Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen - Klaus Fröhlich-Gildhoff - E-Book

Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen E-Book

Klaus Fröhlich-Gildhoff

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Beschreibung

In diesem Lehrbuch werden Symptomatik, Epidemiologie und Ursachen der wichtigsten Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen dargestellt, u. a. Depressionen, Essstörungen, ADHS, Störungen der Persönlichkeitsentwicklung/Borderline, Sucht und Posttraumatische Belastungsstörungen. Zudem gibt das Buch einen Überblick über Diagnostik und Indikationsstellung und stellt diverse Unterstützungs- und Hilfesysteme vor. Die Darstellung wichtiger Präventionsprogramme und der Arbeit mit Bezugspersonen rundet das Werk ab. Für die 4. Auflage sind v. a. die neu bearbeiteten Diagnosesysteme DSM-5 und ICD-11 ebenso wie aktuelle epidemiologische Daten berücksichtigt worden.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort zur 1. Auflage

Vorwort zur 4. Auflage

1 Einleitung

2 Begriffsbestimmung: Was ist »verhaltensauffällig«?

2.1 Definition‍(sversuche)

2.1.1 Normen

2.1.2 Kriterien für »Auffälligkeit« bzw. »Störung«

2.1.3 Seelische Erkrankung

2.1.4 Seelische Behinderung

2.1.5 Schlussfolgerung

2.2 Klassifikationssysteme

2.2.1 Kategoriale Klassifikation

2.2.2 Dimensionale Klassifikation

2.3 Häufigkeit von Verhaltensauffälligkeiten bzw. psychischen Störungen; Epidemiologie

2.4 Die Bedeutung des Geschlechts

2.5 Die Bedeutung der Kultur

Zusammenfassung

Fragen zur Selbstüberprüfung

Weiterführende Literatur

3 Allgemeines Modell der Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten

3.1 Allgemeine Überlegungen

3.2 Frühkindliche (Normal-)‌Entwicklung: Die Entstehung des Selbst als handlungsleitende Struktur

3.3 Integratives bio-psycho-soziales Modell zur Erklärung von Verhaltensauffälligkeiten

3.3.1 Biologische Ursachen

3.3.2 Soziale Prozesse: Frühkindliche (Beziehungs-)‌Erfahrungen

3.3.3 Selbststruktur

3.3.4 Risiko- und Schutzfaktoren

3.3.5 Entwicklungsaufgaben

Zusammenfassung

Fragen zur Selbstüberprüfung

Weiterführende Literatur

4 Diagnostik und Indikationsstellung

4.1 Was ist Diagnostik und wozu dient sie?

4.2 Grundprinzipien und Prozess

4.2.1 Grundprinzipien

4.2.2 Diagnostischer Prozess

4.3 Diagnostische Methoden

4.3.1 Erhebung der Anamnese

4.3.2 Soziale Situation/Diagnostik psychosozialer Bedingungen

4.3.3 Systematische Beobachtung

4.3.4 (Psychologische) Testverfahren

4.3.5 Weitere, körperbezogene Diagnostik

4.4 Integration der Daten

Zusammenfassung

Fragen zur Selbstüberprüfung

Weiterführende Literatur

5 Spezifische Formen von Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen

5.1 Internalisierende Auffälligkeiten

5.1.1 Depression

5.1.2  Angststörungen

5.1.3 Ess-Störungen

5.2 Externalisierende Auffälligkeiten

5.2.1 AD‍(H)‌S

5.2.2 Gewalt und Delinquenz

5.3 Komplexe Auffälligkeiten

5.3.1 Borderline-Persönlichkeitsentwicklungsstörung

5.3.2 Reaktionen auf schwere Belastungen (Traumafolgestörungen): Symptomatik – Störungsmodelle – Psychotherapie

5.3.3 Drogenmissbrauch und Drogenabhängigkeit

5.3.4 Internet- und Computermissbrauch bzw. -abhängigkeit

6 Unterstützungs- und Begegnungsmöglichkeiten bei Verhaltensauffälligkeiten

6.1 Frühe Hilfen

6.1.1 Frühförderung

6.1.2 Frühe Hilfen/Unterstützungsangebote für Eltern und Säuglinge

Zusammenfassung

Fragen zur Selbstüberprüfung

6.2 Jugendhilfe, Hilfen zur Erziehung

Zusammenfassung

Fragen zur Selbstüberprüfung

Weiterführende Literatur

6.3 Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen

6.3.1 Einführung: Traditionen der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie

6.3.2 Grundkonzept und Praxis der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie

Zusammenfassung

Fragen zur Selbstüberprüfung

Weiterführende Literatur

6.4 Kinder- und Jugendpsychiatrie

Weiterführende Literatur

6.5 Der Blick über das Individuum hinaus: Die Zusammenarbeit mit Eltern und sonstigen Bezugspersonen

6.5.1 Begleitende Zusammenarbeit mit Bezugspersonen

6.5.2 Elternkurse

Zusammenfassung

Fragen zur Selbstüberprüfung

6.6 Prävention und Resilienzförderung

6.6.1 Präventionsprogramme, die auf eine allgemeine Entwicklungsförderung abzielen

6.6.2 Präventionsprogramme mit spezifischer Zielrichtung

Zusammenfassung

Fragen zur Selbstüberprüfung

Weiterführende Literatur

Literatur

Stichwortverzeichnis

Kohlhammer

Der Autor und die Autorin

Prof. Dr. Klaus Fröhlich-Gildhoff, Jg. 1956, war bis 2020 hauptamtlicher Dozent für Klinische Psychologie und Entwicklungspsychologie an der Evangelischen Hochschule Freiburg und ist jetzt noch Co-Leiter des Zentrums für Kinder- und Jugendforschung (ZfKJ) an der EH Freiburg.Approbation als Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Zusatzausbildungen in Psychoanalyse (DGIP, DGPT), Personzentrierter Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen (GwG), Gesprächspsychotherapie (GwG). Langjährige Tätigkeit als niedergelassener Psychotherapeut und als Geschäftsführer eines Jugendhilfeträgers. Supervisor bzw. Dozent/Ausbilder bei verschiedenen Psychotherapie-Ausbildungsstätten.

Prof. Dr. Rieke Hoffer, ist Psychologin und approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Sie promovierte zu Verhaltensauffälligkeiten im Kindergartenalter aus der Perspektive von Eltern und pädagogischen Fachkräften. Seit 2021 ist sie Professorin für Soziale Arbeit im Kontext von Kindheit, Jugend und Familie an der Hochschule Koblenz. Sie ist Studiengangsleitung für Pädagogik der frühen Kindheit.

Klaus Fröhlich-GildhoffRieke Hoffer

Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen

Ursachen, Erscheinungsformen und Antworten

4., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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4., erweiterte und überarbeitete Auflage 2025

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-042756-3

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-042757-0epub: ISBN 978-3-17-042758-7

Vorwort zur 1. Auflage

Das vorliegende Buch versucht, einen Überblick über die wichtigsten Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter sowie die professionellen »Antworten« – also Unterstützungsmöglichkeiten und -angebote – zu geben. In das Buch sind neben der theoretischen Reflexion der relevanten Literatur auch die praktischen Erfahrungen des Autors als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut ebenso eingeflossen, wie Erkenntnisse und Erfahrungen, die im Rahmen der Ausbildung von Studierenden an der Evangelischen Hochschule Freiburg und verschiedenen Universitäten gemacht wurden. Durch diese Erfahrungen ergaben sich Schwerpunktsetzungen und zum Teil die Strukturierungen dieses Buchs.

Das Werk steht an der Schnittstelle zwischen akademischer Ausbildung und der praktischen Arbeit mit (verhaltensauffälligen) Kindern und Jugendlichen. Es möchte die Tätigkeit von (angehenden) Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten1 und (angehenden) Psychologen aber auch von Fachkräften in den verschiedenen Feldern der Sozialen Arbeit, der Sozialpädgaogik, der Jugendhilfe und der Heilpädagogik bereichern. Es wäre ohne die Unterstützung von Kollegen und Kolleginnen aus Wissenschaft und Praxis nicht möglich gewesen; für die wertvollen Rückmeldungen möchte ich mich bedanken.

Ein besonderer Dank geht an Michael Böse, Alexandra Ringler und Simone Beuter, die bei der Zusammenstellung und Fertigstellung des Buches äußerst hilfreich waren.

Ein Dank gilt auch dem Team des Zentrums für Kinder- und Jugendforschung an der EH Freiburg und meiner Familie; diese haben mich bei der Fertigstellung unterstützt und mich vor allem in der Endphase ausgehalten. Bedanken möchte ich mich auch bei meiner Kollegin Johanna Hartung, die mich letztlich zu dem Buch angeregt hat und Herrn Dr. Poensgen vom Kohlhammer Verlag, der die Realisierung möglich machte.

Ich freue mich über Anregungen und Verbesserungsvorschläge.

Freiburg, im Sommer 2007Klaus Fröhlich-Gildhoff

Endnoten

1Zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung wird in diesem Text bei personenbezogenen Bezeichnungen in der Regel die männliche Form verwendet. Diese schließt, wo nicht anders angegeben, alle Geschlechtsformen ein (weiblich, männlich, divers).

Vorwort zur 4. Auflage

Als Autor und Autorin sind wir über die Resonanz erfreut, die dieses Buch in der Vergangenheit bekommen hat. Seit der Erstauflage sind mittlerweile 16, seit der letzten, der dritten Auflage, sechs Jahre vergangen.

Diesmal treten wir zu zweit auf: Klaus Fröhlich-Gildhoff und Rieke Hoffer haben über viele Jahre wissenschaftlich im Zentrum für Kinder- und Jugendforschung in Freiburg zusammengearbeitet – dabei waren die Begegnung mit und Prävention von »Verhaltensauffälligkeiten« ein wesentlicher Schwerpunkt der gemeinsamen Forschungsprojekte. Dabei haben wir mit der Betrachtung des »Herausfordernd erlebten Verhaltens« in pädagogischen Zusammenhängen eine systemische Perspektive eröffnet: Es sind immer zwei (oder mehr) Personen involviert: Eine Person zeigt ein Verhalten, durch das sich eine andere herausgefordert fühlt. Bei der Analyse und dem Verstehen dieses Verhaltens – und der daran anschließenden Handlungsplanung – sind immer alle Beteiligten in den Blick zu nehmen. Auf diese Aspekte wird im Kap. 2.1 ausführlicher eingegangen.

Aus der Forschungszusammenarbeit sind Weiterbildungs- und Multiplikatorenprojekte entstanden, die wir immer noch mit großer Freude gemeinsam realisieren. Klaus Fröhlich-Gildhoff hat seine Lehrtätigkeit an der Evangelischen Hochschule beendet, Rieke Hoffer eine Professur an der Hochschule Koblenz übernommen. So ist folgerichtig, dass die jüngere Kollegin als Mitautorin dieses Buchprojekt mitträgt, fortführt und kontinuierlich auch in die akademische Lehre einbringt – und dadurch auch unmittelbare Rückmeldungen zu weiteren Verbesserungspotentialen erhält.

Bei der jetzt vorliegen Neubearbeitung sind vor allem die neu bearbeiteten Diagnosesysteme DSM-5 und ICD-11 ebenso wie aktuelle epidemiologische Daten berücksichtigt worden. Da die ICD-11 bisher in Deutschland noch nicht weiter differenziert ist und noch nicht Eingang in die Abrechnungssysteme gefunden hat, werden an den entsprechenden Stellen beide Diagnosesysteme berücksichtigt.

Andere Grundlagen, wie das zentrale Bio-Psycho-Soziale Modell haben sich wiederum nicht so verändert, dass eine völlige Neubearbeitung dieses Buches nötig gewesen wäre. Bei den verschiedenen Formen von Verhaltensauffälligkeiten haben wir jeweils relevante, aktuelle Erkenntnisse zu Diagnostik oder Therapie ergänzt. Die schon in der dritten Auflage neuen Themen – wie übermäßiger Internetgebrauch oder die Unterstützungsstruktur der »Frühen Hilfen« sind weiter ausgebaut worden. Ebenso wird auf gesetzliche Änderungen – wie das »Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG)« oder das »Bundesteilhabegesetz« Bezug genommen.

Eine ausführliche Darstellung des Bereichs der Prävention hätte den Rahmen dieses Buches gesprengt; ein systematischer Überblick zu Programmen und Maßnahmen im Bereich universeller, selektiver und indizierter Prävention findet sich in der Publikation von Klaus Fröhlich-Gildhoff zur Angewandten Entwicklungspsychologie des Kindesalters.

Ein besonderer Dank geht an die Studierenden, Praktikerinnen und Praktiker sowie Kolleginnen und Kollegen, insbesondere im Zentrum für Kinder- und Jugendforschung an der Evangelischen Hochschule Freiburg, die durch Anregungen und Kritik zu mancher Erweiterung wie Präzisierung beigetragen haben.

Ein herzlicher Dank geht auch an unsere Partner, Frau Gaby Fröhlich-Gildhoff und Christoph Hammann-Kloss für ihre Unterstützung und Begleitung.

Wir freuen uns auf Rückmeldungen zu diesem Buch – und hier sind uns die kritischen Hinweise besonders wertvoll.

Kassel und Freiburg, im Herbst 2024Klaus Fröhlich-Gildhoff und Rieke Hoffer

1 Einleitung

In diesem Buch wird versucht, das Thema Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen – und die entsprechenden professionellen Unterstützungsmöglichkeiten – aus einer integrierten, theorieschulenübergreifenden Perspektive zu betrachten. Dabei werden disziplinübergreifend Erkenntnisse zusammengeführt, im Sinne der sich weiterdifferenzierenden »Klinischen Entwicklungspsychologie« (vgl. z. B. Oerter et al. 1999, Röper et al. 2001), »Entwicklungspsychopathologie« (vgl. z. B. Resch et al. 2001) und »Entwicklungswissenschaft« (vgl. z. B. Petermann et al. 2004).

Ausgangspunkt ist zunächst eine Begriffsbestimmung des Gegenstandes »Verhaltensauffälligkeit« und eine Definition und Klassifikation; diese orientiert sich an den etablierten Systemen des ICD und des DSM-5® (Falkal & Wittchen 2015). Die ICD-10 (vgl. Dilling et al. 2002) wurde beginnend ab dem 1. 1. 2022 von der ICD-11 (BfArM, 2022) in Deutschland abgelöst, beginnt allerdings erst langsam, sich auf praktischer Ebene bei der Klassifizierung seelischer (und körperlicher) Erkrankungen durchzusetzen. So schreibt das »Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizintechnik« (BfArM, 2022) hierzu: »Die Einführung der ICD-11 in Deutschland zur Morbiditätskodierung wird aufgrund der hohen Integration der ICD im deutschen Gesundheitswesen und der damit verbundenen Komplexität noch mehrere Jahre in Anspruch nehmen und kann auch die für die Mortalitätskodierung angedachte flexible Übergangszeit überschreiten«. Es wird daher die »alte« ICD 10 immer auch erwähnt werden.

Danach wird das allgemeine bio-psycho-soziale Modell zur Erklärung der Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten entwickelt. Neben einer (entwicklungs-)‌psychologischen Perspektive, bei der die (frühen) Interaktionserfahrungen von Kindern im Fokus stehen, ist die Bedeutung von Risiko- und Schutzfaktoren für die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben und Lebensanforderungen ein zentrales Thema.

Im Weiteren werden die häufigsten Formen von Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter dezidiert betrachtet:

Nach einer spezifischen Definition wird dann jeweils auf die Epidemiologie eingegangen; hier werden neben den Prävalenzraten auch Verläufe und Komorbiditäten referiert, sofern dazu Daten vorlagen. Die jeweiligen Beschreibungen der Ursachen orientieren sich an dem bio-psycho-sozialen Grundmodell.

Abschließend werden spezifische Therapie- bzw. Unterstützungsformen aufgezeigt. Hierbei bestand/besteht das logische Problem, dass diese Unterstützungsmöglichkeiten und -angebote in systematischer Weise erst im sechsten Kapitel des Buches in ihren Grundlagen aufgezeigt werden. In den jeweiligen Kapiteln zu den einzelnen Verhaltensauffälligkeiten wird auf Schwerpunkte in Richtung eines störungsspezifischen Vorgehens eingegangen; der Grundansatz ist dabei jedoch folgender: Grundlage des unterstützenden pädagogischen oder therapeutischen Handelns ist ein tragfähiges Beziehungsangebot – auf dieser Grundlage werden individuums- und störungsspezifische Begegnungsformen und Interventionen gestaltet.

Die Abschnitte über die einzelnen Formen von Verhaltensauffälligkeiten stehen dabei für sich und können daher isoliert betrachtet (gelesen) werden. Daher treten vereinzelt Überschneidungen – auch zu dem allgemeinen Modell – auf. Wichtige Querverweise sind angezeigt.

Im sechsten Kapitel werden dann systematisch die Antworten, die Unterstützungs- und Begegnungsmöglichkeiten bei Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen referiert. Zunächst wird ein Überblick über die frühen Hilfen (das allgemeine Modell der ›Frühen Hilfen‹, die [pädagogische] Frühförderung sowie Hilfen für Säuglinge und Eltern) gegeben. Dann wird der wichtige Bereich der Kinder- und Jugendhilfe und besonders der der Hilfen zur Erziehung – von der Erziehungsberatung über die Heimerziehung bis zur Einzelbetreuung – vorgestellt.

Der ambulanten Psychotherapie ist ein eigenes Kapitel gewidmet, wobei auch hier versucht wird, einen integrativen Ansatz psychotherapeutischen Handelns – im Sinne einer allgemeinen Psychotherapie für Kinder und Jugendliche – vorzustellen, der auf empirischen Erkenntnissen beruht. Ein Blick über das Individuum hinaus, die Betrachtung der Zusammenarbeit mit Eltern und anderen Bezugspersonen, schließt sich an.

Ein Überblick über Präventionsmöglichkeiten schließt dieses Kapitel ab.

Ein Buch wie das vorliegende kann nicht den Anspruch erheben, einen vollständigen Überblick über alle wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Thematik zusammenzutragen; es kann auch nicht auf alle Formen der Verhaltensauffälligkeiten eingehen. Es soll jedoch einen systematischen Ein- und vor allem Überblick geben. Dieser wird ergänzt durch weiterführende Literaturhinweise.

2 Begriffsbestimmung: Was ist »verhaltensauffällig«?

2.1 Definition‍(sversuche)

Dieses Buch hat »Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen« zum Gegenstand; sofort stellt sich die Frage, was denn »verhaltensauffällig« – im Gegensatz zu »verhaltensunauffällig« – ist. Genauso sind in diesem Zusammenhang andere Begriffe von Bedeutung: seelische Störung, seelische Erkrankung (vs. seelische Gesundheit), seelische Behinderung, Normalität und Abweichung etc. Um zu einem klareren Begriff von Auffälligkeit oder Störung eines Verhaltens zu kommen, sind drei Bezugspunkte wichtig: Zum einen stellt sich grundsätzlich die Frage, ob es sich bei der Unterscheidung auffällig vs. unauffällig um ein Kontinuum mit zwei Polen handelt, also ob ein Verhalten je nach Ausprägungsgrad, zeitlichem Verlauf usw. mehr dem einen oder auch manchmal dem anderen Pol zuzuordnen ist oder nicht. Oder ob demgegenüber eine klare qualitative Unterscheidung zwischen unauffälligem Verhalten einerseits und auffälligem, gestörtem Verhalten andererseits zu treffen ist.

Zum zweiten ist »Auffälligkeit« immer in soziale Zusammenhänge eingebettet: Ein von einer Person gezeigtes Verhalten wird von einer (oder mehreren) anderen als »störend« oder »herausfordernd« erlebt. Diese systemische Perspektive verweist auf die soziale Konstruktion des Begriffs der Auffälligkeit, also darauf, dass bei dieser Konstruktion fast immer eine Interaktion vorliegt, aus der die Herausforderung folgt. Damit sind immer mindestens zwei Personen daran beteiligt, wenn »auffälliges« oder »herausforderndes« Verhalten erlebt wird (zu dieser Thematik: Fröhlich-Gildhoff, Hoffer & Rönnau-Böse, 2021; Fröhlich-Gildhoff, Rönnau-Böse & Tinius, 2020)

Zum dritten legt der Terminus »Auffälligkeit« nahe, dass der Bezugspunkt immer eine Norm ist.

2.1.1 Normen

Grundsätzlich lassen sich unterschiedliche Normen unterscheiden:

Soziale NormenSoziale Normen sind durch die jeweilige Bezugsgruppe von der Familie über die Schulklasse bis hin zur Gesellschaft definiert. Soziale Normen sind teilweise in feste Regeln oder auch Gesetze »gegossen«, andererseits können sie auch deutlich variieren. So wird es zu Beginn des ersten Schuljahres noch vielfach toleriert werden, wenn ein Kind im Laufe des Unterrichtes seinen Platz verlässt – dieses Verhalten wird noch als »normal« angesehen – hingegen sollte das Kind am Ende des ersten Schuljahres verinnerlicht haben, dass es »normal«, also der Norm entsprechend ist, dass während der Unterrichtszeit der Platz nicht mehr verlassen wird.

Statistische NormenStatistische Normen beschreiben die Auftretenshäufigkeit von bestimmten Verhaltensweisen oder Merkmalen. Voraussetzung dafür ist, dass diese Merkmale relativ klar klassifizierbar sind und entsprechend gemessen werden können. Dies ist bei physiologischen Merkmalen, wie z. B. der Körpergröße relativ einfach, wird jedoch bei psychischen Merkmalen oder Verhaltensweisen komplizierter – ein typisches, entsprechend definiertes Merkmal ist die Intelligenz. In der Regel werden bei der Erfassung dieser Merkmale – zur Bestimmung einer Norm – relativ große Populationen untersucht und es wird zumeist davon ausgegangen, dass die Verteilung dieser Merkmale dem Modell der Normalverteilung folgt.Wesentliches Kennzeichen der Normalverteilung ist es, dass sich relativ einfach Prozentränge abhängig von der Standardabweichung festlegen lassen; davon ausgehend lassen sich dann auch Grenzen für Normalität bzw. Abweichung festlegen. So lässt sich beispielsweise festlegen, dass die oberen 2,5 % der mit einem Intelligenztest untersuchten Menschen als hochbegabt gelten können: mehr als 97,5 % der Vergleichsgruppe erzielen ein schlechteres Testergebnis (▸ Abb. 2.1).

Funktionale NormHiernach ist derjenige normal, der bestimmte vorgegebene Anforderungen oder Funktionen erfüllen kann.

Ideale NormDanach ist derjenige normal, der insgesamt oder in bestimmten Merkmalen Kennzeichen von Vollkommenheit erfüllt; typische Beispiele hierfür sind Schönheitsideale.

Subjektive NormHiermit ist die individuelle, selbstgesetzte Normalität gemeint, die sich natürlich mit anderen Normen decken kann (vgl. zu den verschiedenen Normbegriffen z. B. Rief & Stenzel, 2012, S, 11 f).

Abb. 2.1:Statistische Normalverteilung. Bei einer Normalverteilung liegen 68 % der Fälle im Bereich MW ± 1 s (Standardabweichung), 95,5 % der Fälle liegen im Bereich MW ± 2 s.

Aus diesen Betrachtungen wird deutlich, dass letztlich alle Normen Übereinkünfte zwischen Menschen sind, also sozialen und/oder gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Dies bedeutet zugleich, dass sich Normen zwischen sozialen Bezugsgruppen, zwischen Populationen, beispielsweise in unterschiedlichen Ländern, aber auch im historischen Kontext verändern (können).

Die Problematik von begrifflichen Zuschreibungen, wie Verhaltensstörung oder Verhaltensauffälligkeiten verdeutlicht Kriz (2004) an dem Beispiel, wenn gesagt wird »Hans hat eine Verhaltensstörung« – so kommt es zu einer »Verdinglichung«, zu einer starren, statischen Festschreibung. »Schon die Formulierung: ›Hans verhält sich gestört‹ lässt Fragen aufkommen wie: ›Wann?‹ und: ›In welchem Zusammenhang?‹. Und deren nähere Erörterung führt zu einem komplexen Gefüge aus unterschiedlichen Situationen, in denen manches von Hans' Störungen verständlich wird (als ›natürliche Reaktion‹ auf das aktuelle Verhalten seiner Schwester) oder in anderem Licht erscheint (als ›Signal für mehr Aufmerksamkeit‹ oder als ›Ablenken vom sich anbahnenden Streit von seinen Eltern‹)« (ebd., 61 f).

Es wird also deutlich: Es ist schwierig, klare Kriterien für ein Abweichen von der Norm festzulegen und damit Verhaltensweisen als »auffällig« zu definieren. Daher sollen zwei Bezugssysteme hierfür beschrieben werden:

2.1.2 Kriterien für »Auffälligkeit« bzw. »Störung«

Anhand der gängigen Klassifikationssysteme psychischer Störungen (s. u.) stellen Petermann et al. (2002a) fest, dass »nicht nur psychische Symptome an sich von Bedeutung [sind] für die Bestimmung, ob eine psychische Störung vorliegt oder nicht, sondern auch

die Stärke und Anzahl der Symptome,

die mit den Symptomen einhergehenden psychosozialen Beeinträchtigungen und Leistungsbeeinträchtigungen, die auch durch mögliche Ausgleichsprozesse nicht mehr verhindert werden können, sowie

die Dauer der Symptomatik, Verlaufskriterien, und deren Beeinträchtigungen« (ebd., S. 30 f).

Petermann verdeutlicht dies nochmals in einer entwicklungsorientierten Perspektive anhand eines Beispiels »für normales und negatives Sozialverhalten« (▸ Tab. 2.1):

Tab. 2.1:Beispiele für normales und negatives Sozialverhalten (aus: Petermann 2002a; mit freundlicher Genehmigung des Hogrefe Verlags)

Altersstufe

Normales Verhalten

Problematisches Verhalten

Psychische Störung

Kleinkindalter(bis 2 Jahre)

Kind kommt Anforderungen nach und lässt sich helfen

Kind verweigert Anforderungen; kann jedoch von Erwachsenen beeinflusst werden

Kind verweigert sich völlig

Frühe Kindheit(3.–5. Lebensjahr)

Kind ist eigenständig, ohne Anforderungen abzulehnen

Kind ärgert andere absichtlich

Kind ist häufig wütend und beleidigt andere

Mittlere Kindheit(6.–12. Lebensjahr)

Kind behauptet angemessen seinen Standpunkt

Kind streitet häufig

Kind ist häufig wütend und beleidigt andere

Jugendalter(ab 13 Jahre)

Kind ist im Konfliktfall kooperationsbereit und kompromissfähig

Versucht unangemessen, sich Vorteile zu verschaffen

Erpresst andere

Harnach-Beck (2000) schlägt einen Katalog von Kriterien vor, anhand derer es möglich ist, einzuschätzen, »wie bedeutsam ein Abweichen von der Norm ist« (ebd., S. 89):

1.

Alter und Geschlecht»Da Kinder Menschen sind, die sich noch in der Entwicklung befinden, ist es vor allem erforderlich, ihr Verhalten im Bezug zu ihrem Alter zu sehen« (ebd.). Neben der Altersnorm gibt es auch Normen für geschlechtsspezifisches Verhalten.

2.

Dauer des Verhaltens»Ob ein Verhalten als abweichend zu betrachten ist, hängt ferner davon ab, wie überdauernd es ist. Kurze Zeiten von Verstimmung, ausgeprägten Ängsten, schlechten Träumen, Bauchschmerzen kennt jedes Kind. Werden daraus anhaltend unangenehme Zustände, so besteht ein Grund zum Eingreifen« (ebd., S. 90).

3.

Gegenwärtige LebensumständeUnter besonderer Belastung, wie Wohnortwechsel, Trennung der Eltern etc. sind vorübergehende Stressreaktionen zu erwartende Ereignisse, sie verschwinden im Allgemeinen in dem Maße, in dem das Kind und seine Familie lernen, mit der veränderten Situation besser umzugehen.

4.

Soziokulturelle ZugehörigkeitDie Normvorstellungen differieren sowohl schichtspezifisch als auch hinsichtlich der Zugehörigkeit beispielsweise zu einer ethnischen Gruppe.

5.

Art und Vielfalt der SymptomeEinige Symptome – z. B. massiv aggressives Verhalten – sind eher auffällig und beeinträchtigen das Umfeld, andere – wie zum Beispiel das nächtliche Einnässen – können sich möglicherweise nur auf einen Lebensbereich beschränken und weniger dramatisch wirken. »Die Menge der von einem Kind hervorgebrachten Verhaltensweisen liefert ebenfalls Hinweise auf die Schwere der Beeinträchtigungen« (ebd.).

6.

Häufigkeit und Intensität von Symptomen; SituationsabhängigkeitHier ist zu fragen »wie viele Bereiche des täglichen Lebens wie stark betroffen [sind]« (ebd., S. 91). Es sind genau die Umstände zu betrachten, ob dieses Verhalten z. B. nur in der Schule oder auch in anderen Zusammenhängen auftritt.

7.

Veränderungen im Verhalten des Kindes»Zu fragen ist, wie ungewöhnlich das beobachtete Verhalten für dieses Kind ist. Eine abrupte Verhaltensänderung, die nicht aus dem üblichen Entwicklungsverlauf zu erklären ist, sollte immer als Warnsignal gesehen werden« (ebd.).

Im Unterschied zu diesen kategoriegeleiteten Perspektiven wird »in der Entwicklungswissenschaft (...) eine Störung (...) als Entwicklungsabweichung angesehen (...). Das Wechselspiel zwischen internalen und Umweltereignissen bestimmt, welcher Entwicklungspfad eingeschlagen wird. Störungen werden demnach nicht einfach als eine Abweichung nur zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben angesehen, sondern werden vielmehr als natürliche Folge spezifischer Entwicklungsphasen verstanden (...). Genauso, wie die normale Entwicklung ist die abweichende Entwicklung ein selbstorganisierendes Phänomen, dessen endgültiger Ausgang jedoch in einem bedeutenden Grad fehlorganisiert ist (Courchesne, Townsend & Chase 1995). Dadurch wird

die Ausbildung neuer Strukturen und Funktionen behindert,

das Formen anderer und später erscheinender Strukturen und Funktionen verzerrt,

die Konstruktion von sonst nicht auftretenden Strukturen und Funktionen ermöglicht und/oder

die Ausbildung und der Gebrauch vorher entstandener Strukturen und Funktionen begrenzt« (Petermann et al. 2004, S. 300 f).

So können bestimmte Verhaltens- oder Entwicklungsauffälligkeiten als »Extremvarianten der normalen Variabilität« (ebd.) betrachtet werden.

Dabei sind immer wieder die systemischen Zusammenhänge zu beachten: Die »Auffälligkeit« des Verhaltens wird dadurch sichtbar, dass das gezeigte Verhalten einer Person für diese oder/und andere zu einer Herausforderung wird: Das Verhalten wird als »störend«, »einschränkend«, »Leid erzeugend« etc. erlebt.

2.1.3 Seelische Erkrankung

In den verschiedenen Klassifikationssystemen (s. u.), aber auch in der durch Verordnungen oder Gesetze geregelten »Behandlung« wird es als nötig empfunden, seelische Störungen bzw. seelische Erkrankungen zu definieren. Während aufgrund des Entwicklungsaspektes und der Umgebungsabhängigkeit, aber auch der »dimensionalen Strukturen psychischer Störung im Kindesalter« (Petermann 2002a, S. 32) einige Autoren den Krankheitsbegriff für irreführend halten und eher an dem Begriff der »Störung« festhalten, werden beispielsweise in den Psychotherapierichtlinien des »Gemeinsamen Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen« (2021, S. 4) seelische Erkrankungen wie folgt definiert: Seelische Erkrankungen werden als »krankhafte Störung der Wahrnehmung, des Verhaltens, der Erlebnisverarbeitung, der sozialen Beziehung und der Körperfunktionen verstanden. Es gehört zum Wesen dieser Störungen, dass sie der willentlichen Steuerung durch den Patienten nicht mehr oder nur zum Teil zugänglich sind. Krankhafte Störungen können durch seelische oder körperliche Faktoren verursacht werden; sie werden in seelischen und körperlichen Symptomen und in krankhaften Verhaltensweisen erkennbar, denen aktuelle Krisen seelischen Geschehens, aber auch pathologische Veränderungen seelischer Strukturen zugrunde liegen können«.

In dem Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation WHO ICD-10 (»Internationale Klassifikation psychischer Störungen«) wird auf den Störungsbegriff wie folgt eingegangen: »Störung' ist kein exakter Begriff. Seine Verwendung in dieser Klassifikation soll einen klinisch erkennbaren Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten anzeigen, die immer auf der individuellen und oft auch auf der Gruppen- oder sozialen Ebene mit Belastungen, mit Beeinträchtigungen von Funktionen verbunden sind. Soziale Abweichungen oder soziale Konflikte allein, ohne persönliche Beeinträchtigungen sollten nicht als psychische Störungen im hier definierten Sinne angesehen werden« (Dilling et al. 1993, S. 23). In der Neuformulierung des ICD-11 heißt es: »Psychische Störungen, Verhaltensstörungen und neuronale Entwicklungsstörungen sind Syndrome, die durch eine klinisch bedeutsame Störung der Kognition, der Emotionsregulation oder des Verhaltens einer Person gekennzeichnet sind, die eine Störung der psychologischen, biologischen oder entwicklungsbedingten Prozesse widerspiegelt, die den psychischen und verhaltensbezogenen Funktionen zugrunde liegen. Diese Störungen sind in der Regel mit Stress oder Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen verbunden« (BfArM, 2022).

2.1.4 Seelische Behinderung

Vom Begriff bzw. der Kategorie der »Auffälligkeit« und »psychischen Störung« muss noch derjenige der »seelischen Behinderung« unterschieden werden. Dieser Begriff hat im Rahmen der Sozialgesetzgebung (Bundesteilhabegesetz, Wiedereingliederung SGB IX und Kinder- und Jugendhilfegesetz, SGB VIII, § 35a) eine besondere Bedeutung:

In der Bundesrepublik Deutschland gilt seit dem 1. 1. 2018 das Bundesteilhabegesetz. Nach dieser neuen Fassung des Neunten Sozialgesetzbuchs versteht man nun gemäß § 2 Absatz 1 Satz 1 (SGB IX) unter Behinderung:

»Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können«. Diese deutsche Gesetzesdefinition des Behindertenbegriffs basiert auf der Behindertenrechtsdefinition der Vereinten Nationen.

Die Eingliederung und damit die Finanzierung von Unterstützungsmaßnahmen für Kinder und Jugendliche mit (drohenden) seelischen Behinderungen ist rechtlich im Sozialgesetzbuch XIII und hier im §35a verankert. Dort heißt es:

»Kinder oder Jugendliche haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn

ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und

daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.

Von einer seelischen Behinderung bedroht im Sinne dieser Vorschrift sind Kinder oder Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. § 27 Absatz 4 gilt entsprechend«.

Zur Feststellung der »Abweichung der seelischen Gesundheit« wird die Stellungnahme eines Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie oder eines Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten benötigt. Bezugspunkt muss dabei eine Diagnose nach dem ICD sein. Die Entscheidung über die Hilfe obliegt dann dem zuständigen Jugendamt.

Laut § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen behindert, »wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist«. Die zu erwartende seelische Behinderung muss nach entsprechender ärztlicher oder sonstiger fachlicher Erkenntnis mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 % eingeschätzt werden (Lempp 2004). Nach Lempp (1995) kann eine Behinderung auf drei Ebenen beschrieben werden:

1.

Auf einer objektiven Ebene wird versucht, das Ausmaß der Beeinträchtigung bei der Lebensbewältigung zu ermessen.

2.

Die zweite Ebene betrifft das Ausmaß einer möglichen Beziehungsstörung, die durch eine Behinderung zwischen dem betroffenen Menschen und seinen Mitmenschen auftreten könnte.

3.

Die subjektive Seite einer Behinderung, also wie weit sich ein Betroffener selbst als behindert empfindet, stellt eine dritte Ebene dar.

»Der Begriff der seelischen Behinderung kann nicht scharf abgegrenzt werden. Grundsätzlich können alle psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter zu einer seelischen Behinderung führen. Der Schwerpunkt liegt dabei aber nicht auf der Erkrankung, sondern auf der krankheitsbedingten Beeinträchtigung der Eingliederung in die Gesellschaft und der langen Dauer der Erkrankung« (Hahn & Herpertz-Dahlmann o. J.;Fegert et al. 2004).

2.1.5 Schlussfolgerung

Letztlich bedeuten diese Betrachtungen, dass offensichtlich der Begriff der »Auffälligkeit« oder »Störung« nicht punktgenau definiert werden kann. Es handelt sich eher um eine (oder mehrere) Dimension‍(en), die einer Entwicklungsdynamik unterliegen. Die Definition dessen, was normal oder abweichend ist, ist immer an soziale Prozesse gebunden Oftmals stellt das »auffällige« Verhalten eine besondere Herausforderung für die soziale Umwelt dar (vgl. Fröhlich-Gildhoff, Rönnau-Böse & Tinius, 2020). Bei der Betrachtung einer (potenziellen) Auffälligkeit sind die Symptome im Kontext zu betrachten, in ihrem jeweiligen Verlauf und in den Auswirkungen (Leiden!) auf das Individuum und/oder dessen Umwelt. Zusammengefasst: »Psychische Störung' ist ein psychologisches Konstrukt für ein komplexes Phänomen, das in unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen verwendet wird. Daher ist dieses Konstrukt auch nicht unabhängig von sozialen Bewertungen und Konventionen, sondern wird modifiziert durch den jeweiligen medizinischen, juristischen, politischen und allgemein-gesellschaftlichen Kontext« (Bastine 1998, S. 175).

Dennoch ist es sinnvoll, Symptome und Auffälligkeiten – bei Beachtung der genannten Einschränkungen und Probleme – unter Diagnose-Begriffen zusammenzufassen: so sind individuumsübergreifende Betrachtungen der Störungen oder Auffälligkeiten möglich, die zu allgemeineren Ursachen/Erklärungszusammenhängen, zur Identifikation von Risiko- und Schutzfaktoren, aber auch zu spezifischen Therapie- oder Unterstützungsmöglichkeiten führen. Diese Erkenntnisse können dann beim individuellen Vorliegen eines Problems (erste) Orientierung bieten.

In der Diagnostik und Klassifikation psychischer Störungen lassen sich zwei Ansätze unterscheiden, die auf unterschiedlichen wissenschaftlichen Traditionen basieren:

1.

»In der kategorialen Diagnostik werden psychische Störungen als diskrete, klar voneinander und von psychischer Normalität abgrenzbare und unterscheidbare Störungseinheiten beschrieben. Diesem kategorialen Ansatz sind die beiden wichtigsten klassischen klinischen Klassifikationssysteme, die internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (...) und das diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen (DSM) (...) verpflichtet.

2.

Durch eine dimensionale Diagnostik werden psychische Merkmale einer Person entlang eines Kontinuums erfasst und beschrieben, sie (...) beschreiben psychische Auffälligkeiten anhand von empirisch gewonnenen Dimensionen« ( Döpfner, M., Lehmkuhl, G., Heubrock, D. & Petermann, F., 2000a, S. 7).

Auf diese Klassifikationssysteme soll im Folgenden dezidierter eingegangen werden.2

2.2 Klassifikationssysteme

2.2.1 Kategoriale Klassifikation

International haben sich zwei Systeme zur Klassifikation psychischer Störungen durchgesetzt: Zum einen das System der »Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD)« der Weltgesundheitsorganisation WHO, das in seiner elften Version vorliegt (BfArM, 2022) und die immer noch gebräuchliche zehnte Version (ICD-10, deutsch: Dilling et al. 2002) ablösen wird. Zum anderen das »Diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen« (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), das aktualisiert in seiner fünften Version vorliegt (DSM-5, American Psychiatric Association 2013; deutsche Ausgabe: Falkal & Wittchen 2015). Diese Systeme basieren auf der breiten klinischen Erfahrung einer Vielzahl von Fachleuten und auf dezidierteren statistischen Analysen. Die Diagnosesysteme haben sich im Laufe ihrer Revisionen zunehmend aneinander angeglichen; eine Gegenüberstellung der einzelnen Diagnosekategorien für den Bereich Kinder und Jugendliche findet sich bei Petermann et al. (2002a, S. 35 ff) bzw. Döpfner et al. (2000a, S. 11 ff).

In diesen Klassifikationssystemen werden lediglich Symptome zusammengefasst, so dass einzelne Störungsbilder beschrieben werden bzw. zu beschreiben versucht werden. Diese Klassifikationssysteme machen keine Aussagen über Ursachen der jeweiligen Störungen und mögliche Therapien. Eine konsequente Weiterführung dieses Systems sind die »Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-‍, Kindes- und Jugendalter« der »Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie« (2016). Hier werden die unterschiedlichen Störungsbilder – bezogen auf die ICD-Klassifikation – hinsichtlich der Symptome, des Schweregrads, der störungsspezifischen Diagnostik und Differenzialdiagnostik, einer multidimensionalen oder -axialen Bewertung sowie der Interventionen beschrieben (https://www.dgkjp.de/wissen/aktuelle-leitlinien/).

Das System des ICD im deutschen Raum ist weiter verbreitet und stellt zudem die Grundlage der Klassifikationen im deutschen Gesundheitssystem dar.

Im Kapitel F der »Internationalen Klassifikation psychischer Störungen –ICD-10« sind klinisch-diagnostische Leitlinien spezifisch für psychische Störungen kategorisiert und klassifiziert (Dilling et al. 2002). Die psychischen Störungen sind nach folgenden Gesichtspunkten geordnet:

F0Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen

F1Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen

F2Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen

F3Affektive Störungen

F4Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen

F5Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren

F6Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen

F7Intelligenzminderungen

F8Entwicklungsstörungen

F9Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend

»Die Abschnitte F80–F89 (Entwicklungsstörungen) und F90–F98 (Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend) enthalten nur für die Kindheit und Jugend spezifische Störungen. Viele Störungen aus anderen Abschnitten können bei Personen jeden Alters auftreten und sind, wenn nötig, auch auf Kinder und Jugendliche zu verwenden. Beispiele sind Essstörungen (F50), Schlafstörungen (F 51) und Geschlechtsidentitätsstörungen (F64). Einige phobische Störungen im Kindesalter werfen spezielle klassifikatorische Probleme auf (...)« (Dilling et al. 2002, S. 24).

Die ICD-11 (BfArM, 2022) folgt einer neuen Kategorisierung und es sind im Kapitel 06 »Psychische Störungen, Verhaltensstörungen oder neuronale Entwicklungsstörungen« folgende Unterkapitel aufgeführt:

Neuronale Entwicklungsstörungen

Schizophrenie oder andere primäre psychotische Störungen

Katatonie

Affektive Störungen

Angst- oder furchtbezogene Störungen

Zwangsstörung oder verwandte Störungen

Störungen, die spezifisch Stress-assoziiert sind

Dissoziative Störungen

Fütter- oder Essstörungen

Ausscheidungsstörungen

Störungen des körperlichen Erlebens oder der körperlichen Belastung

Störungen durch Substanzgebrauch oder Verhaltenssüchte

Störungen der Impulskontrolle

Disruptives Verhalten oder dissoziale Störungen

Persönlichkeitsstörungen und zugehörige Persönlichkeitsmerkmale

Paraphile Störungen

Artifizielle Störungen

Neurokognitive Störungen

Psychische Störungen oder Verhaltensstörungen in Zusammenhang mit Schwangerschaft, Geburt oder Wochenbett

Beispielhaft für die verschiedenen Kategorien seien hier die »Störungen, die spezifisch Stress-assoziiert sind« aufgeführt:

6B40 Posttraumatische Belastungsstörung

6B41 Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung

6B42 Verlängerte Trauerstörung

6B43 Anpassungsstörung

6B44 Reaktive Bindungsstörung

6B45 Störung der sozialen Bindung mit enthemmtem Verhalten

6B4Y Sonstige näher bezeichnete Störungen, die spezifisch Stress-assoziiert sind

6B4Z Störungen, die spezifisch Stress-assoziiert sind, nicht näher bezeichnet

Um Inhalt und Logik des Systems weiter zu vertiefen ist aus diesem Katalog exemplarisch die Beschreibung der »Reaktiven Bindungsstörung« dargestellt:

»Die reaktive Bindungsstörung ist durch stark abnormes Bindungsverhalten in der frühen Kindheit gekennzeichnet, das im Zusammenhang mit einer Geschichte grob unangemessener Kinderbetreuung (z. B. schwere Vernachlässigung, Misshandlung, institutionelle Deprivation) auftritt. Selbst wenn eine adäquate primäre Betreuungsperson neu hinzukommt, wendet sich das Kind nicht an die primäre Betreuungsperson, um Trost, Unterstützung und Pflege zu erhalten, zeigt nur selten sicherheitssuchende Verhaltensweisen gegenüber einem Erwachsenen und reagiert nicht, wenn Trost angeboten wird. Die reaktive Bindungsstörung kann nur bei Kindern diagnostiziert werden, und die Merkmale der Störung entwickeln sich in den ersten 5 Lebensjahren. Die Störung kann jedoch nicht vor dem Alter von 1 Jahr (oder einem Entwicklungsalter von weniger als 9 Monaten) diagnostiziert werden, wenn die Fähigkeit zur selektiven Bindung möglicherweise noch nicht voll entwickelt ist, oder im Zusammenhang mit einer Autismus-Spektrum-Störung«.

Sowohl für ICD-10 als auch DSM-5 wurden sogenannte Klassifikationen auf mehreren »Achsen« oder Bereichen (»multiaxiale Klassifikation«) beschrieben und es wurden Diagnosebögen entwickelt, um eine entsprechende diagnostische Einordnung bzw. Kategorisierung vornehmen zu können. Nach Remschmidt et al. (2000) lassen sich folgende Achsen beschreiben (▸ Tab. 2.2):

Tab. 2.2:Multiaxiale Klassifikation

Achse

Beschreibung

1

Psychische Symptomatik (Klinisches psychiatrisches Syndrom)

2

Umschriebene Entwicklungsstörung

3

Intelligenzniveau

4

Körperliche Symptomatik

5

Aktuelle abnorme psychosoziale Umstände

6

Globalbeurteilung der psychosozialen Anpassung

2.2.2 Dimensionale Klassifikation

Aus der Kritik am kategorialen System und der zum Teil mangelnden Reliabilität von Diagnosen (vgl. Döpfner et al.2000a, S. 17 f) besonders bei wenig homogenen diagnostischen Klassen wurde aufgrund von breiten Fragebogen- bzw. Befundsystemen mittels Faktorenanalysen ein Modell entwickelt, das der Dimensionalität von psychischen Auffälligkeiten gerechter wird. Dabei hat sich international das von Achenbach (1991, 1997) entwickelte Diagnosesystem durchgesetzt. Dieses System beschreibt die Dimensionen psychischer Störungen wie in Tabelle 2.4 dargestellt (▸ Tab. 2.3).

Tab. 2.3:Dimensionen psychischer Störungen nach Achenbach (1991a; b; c; d) (aus: Petermann, 2002a; mit freundlicher Genehmigung des Hogrefe Verlags)

Internalisierende Auffälligkeiten

Sozialer Rückzug: Kinder mit hoher Ausprägung auf der Skala möchten lieber alleine sein, sind verschlossen, weigern sich, zu sprechen, sind eher schüchtern, wenig aktiv und häufiger traurig verstimmt.

Körperliche Beschwerden: Die Skala setzt sich aus Items zusammen, die verschiedene somatische Symptome beschreiben (Schwindelgefühle, Müdigkeit, Schmerzzustände und Erbrechen).

Ängstlich/‌Depressiv: Die Skala erfasst neben einer allgemeinen Ängstlichkeit und Nervosität auch Klagen über Einsamkeit und soziale Ablehnung, Minderwertigkeits-und Schuldgefühle sowie traurige Verstimmung.

Externalisierende Auffälligkeiten

Dissoziales Verhalten: Die Skala erfasst dissoziale Verhaltensweisen (z. B. Lügen, Stehlen, Schule-Schwänzen) und Verhaltensweisen, die häufig in Verbindung mit Dissozialität auftreten (z. B. »ist lieber mit Älteren zusammen«).

Aggressives Verhalten: Die Skala erfasst verbal- und körperlich-aggressive Verhaltensweisen sowie Verhaltensweisen, die häufig in Verbindung mit aggressivem Verhalten auftreten (z. B. »spielt den Clown«, »redet viel«, »sehr laut«).

Gemischte Auffälligkeiten

Soziale Probleme: Die Skala umfasst vor allem Ablehnung durch Gleichaltrige sowie unreifes und erwachsenenabhängiges Sozialverhalten.

Schizoid/‌Zwanghaft: Die Skala erfasst neben den Tendenzen zu zwanghaftem Denken und Handeln auch psychotisch anmutende Verhaltensweisen (Halluzinationen) und eigenartiges, bizarres Denken und Verhalten. Achenbach gibt dieser Skala die Bezeichnung »Thought Problems«.

Aufmerksamkeitsprobleme: Die Skala setzt sich aus Items zur motorischen Unruhe, Impulsivität, zu Konzentrationsstörungen und aus Items zusammen, die häufig in Verbindung mit hyperkinetischem Verhalten auftreten (z. B. »verhält sich zu jung«, »tapsig«).

Die Klassifikationssysteme haben, wie schon beschrieben, eine Bedeutung für die individuumsübergreifende Betrachtung der »Cluster« von Symptomen und damit für eine überindividuelle Ursachenforschung sowie eine hypothesengeleitete, störungsspezifische Interventionsplanung.

2.3 Häufigkeit von Verhaltensauffälligkeiten bzw. psychischen Störungen; Epidemiologie

Ziel epidemiologischer Studien ist es, die Häufigkeit des Auftretens von Verhaltensauffälligkeiten bzw. psychischen Störungen und ihre Verteilung innerhalb bestimmter Bezugsgruppen zu untersuchen. Dabei lassen sich zwei wesentliche Maße unterscheiden:

1.

»Die Prävalenz gibt die Anzahl aller an einer bestimmten Krankheit oder psychischen Störungen leidenden Personen in einer Population zum Untersuchungszeitpunkt wieder (Punktprävalenz). Bezugspunkt für die Prävalenz stellt die Gesamtanzahl aller Personen aus der betreffenden Population dar« (Petermann et al. 2004, S. 311).

2.

Die Inzidenz hingegen »gibt die Anzahl neu aufgetretener Fälle einer bestimmten Erkrankung oder psychischen Störung pro 10 000 (...) Personen pro Jahr wieder. Bezugspunkt für die Inzidenz ist nicht die gesamte Population, sondern diejenigen, die eine bestimmte Störung überhaupt noch entwickeln können« (ebd.).

Aufgrund unterschiedlicher Untersuchungsmethoden, befragter Bevölkerungsgruppen, verschiedener Instrumente, etc. ergeben sich große Unterschiede bezüglich der Angaben zur Auftretenshäufigkeit der seelischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Petermann et al. (2004) sprechen von »methodischen Inkonsistenzen epidemiologischer Studien« (ebd., S. 12) und führen neben unterschiedlichen Erhebungstechniken, Stichprobenzusammenstellungen, Stichprobengrößen, Erfassungszeiträumen, Studiendesigns und Diagnosekriterien (z. B. ICD vs. DSM), unterschiedlichen Cut-off-Werten etc. auch die unterschiedlichen Informationsquellen an.

Die Übereinstimmung zwischen dem Selbsturteil von Kindern/Jugendlichen und dem Urteil der Eltern in Bezug auf psychische Auffälligkeiten ist gering bis moderat. Dies gilt inzwischen als stabiles Phänomenen (Achenbach, 2006), das auch in Metaanalysen3 bestätigt wird. So zeigen sich in der Metaanalyse von De Los Reyes et al. (2015), in der 341 Studien zusammengefasst werden, nur geringe Übereinstimmungen in Bezug auf internalisierende Auffälligkeiten (r=.25), sowie auf externalisierende Auffälligkeiten (r=.30; Gesamter Mittelwert r=.28). Diese geringen Übereinstimmungen führen zu großen Unterschieden in den Angaben der Prävalenzen, wie sich z. B. bei den Angaben zur Prävalenz der Störung des Sozialverhaltens bzw. aggressiv-dissozialen Verhaltens zeigt, die zwischen 4,2 und 14,5 % (vgl. Fröhlich-Gildhoff 2006b). schwanken.

Petermann fasst die Ergebnisse von Ihle & Esser (2002) zusammen, die die Ergebnisse mehrerer nationaler und internationaler Studien zusammentragen. »Ihren Überblicken zufolge lässt sich ein Median der berichteten Prävalenzraten psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter von 18 % angeben, mit einem Range von 6,8 – 37,4 % (ca. drei Viertel der berichteten Prävalenzen lagen zwischen 15 und 22 %). Zu den häufigsten Störungen (jeweils die durchschnittliche Prävalenz) zählen Angststörungen (10,4 %), gefolgt von dissozialen (7,5 %), depressiven (4,4 %) und hyperkinetischen Störungen (4,4 %). Internalisierende Störungen traten jedoch seltener bei Kindern auf, die jünger als 13 Jahre alt sind. Interessant ist darüber hinaus, dass bis zum Alter von 13 Jahren höhere Gesamtprävalenzraten bei Jungen gefunden werden, mit dem Einsetzen der Pubertätgleichen sich die Störungsraten für Jungen und Mädchen an oder Mädchen sind im Jugendalter insgesamt häufiger von psychischen Störungen betroffen« (Petermann et al. 2004, S. 312).

International legten Polanczyk und Kollegen 2015 erstmals eine Metaanalyse zur weltweiten Prävalenz psychischer Erkrankungen vor. Sie fassten dabei 41 Studien aus 27 Ländern zusammen, die von 1985 bis 2012 erschienen. Berücksichtigt wurden dabei nur Studien mit einem kategorialen Ansatz, die die vier größten Störungsgruppen umfassten, nämlich Angststörungen, externalisierende Störungen des Sozialverhaltens, ADHS sowie emotionale Störungen. Dabei ergab sich eine gemittelte Prävalenz bei Kindern und Jugendlichen von 13,4 % (CI 95 %: 11,3 – 15,9). Angsterkrankungen sind demzufolge weltweit mit 6,5 % (CI 95 %: 4,7 – 9,1) am häufigsten bei Kindern und Jugendlichen vertreten, gefolgt von externalisierenden Sozialverhaltensstörungen mit 5,7 % (CI 95 %: 4,0 – 8,1), gefolgt von ADHS mit 3,4 % (CI 95 %: 2,6 – 4,5) sowie depressiven Störungen mit 2,6 % (CI 95 %: 1,7 – 3,9).

Jedoch zeigten sich auch hier große Unterschiede in den Prävalenzen der Einzelstudien. Diese sind durch methodische Differenzen erklärbar. Keine größere Rolle schienen regionale oder nationale Unterschiede zu spielen, und anders als erwartet, gab es auch keine Zunahme der Erkrankungen über die Zeit. Es ist allerdings, neben methodischen Kritikpunkten4, davon auszugehen, dass die Prävalenzen in der Studie unterschätzt werden, da wichtige Störungsgruppen, wie z. B. Essstörungen und Zwangsstörungen, nicht berücksichtigt wurden. Barican et al. (2022) fassten in einer Metaanalyse, also der quantitativen Kombination mehrerer Forschungsarbeiten, die Ergebnisse von 14 Studien aus 11 entwickelten Industrieländern (nicht Deutschland) aus den Jahren 2003 bis 2020 zusammen, also ebenfalls vor dem Auftreten von COVID-19. Berücksichtigt wurden 61 545 Kinder und Jugendliche im Alter von vier bis 18 Jahren. Dabei ergab sich eine durchschnittliche Prävalenz psychischer Erkrankungen von 12.7 % (95 % CI 10.1 % to 15.9 %; I 2 =99.1 %). Zu den häufigsten Störungen gehörten Angststörungen (5.2 %), gefolgt von hyperkinetischen Störungen (3.7 %), oppositionellen Störungen (3.3 %), Substanzmissbrauch (2.3 %), Störung des Sozialverhaltens (1.3 %) und depressiven Störungen (1.3 %). Dabei hatten 26.5 % der Kinder mit einer psychischen Erkrankung mehr als eine Diagnose (Barican et al., 2022). Hervorzuheben ist bei dieser Studie, dass nur Kinder und Jugendliche eingeschlossen wurden, bei denen durch die Symptome eine deutliche Beeinträchtigung vorlag.

Interpretation der Unterschiede in den Prävalenzen

Während die geringen Zusammenhänge zwischen den Ergebnissen verschiedener Informanten zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen (also den Kindern/Jugendlichen selber, den Eltern, pädagogischen Fachkräften) lange Zeit als methodische Schwäche interpretiert wurden, werden die Diskrepanzen in jüngerer Zeit positiver bewertet und als Informationsquelle im diagnostischen Prozess bewertet, zumal sich eine relativ hohe Stabilität dieser Unterschiede (gute Retest-Reliabilität) zeigt (De Los Reyes, 2011). So liefern die Diskrepanzen zwischen den Urteilen u. a. Informationen dazu, in welchen Kontexten welche Verhaltensweisen wie gezeigt werden, und wie diese von den Kindern/Jugendlichen und Eltern wahrgenommen und bewertet werden. Sie scheinen auch mit einigen Kontextbedingungen zusammenzuhängen, wie z. B. elterlichem Stressempfinden (Bajeux et al., 2018). Zudem weisen einige Studienergebnisse darauf hin, dass Diskrepanzen einen prädiktiven Wert haben, z. B. für den wahrgenommenen Therapieerfolg (Asbrand, Foltys, Ebeling & Tuschen-Caffier, 2021). Diese Herausforderungen müssen bei der Interpretation der vorliegenden Studien berücksichtigt werden.

In der breitesten Studie innerhalb Deutschlands, dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) des Robert Koch Instituts, wurden in der Basiserhebung von 2003 bis 2006 (Hölling et al. 2007) und insgesamt vier Wiederholungswellen (Bella Welle 1 und Welle 2: 2004 bis 2008, vgl hierzu Hölling et. al. 2014, Klasen et al. 2016; Welle 3: 2009 – 2012 (Ravens-Sieberer et al., 2015), Welle 4: 2014 – 2017 (Otto et al., 2021) Daten zur psychischen Gesundheit und gesundheitsbezogenen Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen erhoben. In einer ergänzenden Studie, der COPSY-Studie, wurden Daten zur Entwicklung während und nach COVID-19 erhoben (Kaman et al., 2023).

Unter anderem wurden die Eltern mithilfe des Screeninginstruments »Strengths and Difficulties Questionnaire« (SDQ, Goodman 2005) zu dem Verhalten ihrer Kinder befragt. Dabei wurden Auffälligkeiten in vier Problembereichen (Emotionale Probleme, Hyperaktivitätsprobleme, Verhaltensprobleme, Probleme mit Gleichaltrigen) sowie ein Bereich psychischer Stärken (Prosoziales Verhalten) erfasst. Ausgehend von dieser Einschätzung wurden die Kinder und Jugendlichen einer Risikogruppe für psychische Auffälligkeiten zugeordnet (grenzwertig auffällig oder auffällig im SDQ-Gesamtproblemwert, deutsche Normierung). Verglichen wurde zudem die Selbst- und Fremdeinschätzung.

»Insgesamt 20,2 % der Kinder und Jugendlichen im Alter von 3 bis 17 Jahren ließen sich in der KiGGS Welle 1 [2009 – 2012] mit dem SDQ-Symptomfragebogen einer Risikogruppe für psychische Auffälligkeiten (grenzwertig auffällig oder auffällig im SDQ-Gesamtproblemwert, deutsche Normierung) zuordnen; in der KiGGS-Basiserhebung [2003 – 2006] waren dies 20,0 %. Damit ließ sich insgesamt keine bedeutsame Veränderung über die Zeit in der Häufigkeit psychischer Auffälligkeiten nachweisen. Auch in der Stratifizierung nach Geschlecht, Altersgruppen und Sozialstatus zeigten sich in Bezug auf die Risikogruppe keine statistisch signifikanten Prävalenzunterschiede zwischen der KiGGS-Basiserhebung und KiGGS Welle 1« (Hölling et al. 2014, S. 809). Jungen wurden häufiger als Mädchen von den Eltern als grenzwertig oder auffällig beurteilt. »Der Gesamtproblemwert [war] bei Jungen stärker ausgeprägt [...] als bei Mädchen, ebenso wie Verhaltensauffälligkeiten, Hyperaktivitätsprobleme sowie Peer-Probleme. Bei Mädchen waren emotionale Probleme stärker ausgeprägt als bei Jungen. Darüber hinaus zeigten Jungen ein geringer ausgeprägtes prosoziales Verhalten« (ebd. S. 812). In der längsschnittlichen Betrachtung zeigt sich eine hohe Stabilität der Beschwerden über eine Periode von 3 – 6 Jahren (Ravens-Sieberer et al., 2015).

Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status werden dabei häufiger als diejenigen aus Familien mit höherem sozioökonomischem Status als grenzwertig bzw. auffällig eingeschätzt, wie sich auch in internationalen Studien zeigt (Reiss, 2013).

Bei der Betrachtung der Störungsspezifik ergaben sich zum ersten Erhebungszeitpunkt folgende Raten: Depression 5,4 %, Angst 10,0 %, ADHS 2,2 %, Störungen des Sozialverhaltens 7,6 % (überwiegend aggressives und dissoziales Verhalten). Zum zweiten Zeitpunkt war »ein leicht zunehmender Trend bei emotionalen Problemen und Verhaltensproblemen zu verzeichnen sowie ein abnehmender Trend bei Peer-Problemen und eine Zunahme bei prosozialem Verhalten. Keine Veränderung zwischen den Erhebungszeiträumen gab es bei der Hyperaktivitätsskala« (Hölling et al. 2014, S. 812).

Bei der Längsschnittbetrachtung in der detaillierten »BELLA-Studie« wurde deutlich, dass 10 % bis 11 % der Kinder und Jugendlichen zu allen vier Messzeitpunkten psychische Auffälligkeiten zeigten; ein Drittel der Kinder und Jugendlichen, die bei der Basiserhebung psychische Probleme aufwiesen, waren sechs Jahre später auch noch psychisch auffällig (Klasen et al. 2016). Zudem zeigte sich, dass sich Probleme der psychischen Gesundheit auch auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität sowie die wahrgenommene Gesundheit noch elf Jahre später auswirken. Hierbei sind insbesondere die von den Kindern und Jugendlichen selbst eingeschätzte Schwergrad der Symptome und die Beeinträchtigung aussagekräftig (Otto et al. 2021).

Die Ergebnisse der COPSY-Studie, die in Anlehnung an die BELLA-Studie konzipiert wurde, zeigte, ist der Anteil der belasteten Kinder und Jugendlicher durch die Belastungen der Covid-19 Pandemie deutlich erhöht auf 30 %, einhergehend mit deutlich verschlechtertem Gesundheitsverhalten. Gleichzeitig zeigt sich eine reduzierte Lebensqualität. Auch zwei Jahre nach Beginn der Pandemie bleibt dieser Anteil an Kindern mit erhöhten Belastungen stabil (Kaman et al., 2023). Insbesondere der Anteil an Kindern und Jugendlichen mit Angststörungen sowie depressiven Symptomen zeigt sich deutlich erhöht (Ravens-Sieberer et al., 2022).

Ein weiteres Problem bei epidemiologischen Studien gerade bei Kindern und Jugendlichen betrifft die Komorbidität, also das gleichzeitige Auftreten von mehreren unterschiedlichen Symptomen bzw. Symptomklassen. »Das Auftreten komorbider Störungen (stellt) jedoch oftmals eher die Regel, als die Ausnahme dar« (Petermann et al. 2004, S. 317). Hierdurch lassen sich Angaben über einzelne Störungsbilder nur schwer präzisieren; oftmals ist auch nicht klar, welches die erste oder »schwerere« Störung ist – auch hierdurch erklären sich große Schwankungsbreiten bei den epidemiologischen Studien. (Auf die einzelnen Komorbiditätsraten wird in den jeweiligen Kapiteln gesondert eingegangen.)

2.4 Die Bedeutung des Geschlechts

Lange Zeit ist in der Forschung, z. T. in der Klinischen Psychologie überhaupt, die Frage von Geschlechtsunterschieden5 bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Verhaltensauffälligkeiten und seelischen Erkrankungen nicht systematisch genug reflektiert worden (Schigl, 2018). Dabei umfasst der Begriff des Geschlechts sowohl das biologische als auch das soziale Geschlecht (»Gender«). So bestehen unterschiedliche Gesundheitsrisiken für Frauen und Männer, differierende Geschlechterverhältnisse bei der Prävalenz seelischer Erkrankungen, unterschiedliche Inanspruchnahmeraten psychotherapeutischer Hilfe ebenso wie »geschlechtstypische« Entwicklungsverläufe bei seelischen Störungen.

Unterschiede in den Prävalenzen psychischer Auffälligkeiten finden sich bereits im Kindergartenalter. Bei Jungen werden höhere Prävalenzen vor der Pubertät, insbesondere im Bereich der expansiven Störungen festgestellt. Mädchen hingegen weisen ein höheres Maß an – insbesondere internalisierenden – Auffälligkeiten ab der Adoleszenz auf (Otto et al. 2021). Genauer: Jungen leiden häufiger an Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen, Verhaltensstörungen, Suchtproblemen, Tic-Störungen und Störungen im Zusammenhang mit der Ausscheidung betroffen. Hingegen weisen Mädchen höhere Prävalenzraten bei depressiven und psychosomatischen Störungen, Essstörungen sowie insgesamt bei internalen Störungsbildern auf (Hayward und Sanborn, 2002). Beachtenswert sind auch die Unterschiede im Selbsturteil: So beschreiben sich Mädchen selbst als deutlich auffälliger als Jungen, als sie von ihren Eltern eingeschätzt werden, während sich Jungen als deutlich weniger auffällig beschreiben. Aus Elternperspektive werden Jungen in der Kindheit als insgesamt auffälliger beschrieben, während sich dieses Verhältnis in der Pubertät umdreht (Klasen et al., 2016).

Diese Befunde sind jedoch nicht unabhängig von gesellschaftlichen Geschlechterrollenzuschreibungen, also den normativen Wahrnehmungen von Geschlechtsunterschieden. Auch in Diagnosekriterien in den Klassifikationssystemen sind geschlechtsbezogene, implizite Vorannahmen und Geschlechtsstereotype enthalten (Kämmerer 2001, S. 61). So kritisiert Schigl, »wie die gesellschaftliche Produktion der Geschlechterrollen auch im Gesundheitswesen fortgesetzt wird. Das expansivere Verhalten, das bei Jungen noch störend wirkt, wird im Erwachsenenalter als männlich und stark attribuiert. Die als Kinder gesünderen Mädchen stellen sich ab dem Eintritt der Geschlechtsreife gemäß dem Geschlechterstereotyp als vulnerabler dar, werden auch so gesehen und behandelt« (Schigl, 2018, S. 122). Oder, wie Kämmerer (2001), bemerkt: »Das expansivere Störungsverhalten der Jungen (wird) – ebenfalls geschlechterstereotyp – eher auffällig und wird als abweichend und behandlungsbedürftig etikettiert. Das eher stille, unauffällige Verhalten der Mädchen wird stattdessen ignoriert und in der Kindheit als nicht behandlungsbedürftig angesehen« (ebd.). Auch Faltermaier (2005) kommt in seiner Zusammenstellung von Studien zur geschlechtsspezifischen Verarbeitung von Stressituationen und Belastungen zu gleichen Schlussfolgerungen.

Deutlich wird, dass auch in der Beobachtung und Beurteilung von Verhaltensweisen Geschlechterrollen und -stereotype eine Rolle spielen, und zwar sowohl bei den beobachtenden Personen als auch bei den Kindern und Jugendlichen selbst. Die gravierenden geschlechtsspezifischen Unterschiede, die sich im Erwachsenalter fortsetzen (Otten et al. 2021) verdeutlichen, dass die Perspektive Geschlecht und Gender in Forschung und Praxis stets berücksichtigt und reflektiert werden muss.

2.5 Die Bedeutung der Kultur

In kulturvergleichenden Studien wurde deutlich, dass es »deutliche interkulturelle Variationen in der Häufigkeit und Gestaltung psychischer Erkrankungen [gibt]. Selbst bei einer Störung mit ausgeprägter Heritabilität wie der Schizophrenie, von der man ursprünglich annahm, dass sie in allen Teilen der Welt in ähnlicher Verteilung vorkommt, konnten neue Metaanalysen Schwankungen der Prävalenz und Inzidenz nachweisen« (Stompe & Ritter, 2014, S. 9). Ähnliche Beobachtungen und Erkenntnisse führten zu verstärkten Forschungsaktivitäten einer Transkulturellen Psychiatrie bzw. Psychotherapie. »Transkulturelle Psychiatrie ist definiert als eine Richtung der Psychiatrie, die sich mit den kulturellen Aspekten der Ätiologie, der Epidemiologie und dem Erscheinungsbild sowie der Therapie und Nachbehandlung psychischer Krankheiten befasst. Ihre beiden hauptsächlichen Aufgabenfelder liegen auf dem Gebiet der kulturvergleichenden Analyse psychischer Störungen und in der Entwicklung von Therapieverfahren mit kulturspezifischer oder auch mit kulturübergreifender Wirksamkeit« (Machleidt & Graef-Calliess, 2015, S. 433). Es zeigte sich, dass die Krankheitsbilder in unterschiedlichen Kulturen in verschiedenen Formen und Ausprägungen auftreten und auch kulturell unterschiedlich bewertet werden. Sehr deutlich sind Zusammenhänge zwischen kultureller Prägung oder Mitbedingtheit und einzelnen psychischen Erkrankungen erkannt worden; es konnte gezeigt werden, »wie sich gesellschaftliche Wertehaltungen, vermittelt über die Familie und die Gemeinschaft, auf die Entwicklung von Persönlichkeitseigenschaften auswirken« (Stompe & Ritter; 2014, S. 11).

Diese Erkenntnis hat nicht nur Auswirkungen auf das Verstehen von Verhaltens»auffälligkeiten« und psychischen Erkrankungen, sondern auch auf die (Psycho-)‌Therapie: Es müssen die kulturellen Hintergründe mitbedacht und geachtet werden; Machleidt und Graf-Callies (2015) sprechen von der Notwendigkeit »kulturell adaptierter Behandlungskonzepte«. Das betrifft auch die (psycho-)‌therapeutische Behandlung von Menschen mit Migrationshintergrund. Es existieren mittlerweile ausgereifte Konzepte einer kultursensitiven Psychotherapie (z. B. von Lersner & Kizilhan, 2017) und entsprechende Qualifizierungsprogramme (z. B. Mösko et al., 2012).

Zusammenfassung

(Verhaltens-)‌Auffälligkeit ist immer ein soziales Konstrukt, das in Zusammenhang mit sozialen Gruppen- oder Individualnormen zu betrachten ist. Kriterien für Auffälligkeiten bzw. Störungen sind insbesondere: Die Stärke und Anzahl der Symptome, die psychosozialen Beeinträchtigungen, das jeweilige Alter und Geschlecht sowie die Dauer des Auftretens. Grundsätzlich ist eine scharfe Trennung zwischen auffällig/unauffällig bzw. normal/»gestört« schwer zu treffen; man geht deshalb von einer Dimension mit den Polaritäten unauffällig/normal auf der einen und auffällig/»gestört« auf der anderen Seite aus.

Die Diagnosen von Auffälligkeiten bzw. seelischen Störungen sind in den Systemen ICD-10 bzw. ICD-11 (Internationale Klassifikation psychischer Störungen) bzw. DSM-5 (Diagnostisch-statistisches Manual psychischer Störungen) beschrieben und kategorisiert. Eine dimensionale Klassifizierung beschreibt drei Gruppen von Auffälligkeiten: Internalisierende Störungen, externalisierende Störungen und gemischte Störungen.

Bezüglich der Epidemiologie und der Auftretungshäufigkeit der Störungen gibt es in verschiedenen Untersuchungen sehr unterschiedliche Daten aufgrund differierender Untersuchungsdesigns. Lässt man diese Differenzen beiseite, so kann man davon ausgehen, dass die Prävalenz von Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen (über alle Störungsbilder hinweg) bei ca. 18 – 20 % liegt. Bei der Betrachtung des Geschlechts zeigt sich, dass Jungen eher externalisiernde, Mädchen eher internalisierende Auffälligkeiten zeigen; vor dem Jugendalter werden generell häufiger bei Jungen Auffälligkeiten beobachtet, ab der Adoleszenz verändert sich dieses Verhältnis zu Ungunsten der Mädchen. Bei Diagnose und Therapie sind kulturspezifische Aspekte zu berücksichtigen.

Fragen zur Selbstüberprüfung

1.

Welche verschiedenen Normen lassen sich unterscheiden, wenn es darum geht, auffälliges Verhalten zu definieren?

2.

Welches sind die Unterschiede zwischen kategorialen und dimensionalen Klassifikationssystemen?

3.

Was sind zwei typische Beispiele für Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in Kindheit und Jugend?

4.

Welche Auffälligkeiten werden hauptsächlich im Bereich der externalisierenden Störungen beschrieben?

5.

Wieso kommt es zu Problemen, valide epidemiologische Daten zu erhalten?

Weiterführende Literatur

Döpfner, M. (2013). Klassifikation und Epidemiologie psychischer Störungen. In F. Petermann (Hrsg.), Lehrbuch der klinischen Kinderpsychologie (7., überarb. und erw. Aufl., S. 31 – 56). Göttingen: Hogrefe.

Der Autor gibt einen breiten Überblick über die Grundlagen der Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-5 und die jeweiligen Grenzen.

Döpfner, M. & Petermann, F. (2012). Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter (Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie). Göttingen: Hogrefe.

Dieses Buch bietet eine Einführung in die (psycho-)‌Diagnostik und nimmt Bezug auf die ICD Klassifikation.

Ader, S. & Schrapper, C. (2022). Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe (2. Aufl.). München: Reinhardt.

In diesem Buch werden Diagnostik und Fallverstehen explizit für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe – und hier besonders für die Hilfen zur Erziehung – dargestellt.

Fröhlich-Gildhoff, K., Rönnau-Böse, M. & Tinius, C. (2020). Herausforderndes Verhalten in Kita und Grundschule (2. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.

Die Autoren legen den Schwerpunkt des Beobachtens, Erkennens und Verstehens von als herausfordernd erlebten Verhaltensweisen auf Frühe Kindheit und Schulalter und die pädagogische Arbeit in den entsprechenden Institutionen.

Endnoten

2Im Bereich der Behinderungen und Funktionseinschränkungen wurde ein eigenständiges Klassifikationssystem, die ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit), entwickelt – dies kann jedoch hier nicht ausgeführt werden (vgl. dazu z. B.www.dimdi.de/dynamic/de/klassi/icf/)

3Metaanalysen: quantitative Kombination mehrerer relevanter Studien.

4So wurde unterschiedliche Zeiträume einbezogen. So finden sich Punktprävalenzen, 6-Monats-Prävalenzen, EIn-Jahres-Prävalenzen und Lebenszeitprävalenzen in der Studie.

5Geschlechtsunterschiede werden auch bezeichnet als »Gender Gap«. Dieses »bezeichnet Unterschiede zwischen Männern und Frauen in sozialen, politischen, intellektuellen, kulturellen oder ökonomischen Errungenschaften oder Einstellungen« (Beutel, Brähler & Tibobus, 2019, S. 54).

3 Allgemeines Modell der Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten

3.1 Allgemeine Überlegungen

Die modernen Entwicklungswissenschaften, mittlerweile auch alle theoretischen Konzepte der unterschiedlichen Psychotherapieschulen, gehen von einem engen Zusammenwirken biologischer, sozialer und innerpsychischer/-psychologischer Faktoren bei der seelischen und körperlichen Entwicklung von Menschen allgemein – und der Entwicklung von seelischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten im Besonderen – aus. Verhaltensauffälligkeiten werden dabei als eine mögliche Variante unterschiedlicher Entwicklungsverläufe gesehen. Es lassen sich dabei keine eindeutigen linearen Kausalitäten herstellen, etwa nach dem Motto: »Fritz ist in der Kindheit von seinen Eltern vernachlässigt worden, deshalb hat er in der Jugend aggressives Verhalten entwickelt.« Gerade die Ergebnisse der Resilienzforschung (vgl. die Zusammenstellung bei Wustmann 2004, Rönnau-Böse & Fröhlich-Gildhoff 2020) haben deutlich aufgezeigt, dass unter ähnlichen Lebensbedingungen oder nach ähnlichen, auch sehr schwierigen Erfahrungen, Menschen sich unterschiedlich – und auch seelisch gesund – entwickeln können. Komplexe Ursachen- und Wirkungszusammenhänge lassen sich bestenfalls auf einer allgemeinen Ebene beschreiben, eine präzise Rekonstruktion ist nur individuell unter Berücksichtigung der jeweiligen Lebensgeschichte möglich.

Petermann et al. (2004, S. 283) machen deutlich, »dass gestörte oder normale Funktionsweisen nicht aufgrund einer einzigen Ursache beschrieben oder vorhergesagt werden können«. Sie beschreiben das Prinzip der »Äquifinalität« und »Multifinalität«: »Das Prinzip der Äquifinalität besagt, dass Organismen von unterschiedlichen Anfangsbedingungen aus oder über unterschiedliche Wege das gleiche Entwicklungsziel (Sozialverhalten, Intelligenz usw.) erreichen können. Normales wie abweichendes Verhalten kann also aus einer Vielzahl von Entwicklungspfaden resultieren. (...) Das Prinzip der Multifinalität, ist dem Prinzip der Äquifinalität komplementär. So wie die verschiedensten Ursachen zu einem Entwicklungsausgang führen können, kann eine Funktionsweise im Entwicklungsverlauf unterschiedliche Ergebnisse haben. Individuen mit vergleichbaren Ausgangsbedingungen können sich aufgrund günstiger und ungünstiger Rahmenbedingungen unterschiedlich entwickeln. So kann beispielsweise ein Kind mit einem ›schwierigen Temperament‹ in einem Kindergarten aufgenommen werden, in dem die Erzieher darauf günstig reagieren, während es unter anderen Bedingungen vielleicht permanent in soziale Konflikte geraten wäre und eine Neigung zu Wutausbrüchen entwickelt hätte. Ein schädigendes Ereignis muss nicht notwendigerweise bei jedem Individuum zu Beeinträchtigungen führen (...)« (ebd.). Folgende Abbildung soll dieses Prinzip noch einmal verdeutlichen (▸ Abb. 3.1):

Abb. 3.1:Äquifinalität und Multifinalität (nach Petermann, F., Niebank, K. & Scheithauer, H., 2004, S. 283)

Derartige Modelle beschreiben noch nicht ausreichend das komplexe, nicht-lineare Zusammenwirken unterschiedlichster Faktoren. Aussagen, die von einem »additiven Zusammenwirken« ausgehen – etwa in der Form: »Die Intelligenz wird zu 50 % durch Gene und zu 50 % durch Umwelt bedingt« – sind in diesem Sinne völlig unzureichend (▸ Kap. 3.3.1). »Im Gegensatz zu mechanischen, deterministischen Systemen, für die das Ergebnis völlig vorhersagbar ist, wenn die Ausgangsbedingungen und die später einwirkenden Kräfte bekannt sind, ist es bei lebenden Systemen unmöglich, aufgrund einer einzigen Ursache ihre Entwicklung zu beschreiben oder vorherzusagen. Der Grund dafür ist, dass sie nicht einfach auf Einflüsse reagieren, sondern selbstorganisierend und selbstkonstruierend sind, und dies innerhalb von Umwelten, die ihrerseits selbstorganisierend und selbstkonstruierend sind« (Petermann et al. 2004, S. 262).

Petermann et al. (2004) beschreiben ein »Modell der selbstorganisierenden Komplexität« (ebd., S. 261 ff). Dieses Modell wird von Kybernetikern und Systemtheoretikern mittlerweile sowohl für naturwissenschaftliche Prozesse im engeren Sinne, aber auch für soziale Prozesse und als Grundgesetz lebender Organismen überhaupt angenommen. Dabei streben Systeme einerseits nach Ordnung: »Das Programm des Lebens beinhaltet nämlich, der unendlichen Komplexität einer einmalig ablaufenden Welt-Evolution, dem Chaos, dadurch Ordnung abzuringen, dass Regelmäßigkeiten ge- und erfunden werden (...). Selbst dort, wo diese Regelsuche und Ordnungskonstitution eigentlich erfolglos verlaufen ist, werden Strukturen konstruiert« (Kriz 2004, S. 18 f). So kommt es immer wieder zum Versuch, komplexe Zusammenhänge zu ordnen. Andererseits kommt es durch Rückkoppelungen und die »Verrechnung« von (neuen) Außeneinflüssen immer wieder zu einem (partiellen) Zerfall der selbstorganisierten Ordnungssysteme. »Die Möglichkeiten der ›Welt‹ zu begegnen, lassen sich somit zwischen zwei Polen einordnen: Auf der einen Seite, im Extrem, finden wir das Chaotische, Unvorhersagbare, Hochkomplexe. Und je mehr wir uns auf die Einmaligkeit von Prozessen einlassen, desto weniger haben wir Kategorien zur Hand und können Prognosen aufgrund der ›Regelmäßigkeiten‹ anstellen; und desto eher sind wir damit der Angst vor Unberechenbarkeit und Kontrolllosigkeit ausgeliefert. Aber desto weniger reduziert ist auch unsere Erfahrung, die nun eher die Wahrnehmung von Neuem, Überraschendem und Kreativem zulässt. Im anderen Extrem finden wir die reduktionistische Ordnung; und je mehr wir auf dieser anderen Seite kategorisieren und Regelmäßigkeiten (er)‌finden, desto planbarer, prognostizierbarer und damit sicherer wird unsere Welterfahrung – jedoch erscheinen uns die so behandelten ›Dinge‹ auch umso starrer, langweiliger, reduzierter und gleichförmiger« (ebd., S. 21); der Autor spricht damit auch eine andere Grunddynamik, nämlich die Polarität von Autonomie und Abhängigkeit an (vgl. hierzu Hufnagel & Fröhlich-Gildhoff 2002, Mentzos 2000). Insgesamt haben wir es immer mit Kreisprozessen, sogenannter »zirkulärer Kausalität« zu tun (vertiefend: Haken & Schiepek 2006). »Bei der Selbstorganisation handelt es sich um einen Prozeß, durch den ein offenes System einen neuen Zustand einnimmt, ohne spezifischen, lenkenden Einfluss von außen, ohne einen Bauplan oder einen Schöpfer (vgl. Maas & Hopkins 1998). Sie lässt sich auch als Fähigkeit eines Systems definieren, aus sich selbst heraus eine neue räumliche, zeitliche und funktionelle Struktur zu erlernen« (Petermann et al. 2004, S. 264). Es geht also darum, einerseits immer neue Ordnungsstrukturen zu schaffen und gleichzeitig die Offenheit für die Veränderung dieser Strukturen zu erhalten. »Im Sinne der Selbstorganisation kann die Entwicklung als deterministischer und gleichzeitig stochastischer Prozess gesehen werden« (ebd.). Auch die Entwicklung des Gehirns kann als selbstorganisierendes System beschrieben werden, »das anfänglich noch undifferenziert ist, doch aufgrund geringfügiger adaptiver Veränderungen beginnt, sich unter den Systemelementen eine Ordnung herauszubilden. Diese Veränderungen können sich verstärken und zu einer positiven Rückkoppelung führen (...)« (ebd., S. 265; vgl. auch z. B. Hüther 2004).

Vor diesem Hintergrund geht die Entwicklungswissenschaft davon aus, dass sich Entwicklungspfade beschreiben lassen, bei denen Verzweigungen zu unterschiedlichen Entwicklungsverläufen führen – wobei, und dies sei noch einmal betont, die Entwicklung immer als ko-konstruktiver Prozess zwischen Individuum und Umwelt gesehen wird. Dann kann die Entstehung von Auffälligkeiten »in Übereinstimmung mit dieser Vorstellung als fortschreitende Verzweigung gesehen werden, die das Kind von Pfaden abbringt, die zu kompetentem Verhalten führen. Im Konzept der Entwicklungspfade lassen sich grob vier mögliche Verläufe unterscheiden, die sich aus der Kombination von Kontinuität und Diskontinuität mit einem günstigen bzw. ungünstigen Entwicklungsverlauf ergeben. Sroufe (1997) beschreibt sie in seiner schematischen Darstellung als: a) kontinuierliche Fehlanpassung, die in einer Störung mündet, b) kontinuierliche Positivanpassung, c) anfängliche Fehlanpassung, gefolgt von positiven Veränderungen und d) anfänglich positiven Anpassungen, gefolgt von negativen Veränderungen« (Petermann et al. 2004, S. 281).

Auf diesem Hintergrund sollen in einem kurzen Exkurs einige Grundzüge der frühkindlichen (Normal-)‌Entwicklung betrachtet werden.

3.2 Frühkindliche (Normal-)‌Entwicklung: Die Entstehung des Selbst als handlungsleitende Struktur

Die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie der frühesten Kindheit, insbesondere der Säuglingsforschung (Zusammenstellungen z. B. bei Rauh 2008, Stern 1992, Dornes 1995, 1997) belegen, dass Säuglinge als äußerst kompetente Wesen auf die Welt kommen, die von der ersten Lebensminute an die Interaktion mit ihren Bezugspersonen mitsteuern und bestrebt sind, sich die Welt aktiv anzueignen.Bereits vor der Geburt

machen Embryonen erste Sinneserfahrungen (Tasten, Schmecken, Hören)

kommt es zum Aufbau von strukturierten neuronalen Netzwerken durch Erfahrungen und zu einer nutzungsabhängigen Strukturierung des Gehirns