. Und damit auch auf unser Naturell und unsere jeweilige Erfahrungswelt, aus der wir diese Grundannahmen ziehen. Es macht einen Unterschied, ob ich als Banker arbeite, als Wissenschaftler oder Verkäufer. Je nachdem wird mein Erkenntnishintergrund anders ausfallen und damit auch meine Problemwahrnehmung und ihre Lösungsmöglichkeiten. Und das gilt eben auch für die Philosophen. Je nachdem, ob sie eher naturwissenschaftlich, theologisch, historisch oder ökonomisch orientiert sind, werden ihre Theorien von den Faktoren ihrer jeweiligen Wirklichkeiten dominiert.

Vor dem Hintergrund, dass wir niemals zu letzten Erkenntnissen durchdringen können, auf der anderen Seite aber gezwungen sind, unsere Handlungen auf Wissen zu gründen, ist es vertretbar, dass wir uns Hilfskonstruktionen zurechtlegen, Theorien, die eben auf Axiomen, Analogieschlüssen und Erfahrungen beruhen. Wenn der Mensch einst von den Bäumen gestiegen ist, um sich weitere Lebensräume zu erschließen, ist er ein Pionier. Wenn er ein Pionier ist, ist es auch gerechtfertigt, dass er zum Mond fliegt. Man mag über dieses Beispiel den Kopf schütteln; es zeigt zumindest, um was es geht. Mir liegt in meinen Essays daran, dass die Philosophie eben diese Grundannahmen, aus denen sie nicht zuletzt auch ihre ethischen Forderungen ableitet, offenlegt.

Seit dem sogenannten Linguistic Turn der Analytischen Philosophie rückte die Sprache als Erlebniswelt der Geistes- und Sozialwissenschaften in den Vordergrund. Lyotard, Deleuze, Foucault, Derrida – um nur einige Namen dieser Richtung zu nennen. Sie maßen der Sprache eine außerordentliche Bedeutung für das menschliche Verhalten zu, was etwa den Linguisten George Lakoff zum Ausspruch veranlasste: „Metaphern können töten“. Niemand kann heute mehr die beherrschende Kraft der Sprache in Zweifel ziehen, zumal immer deutlicher wird, dass auch das Unterbewusstsein bis zu einem gewissen Grad Sprache versteht und mit Wörtern agiert.

Aber das Unterbewusstsein agiert auch mit Bildern, mit Vorstellungen von Abläufen, mit Gefühlen wie Angst oder Freude etc. - kurz: mit unbenannten Ideen. Diese Phänomene sind schwerer zu fassen als Wörter, wie etwa die Archetypen nach C.G. Jung. Oder posttraumatische Belastungsstörungen von Soldaten. Oder der Hang zum Wasser, den die Stadtplanung konstatiert. Wörter sind greifbarer, und da sie das Handwerkszeug der Philosophen darstellen, bilden sie auch ihre Erlebniswelt, haben Einfluss auf den Lauf ihres Denkens und ihre Theorien. Ihre Annahme, es sei bei allen Menschen ähnlich, ist zwar verständlich, führt aber letztlich zu einer starken Überschätzung der Gewalt von Wörtern.

In noch höherem Maße gilt dies für die wortgebundenen Medien, die sich ihrer manipulativen Kraft wohl bewusst sind und die Aufwertung der Sprache durch die Philosophie gerne in ihr Selbstverständnis aufnehmen. Die Vermutung, dass der Diskurs mit seinen Erzählungen aber doch an die Grenzen des Unterbewusstseins stößt, wird vom Umstand gestützt, dass immer mehr Menschen den Medien ein kategorisches Misstrauen entgegen bringen.

Es scheint, dass die verbale Sprache kraft ihrer Pressetauglichkeit enorm überschätzt wird. Wörter sind die Spitze eines Eisbergs, der von psychischen Parametern gebildet wird, ähnlich dem Eisbergmodell des Bewusstseins. Dies zeigt sich, wenn zum Beispiel Menschenaffen, die nur über wenige Laute zur Kommunikation verfügen, in Teilbereichen ähnliche Intelligenzleistungen und auch ein ähnliches Sozialverhalten zeigen wie wir Menschen. Geistes- und Sozialwissenschaften neigen nur allzuleicht dazu, Wörtern eine eigene Existenz zuzubilligen, ein Wesen, eine endogene Wucht, und sie an die Stelle eines beobachtbaren Phänomens zu setzen. „Das Nichts nichtet“, sagt Heidegger. Aber kann ein Nichts etwas tun? Die Verwesentlichung von Wörtern vervielfältigt die Objekte philosophischer Betrachtungen nahezu ins Unendliche. Sie birgt nur geringe Erkenntnisfortschritte, aber ein Labyrinth geistiger Fußangeln und Irrtümer.

Will man das menschliche (Nach-)Denken in vernünftige Bahnen lenken, empfiehlt sich eine Rückbesinnung auf dessen Wurzeln. Das impliziert eine evolutorische Betrachtungsweise, zum Beispiel den Vergleich des Menschen mit seinen nächsten Verwandten, den Menschenaffen. Das setzt weiterhin das Schleifen des vermuteten Klassenunterschiedes zwischen Mensch und Tier, zwischen Geist und Körper, nicht zuletzt Mann und Frau voraus. In dieser Richtung sind – und waren immer schon – zahlreiche Philosophen unterwegs. Für die neueste Zeit seien Frans de Waal, Godfrey-Smith, Suddendorf, Tomasello genannt.

Die Aufsätze dieses Buches dienten unrsprünglich der Selbst-Vergewisserung, der Überprüfung eigener „alltäglicher“ Thesen in Hinblick auf ihre Vertretbarkeit. Dabei haben sich zahlreiche neue Aspekte ergeben, die vor allem aus der Bezugnahme auf unterschiedliche Fachbereiche entstanden. Biologische, volkswirtschaftliche, stadtplanerische, psychologische, ethologische Aspekte traten in Konkurrenz und machten die Neujustierung des eigenen Standpunktes erforderlich. Herausgekommen ist die Tendenz, das menschliche Meinen und Verhalten als „von der hypostatischen Sprache befreit“ zu denken. Also das evolutorische Konzept, die „Verhaltensphilosophie“.

Verhaltensphilosophie ist somit das erste Thema dieses Buches.

Der zweite Aufsatz Hypermoderne befasst sich mit der Epoche, in der wir leben. Können wir sie noch Moderne nennen? Oder Post-Moderne? Vorgeschlagen wird schließlich der Begriff Hypermoderne.

Virtuelle Reviere beschreibt die Übernahme archaischer Verhaltensmuster in unsere geistige Welt: Wir bilden Reviere des Wissens oder Könnens und verteidigen sie vehement gegen Eindringlinge.

Der Aufsatz über Empathie beschreibt die Spielarten des Mitfühlens und Mitwissens und ihre Beziehung zur Moral. Bedeutsam ist die Fähigkeit des Menschen, diesen Kanal zu öffnen und zu schließen.

An einem psychischen Strukturmodell des Menschen à la Freud versucht sich der Aufsatz Homo naturalis, der natürliche Mensch. Er möchte damit vor allem auf den Umstand hinweisen, dass es an einem solchen Modell mangelt.

Den ehrenhaften Rückzug wurde anlässlich eines Urlaubs in Cornwall in Gegenwart zweier Hunde erprobt und in diesem Aufsatz ins Allgemeine erweitert.

Projektive Konstruktionen befasst sich mit der Hypostase von Begriffen, also mit der Unterschiebung von Wesenseigenschaften unter Wörter. Hier geht es um den Spezialfall, dass damit ein bestimmtes Verhalten bewirkt werden soll – wie etwa beim Begriff der Menschenwürde.

Dieses Vorwort mit seiner allgemeinen Kritik an der Philosophie wird im Aufsatz Philosophie des Zweitbesten weiter ausgeführt. Welche Denk-Normen dürfen wir verletzen, um zu einer pragmatischen Philosophie zu gelangen?

Der letzte Aufsatz Demokratie stellt die zuvor gewonnenen Erkenntnisse in ein politisches Licht und stellt gravierende Fragen. Ist unser aktuelles System ein demokratisches? Was sollten wir tun, um dem – immanenten oder geäußerten – Willen des Volkes zu größerer Wirksamkeit zu verhelfen?

Zugegeben, die Sprache dieser Essays ist häufig unscharf und naiv. Dies ist nicht nur mangelnder Kompetenz geschuldet – es war die Absicht, so einfach wie möglich zu formulieren, um die Dinge nicht erhabener erscheinen zu lassen, als sie es verdienen.

April 2020

Vorwort zur zweiten Auflage

Die Entwicklung der künstlichen Intelligenz (KI) schreitet rasant voran. Ständige Neuerungen bei Handys oder die ersten autonom fahrenden Autos lassen auch den desinteressiertesten Mitmenschen ahnen, was da auf uns zurollt. Zweifellos bietet die Technikt enorme Möglichkeiten, aber ebenso unbestritten auch große Gefahren. In naher Zukunft werden einige Maschinen auf ihre Art intelligenter sein als Menschen - werden wir sie dann noch beherrschen? Oder wird es uns so gehen wie Goethes „Zauberlehrling“, der die Geister, die er rief, nicht mehr los wurde?

Die Problematik schien mir Grund genug, mich eingehender mit dem Thema zu befassen und der ersten Auflage dieses Buches einen weiteren Essay hinzuzufügen. Ansonsten blieb der Text unverändert.

Dezember 2020

Verhaltens-Philosophie

1. In einer Zeit, in der das Ideal der „Ganzheitlichkeit“ eine immer größere Rolle spielt, kann sich auch die Philosophie dieser Forderung nicht entziehen. War über Jahrhunderte das Bild des Menschen vom Geist beziehungsweise von der Dualität Geist – Körper (Seele – Leib) geprägt, so traten in den vergangenen Jahrzehnten immer weitere Eigenschaften in das Blickfeld. Zunehmend wird der moderne Mensch als gesamtheitlich psycho-physischer Organismus gesehen; er rückt damit näher an die Tierwelt heran, ohne dass sich ihm diese jedoch in seiner Wahrnehmung gleichermaßen nähert. Erst durch die Erkenntnisse der vergleichenden Verhaltensforschung – z.B. bei Menschenaffen – wurde Tieren in den vergangenen Jahrzehnten auch vermehrt so etwas wie eine Psyche zugestanden. Die überkommenen Denkmuster erweisen sich, getragen von den alten Begriffen, jedoch als überaus zählebig, und so schleicht sich die elitäre Selbstwahrnehmung des Geistes – gegenüber Tieren, aber auch gegenüber der übrigen menschlichen Psyche – immer wieder aufs Neue ein.

2. Daran sind mehrere Faktoren beteiligt. Im Hinblick auf das Mensch-Tier-Primat ist es u.a. das menschliche Interesse, Tiere zu nutzen, also etwa zu Nahrung zu verarbeiten, als Arbeitstiere zu gebrauchen oder als häusliche Gesellschafter zu halten. Das ist umso eher möglich, je niedriger der psychische Rang ist, den wir ihnen einräumen. Nicht zuletzt gilt das auch für den Umgang mit unseresgleichen; man denke an das Kastenwesen, die Sklaverei, an Feinde, an den Umgang mit Fremden („Barbaren“). Schwerer wahrnehmbar ist das Primat des Geistes innerhalb der Person, also gegenüber der übrigen Psyche, ferner auch gegenüber dem Körper. Er zeigt sich zum Beispiel in der besonderen Bedeutung, die geistigen Leistungen, z.B. der verbalen Sprache und dem gesellschaftlichen Diskurs für das menschliche Verhalten – gegenüber evolutorisch gewachsenen Mustern – beigemessen wird. Es zeigt sich auch im Argwohn, der neueren Erkenntnissen der Neurowissenschaften entgegengebracht wird, die die „Freiheit des Geistes“ in Frage stellen.

3. Es kommt beispielsweise dezidiert in der Argumentation von H.W. Ingensiep und H. Baranzke in ihrem Buch „Das Tier“1 zum Ausdruck, die sich dessen psychologische Aufwertung zum Ziel gesetzt hat und damit den vorliegenden Ausführungen sehr nahekommt. Bei den beiden Autoren zeigt sich der Objektcharakter des Tieres darin, dass Tiere tendenziell auf die Begriffe der menschlichen Kognition hin untersucht werden (haben Tiere ein Bewusstsein?), der Mensch aber dennoch weitgehend aus der Betrachtung ausgeklammert wird. Dies wird besonders im Vorwort sichtbar, in dem auf die berühmten kantischen Fragen rekurriert wird, also „Was ist der Mensch?“, „Was kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“, „Was darf ich hoffen“. Die Autoren formulieren diese Fragen im Hinblick auf ihr Thema folgendermaßen um2: „Was ist das Tier?“, „Was kann ich vom Tier wissen?“, „Was soll ich in Ansehung des Tieres tun?“, „Was darf das Tier hoffen?“. Fragestellungen, die das Tier wiederum als Objekt einstufen (außer in der letzten Formulierung) und in Hinblick auf das ihrem Buch gestellte Thema berechtigt erscheinen. Im vorliegenden Aufsatz ist der Blickwinkel jedoch weiter und radikaler gespannt: Es geht um eine Philosophie, die von vornherein vom Lebewesen im Allgemeinen ausgeht. Es versteht sich, dass auch hierbei letztlich von Interesse ist, was sich dabei für das Verständnis vom Menschen ergibt.

4. Für die Behandlung derartiger Themenstellungen ist eine klare Sprache ausschlaggebend. Abgesehen davon, dass Begriffe ihre Bedeutung im historischen Verlauf ändern, und weiter, dass Autoren oft unscharf formulieren beziehungsweise jeweils ihre eigene Interpretation heranziehen, stellt die Internationalität der Forschung speziell in der Philosophie ein großes Problem dar. Eins-zu-eins-Übersetzungen sind bei konkreten Phänomenen möglich, viel weniger aber bei abstrakten Begriffen, insbesondere, wenn dabei die Selbstinterpretation des Menschen ins Spiel kommt. Seele, Geist, Bewusstsein, Psyche, Verhalten – diese Begriffe haben in den verschiedenen Kulturkreisen unterschiedliche Bedeutungen oder zumindest unterschiedliche Anklänge. „Mind“ ist nicht identisch mit „Geist“, „consciousness“ nicht mit „Bewusstsein“, „suppression“ nicht mit „Verdrängung“. Damit sind mehr oder weniger unterschiedliche Vorstellungen von der Struktur der menschlichen Psyche verbunden, was wiederum den Abgleich mit derjenigen von Tieren erschwert. An dieser Stelle sei die hiesige Verwendung einiger Begriffe näher erläutert3:

(1) Wahrnehmen: Die bloße sinnliche Gestalterfassung eines Phänomens

(2) Erkennen: (1) plus Zuschreibungen, die im ersten Erkennen unwillkürlich vorgenommen werden: Relevanz, Benennung, Verwendung, Nutzen, Erlaubnis, Schönheit, Kostbarkeit etc.. Objektbezogene Bedeutung.

(3) Verstehen: Wissen, wie es funktioniert. Erlaubt Manipulationen und z.B. eine Prognose über das künftige Verhalten des Phänomens.

(4) Begreifen: (2) + (3) plus die Bedeutung, die es für das Subjekt hat.? Subjektbezogene Bedeutung.

(5) Operator: Innerer Steuerungsmechanismus von Organismen bezogen auf das mental bestimmte Verhalten (ohne neurologische Vorgänge).

(6) Bewusstsein: Bewusster Teil des Operators, als funktionale Instanz gedacht (wobei die Bewusstheit nur möglich, aber nicht permanent vorhanden sein muss). Bewusstheit der eigenen Bedeutung und der eigenen Absicht; auch bei höheren Tieren vorhanden.

(7) Unterbewusstsein: Unbewusster Teil des Operators, als funktionale Instanz gedacht (die z.T. auf Umwegen mehr oder weniger bewusst gemacht werden kann). Nicht zu verwechseln mit „dem Unbewussten“, das alle Handlungen subsumiert, die unbewusst ablaufen (wie das Kratzen hinter dem Ohr bei Ratlosigkeit), aber auch bewusst durchgeführt werden können.

(8) Geist: Teil des Bewusstseins, der die reale Welt in eine Vorstellungswelt überführt und darin mannigfaltige komplexe Operationen durchführt. Dazu gehört vor allem das logische und verbale Denken. Alle Funktionen des Bewusstseins, die Tieren (mit einigen Ausnahmen in Ansätzen) nicht zur Verfügung stehen.

(9) ICH-Bewusstsein, besser: Ich-Bewusstheit. Wissen von der eigenen Existenz und Besonderheit. Nur bei wenigen höheren Tieren in Ansätzen vorhanden.

(10) SELBST-Bewusstsein, besser: SELBST-Bewusstheit. Vorstellung vom eigenen Wert oder Rang in der Gruppe. Geht meist mit SELBST-Überschätzung einher. Bei vielen Tieren in verschiedenen Formen vorhanden.

5. Ein kritischer Einwand gegen diese Auflistung liegt nahe: Auch die genannten Begriffe wurzeln im Selbstverständnis des Menschen. Will man jedoch einen integrierten Ansatz im Sinne des Lebewesens verfolgen, wie hier gefordert, so muss man – sozusagen „nonverbal“ – vom Verhalten des Individuums auf dessen wahrscheinliche mentale Strukturen schließen. Dies wurde im Aufsatz „Homo naturalis“ vorgenommen (s.d.). Nun legt die Tatsache der gemeinsamen Evolution von Tier und Mensch-Tier nahe, dass die funktionalen psychischen Instanzen gewisse Ähnlichkeiten aufweisen, zumal dies auch neurologisch untermauert werden kann. Dennoch kann eine völlig andere innere Struktur gewisser Tiere nicht ausgeschlossen werden. Kann man bei Säugetieren von einem „Unterbewusstsein“ sprechen, oder muss man womöglich verschiedene „Unterbewusstseine“ annehmen? Oder ist dieser Begriff hier sinnlos, weil das „Bewusstsein“ nur eine geringe Mächtigkeit bzw. Bedeutung hat? Einen Eindruck von dieser Problematik liefert P. Godfrey-Smith in seinem Buch „Other Minds“4, in dem er die besondere Ausprägung der Intelligenz (bzw. des „Operators“) von Kopffüßlern (Kraken, Tintenfischen und Kalmaren) beschreibt. Nahm man zum Beispiel bisher an, dass die Voraussetzung für höhere kognitive Fähigkeiten ein Zusammenleben in Gruppen mit entsprechenden Interaktionen sei (Elefanten, Delfine, Menschenaffen etc.), so trifft dies für Kraken nicht zu. Zudem ist ihre Lebensspanne so kurz, dass sie nur wenig Gelegenheit haben, durch das Sammeln von Erfahrungen zu einem höheren Verständnis ihrer Umwelt zu gelangen. Überdies ist ihre zentrale Steuerungseinheit, der Operator, dispers im Körper verteilt. D.h., seine Arme haben bis zu einem gewissen Grad „ihren eigenen Willen“. Dennoch lassen sich an diesen Tieren erstaunliche Intelligenzleistungen beobachten. Es ist zu vermuten, dass die Verhaltensforschung in Zukunft noch weitere derartige Besonderheiten herausfindet. Daher wird an dieser Stelle – sozusagen als Platzhalter – der oben aufgeführten Liste noch ein elfter Punkt angefügt:

(11) Psychische Instanzen: n.n.

6. Um diesen Denkansatz von anderen zu unterscheiden, bietet sich der Begriff „Verhaltens-Philosophie“ an. Dies unter anderem deswegen, weil die Erkenntnisse der vergleichenden Verhaltensforschung (Ethologie), insbesondere im Hinblick auf Primaten, zunehmend an Gewicht gewinnen und damit die anthropozentrische Vorgehensweise immer obsoleter erscheinen lassen. Eine neutrale, integrierte Vorgehensweise erscheint angebracht. Primatenforscher Frans de Waal führt aus:

„Alle drei Spezies [Menschen, Schimpansen und Bonobos] sind mit ähnlichen sozialen Zwickmühlen konfrontiert und müssen ähnliche Widersprüche überwinden, während sie um Status, Partner und Ressourcen wetteifern. Sie wenden ihre ganze Geisteskraft dafür auf, Lösungen zu finden. Es stimmt, dass unsere Spezies offenbar weitblickender ist und mehr Optionen abwägt als Menschenaffen, aber das ist kaum ein grundsätzlicher Unterschied. Selbst wenn wir über den besseren Schachkomputer verfügen, spielen wir alle immer noch Schach.“5

Völlig neu ist diese Sichtweise nicht, wie de Waal selbst ausführt. Beispielsweise hat schon 1739 David Hume aus der Ähnlichkeit des Verhaltens auf eine ähnliche innere Struktur geschlossen und gefordert, dass eine gemeinsame Verhaltenstheorie sowohl auf Menschen wie auf Tiere anwendbar sein sollte.6 In diesem Sinne lassen sich die von Ingensiep/Baranzke umformulierten kantischen Grundfragen der Philosophie abermals neu fassen:

(1) Was ist das Lebewesen?

(2) Was kann das Lebewesen wissen?

(3) Wodurch wird das Verhalten des Lebewesens bestimmt?

(4) Worauf vertraut das Lebewesen?

Da die Lebensäußerungen – neben der Kognition – wesentlich im Verhalten zum Ausdruck kommen, erscheint die Bezeichnung „Verhaltensphilosophie“ angebracht. Der Begriff wurde an anderer Stelle bisher nur sporadisch verwendet; dies im vulgären Sinne von Philosophie als einer zurechtgelegten Routine zur Problembewältigung.

7. Verhaltensphilosophie geht damit über das Feld der Verhaltensforschung weit hinaus. Sie erhebt vielmehr den Anspruch, philosophische Fragestellungen ganz allgemein vor dem Hintergrund des „Lebewesens“ neu aufzumachen. Was ist Freiheit? Was ist Freiheit in Anbetracht eines Hundes? Einer Eidechse? Eines Primaten? Gilt auch hier Freiheit zu etwas? Oder doch eher Freiheit von etwas? Um eine Vorstellung von der Spannweite des Themas zu geben – hier einige weitere, spontan zusammengestellte Stichworte: Ästhetik, Ideen, unbenanntes Denken, das Unbekannte, das Böse, Gerechtigkeit, Kultur, Tod, Gefühle, Universalien, Kognition, Wille. Kann man den Menschen mit – zum Beispiel – einer Kellerassel in einen Topf werfen? Hat die Kellerassel ein ästhetisches Empfinden? Immerhin, sie wird mindestens zwischen angenehm und unangenehm unterscheiden können. Sie wird sich den besten dunklen Platz suchen und Emotionen wie Hunger oder sexuelle Anziehung besitzen. Sie hat möglicherweise einen viel ausgeprägteren Sinn für Feuchtigkeit, vielleicht auch einen viel feineren Geruchssinn (wir wissen es nicht) als wir. Zweifellos werden sich grundlegende Gemeinsamkeiten, aber auch große Unterschiede, z.B. im sensorischen Bereich, zwischen den einzelnen Spezies zeigen. Zu denen eben auch der Mensch gehört. Folgen wir dem Konzept der Verhaltensphilosophie unter der Maxime der „schlanken Erklärungen“, so werden wir bald feststellen, dass manche komplexe anthropomorphe Theorie an Relevanz verliert, weil sie auf Grundlagen fußt, die äußerst hypothetisch sind, um es milde auszudrücken. Das wäre nicht die erste Entzauberung der Metaphysik, wenn wir an die Wirkung der Analytischen Philosophie denken (ohne beides auf eine Ebene stellen zu wollen.)

8. So gesehen lässt sich Verhaltensphilosophie deutlich von anderen Denkrichtungen abgrenzen. Vom Behaviorismus in seiner klassischen Form nach Skinner et. al. unterscheidet sie sich durch die Zulässigkeit von Rückschlüssen auf funktionale psychische Instanzen, deren Annahme notwendig ist, um zum Beispiel die Wirkungsweise eines – offenbar bedeutsameren als gedacht – Unterbewusstseins untersuchen zu können. Deutlicher noch ist der Abstand zur „Philosophie des Geistes“, die die Wechselwirkung zwischen Operator und Körper beschreiben will. Die Berechtigung dieser neuen Wissenschaft steht nicht in Frage; die geläufige Reduktion der lebenswesentlichen psychischen Strukturen auf mentale Zustände erscheint jedoch geradezu anachronistisch. Oder um es pointiert auszudrücken: Man versucht, aus der Konstruktion einer Schreibmaschine auf ein Drama wie den „Faust“ zu schließen. Oder umgekehrt.

9. Verhaltensphilosophie baut eine Brücke zwischen Tier und Mensch, ohne eine Fahrtrichtung vorzugeben. Wie bereits bemerkt, durchziehen entsprechende Hinweise die gesamte Philosophiegeschichte. Aristoteles‘ Lehre stand unter dem Eindruck seiner biologischen Studien, die er auf der Insel Lesbos vorgenommen hatte (er hat etwa 580 Lebensformen des Meeres detailliert beschrieben); sein damaliger Schüler Theophrastos gilt als Begründer der Botanik. Hume und Smith rückten mit ihren Vorstellungen vom Moralischen Sinn und der Empathie von einer rein mechanistischen Sicht auf den Menschen ab. Rousseau, der ein Bild vom natürlichen, sozialen Menschen entwarf, wurde vorgehalten, diesen zu sehr in die Nähe des Tieres zu rücken. Auch Kant widmete sich nicht nur den Funktionen des Geistes; mit seiner dritten „Kritik“, nämlich derjenigen der „Urteilskraft“, schafft er „ein Bindeglied zwischen der theoretischen und der praktischen Vernunft, zwischen den Reichen der Natur und der Freiheit“.7 Dieses Werk steht allgemein im Schatten seiner beiden Vorläufer (Russell erwähnt es in seiner „Philosophie des Abendlandes“ nicht einmal8) und ist doch für das Verständnis der kantischen Theorie unabdingbar. Es führt die Aspekte des Gefühls, der Fantasie, der Intuition und der Zweckmäßigkeit in das Werk ein und führt uns ein weiteres Mal den Vorrang des Praktischen über das Theoretische vor Augen. Ähnlich sieht es Kants Schüler Schelling, der bis heute als der Philosoph der Natur schlechthin gilt. Schelling relativierte die Bedeutung des menschlichen Geistes noch mehr, indem er die darin begründete Trennung von Subjekt und Objekt und insbesondere die weithin nutzlose Selbstreflexion kritisierte. Das Wesen des Menschen sei Handeln.9 Hier genau liegt die in diesem Aufsatz behauptete Wesensverwandschaft von Tier und Mensch: im Praktischen, im Handeln.

10. Stellt man sich den Menschen nur im Lichte seiner höchsten geistigen Begabungen vor – umrissen durch die drei kantischen Fragen nach der Erkenntnis, der Moral und der Religion – und vergleicht ihn dann mit dem Erscheinungsbild des Tiers, so ergibt sich zwangsläufig dessen niedere Stellung. Dies ist ein alter Trick: Man vergleicht ein Ideal (z.B. die Vorschriften des Korans) mit der Alltagswirklichkeit (z.B. des Christentums) und kommt – wie gewünscht – zu einem abwertenden Ergebnis. Legt man dem Vergleich aber die jeweiligen Alltagswirklichkeiten zu Grunde, ergibt sich ein deutlich übereinstimmenderes Bild. In beiden Fällen (Mensch und Tier) überwiegt die Routine; Erkenntnis, Moral und Religion spielen dann auch beim Menschen kaum eine Rolle. Das Handeln erfolgt aus dem Bewusstsein und Unterbewusstsein heraus; Denken in verbaler Sprache ist nicht zwingend gefordert. Stellen wir uns vor, wir würden uns eine Tasse Tee bereiten: die Abfolge der Aktionen ist klar, wir müssen nicht denken. Selbst bei Routiniers in ihrem Beruf läuft das meiste automatisch ab, wie bereits die Bezeichnung klarstellt. Das Handeln ist im weitesten Sinne zweckgerichtet; wenn Denken ins Spiel kommt, dient es ganz wesentlich dem Verständnis und der richtigen Entscheidung im funktionalen und wertenden Sinne.

11. Noch näher rücken sich Mensch und Tier, wenn letztere gewisse geistige Leistungen vollbringen, wie etwa das Ich-Erkennen oder die logische Lösung einfacher Probleme. Berühmt ist in dieser Hinsicht das Köhler-Wertheimersche Experiment mit Schimpansen geworden: Es gelang letzteren, an Bananen zu gelangen, die in für sie unerreichbarer Höhe befestigt waren, indem sie Kisten auftürmten und als „Leiter“ benutzten. Noch erstaunlicher sind Intelligenzleistungen hinsichtlich der verbalen Sprache: Die Schimpansin Washoe lernte die Taubstummensprache und beherrschte schließlich 250 Wörter.10 Solche protogeistigen Leistungen sind von einigenTierarten bekannt, und das erstaunliche ist, dass sie in sehr verschiedenen Biotopen leben und sich z.T. auch neurologisch deutlich unterscheiden.

12. Beim Umgang mit solchen Tieren mag sich in uns die Anmutung innerer Verwandschaft einstellen; wir haben das Gefühl, unser Gegenüber zu verstehen bzw. von ihm verstanden zu werden. Hier ist Empathie, oft auch eine gehörige Portion Projektion im Spiel; wenn jedoch die Kommunikation erfolgreich verläuft, wie oft bei der Mensch-Hund-Gemeinschaft zu beobachten, dann liegt die Annahme ähnlicher mentaler Strukturen oder wenigstens einer höheren Kognitionsleistung nahe. Dieses Verwandschaftsgefühl kann als konsequente Folge des verhaltensphilosophischen Denkansatzes gewertet werden; es wirkt indirekt konstituierend auf das Feld der Tierethik.

13. Tierethik, also das moralische Verhalten des Menschen gegenüber Tieren, ist jedoch nicht das erste Anliegen der Verhaltensphilosophie. Derartige Überlegungen müssten über die bloße Empathie hinausgehen und handfeste Beweggründe für die Wertschätzung der Tiere liefern. Woran würde sich diese festmachen? An gewissen geistigen Leistungen? Am Funktionieren der Mensch-Tier Kommunikation? An strukturellen Ähnlichkeiten des Operators?11 Am Vertrauen und an der Bindung, die uns von den Geschöpfen entgegengebracht wird? Wie bereits zu Beginn des Aufsatzes angeführt, stellt das Nutzungsinteresse am Tier eine mächtige Barriere gegenüber der Empathie dar. Die Tierwelt ist in unseren Augen sozusagen in zwei Welten gespalten: in die liebgehabten und in die seelenlosen, ausgebeuteten Tiere. Führt man sich vor Augen, dass Philosophie keine Ethik begründen kann, es sei denn in dem Sinne, dass sie sich auf frei gewählte Basis-Axiome bezieht und diese auf konkrete Fälle „herunterbricht“, dann ahnt man, welch Sisyphos-Vorhaben im Anliegen einer Tierethik steckt.

14. Mehr noch als die physiologische Übereinstimmung ist das zweckorientierte Verhalten das philosophische Bindeglied zwischen Mensch und Tier, in dessen Mittelpunkt wiederum das funktionale Verstehen der Phänomene vor dem Hintergrund der individuellen Interessen steht. Als „Alltagsverhalten“ kam ihm bisher kein adäquater Stellenwert zu. In diesem Zusammenhang rücken bestimmte Aspekte vorrangig in den Fokus der Verhaltensphilosophie, zum Beispiel:

(1) Empathie als konstitutiver Bestandteil von Verhaltensprogramm und Moral

(2) Unterbewusstsein als zweite Steuerungsinstanz mit primitiv-geistigen Fähigkeiten, Ort der Instinkte, Grundlage der Intuition

(3) Grundmodell des Erkennens, wie in Abschnitt 4. (1, 2) dargestellt

(4) Instinkte als diffuse Verhaltens-Basis des Menschen

(5) Ideen, auch als a priori Vorstellungen bei Tier (z.B. Freund- und Feindbild) und Mensch (z.B. Archetypen nach C.G. Jung) vorhanden.

15. Verhaltensphilosophie stellt weder andere Lehrgebäude grundsätzlich in Frage noch noch nimmt sie in Anspruch, etwas völlig Neues zu sein. Sie verrückt nur den Standpunkt, den Betrachtungswinkel um einige virtuelle Grade und verändert so das Bezugssystem, das Hintergrundbild, die geistige Landschaft, vor dem die gedanklichen Operationen stattfinden. Dabei treten bestimmte Aspekte in den Vordergrund und andere treten zurück. Dahinter steht die Absicht, den Menschen aus seiner „selbstverschuldeten Verblendung im Geiste“ zu befreien. Tatsächlich geht es hierbei (zumindest dem Autor dieser Zeilen) mehr um den Menschen als um die Tierwelt. Wenn wir unsere gesellschaftlichen (z.B. den übersteigerten Kapitalismus) und materiellen (z.B. Umweltzerstörung) Probleme bewältigen wollen, müssen wir von der Selbstüberhöhung des Geistes wegkommen, die mit dem Zeitalter der Moderne einhergeht. Weg von der arroganten Einstellung, wir könnten alle Probleme auf technisch-marktwirtschaftliche Weise lösen und die daraus entspringenden Leiden als niederrangig vernachlässigen.

April 2020

1 H.W. Ingensiep, H. Baranzke, Das Tier, Reclam 2008.

2 Ebd. S. 8.

3 Siehe auch Essay Homo naturalis.

4 P. Godfrey-Smith, Other Minds, William Collins Verlag 2016.

5 F. de Waal, Der Affe in uns, dtv 4. Aufl. 2015, S. 306f. In […] Ergänzung des Verfassers.

6 D. Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur (A Treatise of Human Nature), Penguin 1985, S. 237f; zitiert über: F. de Waal u.a., Primaten und Philosophen, dtv 2011, S. 85.

7 H.J. Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Fischer Taschenbuch 7. Aufl. 1999, S. 478.

8 B. Russell, Philosophie des Abendlandes, Europa Verlag, 3. Aufl. 2011, 20. Kapitel: Kant, S. 710ff.

9 Philosophie-Magazin, Beilage 51, Schelling und die Klimakrise, S. 3 .

10 C. Becker, Washoe – der Affe, der sprechen lernte, in: Die Welt, 11.11.2015.

11 Welche Ähnlichkeiten bestehen zum Beispiel zwischen der menschlichen Moral und dem tierischen Verhaltensprogramm? Beispiel: die Unterwerfungsgeste bei Wölfen.

Hypermoderne

1. Wozu brauche ich einen Namen für die Epoche, in der ich lebe? Weil es mir in dieser ins Wanken geratenen Welt ein Fünkchen Sicherheit geben würde? Weil ich darin einen Fingerzeig sehen könnte, wohin dieser Zug der Zeit fährt, und ich mich dann bewusst entscheiden könnte, ob ich mitfahren will? Wenn man den aktuellen Philosophen wie Lyotard, Derrida oder Foucault mit ihren sprachlastigen Hypothesen glauben darf (was m.E. allerdings nur unter Vorbehalt geschehen sollte), so kann ein solches Wort dies tatsächlich bewirken. Das gegenwärtige Lavieren mit den Begriffen Moderne, Postmoderne und Weltmoderne stiftet allerdings nur wenig Klarheit und beruhigt mich – in einer Welt des beschleunigten Wandels und zunehmender Ungewissheit – kaum.

Aber werden solche Bezeichnungen nicht immer erst im Nachhinein vergeben? Wäre das nicht eher eine Aufgabe für Historiker, aus der Rückschau, aus dem Überblick, der sich aus der zeitlichen Distanz ergibt, den verschiedenen geschichtlichen Perioden passende Etiketten aufzudrücken? Bezeichnungen wie etwa Renaissance, Romantik, Moderne? So ganz stimmt das nicht: Die Renaissance (frz. „Wiedergeburt“) wurde bereits Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts, also in ihrer Hochzeit, von ihren Zeitgenossen so benannt, um – durchaus bewusst – den Bruch mit dem Mittelalter und die geistige Anknüpfung an die Antike deutlich zu machen. Die Romantiker wiederum, deren Epoche etwa zeitgleich mit der französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts begann, wählten diesen Begriff, um sich ihrerseits von der Renaissance abzusetzen.

Es wäre also nicht unüblich, auch für die gegenwärtige Epoche einen Namen zu suchen, in dem sich die gesellschaftlich bedeutsamen Vorgänge und Bestrebungen widerspiegeln.

2. Wie also heißt die Zeit, in der wir leben? Oder anders: Warum sollten wir sie nicht weiterhin Moderne, in welcher Ausprägung auch immer, nennen?

Die Moderne ist ein zeitlich unklar definierter Begriff, der je nach Wissensgebiet unterschiedlich verwendet wird. In grober Betrachtung lässt sich sagen: Sie hat ihre Wurzel in der Renaissance und überschneidet sich dann weitgehend mit der Neuzeit. Vorangetrieben von der Industriellen Revolution, kam sie mit recht unterschiedlichen geistigen Strömungen daher: Klassizismus, Sturm und Drang, Romantik, Gründerzeit, Historismus, um die wichtigsten zu nennen. Oft wird ihr Beginn auf die Französische Revolution datiert und ihr Ende auf den Ersten Weltkrieg. Doch andere lassen sie in jener Zeit erst beginnen und bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts andauern. In beiden Fällen folgt darauf die Postmoderne.

3. In der Postmoderne geht – wohl auch als Folge der zwei barbarischen Kriege und des Holocausts – das Vertrauen in ein schlüssiges Welt- und Wertebild, wie es ihre Vorgängerin noch vermitteln konnte, verloren. Statt dessen gebe es vielfältige Diskurse, Erzählungen, die den Individuen helfen, die wahrgenommene Wirklichkeit einzuordnen und geistig zu bewältigen. Möglich sei lediglich ein pluralistischer Liberalismus, der das Nebeneinander unterschiedlicher Denkweisen toleriere und vor der Dominanz des Diskurses der Staatsmacht oder dem steigenden Einfluss religiöser Erzählungen schütze. Augenfällig für den Bürger auf der Straße war diese Entwicklung durch Pop Art, Hippietum, linke Studentenunruhen und später die grüne Bürgerbewegung.

Hauptvertreter dieser Richtung war Jean-François Lyotard (1924 - 1998) mit seinem Werk „Das postmoderne Wissen“ (1979). Seine Feststellungen wirken bis heute; sie stellen z.B. die Basis für die aktuelle Ideologie (bzw. „Erzählung“) der Toleranz und des Multikulturalismus dar.

4. Festzuhalten bleibt, dass ungerührt von der changierenden Geistessphäre der Narrative/Erzählungen der Postmoderne, die technische Entwicklung einschließlich ihrer Heilsverheißungen unbeirrt, ja geradezu in beschleunigter Weise voranschritt und -schreitet. Waren es zur Hochzeit der Moderne Eisenbahnen, Autos, Radios, elektrisches Licht, Telefon, Flugzeuge und Militärtechnik, die die Menschen in ihren Bann zogen, so sind es nun Antibabypille und sexuelle Befreiung, Computertechnik mit Robotern und Massenkommunikation, Gentechnik, die u.a. neue Therapieformen verspricht, Umweltbewusstsein und -technik und nicht zuletzt die „Krönung“ von allem: die Globalisierung. Das Paradigma des Größer, Besser, Schöner gerät zwar unter Beschuss, doch unterschwellig gilt es weiter. So stellt die Postmoderne keineswegs eine Abkehr vom technischen Fortschritt dar, sondern zerstört (dekonstruiert) lediglich ein allumfassendes Welt- und Menschenbild, für das sie in einer Gesellschaft der Vereinzelung, ja Atomisierung, keine Existenzberechtigung sieht. Sie bietet bei pessimistischer Betrachtung das Bild des organisierten geistigen Zerfalls ohne jede Richtungsweisung. Verdächtig ist, dass die Historiker das Wort Dekadenz offenbar aus ihrem Wortschatz gestrichen haben.

5. Bevor wir uns den neuesten Entwicklungen zuwenden, ist ein Exkurs notwendig. Denn bei der Beschäftigung mit den aktellen philosophischen Diskursen stellen wir früher oder später fest, dass sie fast ausschließlich die Verhältnisse der westlichen Welt thematisieren. Für die ehemals sozialistischen Staaten scheint zu gelten: marxistische Ideologie – politisch-geistiger Bruch – Postmoderne – fertig. Doch die Dinge so zu verkürzen hieße, wichtige Triebkräfte der geistigen Auseinandersetzung in Deutschland und ganz Mitteleuropa außer Acht zu lassen bzw. misszuverstehen. Einer Auseinandersetzung, die unter anderem in der gegenwärtigen Flüchtlingsfrage unübersehbar zu Tage tritt. Hier als Westler belehrend aufzutreten, etwa in dem Sinne, man hänge im Osten wohl dem falschen Narrativ an (dem der Nazis?) und müsse schleunigst umdenken, wäre nicht nur zynisch, sondern griffe in der Sache auch viel zu kurz.

Diese Diskussion muss jedoch an anderer Stelle geführt werden. Hier bleibt festzuhalten, dass bei denjenigen Ostlern, die noch im Sozialismus sozialisiert wurden, die Postmoderne weder irgendwie begreifbar noch erstrebenswert erscheint. Vielmehr scheint es so zu sein, dass nach dem Scheitern des Sozialismus-Versprechens nach einer neuen umfassenden und schlüssigen Perspektive der Moderne gesucht wird – einer Neo-Moderne so zu sagen – und diese Erwartung auch in die politische Diskussion eingebracht wird.

6. Ist also der Begriff Postmoderne immer noch angemessen für die heutige Zeit? Haben uns die Anstöße der Neo-Moderne verunsichert, oder hat sich wirklich etwas Grundlegendes – auch im Westen – seit dem Mauerfall geändert? Etwas, das sowohl in der materiellen Entwicklung als auch im Zeitgeist etwas Neues darstellt? Und was könnte das sein?

Betrachten wir zunächst einmal die technologischen Neuerungen. Nichts steht wohl so sehr für die neue Zeit wie das Smartphone. Das Smartphone mit seinen universellen Speicher- und Wiedergabemöglichkeiten, seiner umfassenden Telefon- und Internetkompetenz. Unser individuelles zweites Gehirn mit übersinnlichen Kommunikationsfähigkeiten. Unser Gesellschafter und Freund in allen Lebenslagen. Unser Zugang zu einer virtuellen Wirklichkeit, der zuvor den unterschiedlichsten Präsentationsmedien und unserer Fantasie vorbehalten war. Unser Botschafter unbekannter Welten. Unser Wegweiser. Unser Nachrichtenmedium, schnell wie ein Gedanke. Unser narzisstischer Selbstdarsteller. Unsere Kultur und Gegenkultur. Unser … Das Smartphone hat sich zur omnipräsenten geistigen Stütze entwickelt, die uns Sicherheit, Spaß und Macht vermittelt. Mit ihm fühlen wir uns als Teilhaber der ganzen Welt, ohne es fühlen wir uns im Stich gelassen, orientierungslos, abgeschnitten. Wir haben einen großen Teil unserer geistigen Fähigkeiten auf das Handy „outgesourcet“, unsere eigenen verkümmern lassen oder den Vorgaben des Gerätes angepasst. Wir laufen im Default-Modus, das ist am bequemsten und passt zu unseren Kommunikationspartnern. Wahr ist für uns, was im Display des Smartphones erscheint, nicht was wir sehen. Eine neue Form menschlichen Schwarmverhaltens befindet sich in der Evolution.

Umso größer ist natürlich die Bedrohung durch den Ausfall des Gerätes. Vor Funkloch, Akku-Leere und Systemabsturz haben wir Angst, ganz zu schweigen von Hacking, Mobbing oder – fast noch schlimmer: Ignoriertwerden. Demgegenüber erscheint uns das stetige Abgreifen persönlicher Daten durch international agierende Konzerne und Nachrichtendienste als das kleinere Übel.

Das Problem wird übrigens keineswegs durch den neuesten Hype, nämlich sprachgesteuerte Assistenzsysteme, gemildert. Es verlagert sich nur vom Optischen ins Akustische. Siri, Alexa, Cortana, Google Assistant – da diese Technik weniger Hinwendung des Nutzers verlangt, werden ihre Protagonisten zu allgegenwärtig ansprechbaren Kumpeln.

7. Im Ergebnis entsteht ein Menschentyp mit andersartigem Wahrnehmungs-, Denk- und Kommunikationsverhalten. Ein Wesen, das auf die Realität des Smartphone-Displays und auf die „Community“ Gleichgesinnter ausgerichtet ist. Ein Wesen, für das sich, aus dem Amerikanischen kommend, der Begriff Nerd