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Dieses Buch stellt auf der Grundlage eines modernen entwicklungspsychopathologischen Störungskonzepts von (über-)aggressivem bzw. gewalttätigem Verhalten verschiedene praktische Präventions- und Interventionsprogramme vor und bewertet diese. Nach einem Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu Ursachen und auslösenden Faktoren gewalttätigen Verhaltens werden neuere, in unterschiedlichen Zusammenhängen realisierte Programme präsentiert. Das vom Autor entwickelte und bereits evaluierte "Freiburger Anti-Gewalt-Training" (FAGT) wird in Kurzform dargestellt.
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Seitenzahl: 363
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Dieses Buch stellt auf der Grundlage eines modernen entwicklungspsychopathologischen Störungskonzepts von (über-)aggressivem bzw. gewalttätigem Verhalten verschiedene praktische Präventions- und Interventionsprogramme vor und bewertet diese. Nach einem Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu Ursachen und auslösenden Faktoren gewalttätigen Verhaltens werden neuere, in unterschiedlichen Zusammenhängen realisierte Programme präsentiert. Das vom Autor entwickelte und bereits evaluierte 'Freiburger Anti-Gewalt-Training' (FAGT) wird in Kurzform dargestellt.
Professor Dr. Klaus Fröhlich-Gildhoff ist Professor für Klinische Psychologie, Entwicklungspsychologie und Kinder- und Jugendhilfe an der Evangelischen Fachhochschule Freiburg. Er leitet dort das Zentrum für Kinder- und Jugendforschung.
Klaus Fröhlich-Gildhoff
unter Mitarbeit von Andreas Abler, Ines Dold, Tonja Gröschner, Katrin Isele, Philipp Klein, Wendula Mordhorst und Ute Steinmetz-Brand
Gewalt begegnen
Konzepte und Projekte zur Prävention und Intervention
Verlag W. Kohlhammer
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
1. Auflage 2006 Alle Rechte vorbehalten © 2006 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany
Print: 978-3-17-018846-4
E-Book-Formate
pdf:
epub:
978-3-17-028012-0
mobi:
978-3-17-028013-7
Vorwort
1 Einleitung
2 Einführung, Überblick
2.1 Definitionen
2.2 Klassifikationen
2.3 Epidemiologie
2.4 Zeitlicher Verlauf des auffällig-aggressiven Verhaltens bzw. der Störung des Sozialverhaltens
3 Entwicklungspsychologie aggressiven Verhaltens
3.1 Ausgangspunkt
3.2 Erstes Lebensjahr
3.3 Zweites und drittes Lebensjahr
3.4 Viertes bis sechstes Lebensjahr
3.5 Frühes Schulalter
3.6 Jugendalter
4 Ursachen für die Entstehung aggressiv-dissozialen Verhaltens bzw. der Störung des Sozialverhaltens
4.1 Unterscheidung zwischen Ursachen und Auslöser
4.2 Ursachen
4.3 Auslösebedingungen
5 Diagnostik
5.1 Grundsätzliche Überlegungen
5.2 Erfassung allgemeiner Daten
5.3 Störungsspezifische Diagnostik
5.4 Ergänzende Diagnostik
5.5 Einstellung zur Therapie bzw. Änderungsbereitschaft
6 Intervention und Prävention
6.1 Einführung
6.2 Therapeutische bzw. pädagogische Haltung
6.3 Interventionen
6.4 Notwendigkeit von Prävention
7 Präventionsprogramme
7.1 Einführung
7.2 Soziale Kompetenz für Kinder und Familien (Lösel et al.)
7.3 Das Programm FAUSTLOS
7.4 „Die mutigen Fühldetektive“ – ein Gewaltpräventionsprojekt im Kindergarten
7.5 Prävention in der Grundschule – ein konkretes Programm für den Grundschulbereich
8 Programme im institutionellen Zusammenhang
8.1 Einführung
8.2 Das Programm von Olweus
8.3 In der Krise wächst die Chance. Ganzheitliches Gewaltpräventions- und Interventionsprogramm der Georg-Büchner-Schule, Schule für Erziehungshilfe und Kranke
9 Konfrontationsprogramme
9.1 Einführung
9.2 Das Anti-Aggressivitätstraining (AAT) von Heilemann und Fischwasser-von Proeck
9.3 Der Umgang mit aggressivem Verhalten in sozialpädagogischen Einrichtungen in den USA – Erfahrungen aus der Praxis
10 ‚Ganzheitliche‘ Interventionsprogramme
10.1 Einführung
10.2 „Training mit aggressiven Kindern“ (Petermann & Petermann)
10.3 Das Freiburger Anti-Gewalt-Training – FAGT (Fröhlich-Gildhoff)
11 Sport als Medium in der Arbeit mit straffällig gewordenen/aggressiven Jugendlichen: Sitzt Du noch oder läufst Du schon?
11.1 Einleitung
11.2 Straffällig gewordene Jugendliche
11.3 Ausdauerlauf: Wohlbefinden und Körpererleben
11.4 Laufen und physisches Wohlbefinden
11.5 Laufen und psychisches Wohlbefinden
11.6 Soziale Funktion des Laufens
11.7 Verknüpfung und Thesen
11.8 Qualitative Untersuchung von Laufprogrammen im Jugendstrafvollzug
11.9 Konsequenzen und Anknüpfungspunkte für die pädagogische Arbeit
11.10 Zusammenfassung und Diskussion der Untersuchungsergebnisse
12 Resümee
Literatur
Über die Autorinnen und Autoren
Stichwortverzeichnis
„Wird dem eigentlichen Lebenszweck, nämlich zu wachsen und zu leben, entgegen gearbeitet, dann macht die gehemmte Energie einen Umwandlungsprozeß durch. Der Destruktionstrieb ist die Folge eines ungelebten Lebens. Die individuellen und gesellschaftlichen Bedingungen, die eine solche Blockierung der lebensfördernden Energie bewirken, bringen den Destruktionstrieb hervor, der seinerseits zur Quelle der verschiedenen Manifestationen des Bösen wird.
… Wir haben dargelegt, daß der Mensch nicht zwangsläufig böse ist, sondern nur dann böse wird, wenn die für sein Wachstum geeigneten Bedingungen fehlen. Das Böse führt kein unabhängiges Eigenleben; es ist das Nichtvorhandensein des Guten, das Scheitern eines Verwirklichungsversuchs.“
Erich Fromm: Psychoanalyse und Ethik, S. 234f, 236 [1978, Frankfurt/M.: Ullstein].
Dieses Buch ist entstanden aus dem Zusammenhang von Lehre, praktischer Anwendung und Forschung im Rahmen der Evangelischen Fachhochschule Freiburg (EFH). Vor meiner Zeit als Dozent an der EFH war ich viele Jahre tätig als Psychotherapeut und als Geschäftsführer eines Jugendhilfeträgers und hierbei gewissermaßen ‚naturgemäß‘ direkt mit Kindern und Jugendlichen konfrontiert, die durch aggressives oder gewalttätiges Verhalten auffällig geworden sind. Viele von ihnen waren aus allen institutionellen Zusammenhängen herausgefallen, sie waren von der Schule verwiesen worden und im Rahmen von Einrichtungen nicht mehr zu betreuen gewesen.
Zusammen mit engagierten Kolleginnen und Kollegen im „Arbeitskreis Gemeindenahe Gesundheitsversorgung“ (AKGG Melsungen) wurden individuell bezogene Angebote, besonders intensive Einzelbetreuungen für diese Zielgruppe geschaffen; in einer eigens geschaffenen Schule für Erziehungshilfe gelang es gut, diese Jugendlichen zu erreichen. Aus dieser Arbeit heraus sind auf praktischer Ebene Konzepte entstanden, und zugleich erfolgte eine zunehmend vertiefte Reflexion und theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema Aggression und Gewalt. Die hieraus gewonnenen Erkenntnisse flossen später in die Lehre der EFH Freiburg ein und konnten in verschiedenen Seminaren weiterentwickelt werden. Die persönliche Herausforderung durch gewalttätige Kinder und Jugendliche, die die Studierenden der Sozialpädagogik/Sozialarbeit in ihren Praxisphasen immer wieder erlebten, war ein Ansporn, sich fachlich auf inhaltlicher wie praktischer Ebene weiterzuqualifizieren.
Dieses Buch versucht, die gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse zusammenzuführen. Grundlage ist eine theorie- und therapieschulenübergreifende Sichtweise und deren praktische Anwendung. So wird ein Schwerpunkt einerseits auf die theoretischen Grundlagen gelegt und andererseits ein Überblick über Interventionsformen und -möglichkeiten gegeben. Diese werden vertieft durch konkrete Anwendungsbeispiele. Aus der mehrjährigen Arbeit resultiert auch ein konkretes Programm, um mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, die durch aggressives Verhalten auffällig geworden sind. Das „Freiburger Anti-Gewalt-Training“ ist ausführlich in einem weiteren Buch (Fröhlich-Gildhoff, 2006) dargestellt.
Das Verfassen eines solchen Werkes erfolgt in enger Zusammenarbeit mit anderen Menschen, ohne deren Unterstützung ich es nicht geschafft hätte, es fertig zu stellen.
Ein besonderer Dank gilt hier Tina Dörner, die viele Texte nach (schlechtem) Diktat geschrieben hat und eine große Unterstützung bei den Korrekturarbeiten war.
Eine große Hilfe waren die MitautorInnen, vor allem aus der Praxis, die den Mut gefunden haben, ihre Erfahrungen aufzuschreiben.
Inhaltliche und moralische Unterstützung hat mir mein Team des „Zentrums für Kinder- und Jugendforschung“ an der EFH Freiburg (Eva-Maria Engel, Maike Rönnau und Gabriele Kraus) gegeben.
Besonderer Dank gilt meiner Frau Gaby und meinen Söhnen Michel und Moritz, die viel Verständnis für meine innere Beschäftigung und den zeitlichen Aufwand beim Verfassen des Buches aufgebracht haben.
Ein besonderer Dank gilt auch Herrn Dr. Ruprecht Poensgen vom Kohlhammer-Verlag, der mich zum Erstellen des Buches ermutigt hat.
Freiburg, im Frühjahr 2006
Klaus Fröhlich-Gildhoff
Hinweis zur Orientierung im Buch
Praxisnahe Abschnitte wie beispielsweise Sitzungen aus Trainingsprogrammen sind am Seitenrand grau hinterlegt. Weiß belassene Teile hingegen sind mehr theoretischer Natur und geben einen Überblick über den aktuellen Wissensstand zur Thematik.
Das Thema Gewalt – oder Aggression – ist immer wieder Thema in der breiten Öffentlichkeit, aber auch in der Fachöffentlichkeit. Das Thema kocht immer dann besonders hoch, wenn spektakuläre Ereignisse – wie der tragische Amoklauf in Erfurt – auftreten; es wird dann mit oft nicht abgesicherten Daten argumentiert, nach schnellen Lösungen gesucht, die sich vielmals in restriktiven Vorstellungen erschöpfen. Gleichfalls haben in diesen Zeiten einfache Erklärungsmodelle Konjunktur, etwa nach dem Motto „gewalttätige Computerspiele führen zum Ansteigen von Gewalt“.
Demgegenüber ist von wissenschaftlicher Seite in den letzten Jahren eine kaum mehr übersehbare Zahl von Fachpublikationen erschienen, die sich doch überwiegend durch ein hohes Maß an Nüchternheit und Sachlichkeit auszeichnen.
Die Zeit der ‚großen einfachen Theorien‘ – der Triebtheorie und des Modelllernens – zur Erklärung aggressiven bzw. gewalttätigen Verhaltens scheint vorbei. Demgegenüber hat sich das umfassendere bio-psychosoziale Modell durchgesetzt, als eine differenzierte Betrachtung eines komplexen Wirkungsgeschehens von vielen, ineinander spielenden Faktoren. Die Komplexität des Geschehens wird mittlerweile unabhängig von einzelnen Theorieschulen oder Grunddisziplinen anerkannt.
Ebenso anerkannt ist die Tatsache, dass aggressives bzw. gewalttätiges Verhalten ein relativ stabiles Verhalten ist, sofern es sich einmal als Persönlichkeitsmerkmal und Art, der Welt zu begegnen, etabliert hat – dementsprechend schwer ist es zu ändern. Auch auf der Ebene der Interventionen gibt es eine Vielzahl von Konzepten mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Es gibt unterschiedliche Methoden, auch für unterschiedliche Zielgruppen, von der Prävention im Kindergarten bis zur Behandlung von Straftätern mit massiven Gewalttaten. Dabei ist hinsichtlich der möglichen Erfolge ein gewisses Maß an Nüchternheit eingetreten.
Der vorliegende Band gibt einen Überblick über Definitionsversuche, Symptomatik und Auftretenshäufigkeit von aggressivem bzw. gewalttätigem Verhalten. Auf theoretischer Ebene wird auf der Grundlage des bio-psychosozialen Modells eine umfassende Erklärung für die Entstehung und Aufrechterhaltung aggressiven Verhaltens gegeben – ein besonderer Schwerpunkt wird dabei auf die (frühe) Interaktion zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen gelegt. Dabei wird zum einen Bezug genommen auf aktuelle empirische Erkenntnisse, zum anderen wird angeknüpft an die bestehende Systematik anderer AutorInnen.
Ein zweiter Schwerpunkt des Buches besteht darin, einen Überblick über Präventions- und Interventionskonzepte zu geben.
Da überdauerndes, stabiles gewalttätiges Verhalten seine Wurzeln in den ersten vier bis fünf Lebensjahren hat, muss insbesondere der Prävention zukünftig eine besondere Aufmerksamkeit gelten. Daher werden neben einem Überblick über das bekannte und relativ weitverbreitete Programm FAUSTLOS und ein weiteres Programm von Lösel et al. (2004) zwei Präventionskonzepte breiter dargestellt, die in der praktischen Arbeit in einer Kindertagesstätte (Beitrag von Tonja Gröschner) bzw. einer Grundschule (Beitrag von Katrin Isele) entstanden sind und auch evaluiert wurden.
In den letzten Jahren sind ebenfalls Konzepte entstanden, die sich auf den institutionellen Zusammenhang beziehen. Der ursprüngliche Ansatz von Olweus (1995) wird referiert. Ausführlicher wird auch hier ein in der Praxis einer Schule für Erziehungshilfe erfolgreich durchgeführtes Konzept von Ute Steinmetz-Brand vorgestellt.
Auf der Ebene der Interventionen hat ein Paradigmenwechsel von eher begleitenden und zum Teil auch unspezifischen Behandlungsformen zu einem eher konfrontativeren Vorgehen stattgefunden. Dieses Vorgehen hat seine Wurzeln in den USA; in Deutschland hat es seinen Ausgangspunkt in der Jugendstrafanstalt Hameln genommen. Aus diesen Gründen ist zum einen das Konzept von Heilemann & Fischwasser-von Proeck (2001) breiter referiert, das unter dem Begriff „Hamelner Modell“ mittlerweile bundesweit bekannt ist und als „Anti-Aggressivitäts-Training“ auch im ambulanten Bereich realisiert wird. Eine kritische Betrachtung der konfrontativen Ansätze und der Programme in den USA wird – aufgrund eigener Praxiserfahrungen – in dem Beitrag von Philipp Klein, Wendula Mordhorst und Ines Dold vorgenommen.
Neben diesen konfrontativen Ansätzen gibt es ganzheitliche Interventions- oder Trainingsprogramme. Das bekannteste und verbreitetste ist das von Petermann & Petermann (2001), das aus diesem Grund gleichfalls referiert wird. Aus praktischen Arbeitszusammenhängen ist das „Freiburger Anti-Gewalt-Training“ entstanden, welches ebenfalls an den dem gewalttätigen Verhalten zugrunde liegenden Faktoren Selbst- und Fremdwahrnehmung, Selbststeuerung, Soziale Kompetenzen und Selbstwert ansetzt. Dieses vom Autor entwickelte, über Jahre erprobte und in den letzten Jahren zunehmend weiter vermittelte Programm wird gleichfalls ausführlicher beschrieben. Das Manual und die ausführliche Evaluation sind in einem gesonderten Band (Fröhlich-Gildhoff, 2006) erschienen.
Die aufgeführten Beispiele aus der Praxis sollen Mut zum Handeln machen. Gewalttätiges Verhalten bei Kindern und Jugendlichen ist schwer zu beeinflussen – aber es ist zu beeinflussen. Es bedarf dazu engagierter und standhafter PädagogInnen und TherapeutInnen, die bereit sind, sich auf die Begegnung mit den Betroffenen einzulassen, die bereit sind zur Konfrontation, die aber auch fähig sind, die Kinder und Jugendlichen als ganze Personen anzunehmen und wertzuschätzen.
Je nach theoretischem Hintergrund und praktischer Ausrichtung der AutorInnen finden sich in der Literatur eine Vielzahl von Definitionen von Aggression, Gewalt, antisozialem Verhalten und Delinquenz.
Dabei hat sich in den letzten Jahren eine Grundübereinstimmung herausgebildet, die Aggression bzw. aggressives Verhalten mit einer Schädigungsabsicht verbindet.
Unter Aggression wird eine zielgerichtete und beabsichtigte körperliche oder verbale Tätigkeit verstanden, die zu einer psychischen oder physischen Verletzung führt.
Oder: „Bei Aggression handelt es sich um ein Verhalten mit Schädigungsabsicht, das vom Opfer als verletzend empfunden wird.
Aggression verläuft dabei auf drei Ebenen (Scheithauer, 2003):
Motivationale Ebene mit Einstellungen oder Absichten (
z.B.
Feindseligkeit),
Emotionale Ebene (
z.B.
Ärger),
Verhaltensebene der ausgeführten Handlung (direkt, verbal, indirekt/ relational oder körperlich)“ (Scheithauer & Petermann, 2004, S. 369).
Diese Definition erscheint griffig, ist allerdings mit der Problematik verbunden, dass sich die Absicht der Schädigung zunächst nur indirekt erschließen lässt, „deren Beurteilung (…) ist auf das soziale Urteil eines Beobachters angewiesen“ (Kleiber & Meixner, 2000, S. 193; vgl. auch Essau & Conradt, 2004). Scherr (2004) betont die Perspektive des Opfers: „Dass Gewalt vorliegt, ist … nur unter der Perspektive ihrer Opfer erkennbar: Gewalt liegt dann vor, wenn Individuen sich unerwünschten Angriffen auf ihre psychische und/oder physische Unversehrtheit ausgesetzt sehen“ (ebd., S. 204).
Die o. g. Definitionen sind auf das aggressive Handeln von Individuen bzw. Gruppen in konkreten sozialen Kontexten bezogen – andere Form von Aggression und/oder Gewaltausübung, z.B. das Konzept der strukturellen Gewalt (Galtung, 1993, vgl. Überblick bei Nolting, 1999 oder bei Borg-Laufs, 1997, S. 19ff), sind in dem vorliegenden Zusammenhang nicht von Bedeutung. Der Begriff der Gewalt wird i.d.R. für massive Formen aggressiven Verhaltens benutzt, „wobei sich personale Gewalt auf aktive Handlungsvollzüge bezieht, die zu einer effektiven Schädigung von Personen oder Dingen führen und bei der in der Regel ein Ungleichgewicht der Kräfte (z.B. von zwei Personen) vorliegt“ (Scheithauer & Petermann, 2004, S. 369).
Nunner-Winkler (2004) analysiert ausführlich die mit einer Gewalt-Definition verbundenen Schwierigkeiten und plädiert für eine Reduktion des Begriffs, indem Gewalt „als absichtsvolle physische Schädigung“ (ebd., S. 27) verstanden werden sollte. Das Ausüben psychischer Gewalt sei immer durch ein interaktives Geschehen geprägt: „Im prototypischen Fall (kann) physische Gewalt monologisch, d.h. vom Täter allein vollzogen werden …, während psychische Gewalt ein interaktives Geschehen ist, d.h. der Täter ist für den Erfolg auf die Mitwirkung des Opfers angewiesen“ (ebd., S. 39).
Weitere, oft benutzte Begriffe in diesem Zusammenhang sind die des aggressiv-antisozialen Verhaltens und der Delinquenz. Dabei umfasst der Begriff antisoziales Verhalten solche Handlungen, die offen und klar gegen gesellschaftliche und soziale Regeln gerichtet sind und die Rechte anderer Menschen verletzten. „Der Begriff einer ‚Delinquenz‘ wird zur Beschreibung des Verhaltens von Kindern (und Jugendlichen; die Verfasser) verwandt, die einen Gesetzesverstoß begangen haben, der schwer genug ist, den Jugendstrafvollzug einzuschalten (Kazdin, 1995)“ (Essau & Conradt, 2004, S. 16 f), – hierbei sollte allerdings immer beachtet werden, dass unter diesem Begriff zum Teil sehr unterschiedliche Formen von Gesetzesverstößen, vom Ladendiebstahl bis zum Mord, gefasst werden (s.u.).
Tab. 1: Verschiedene Ausdrucksformen aggressiven Verhaltens (nach Vitiello & Stoff, 1997; erweitert von Petermann, Döpfner & Schmidt, 2001, S. 3)
Ausdrucksform aggressiven Verhaltens
Erläuterungen
feindselig vs. instrumentell
mit dem Ziel, einer Person direkt Schaden zuzufügen
mit dem Ziel, indirekt etwas Bestimmtes zu erreichen
offen vs. verdeckt
feindselig und trotzig, eher impulsiv und unkontrolliert (
z.B.
kämpfen)
versteckt, instrumentell und eher kontrolliert (
z.B.
stehlen oder Feuer legen)
reaktiv vs. aktiv
als Reaktion auf eine wahrgenommene Bedrohung oder Provokation
zielgerichtet ausgeführt, um etwas Bestimmtes zu erreichen
körperlich vs. indirekt
in offener, direkter Konfrontation mit dem Opfer
die sozialen Beziehungen einer Person betreffend und manipulierend
affektiv vs. „räuberisch“
unkontrolliert, ungeplant und impulsiv
kontrolliert, zielorientiert, geplant und versteckt
Ausgehend von dieser Definition, kann man verschiedene Formen aggressiven Verhaltens unterscheiden. Die gebräuchlichste Unterscheidung von Vitiello & Stoff (1997) haben Petermann et al. (2001) noch etwas weiter differenziert (s. Tab. 1).
Eine weitere, insbesondere unter geschlechtsspezifischer Sichtweise analysierte Form der Aggression ist die sog. ‚relationale Aggression‘: „Relationale Aggression wird ein Verhalten genannt, durch das andere Schaden nehmen, indem Beziehungen, Freundschaften, Gruppenzugehörigkeit oder ein Gefühl der Akzeptanz zerstört werden oder eine solche Zerstörung angedroht wird (Crick, 1995)“ (Essau & Conradt, 2004, S. 19). Dieses auch als indirekte oder antisoziale Aggression bezeichnete Verhalten hat Scheithauer (2003) weitergehend untersucht. Es umfasst „die indirekte oder direkte Schädigung einer anderen Person über die soziale Gruppe, in der sich die Person bewegt, beispielsweise über soziale Manipulation, Deformierung, Ausschluss oder dem Verbreiten von Gerüchten“ (Petermann et al., 2004, S. 370; auf den Aspekt der Geschlechtsspezifik wird später noch genauer eingegangen).
Die international gebräuchlichsten Klassifikationssysteme, das DSM-IV und der ICD-10 ordnen aggressives bzw. gewalttätiges Verhalten in etwas unterschiedliche Systeme ein, deshalb seien sie im Folgenden tabellarisch erläutert:
Das DSM-IV (Saß et al., 1996) geht von zwei Störungsformen aus, zum einen der ‚Störung des Sozialverhaltens‘ und zum anderen der ‚Störung mit Oppositionellem Trotzverhalten‘.
Die Störungen des Sozialverhaltens sind gekennzeichnet durch sich wiederholende Verhaltensmuster: Über einen Zeitraum von 12 Monaten müssen mindestens drei der 15 Kriterien nach Tab. 2 aufgetreten sein, zusätzlich müssen klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen im sozialen bzw. schulischen Bereich vorliegen. Es werden zwei Subtypen abhängig vom Alter unterschieden: zum einen der Typus mit Beginn in der Kindheit (Auftreten von mindestens einer der charakteristischen Verhaltensweisen vor dem 10. Lebensjahr) sowie der Typus mit Beginn in der Adoleszenz (Auftreten nach dem 10. Lebensjahr).
Die Störung mit Oppositionellem Trotzverhalten umfasst als Hauptmerkmal „ein Muster wiederkehrender trotziger, ungehorsamer und feindseliger Verhaltensweisen gegenüber Autoritätspersonen (z.B. gegenüber der Mutter oder dem Vater). Das Verhalten muss mindestens über einen Zeitraum von sechs Monaten andauern und es müssen mindestens vier von acht Kriterien erfüllt sein“ (Scheithauer & Petermann, 2004, S. 371; vgl. Tab. 3).
Tab. 2: Symptomliste für die Störung des Sozialverhaltens (nach DSM IV) (American Psychiatric Association, 1994, S. 129 f; nach Scheithauer & Petermann, 2004, S. 370 f)
Aggressives Verhalten gegenüber Menschen und Tieren:
bedroht oder schüchtert andere häufig ein
beginnt häufig Schlägereien
hat schon häufig eine Waffe benutzt, die anderen schweren körperlichen Schaden zufügen könnte (
z.B.
Schlagstöcke, Ziegelsteine, zerbrochene Flaschen, Messer, Gewehre)
war körperlich grausam zu Menschen
quälte Tiere
hat in Konfrontation mit dem Opfer gestohlen (
z.B.
Überfall,
Taschendiebstahl
, Erpressung, bewaffneter Raubüberfall)
zwang andere zu sexuellen Handlungen
Zerstörung von Eigentum:
beging vorsätzliche Brandstiftung mit der Absicht, schweren Schaden zu verursachen
zerstörte vorsätzlich fremdes Eigentum (jedoch nicht durch Brandstiftung)
Betrug oder Diebstahl:
brach in fremde Wohnungen, Gebäude oder Autos ein
lügt häufig, um sich Güter oder Vorteile zu verschaffen oder um Verpflichtungen zu entgehen (d.h. ‚legt andere herein‘)
stahl Gegenstände von erheblichem Wert ohne Konfrontation mit dem Opfer (
z.B.
Ladendiebstahl, jedoch ohne Einbruch, sowie Fälschungen)
Schwere Regelverstöße:
bleibt schon vor dem 13. Lebensjahr trotz elterlicher Verbote häufig über Nacht weg
lief mindestens zweimal über Nacht von zu Hause weg, während er noch bei den Eltern oder bei anderen Bezugspersonen wohnte (oder nur einmal mit Rückkehr erst nach längerer Zeit)
schwänzt schon vor dem 13. Lebensjahr häufig die Schule
Tab. 3: Symptomliste für die Störung mit Oppositionellem Trotzverhalten (nach DSM IV) (American Psychiatric Association, 1994, S. 133; nach Scheithauer & Petermann, 2004, S. 370 f)
Beide Störungen weisen eine hohe Komorbidität miteinander auf. Kleiber & Meixner (2000) gehen davon aus, dass „dies (…) weniger für zwei eigenständige Störungstypen als vielmehr für eine zeitliche Abfolge einer umfassenden Störungsentwicklung mit Beginn in der frühen Kindheit und einer Veränderung der Schwere und Art der Symptome im Verlauf des Jugendalters (vgl. Achenbach, 1993, Lahey & Loeber, 1997)“ spricht (ebd., S. 194).
Im Klassifizierungssystem ICD-10 (Dilling et al., 1994) werden grundsätzlich Störungen des Sozialverhaltens (ICD F91) von sog. kombinierten Störungen des Sozialverhaltens der Emotionen (ICD F92) unterschieden. Innerhalb des Typus der Störung des Sozialverhaltens (F91) lassen sich noch folgende Unterkategorien bilden:
Tab. 4: Typen der Störung des Sozialverhaltens nach ICD-10 (Dilling et al. 1994; nach Petermann, Döpfner & Schmidt, 2001, S. 5f)
Die Diagnostikleitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (2003) formulieren als Leitsymptome:
„ein deutliches Maß an Ungehorsam
streiten oder tyrannisieren
ungewöhnlich häufige und schwere Wutausbrüche
Grausamkeiten gegenüber anderen Menschen oder Tieren
erhebliche Destruktivität gegen Eigentum
zündeln
stehlen
häufiges Lügen
Schuleschwänzen
weglaufen von zu Hause.
Bei erheblicher Ausprägung genügt jedes einzelne der genannten Symptom für eine Diagnosestellung, nicht jedoch einzelne dissoziale Handlungen“ (ebd., S. 261).
Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (2003) differenziert auch drei unterschiedliche Schweregrade (leicht, mittel und schwer), in Abhängigkeit von der Anzahl der Symptome, der Intensität der gezeigten negativen Verhaltensweisen und der Auswirkungen auf das Umfeld (ebd).
Essau & Conradt (2004) setzen sich kritisch mit diesen Klassifikationssystemen auseinander. Zum einen seien die „Schwellenwerte für die Symptome, anhand derer im DSM-IV (auch in der ICD-10) bestimmt wird, ob eine Störung des Sozialverhaltens bzw. eine Störung mit Oppositionellem Trotzverhalten vorliegt (…) recht willkürlich festgelegt“ (ebd., S. 35). Kritisch wird ebenfalls gesehen, dass eine relativ eindimensionale Betrachtung des Verhaltens den Systemen zu Grunde liegt. Die unterschiedlich beeinträchtigenden Symptome seien gleichwertig, zudem ist der Entwicklungsaspekt unzureichend berücksichtigt: „da viele Kinder Zeiten von Unfolgsamkeit und trotzigem Verhalten durchleben, liefern unsere Klassifikationssysteme wenig Anhaltspunkte dafür, wie sich zwischen einer Störung des Sozialverhalten und einem Trotzverhalten unterscheiden lässt, das zwar schwierig, im Umgang aber altersangemessen ist“ (ebd., S. 37). Nicht zuletzt wird kritisiert, dass der kulturelle Hintergrund von Störungen des Sozialverhaltens bzw. Oppositionellem Trotzverhalten eine große Bedeutung hat, der in diesem Klassifikationssystem nicht berücksichtigt wird. Essau & Conradt weisen ausdrücklich darauf hin, dass eine Kategorisierung alleine nach diesen Systemen zu einer Etikettierung bzw. Stigmatisierung von Kindern führen kann (ebd., S. 35) – hier werden fundamentale Fragen zur Diagnostik angesprochen (s.u.).
Die Angaben zur Prävalenz der ‚Störungen des Sozialverhaltens‘ bzw. des ‚aggressiv-dissozialen Verhaltens‘ variieren in unterschiedlichen Studien erheblich. Dies liegt zum einen an unterschiedlichen zugrunde liegenden Diagnosesystemen, unterschiedlichen Erhebungsmethoden, aber auch unterschiedlichen Beurteilungsquellen (z.B. die Einschätzung der Kinder über Fremdbeurteilung durch die Eltern oder andere Außenstehende); Borg-Laufs (1997, S. 26) stellte unterschiedliche Studienergebnisse zusammen, die zeigten, dass „nur schwache Übereinstimmungen“ von (verschiedenen) Fremdeinschätzungen miteinander und auch mit Selbsteinschätzungen bestehen (Korrelationen von bestenfalls .33).
Tab. 5: Prävalenz der Störung des Sozialverhaltens bzw. aggressiv-dissozialen Verhaltens
Untersuchung durch:
Prävalenz
Quelle
American Psychiatric Association, 1996
8 % aller Kinder und Jugendlichen (6–16 % Jungen, 2–9 % Mädchen)
Petermann, Döpfner & Schmidt, 2001
Mannheimer Risiko-Kinder-Studie
14,5 % diagnostizierte Kinder der Stichprobe (Grundschulalter), davon 70 % Jungen, 30 % Mädchen
Laucht, 2003
Romano et al., 2001
4,2 % 14- bis 17-Jährige (Selbstbericht Jugendliche und Beeinträchtigungskriterien) (5,5 % Jungen, 2,9 % Mädchen)
Essau & Conradt, 2004
Lahey et al., 1998
0–11,9 % (4- bis 18-Jährige, Median 2 %)
Scheithauer & Petermann, 2004
Diese Zusammenstellung macht deutlich, wie unterschiedlich die Einschätzungen hinsichtlich der Auftretenshäufigkeit sind. Allerdings wird übereinstimmend berichtet, dass die Störung des Sozialverhaltens „zu den am häufigsten ermittelten Störungsformen (zählen). Noch auffälliger zeigt sich die hohe Verbreitungsrate dieser Störung im Kindes- und Jugendalter in klinischen Studien“ (Scheithauer & Petermann, 2004, S. 373).
Aufgrund der dargestellten methodischen Probleme lassen sich keine klaren Aussagen darüber machen, ob das aggressive Verhalten im Verlauf der letzten 10, 20 oder 25 Jahre insgesamt zugenommen hat. Die Aussagen hierüber sind widersprüchlich. So konstatieren beispielsweise Kleiber & Meixner (2000), dass die „Befunde zum Ausmaß antisozialen Verhaltens in Schulen (…) eine Zunahme nahe (legen) obwohl dies nicht pauschal auf die gesamte Jugendgeneration zu generalisieren ist“ (ebd., S. 192).
Humpert & Dann (2001) zitieren eine Studie von Lösel et al. (1999), die zu dem Schluss kommen, dass „die Prävalenz von Gewalt-Taten und Raufunfällen (…) in den 90er Jahren (…) vor allem in den Hauptschulen zugenommen (hat). In den jüngsten Daten ist wieder ein Rückgang zu verzeichnen“ (ebd., S. 21).
Nach Kleiber & Meixner (2000) ergibt sich im Langzeitvergleich von über 20 Jahren vor allem an Hauptschulen ein Anstieg von Delinquenzraten von Jugendlichen. Diese ließen sich vor allem zunehmend für Mehrfachtäter mit häufigem delinquenten Verhalten ausmachen; für Jugendliche mit einmaligem und seltenem delinquenten Verhalten hingegen nicht (vgl. Lösel & Bender, 1998, S. 193). Insgesamt fehlen allerdings offensichtlich valide Vergleichsdaten zum Problem innerschulischer Aggression und Gewalt, zumal auch hier die Erkenntnisse je nach Datenquelle (Befragung von Lehrern, betroffenen Schülern und/oder Klassenkameraden) sehr differieren. „Übereinstimmend zeigen bundesdeutsche Schülerbefragungen, dass vorwiegend leichtere, verbalere Aggressionsformen vorkommen und glücklicherweise nur wenige Schüler in schwere physische Aggressionen involviert sind“ (Kleiber & Meixner, 2000, S. 193). Humpert & Dann (2001) referieren verschiedene repräsentative Untersuchungen, aus denen letztlich hervorgeht, dass die „schwerwiegenden Auseinandersetzungen nicht (…) zugenommen haben sollten“ (ebd., S. 24); allerdings stellen sie auch fest, dass „ohne Zweifel (…) Aggression und Gewalt ein gravierendes praktisches Problem an unseren Schulen“ sind und zu einer erheblichen Belastung der Lehrer führen – auch deswegen, weil aggressives Verhalten im Kontext mit einer Vielzahl anderer Verhaltensauffälligkeiten steht.
Ebenso führen Ostendorf et al. eine Studie an bayrischen Schulen an, der zufolge zwischen 1994 und 1999 die Häufigkeit von Gewalttaten mit Ausnahme der verbalen Gewalt nicht zugenommen hat. „Die Anwendung physischer Gewalt geht hierbei auf eine kleine Minderheit zurück“ (Ostendorf et al., 2002, S. 15).
Eine etwas klarere Auskunft könnten offizielle Statistiken zu delinquentem Verhalten geben – wobei auch hier eine große Differenz zwischen sog. ‚Hell-Feld‘- und ‚Dunkel-Feld-Zahlen‘ stehen. Die klassische ‚Hell-Feld-Statistik‘ ist die polizeiliche Kriminalstatistik, die Informationen zur polizeilichen Registrierung tatverdächtiger Personen, aufgeschlüsselt nach Altersgruppen und strafrechtlich relevanten Delikten, enthält. Die Kriminalstatistik besagt, dass in den 1990er Jahren sich für alle jüngeren Altersgruppen eine Erhöhung der Tatverdächtigenbelastung findet: „Wurden im Jahre 1990 noch 5,5 % der 14- bis 18-Jährigen als Tatverdächtige polizeilich registriert, so waren es im Jahr 1998 8,2 %. In den Folgejahren bis 2001 stagnierte die registrierte Jugenddelinquenz auf diesem relativ hohen Niveau“ (Brettfeld & Wetzels, 2003, S. 85). Die Gewaltkriminalität machte dabei 1990 noch 8,2 % aller jugendlichen Tatverdächtigen aus, diese Quote ist auf das Doppelte gestiegen (ebd.). Für Deutschland beschreiben auch Ostendorf et al. (2002) einen Anstieg um 46,2 % der Tatverdächtigen wegen Gewaltkriminalität von 1988 im Vergleich zu 1999. Allerdings ist grundsätzlich festzustellen, dass „die Gewaltdelikte nach der polizeilichen Kriminalstatistik in den letzten Jahren deutlich zugenommen (haben), nach der Verurteiltenstatistik ergibt sich demgegenüber jedoch nur ein geringfügiger Anstieg“ (Ostendorf et al., 2002, S. 22).
Vergleichbare Anstiege sind auch in England und in den USA zu verzeichnen: „Dem ‚National Report‘ der USA von 1999 zufolge gab es einen 35 %-igen Anstieg der Festnamen von Jugendlichen (z.B. Raub, schwere Körperverletzung, Waffenbesitz, Drogengebrauch) von 1988 bis 1997“ (Essau & Conradt, 2004, S. 65).
Es gilt gleichermaßen für alle Untersuchungen, dass sowohl bei den Heranwachsenden, als auch bei den Jugendlichen in deutlich stärkerem Maße Jungen gewalttätig sind (i.d.R. über 80 %). Dabei ist auch der Anstieg der registrierten Jugendgewaltkriminalität weit überwiegend auf die Zunahme männlicher Tatverdächtiger zurückzuführen, obwohl zugleich der relative Anstieg bei den weiblichen Jugendlichen (Zunahme um den Faktor 2,99) stärker ausgeprägt ist als bei den männlichen Jugendlichen (Faktor 2,24) (Brettfeld & Wetzels, 2003, S. 86f). Es scheint so zu sein, dass etwa seit 2000 die Zahlen auf einem relativ hohen Niveau stagnieren.
Gegenüber diesen Daten findet sich bei sog. ‚Dunkel-Feld-Untersuchungen‘ – also breiten Repräsentativ-Befragungen – ein Rückgang der Delinquenz. Beim Vergleich mehrerer Städte ergab sich „auch bei Berücksichtigung der Mehrfachtäterschaft ... an allen Orten unserer Untersuchung, (dass) die Täterraten der Jugendlichen im Bereich der Gewaltdelinquenz rückläufig sind“ (Brettfeld & Wetzels, 2003, S. 103); das Verhältnis von Jungen zu Mädchen beträgt etwa 3:1. – Die in einigen Untersuchungen gefundenen Steigerungen der Kriminalitätsraten haben offensichtlich eine spezifische Ursache: Lösel et al. (1999) stellten fest: „Unsere Dunkelfeld-Daten legen nahe, dass die Steigerung der Täter-Prävalenz nicht nur auf mehr Täter, sondern wesentlich auf eine Gruppe besonders aktiver Täter zurückzuführen ist“ (ebd., S. 80). Dies entspricht internationalen Daten, wonach „auf eine kleine Gruppe von ca. 5–7 % der Täter über 50 % der Gesamtkriminalität entfällt“ (ebd.).
Brettfeld und Wetzels (2003) stellen zusammenfassend – mit Erkenntnissen von Sturzbecher und MitarbeiterInnen (2001) – fest: „Während von 1990 bis 2002 im ‚Hell-Feld‘ der polizeilich registrierten Jugendgewaltkriminalität durchgehend Anstiege verzeichnet werden, lassen sich demgegenüber in unseren ‚Dunkel-Feld-Erhebungen‘ für die Zeit seit 1998 rückläufige Tendenzen nachweisen. (…) Unsere Ergebnisse zeigen ferner, dass die Rückgänge der Gewaltdelinquenz vor allem auf vermehrt gewaltablehnende Einstellungen relevanter Bezugspersonen junger Menschen, einen Wandel des Erziehungsverhaltens von Eltern in Richtung auf eine verminderte Anwendung von Gewalt als Erziehungsmittel sowie eine Veränderung der Einstellungen der Jugendlichen selbst zu Gewalt zurückzuführen sind, während ein Wandel sozialer Lebenslagen hier nicht als Erklärung herangezogen werden kann“ (ebd., S. 111).
Die bisher dargestellten Zahlen machen deutlich, dass offen-aggressives Verhalten in weitaus höherem Maß von Jungen gezeigt wird als von Mädchen; die Angaben hierüber schwanken zwischen 2:1 bis hin zu 4:1. Übereinstimmend lässt sich feststellen: Während die Geschlechtsdifferenzen hinsichtlich der Formen und der Intensität der Aggressionen bei Kleinkindern noch relativ gering sind (Krahé, 2001 unter Berufung auf Loeber & Stouthamer-Loeber, 1998), so zeigt sich: „Bereits ab dem Vorschulalter haben Jungen die Tendenz, signifikant mehr antisoziales Verhalten zu zeigen als Mädchen. (…) Darüber hinaus erreichen die Symptome der Störung des Sozialverhaltens einen signifikant höheren Schweregrad bei Jungen, insbesondere wenn es um die körperliche Verletzung anderer geht (Lahey et al., 2000)“ (Essau & Conradt, 2004, S. 56; ebenso Krahé, 2001). Diese Unterschiede relativieren sich etwas zu Beginn der Pubertät: „Vor allem nimmt während der Adoleszenz das aggressive Verhalten bei Mädchen – im Gegensatz zu männlichen Jugendlichen – sprunghaft zu. (…) In dem weiteren Verlauf entsprechen diese spät auftretenden Mädchenaggressionen dem Entwicklungsweg ‚früh auftretende, stabile Aggression‘ der Jungen“ (Petermann et al., 2001, S. 11f, unter Bezugnahme auf eine Studie von Silverthorn & Frick, 1999). „A greater proportion of girls start becoming aggressive in adolescence without a prior history of aggression and girls involvement in serious violence peaks earlier than that of boys“ (Krahé, 2001, S. 60).
Nach einer Studie von Crick & Grotpeter (1995) ist es allerdings so, dass Mädchen signifikant deutlicher relational aggressives Verhalten zeigen als Jungen (s. a. Krahé, 2001, S. 59ff).
Dabei ist das Ausmaß und die Art des gezeigten aggressiven Verhaltens zusätzlich abhängig vom Alter und dem Einfluss der Gleichaltrigengruppe: „Für Mädchen scheint die Gleichaltrigengruppe … eine besondere Rolle im Zusammenhang mit delinquentem Verhalten zu spielen: Mädchen begehen Straftaten eher aus gemischgeschlechtlichen Gruppen heraus, im Gegensatz zu Jungen, die diese eher aus Gruppen heraus begehen, die aus gleichaltrigen Jungen bestehen“ (Scheithauer, 2003, S. 163). In einer Alters-Vergleichsstudie bei Jungen und Mädchen der zweiten, sechsten, neunten und elften Jahrgangsstufe konnten Russel & Owens (1999) ermitteln, dass „Mädchen zwar in stärkerem Maße körperliche Aggressionen gegen Jungen, aber mehr verbale und indirekte Aggression gegen Mädchen richteten. Jungen hingegen richteten in stärkerem Ausmaß ihre Aggression gegen andere Jungen... Jungen scheinen sich gegenüber Mädchen weniger aggressiv zu verhalten als gegenüber Jungen …“(Scheithauer, 2003, S. 164).
„Eines der konsistentesten Ergebnisse im Hinblick auf psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen ist die hohe Rate gleichzeitigen Auftretens verschiedener Störungen (s.a. Essau, 2003)“ (Essau & Conradt, 2004, S. 71). Allerdings ergibt sich auch hier wieder die Problematik, dass sich aufgrund unterschiedlicher methodischer Herangehensweisen sehr verschiedene Komorbiditätsraten ergeben.
Hohe Komorbiditätsraten werden festgestellt:
Zwischen aggressivem und dissozialem/delinquentem Verhalten: in klinischen Studien bis zu 45 %, in repräsentativen Studien bis zu 28 % (Scheithauer & Petermann, 2004).
Zwischen Störungen des Sozialverhaltens und Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS): Hier schwanken die Zahlen des gemeinsamen Auftretens zwischen 20 % und 50 %; in klinischen Studien teilweise bis zu 90 %. „Geht man vom aggressiven Verhalten aus, so weisen ca. ein Drittel der betroffenen Kinder auch hyperkinetische Auffälligkeiten auf; ausgehend von hyperkinetischen Auffälligkeiten lässt sich bei bis zu 50 % der Betroffenen komorbid aggressives Verhalten ermitteln“ (Scheithauer & Petermann, 2004, S. 376). Essau & Conradt (2004) berichten von geringeren Komorbiditätsraten von ca. 28 %. Scheithauer & Petermann (2004) betonen, dass Funktionsdefizite wie mangelnde Impulskontrolle, Defizite in der kognitiven Informationsverarbeitung, Sozialprobleme und geringer Selbstwert sowohl für übermäßig aggressives Verhalten als auch für ADHS eine fundamentale Bedeutung haben.
Zwischen Störungen des Sozialverhaltens und Depression: Hier gibt es zunächst einmal Probleme, Depression im Kindesalter als solche valide zu diagnostizieren (vgl.
z.B.
die Zusammenstellung von Fröhlich-Gildhoff, 2004b). Unter Berücksichtigung dieser Einschränkung ist gleichfalls von hohen Komorbiditätsraten von 22 % bis zu 45 % auszugehen (Scheithauer & Petermann, 2004; Essau & Conradt, 2004); strittig ist dabei, ob zunächst eine Depression und dann die Störung des Sozialverhaltens auftritt oder umgekehrt (vgl. ebd.).
Zwischen Störungen des Sozialverhaltens und Störungen des Substanzkonsums: In der Bremer Jugendstudie (Petermann et al., 1999) konnte übereinstimmend mit ähnlichen Studien festgestellt werden, dass bei etwa 40 % der Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren die Störung des Sozialverhaltens und die Störung des Substanzkonsums verbunden auftreten (Scheithauer & Petermann, 2004). „Das Vorliegen einer Störung des Sozialverhaltens (stellt) einen signifikanten Risikofaktor für Substanzkonsum dar (…). Hinzu kommt, dass Substanzkonsum das Risiko delinquenten Verhaltens möglicherweise erhöht“ (Essau & Conradt, 2004, S. 80). Eine hohe Bedeutung spielt hier zum einen die Peergroup, aber auch negatives Erziehungsverhalten, vor allem fehlende Beaufsichtigung durch die Eltern (vgl. ebd., ebenso Scheithauer & Petermann, 2004).
Borg-Laufs (1997) führt ältere Studien von Petermann & Petermann (1994)
bzw.
Essau & Petermann (1995) an, denen zufolge eine Komorbidität von Angststörungen mit aggressiven Verhaltensstörungen von 36 bis 62 % besteht. Er spricht dabei vom Typus der „angstmotivierten Aggression“: „Die Aggression dient bei solchen Kindern und Erwachsenen häufig dazu, ihre Angst und Unsicherheit zu reduzieren. Durch die Bedrohung und Schwächung der Opfer wird die eigene Sicherheit erhöht“ (ebd., S. 78).
Zusammenfassend lassen sich nach Scheithauer & Petermann (2004) typische Altersspannen beim Auftreten der komorbiden Störungen feststellen (s. Abb.1).
Abb. 1: Typisches Alter beim Auftreten der ADHS, SSV, SOT, SSK und der Antisozialen Persönlichkeitsstörung (modifiziert nach Scheithauer & Petermann, 2004, S. 379)
In diesem Abschnitt wird auf die Langzeitentwicklung des übermäßig aggressiven Verhaltens bzw. der Störung des Sozialverhaltens eingegangen. Die Entwicklung der Aggressivität in ihrem regelhaften Entwicklungsverlauf ist in Kap. 3 ausführlicher dargestellt.
Während aggressives Verhalten in einem bestimmten Ausmaß in verschiedenen Lebensphasen als altersbedingt normal angesehen werden kann (s.u.), so zeigen übereinstimmend alle vorliegenden Studien, dass eine übermäßig starke Manifestation von Aggression über den Lebenszeitverlauf stabil ist. In einer Langzeitstudie konnte beispielsweise Olweus (1979) zeigen, dass die Korrelationen des Ausmaßes an Aggressionen nach einem Jahr .76, nach fünf Jahren .69 und nach zehn Jahren noch .60 beträgt. Dieses Ergebnis wurde von Zumkley (1994) in einer Metaanalyse bestätigt. Dabei zeigt sich, dass diejenigen Kinder, die ein besonders hohes Ausmaß an aggressivem Verhalten in früherer Kindheit zeigten, dies auch im späteren Lebensalter beibehielten: „Loeber & Hay (1997) note that stability is likely to be highest for those individuals who represent the extremes of the aggression continuum, i. e. are the least or the most aggressive at time 1“ (Krahé, 2001, S. 50).
Dornes (1997) berichtet von einer Langzeituntersuchung von Eron et al. (1991), die zeigt, dass „Aggression über den Zeitraum von 22 Jahren recht stabil ist. Kinder, die mit 8 Jahren am aggressivsten eingeschätzt wurden, wurden dies oft auch noch als Erwachsene mit 30 Jahren“ (Dornes, 1997, S. 269).
In ihrer Zusammenstellung verschiedener Studien zum Langzeitverlauf aggressiven Verhaltens kommen Essau & Conradt (2004) zu dem Schluss: „Störungen des Sozialverhaltens weisen eine hohe Stabilität auf. Bei zwischen 32 und 81 % der Kinder, bei denen eine solche Störung festgestellt wurde, konnte die Störung auch zu einem späteren Zeitpunkt diagnostiziert werden (Burke et al., 2003). Kinder mit einem durchgängig negativen Störungsverlauf haben, wenn sie älter werden, ein hohes Risiko für Fehlentwicklungen und Probleme in zahlreichen Lebensbereichen“ (ebd., S. 84; Borg-Laufs, 1997, S. 34ff kommt in seiner Zusammenstellung von entsprechenden Studienergebnissen zu dem gleichen Ergebnis).
Dabei hängt die Stabilität aggressiv-dissozialen Verhaltens von vier relevanten Faktoren ab; dieses Verhalten ist stabil, wenn es
früh in der Kindheit beginnt,
sehr häufig auftritt,
viele Verhaltensbereiche betrifft,
auf viele Lebensbereiche bezogen ist (Familie, Schule, Peergroup) (vgl. Petermann et al., 2001; Scheithauer & Petermann, 2004).
In Anlehnung an das Modell Loeber & Stouthamer-Loeber (1998) lassen sich nach Scheithauer & Petermann (2004) drei Entwicklungstypen aggressiven bzw. gewalttätigen Verhaltens beschreiben:
‚Der über den Lebenslauf stabile Entwicklungstyp‘: Charakterisiert durch ein „stabiles aggressives Verhalten von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Schwere und Ernsthaftigkeit der Verhaltensweisen nehmen mit der Zeit zu“ (ebd., S. 384);
‚Der zeitlich begrenzte Entwicklungstyp‘: Er wird dadurch charakterisiert, dass „die aggressiven Verhaltensweisen entweder während der Grundschulzeit aufgegeben werden oder ausschließlich während eines kurzen Zeitraums in der Adoelszenz aufgetreten sind“ (ebd., S. 385);
‚Der späte Entwicklungstyp‘: Dieser ist gekennzeichnet durch „ein erstmaliges Auftreten aggressiven oder gewalttätigen Verhaltens im Erwachsenenalter“ (ebd.).
Nach Loeber und Hay (1997) gibt es altersabhängig unterschiedliche Eskalationen des aggressiven Verhaltens. Schwächere Formen aggressiven Verhaltens steigen kontinuierlich bis zum Jugendalter an; diese treten am häufigsten auf. Körperliche Aggressionen haben einen deutlichen Anstieg etwa ab 15 Jahren, und massives gewalttätiges Handeln auch unter dem Gebrauch von Waffen steigt ab etwa 17 Jahren an, allerdings mit der geringsten Häufigkeit (vgl. Krahé, 2001, S. 51 f).
Die Entwicklung aggressiv-dissozialen Verhaltens hat Loeber (1990) in einem Modell zusammengefasst, das von Scheithauer & Petermann leicht modifiziert wurde (s. Abb. 2).
Abb. 2: Entwicklung aggressiv-dissozialen Verhaltens nach Loeber (1990) (modifiziert nach Scheithauer & Petermann, 2004, S. 384)
Auch wenn die dargelegten Befunde für eine hohe Stabilität und Persistenz auffällig aggressiven Verhaltens sprechen, so ist immer zu berücksichtigen, dass hier nicht gewissermaßen ‚automatische‘ Entwicklungslinien vorliegen. So liegen „Befunde vor, die zeigen, dass es Teilgruppen gibt, die nach unauffälliger Kindheit und Jugend erst im Erwachsenenalter delinquente Verhaltensweisen entwickeln oder Personen, die von Kindheit an auffällig sind, deren antisoziales Verhalten sich aber (erst) im mittleren Erwachsenenalter legt und nicht bis zum Lebensende persistiert (vgl. Dahle, 1998). Aus frühem anitisozialem Verhalten kann deshalb nicht zwangsläufig auf eine Persistenz geschlossen werden“ (Kleiber & Meixner, 2000, S. 196).
Es ist daher zum einen nötig, aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive den ‚normalen‘ Verlauf von aggressivem Verhalten zu betrachten. Zum anderen müssen dezidiert Ursachen der Entstehung überdauernden aggressiven und antisozialen Verhaltens – also der beschriebenen Ausprägungen der Störungen des Sozialverhaltens – betrachtet und entsprechende Entwicklungspfade aufgezeigt werden. Dies geschieht im nächsten Abschnitt zunächst auf einer allgemeinen Ebene; diese allgemeine Betrachtung entbindet allerdings nicht von der Notwendigkeit jeweils im Einzelfall präzise den individuellen Entwicklungsverlauf der entsprechenden störungsauslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen nachzuvollziehen.
Neue empirische Befunde, insbesondere in der Säuglingsforschung, können die Annahme eines Aggressionstriebs, also eines sich immer wieder selbstaufladenden Potentials aggressiver Handlungen, das nach Entladung strebt, nicht bestätigen (vgl. übereinstimmend Dornes, 1997; Borg-Laufs, 1997; Lachmann, 2004; Essau & Conradt, 2004); die entsprechenden psychoanalytischen oder verhaltensbiologischen Konzeptionen können auf der bestehenden Datenbasis nicht mehr als Erklärungsgrundlagen herangezogen werden.
Die aktuellen entwicklungspsychologischen Modelle gehen von mehreren grundlegenden Motivationssystemen aus; im Zusammenhang mit dem Thema Aggression sind besonders zwei bedeutsam: zum einen ein grundlegendes, gewissermaßen aus sich selbst heraus gespeistes, aktives Motivationssystem: das der Exploration und Neugier bzw. der Selbstbehauptung (Assertion). Dornes (1997) konstatiert in seiner Zusammenstellung der entsprechenden Ergebnisse der modernen Säuglingsforschung: „Explorationen und Neugier sind (…) biopsychologisch fundierte Aktivitäten, die nicht vom Aggressionstrieb abstammen, sondern aus einer qualitativ davon verschiedenen Quelle“ (ebd., S. 250, vgl. auch Lachmann, 2004). Neben diesem Explorations- oder assertiven Motivationssystem gibt es das der reaktiven Aggression bzw. Aversion. „Das reaktive aggressive/aversive System ist im Unterschied (zu dem explorativen System) nicht selbstaktivierend, sondern wird nur durch Bedrohung aktiviert; es wird inaktiv, sobald die Quelle der Bedrohung beseitigt ist. Außerdem ist seine Aktivierung von negativen Affekten begleitet. Assertion entsteht also spontan und ist mit positiven Affekten verknüpft, Aggression/Aversion entsteht reaktiv und ist mit negativen Affekten verknüpft“ (ebd., S. 252). Bestimmte Handlungen, wie z.B. Beißen oder Kratzen eines kleinen Kindes, können durchaus explorativen Charakter haben und aggressiv-feindselig erscheinen.
Lachmann (2004) betont, dass „Selbstbehauptung und Exploration mit Affekten des Interesses, der Freude, Erregung und Heiterkeit (einhergehen)“ (ebd., S. 73). Die aversiven Reaktionen werden durch konkrete Anlässe ausgelöst: „So kann beispielweise ein Kleinkind durch eine Feder, die auf seinem Gesicht landet, zu einer aversiven Reaktion veranlasst werden: Es wischt die Feder fort. Das heißt, Aversivität ist eine Reaktion auf eine wahrgenommene Bedrohung der eigenen Integrität. Sie umfasst selbstschützende Reaktionen wie zum Beispiel den Angriff, durch den die wahrgenommene Gefahrenquelle zerstört oder entfernt werden soll. Sie hängt mit Angst-, Distress- und Ärgeraffekten zusammen und wird insbesondere durch solche Vorkommnisse ausgelöst, die man als bedrohlich empfindet“ (ebd., S. 73 f).
Das reaktiv-aversive System hat unterschiedliche Reaktionsformen bei Bedrohung zur Verfügung:
Rückzug, im Extremfall Ohnmacht,
unmittelbare oder mittelbare Reaktion auf die Störung; der Säugling
bzw.
das Kind kann Unbehagen signalisieren und versuchen,
z.B.
das störende Objekt beiseite zu schieben, oder im Weiteren aggressiv handeln oder fühlen.
Es ist also von gestuften Reaktionsmöglichkeiten auszugehen. Säuglinge empfinden bei exzessiver Unlust Wut und/oder Unbehagen, Schmerz und/oder Verzweiflung. Wenn die Quelle der Unlust beseitigt wird, dann verschwindet auch die Wut oder der Ausdruck von Ärger. Dornes (1997) betont allerdings, dass „sehr junge Säuglinge auf (exzessive) Unlust nicht mit dem Gefühl von Feindseligkeit reagieren und auch nicht unbedingt mit Ärger, sondern z.B. mit Ohnmacht, stummer Verzweiflung oder ‚Dekompensation‘“ (ebd., S. 262).
Die Manifestationen des aggressiven Systems zeigen sich in unterschiedlichen Lebensphasen in unterschiedlicher Weise; man kann dabei von einem gewissen Ausmaß „normaler Aggression“, von einem ‚Ausprobieren‘ aggressiver Verhaltensweisen und ihrer Wirkungen durch die sich entwickelnden Kinder ausgehen (zum Vergleich zwischen „normaler“ und „anormaler Aggression“ vgl. z.B. Essau & Conradt, 2004, S. 24).
Nach den Erkenntnissen der empirischen Säuglingsforschung existieren zu Beginn des Lebens mindestens zwei unlustvolle Affektzustände: Ekel und Unbehagen/Schmerz (Dornes, 1997, S. 257).
Ab Ende des zweiten Monats ist Ärger im Experiment zu beobachten (Lewis, 1993); ab etwa drei Monaten auch in natürlichen Zusammenhängen (vgl. auch die Zusammenstellung bei Essau & Conradt, 2004; S. 22, Krahé, 2001).
Dornes (1997) stellt ergänzend fest: „Schon ab drei Monaten – verstärkt ab sechs bis acht – kann man aggressiv erscheinende Handlungen beobachten, z.B. Ziehen an den Haaren der Mutter, Kratzen im Gesicht, Beißen in die Brust etc., die aber ohne den Ausdruck von Ärger erfolgen. Vermutlich handelt es sich dabei eher um assertive Aktivitäten, die im Gefolge von Neugier und Interesse auftauchen und nicht mit der Absicht ausgeführt werden, das Objekt zu schädigen“ (ebd., S. 263).
Mit der wachsenden Autonomie des Kindes, der Ausdehnung des Bewegungs- und des Explorationsraumes sind mit Beginn des zweiten Lebensjahres verstärkt instrumentell-aggressive Handlungen von Kindern zu beobachten. Instrumentell-aggressive Handlungen sind solche, die nicht das Ziel haben, jemand anderen zu verletzen, sondern z.B. sich in den Besitz von Gegenständen, z.B. eines Spielzeugs, zu bringen. Diese Handlungen sind eher auf den Gegenstand gerichtet und nicht gegen andere Menschen. So reagieren Kinder „erstaunt, verblüfft oder betreten, wenn der andere anfängt zu schreien oder zu weinen. (…) Daraus folgt, dass Verletzungsabsichten und Feindseligkeiten kein integraler Bestandteil ärgerlicher oder instrumentell-aggressiver (für den Bebachter aggressiv erscheinender) Handlungen sind. Das primäre (subjektive) Ziel solcher Handlungen ist Selbstbehauptung/Neugier/Assertion. Dabei kommt es sekundär und unbeabsichtigt zur Zufügung von psychischem oder physischem Schmerz“ (Dornes, 1997, S. 264; vgl. auch Essau & Conradt, 2004).