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Empirische entwicklungspsychologische Erkenntnisse werden in diesem Band auf die Anwendung in Familien, Kitas und Grundschulen übertragen. Ausgangspunkte sind dabei das biopsychosoziale Entwicklungsmodell, das Schutz- und Risikofaktorenkonzept sowie empirische Erkenntnisse zu entwicklungsförderlichen Umweltbedingungen. Es werden verschiedene Programme vorgestellt und ihr Bezug auf das professionelle Handeln im pädagogischen Alltag überprüft. Dabei werden die Bereiche Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie, Klinische Kinderpsychologie und Gesundheitswissenschaft berücksichtigt.
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Seitenzahl: 397
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Empirische entwicklungspsychologische Erkenntnisse werden in diesem Band auf die Anwendung in Familien, Kitas und Grundschulen übertragen. Ausgangspunkte sind dabei das biopsychosoziale Entwicklungsmodell, das Schutz- und Risikofaktorenkonzept sowie empirische Erkenntnisse zu entwicklungsförderlichen Umweltbedingungen. Es werden verschiedene Programme vorgestellt und ihr Bezug auf das professionelle Handeln im pädagogischen Alltag überprüft. Dabei werden die Bereiche Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie, Klinische Kinderpsychologie und Gesundheitswissenschaft berücksichtigt.
Dr. Klaus Fröhlich-Gildhoff, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, ist Professor für Entwicklungspsychologie und Klinische Psychologie an der Evangelischen Hochschule Freiburg.
Klaus Fröhlich-Gildhoff
Angewandte Entwicklungspsychologie der Kindheit
Begleiten, Unterstützen und Fördern in Familie, Kita und Grundschule
Unter Mitarbeit von Carolin Eichin
Verlag W. Kohlhammer
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Alle Rechte vorbehalten © 2013 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Umschlagabbildung: © istockphoto.com/skynesher Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany
Print: 978-3-17-021333-3
E-Book-Formate
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978-3-17-023966-1
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978-3-17-028172-1
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978-3-17-028173-0
Vorwort
1 Einleitung
1.1 Das Gebiet der Angewandten Entwicklungspsychologie
1.2 Methoden zur Erfassung von Veränderungen
1.3 Zielebenen
1.4 Der Kreislauf differentiellen, passgenauen Handelns
1.5 Die Bedeutung von Programmen
1.6 Der Aufbau des vorliegenden Buches
2 Ausgangspunkte: Perspektiven auf Entwicklung
2.1 Bio-Psycho-Soziales Entwicklungsmodell
2.2 Bewältigungs(Coping)-Perspektive
2.3 Risiko- und Schutzfaktorenkonzept; Resilienz
2.4 Entwicklungsförderliche Umwelten
2.4.1 Das sozialökologische Modell von Bronfenbrenner
2.4.2 Die Bedeutung von Übergängen
2.4.3 Die Bedeutung von Kultur
2.4.4 Die Bedeutung von Beziehungen
2.5 Relevante Entwicklungsdimensionen auf personaler Ebene
2.5.1 Die Bedeutung früher Bindungserfahrungen
2.5.2 Die Bedeutung kindlicher Emotionsregulation und Affektabstimmung
2.5.3 Die Bedeutung der sozialen Perspektivenübernahme und des Aufbaus sozialer Kompetenz
2.5.4 Die Bedeutung des Erlebens von Kontrolle und Selbstwirksamkeit
2.5.5 Der Aufbau kognitiver Schemata und allgemeiner Problemlösekompetenzen
3 Systematisierung entwicklungsfördernden Handelns
3.1 Erkennen, Verstehen, Interpretieren (Beobachtung und Diagnostik)
3.1.1 Der allgemeine Prozess
3.1.2 Erkennen und Einschätzen von Auffälligkeiten
3.1.3 Schwierigkeiten im diagnostischen Prozess
3.2 Passgenaue Antworten
4 Entwicklungsunterstützung im Alltag
4.1 Entwicklungsbegleitung und -förderung in der Entwicklungsumwelt Familie
4.1.1 Erziehungsstile
4.1.2 Programme und Möglichkeiten zur Unterstützung von Familien
4.2 Entwicklungsbegleitung und -unterstützung in der Entwicklungsumwelt Kindertageseinrichtung
4.2.1 Veränderungen in der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung
4.2.2 Zentrale Aspekte der Förderung von Kindern in Kindertageseinrichtungen
4.2.3 Spezifische Programme zur Unterstützung der Entwicklung
4.2.4 Die Bedeutung der Übergänge
4.3 Entwicklungsbegleitung und -unterstützung in der Entwicklungsumwelt Grundschule
4.3.1 Erkenntnisse zu den Chancen der Entwicklungsumwelt Grundschule
4.3.2 Förderung der seelischen Gesundheit im Setting Grundschule
4.3.3 Individualisierte Bildungsplanung
4.3.4 Spezifische Programme zur Unterstützung der Entwicklung im Grundschulalter
4.4 Entwicklungsunterstützung in der Gemeinde und weiteren Umwelten
4.4.1 Gemeinde als Einflussgröße
4.4.2 Kennzeichen positiver, entwicklungs- und resilienzfördernder Nachbarschaft
5 Gezielte Prävention von Verhaltens- und Entwicklungsauffälligkeiten
5.1 Frühe Hilfen für Familien
5.1.1 Frühe Hilfen in Deutschland
5.1.2 Frühe Hilfen – Programme zur Stärkung der frühen Beziehungs- und Erziehungskompetenz
5.2 Gezielte Prävention von Verhaltens- und Entwicklungsauffälligkeiten in der Entwicklungsumwelt Kindertageseinrichtung
5.2.1 Prävention von Verhaltensauffälligkeiten
5.2.2 Prävention von Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung
5.2.3 Prävention von Auffälligkeiten in der Entwicklung mathematischer Kompetenzen
5.3 Gezielte Prävention im Setting Grundschule
5.3.1 Prävention von Gewalt (und Sucht)
5.3.2 Prävention von Lese-Rechtschreibstörungen
5.3.3 Förderung in weiteren Bereichen
5.4 Gezielte Unterstützung im weiteren Umfeld
6 Unterstützung bei (Verhaltens-) Auffälligkeiten
6.1 (Pädagogische) Frühförderung
6.2 Die Unterstützung von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten in Kita und Grundschule
6.3 Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie
6.3.1 Grundkonzept und Praxis der Kinder- und Jugendlichen psychotherapie
6.3.2 Verhaltenstherapeutisch orientierte Programme
6.4 Jugendhilfe/Hilfen zur Erziehung
7 Die Zusammenarbeit von Bildungsinstitutionen und Eltern bzw. Familien
7.1 Die Kooperation von Eltern und pädagogischen Fachkräften in Bildungsinstitutionen
7.1.1 Die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen Fachkräften und den Eltern
7.1.2 Grundsätzliches zu »Zusammenarbeit mit Eltern« und »Erziehungspartnerschaft«
7.1.3 Die Bedeutung der Haltung der Fachkräfte
7.1.4 Methoden und Funktionen der Zusammenarbeit zwischen Eltern und pädagogischen Fachkräften
7.1.5 Eine besondere Herausforderung: Familien mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen
7.1.6 Standards in der Zusammenarbeit mit Eltern
7.2 Elternkurse (Elternbildung)
7.2.1 Allgemein-präventiv ausgerichtete Kurse
7.2.2 Kurse für spezifische Zielgruppen
7.2.3 Kurse für Eltern, deren Kinder besondere Auffälligkeiten zeigen
Literatur
Die vorgestellten Konzepte und Programme im Überblick
Stichwortverzeichnis
Ziel dieses Buches ist es, einen breiten Überblick über die – professionelle – Anwendung entwicklungspsychologischer Kenntnisse in der Phase der Kindheit zu geben; dabei stehen insbesondere die Lebensumwelten Familie sowie die Bildungsinstitutionen Kindertageseinrichtung und Grundschule im Mittelpunkt.
Zielgruppe dieses Buches sind Studierende und PraktikerInnen aus den Tätigkeitsfeldern der Psychologie, (Kindheits-)Pädagogik, Schule (v. a. LehrerInnen), aber auch verwandte Berufsgruppen wie z. B. HeilpädagogInnen oder Fachkräfte der Sozialen Arbeit.
Das Themenspektrum der angewandten Entwicklungspsychologie ist sehr breit, wie auch die vorhandenen Grundlagenwerke zeigen (vor allem: Petermann & Schneider, 2007a). Notwendigerweise müssen Begrenzungen vorgenommen werden, und es können im vorliegenden Buch nur punktuell Themen vertieft werden. Eine Vielzahl von Verweisen gibt Hinweise auf weiterführende Literatur.
Eine Besonderheit der Herangehensweise ist zum einen die Strukturierung nach den genannten Lebens(um)welten, in denen Kinder aufwachsen. Zum anderen wird – im Sinne einer Matrixstruktur – eine Differenzierung zwischen einer (a) allgemeinen Unterstützung kindlicher Entwicklung, (b) der gezielten Prävention von möglichen Auffälligkeiten (c) der Intervention bei diagnostizierten Problemlagen vorgenommen.
Es werden dabei immer wieder Hinweise auf (evaluierte) Programme gegeben, einige werden auch differenzierter vorgestellt. Allerdings ist ein zentraler Bezugspunkt die Anwendung entwicklungspsychologischer Erkenntnisse in alltäglichen Zusammenhängen, vor allem im pädagogischen Feld.
Dieses Buch ist auch eine Zusammenfassung der wissenschaftlichen Arbeit des Autors in der Forschung, Lehre und Weiterbildung – im Sinne des Transfers von Forschungserkenntnissen – an der Evangelischen Hochschule Freiburg und besonders der (angewandten) Forschung im Zentrum für Kinder- und Jugendforschung (ZfKJ) an der EH Freiburg. In diesem Rahmen wurden zusammen mit den wissenschaftlichen MitarbeiterInnen zahlreiche Projekte in den Bereichen »Förderung der seelischen Gesundheit und Resilienz«, »Professionsentwicklung im Bereich der Pädagogik der Kindheit«, der »Pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten (insbesondere externalisierenden Störungen)« und nicht zuletzt der »Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie« durchgeführt. Die Projektergebnisse wurden in zahlreichen Publikationen vorgestellt und diese wiederum sind – ebenso wie bestehende Lehrmaterialien – in dieses Buch eingeflossen.
Ein ganz besonderer Dank für die Unterstützung bei der Entstehung dieses Buches geht an Carolin Eichin (MA Bildung und Erziehung im Kindesalter), die sehr wertvolle Unterstützung bei der Korrektur, dem Redigieren, aber auch Mitverfassen von Teilen geleistet hat. Laura Kassel hat mich bei den »Kleinarbeiten« deutlich unterstützt und mir wichtige Arbeit abgenommen; Danke dafür. Ein Dank gilt auch dem Team des Zentrums für Kinder- und Jugendforschung, den Kolleginnen und Kollegen an der Evangelischen Hochschule, an der Pädagogischen Hochschule Freiburg und den Kolleginnen und Kollegen außerhalb der Hochschule für den wissenschaftlichen Austausch. Und nicht zuletzt bedanke ich mich bei meiner Frau Gaby für wertvolle Diskussionen und ihre moralische Unterstützung.
Ich wünsche viel Spaß beim Lesen und freue mich besonders auch auf kritische Rückmeldungen.
Freiburg im Mai 2013
Klaus Fröhlich-Gildhoff
Der Gegenstand dieses Buches ist die Angewandte Entwicklungspsychologie – begrenzt auf den Zeitraum des Kindesalters, also von der Geburt bis etwa zum zehnten/zwölften Lebensjahr.
Während sich die Entwicklungspsychologie allgemein mit intra- und interindividuellen Veränderungen und Stabilitäten des Verhaltens und Erlebens im menschlichen Lebensverlauf befasst (z. B. Oerter & Montada, 2008), geht der Gegenstand der Angewandten Entwicklungspsychologie über die Beschreibung und Erklärung von Entwicklung hinaus und »widmet sich auch der Erschließung von menschlichen Ressourcen, der Förderung entwicklungsbezogener Prozesse und der Prävention von entwicklungsbezogenen Beeinträchtigungen« (Petermann & Schneider, 2007b, S. 2). Dabei ist »angewandte Entwicklungspsychologie nicht auf klinische oder pädagogische Themen beschränkt, sondern umfasst praktisch alle menschlichen Lebensbereiche« (ebd., S. 3).
Eine besondere Bedeutung hat dabei der Bezug zwischen Individuum und Umwelt und insbesondere die Entwicklung in natürlichen wie institutionellen Kontexten; es geht also um die Übertragung der Ergebnisse von Grundlagenforschung auf das Handeln in alltäglichen oder (professionell-)pädagogischen, beraterischen oder auch im weiteren Sinne psychotherapeutischen Zusammenhängen. In diesem Sinne werden in diesem Buch Erkenntnisse aus unterschiedlichen Disziplinen wie der Entwicklungspsychologie, der Pädagogischen Psychologie, der Gesundheitswissenschaften oder der Klinischen Kinderpsychologie integriert.
Grundlegend geht es darum, auf individueller wie auf Gruppenebene Entwicklungsziele und unterschiedliche Entwicklungsstände zu identifizieren, dazu Entwicklungsbedingungen zu analysieren und resultierende Entwicklungsprognosen zu erstellen. Auf diesem Hintergrund wird die Förderung insbesondere individueller Entwicklung von Kindern bzw. der Interaktion von Kind und Bezugspersonen geplant und unterstützt. Zudem stehen die Reduktion von Entwicklungsrisiken und die Kompensation von Fehlentwicklungen im Fokus.
Dabei ist zu beachten, dass Entwicklung grundsätzlich unterschiedliche Verläufe annehmen kann, die dann zu gleichen Zielen führen können: Entwicklung über die Lebensspanne integriert sowohl kontinuierliche als auch diskontinuierliche Verläufe und ebenso Konzepte von Aufbau wie Abbau. »Jede Entwicklung ist immer auch als Spezialisierung oder selektive Optimierung zu sehen, ist also nicht nur Wachstum und Zugewinn, sondern bedeutet auch die Vernachlässigung alternativer Optionen und umfasst insofern auch Verluste« (Montada, 2008, S. 6). Eine Entwicklungspsychologie (der Lebensspanne) »geht [...] davon aus, dass Entwicklung zu jedem Zeitpunkt des Lebens multidimensional, multidirektional, multikausal und multifunktional ist« (Staudinger, 2007, S. 75).
Dabei bedeutet
multidimensional
, dass »Entwicklung gleichzeitig in verschiedenen Funktionsbereichen [beispielsweise in der Motorik, im Bereich der kognitiven oder der sozialen Entwicklung, Anm. d. Verf.] stattfindet« (ebd.),
multidirektional
, dass »verschiedene Funktionsbereiche [...] sowohl innerhalb eines Individuums verschiedene Entwicklungsverläufe [zeigen], als auch im Vergleich zwischen verschiedenen Personen« (ebd.),
multikausal
, dass Entwicklungen immer unterschiedliche Ursachen haben und diese Ursachen zusammenwirken,
multifunktional
, dass es eben »nicht nur ein Kriterium für den Erfolg von Entwicklung gibt, also dafür, was als Gewinn und was als Verlust betrachtet wird« (ebd.).
Im vorliegenden Buch wird explizit versucht, eine Ressourcenperspektive einzunehmen und Entwicklungsprozesse von Kindern nicht in erster Linie unter der Perspektive von Fehlentwicklung oder potentieller Einschränkung – und entsprechender Kompensation – zu betrachten. Die Ressourcenperspektive hat sich gegenüber der Risikoperspektive in den letzten 15 bis 20 Jahren in Entwicklungswissenschaft und Gesundheitswissenschaft, aber auch in verschiedenen Feldern der Pädagogik und Sozialen Arbeit als Leitparadigma etabliert (vgl. Petermann et al., 2004; Kasüschke & Fröhlich-Gildhoff, 2008; Bengel et al., 2009). Petermann und Macha postulieren hinsichtlich der Formulierung von Entwicklungsprognosen, dass das Wissen über individuelle Entwicklungsverläufe immer die Ressourcenperspektive berücksichtigen muss; dabei »erscheint eine Feststellung von Entwicklungspotentialen gegenüber der Formulierung präziser Prognosen seriöser« (Petermann & Macha, 2007, S. 48).
Um Veränderungen und Stabilitäten, aber auch die Wirkungen von Präventions- oder Interventionsmaßnahmen zu erfassen, werden Methoden benötigt, die möglichst genau, unabhängig von der untersuchenden Person, wiederholbar und gegenstandsangemessen sind – und eben auch für den zu erfassenden Zusammenhang Gültigkeit besitzen. Die Ergebnisse derartiger Untersuchungen sollen möglichst genaue Rückschlüsse auf Veränderungen zulassen, die auf altersbedingte Entwicklungsfortschritte oder eben die realisierten Maßnahmen zurückzuführen sind; darüber hinaus sollen möglichst genaue Vorhersagen über Entwicklungsmöglichkeiten gegeben werden, um beispielsweise pädagogisches Handeln gezielt planen und »einsetzen« zu können.
Dabei besteht das grundsätzliche Problem, dass immer eine Vielzahl von Einflussgrößen eine Bedeutung hat, wenn Entwicklungen abgebildet werden sollen (vgl. zu dieser Diskussion z. B. Berk, 2005, S. 36–52; Bortz & Döring, 2003).
Bei der Untersuchung selbst sind drei zentrale Fragen von Bedeutung:
Wie kommt man zu Daten?
Wie erfasst man Veränderungen?
Wie überprüft man Wirkungen?
Zu a) Die gebräuchlichsten Forschungsmethoden zur Generierung von Daten sind
systematische Beobachtung
(bei der Untersuchung von Kleinstkindern wird hier die
Habituationsmethode
angewandt),
Befragungen von Kindern
(und Eltern),
Analyse von Produkten von Kindern,
wie beispielsweise Zeichnungen, hergestellte Gegenstände usw.,
Einsatz standardisierter, diagnostischer Verfahren,
wie beispielsweise Entwicklungstests zur Motorik oder zur allgemeinen Entwicklung,
physiologische Messung
.
Zu b) Veränderungen werden grundlegend durch (gleichartige) Untersuchungen zu verschiedenen Messzeitpunkten erfasst. Dabei werden in Längsschnittstudien Gruppen von Studien-TeilnehmerInnen wiederholt in verschiedenen Altersstufen untersucht; die zeitlichen Abstände können von wenigen Wochen bis hin zu wiederholten Messungen über mehrere Jahre variieren. In Querschnittstudien hingegen werden Personen aus verschiedenen Altersgruppen zum gleichen Zeitpunkt untersucht, so können beispielsweise verschiedene Kinder mit sechs Jahren, zehn Jahren und 14 Jahren mittels eines Tests über ihr Zahlenverständnis untersucht werden. Im optimalen Fall werden Längs- und Querschnittstudien kombiniert (»Kohortensequenzdesign«). Eine dritte, allerdings selten angewandte Untersuchungsstrategie sind systematische Fallstudien. Hier werden Entwicklungsverläufe von einzelnen Kindern oder auch kleineren Populationen unter sehr kontrollierten Bedingungen über einen Zeitraum hinweg erfasst.
Zu c) Um Wirkungen beispielsweise von pädagogischen Interventionen zu überprüfen, ist es nötig, systematisch Bedingungen zu verändern, um Aussagen über das Verhältnis von Ursachen und Wirkungen – das vorher präzise theoretisch als Hypothese beschrieben sein sollte – treffen zu können. Solche systematischen Veränderungen (Variationen) von Bedingungen bezeichnet man als Experiment. Um bei der Evaluation von Programmen/Interventionen sicherzugehen, dass die Wirkungen auf das Programm zurückzuführen sind, wird eine Vergleichs- oder Kontrollgruppe gebildet, deren Mitglieder die gleichen Ausgangswerte aufweisen. Auch diese Vergleichsgruppe – bei der das Programm nicht durchgeführt wird – wird zum zweiten Zeitpunkt am Programmende noch einmal »getestet«. Im optimalen Fall erfolgt die Zuweisung zu Vergleichs- und Kontrollgruppe nach dem Zufallsprinzip (»randomized controlled treatment«, RCT) – dies ist allerdings unter naturalistischen Bedingungen nur schwer umzusetzen (zur kritischen Diskussion um diesen »Goldstandard«. z. B. Orlinsky, 2008; Otto, 2007; Fröhlich-Gildhoff, 2004)
Neben den experimentellen Designs existiert eine Tradition sehr sorgfältig durchgeführter und überprüfter Einzelfallstudien. Eine Reihe von Beispielen finden sich in der Sonderausgabe des Infant Mental Health Journal , in dem z. B. Tuters, Doulis & Yabsley (2011) die Herausforderungen in der Arbeit mit Kindern und in Familien anhand zweier unterschiedlicher Zugangsweisen der Kind-Eltern-Therapie darlegen. Evaluationsstudien im Vergleich von Durchführungs- und Kontrollgruppe mit qualitativen Methoden haben noch eine geringere Tradition; ein Beispiel hierfür liefert Nentwig-Gesemann (2011), die mittels Gruppendiskussionen die Auswirkungen eines Programms der Resilienzförderung in Kindertageseinrichtungen untersuchte.
Bei der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse – z. B. aus der Entwicklungspsychologie – können unterschiedliche Zielebenen und Handlungs-/Interventionszeitpunkte unterschieden werden. Eine sinnvolle Orientierung bieten hier die Unterscheidungen der Gesundheitswissenschaften (z. B. Waller, 2006; Hurrelmann et al., 2004; Faltermaier, 2005; von Suchodoletz, 2007), aber auch der Medizin und Psychologie/Psychotherapie; dabei werden Präventionsmaßnahmen und -konzepte nach dem Zeitpunkt, der Zielgröße und der »Reichweite« bzw. Spezifität oder Zielgruppe differenziert:
Bezogen auf den Zeitpunkt unterscheidet man primäre Prävention (die frühzeitige Krankheitsvermeidung), sekundäre Prävention (Früherkennung von Erkrankungen, um Verschlimmerungen bzw. eine ausgeprägte Manifestation von Symptomen abzuwenden) und tertiäre Prävention (Vermeidung von schweren Folgen bzw. Rückfällen).
Hinsichtlich der Zielgröße können Unterscheidungen vorgenommen werden in personale Prävention (Maßnahmen sind auf einzelne Personen bezogen; ein Beispiel hierfür sind Schutzimpfungen), Verhaltensprävention (Maßnahmen sind auf – riskante – Verhaltensweisen bezogen; es wird z. B. auf die Gefahren des Rauchens hingewiesen) und Verhältnisprävention (hier steht die Vermeidung/Veränderung krankmachender Verhältnisse im Mittelpunkt, wie z. B. der Gestaltung ansprechender und risikominimierender Räume in Kindertageseinrichtungen). Der Begriff der »Setting-Prävention « bezieht sich auf Maßnahmen, die insgesamt auf eine gezielte Umgebung, z. B. einen Kindergarten und die hier agierenden Personen, ausgerichtet sind.
Weiterhin kann eine Unterscheidung hinsichtlich der Spezifität von Maßnahmen bzw. nach deren Zielgruppen getroffen werden: Universelle oder unspezifische Präventionsmaßnahmen setzen nicht an einem spezifischen Krankheitsrisiko an, sondern versuchen allgemein gesundheitserhaltende Faktoren zu verbessern – ein Beispiel hierfür wären Programme zur Verbesserung der Fähigkeiten zur Stressbewältigung und zur Emotionsregulation. Selektive Prävention smaßnahmen haben die Vorbeugung bzw. Verhinderung gezielter Fehlentwicklungen, z. B. die Entstehung gewalttätigen Verhaltens zum Ziel. Bei indizierter Prävention geht es darum, bei bereits identifizierten Risikogruppen gezielte (vorbeugende) Interventionen zu gestalten.
Dabei steigt in der Regel die Intensität der entwicklungs- und gesundheitsförderlichen Aktivitäten bzw. Interventionen mit der Stärke des (individuellen) auffälligen Verhaltens; die Breite der Zielgruppe verringert sich entsprechend:
Abb. 1.1: Zielgruppenspezifizität präventiver Angebote
In den Gesundheitswissenschaften wird neben der Notwendigkeit der Prävention, also dem Grundprinzip, Krankheitsrisiken zu vermeiden oder abzubauen, der Gesundheitsförderung ein zentraler Stellenwert gegeben. Dabei geht es darum, gesundheitliche Ressourcen und Lebensweisen zu stärken und aufzubauen. Nach der Ottawa-Charta der WHO wird dies durch die Schaffung gesundheitsförderlicher Lebenswelten, die Unterstützung gesundheitsbezogener Gemeinschaftsaktionen, die Entwicklung allgemein persönlicher Kompetenzen sowie die Vernetzung von Diensten und eine gesundheitsförderliche Gesamtpolitik erfolgen. So setzt die »Gesundheitsförderung vor allem auf die Stärkung und den Aufbau von Ressourcen, um damit Gesundheit auch in ihrer positiven Ausprägung zu fördern« (Faltermaier, 2005, S. 299).
Übertragen auf die Anwendung entwicklungspsychologischer Erkenntnisse bedeutet dies, dass eine Unterscheidung zwischen folgenden Zielebenen zu treffen ist:
Allgemeine Unterstützung von Entwicklungen und von entwicklungsförderlichen Interaktionen zwischen Erwachsenen und Kindern im Alltag wie in professionellen Zusammenhängen
Prävention von Auffälligkeiten auf der Grundlage differenzierter Analyse mittels systematischen Handelns (unter Einbezug wissenschaftlich abgesicherter Vorgehensweisen)
Gezielte Intervention(en) beim Vorliegen von Auffälligkeiten oder Störungen der Entwicklung in unterschiedlichen Bereichen
Professionelles entwicklungs- und gesundheitsförderliches Handeln muss demgemäß auf genauen Analysen und Planungen beruhen, die dann zum reflektierten Einsatz von Handlungsstrategien und/oder Programmen führen. Dies soll im Folgenden verdeutlicht werden.
Ausgangspunkt eines passgenauen Handelns – in der »alltäglichen« Begegnung wie bei der gezielten professionellen Intervention – ist immer eine Analyse des Entwicklungsstandes eines Kindes, seiner Interessen und Bedürfnisse. Dies geschieht oft intuitiv und in Sekundenschnelle oder eben im professionellen Zusammenhang durch gezielte Beobachtung bzw. weitergehende diagnostische Prozesse (s. hierzu ausführlicher ► Kap. 3 in diesem Buch, auch: Mischo et al., 2011). Aus dem Erkennen, Verstehen und Interpretieren der kindlichen Signale folgt eine – oft gleichfalls intuitive – Handlungsplanung und im nächsten Schritt die Umsetzung. Die Reaktionen des Kindes auf das Handlungs- und Begegnungsangebot führen im Sinne eines Kreislaufprozesses zu einer Überprüfung der Handlungsergebnisse, zu erneuter Beobachtung und entsprechend differenzierter Planung:
Dieses Kreislaufmodell hat Entsprechungen zu Konzepten professioneller pädagogischer Handlungsplanung (z. B. Mischo et al., 2011, S. 17), Modellen präventiven bzw. gesundheitsförderlichen Handelns (z. B. Röhrle, 1999, S. 57) und zum »Public Health Action Cycle«: »Der Gesundheitspolitische Aktionszyklus gliedert die Intervention in vier Phasen: 1. die Definition und Bestimmung des zu bearbeitenden Problems (Problembestimmung), 2. die Konzipierung und Festlegung einer zur Problembearbeitung geeignet erscheinenden Strategie bzw. Maßnahme (Strategieformulierung), 3. die Durchführung der definierten Aktionen (Umsetzung) sowie 4. die Abschätzung der erzielten Wirkungen (Bewertung). Wird das Ergebnis der Bewertung mit der ursprünglichen Problembestimmung in Beziehung gesetzt, so kommt es zu einer neuen Problembestimmung.
Dann kann der Zyklus von Neuem beginnen und wird zur Spirale« (Rosenbrock & Hartung, o. J.).
Abb. 1.2: Kreislauf differentiellen, passgenauen Handelns
Abb. 1.3: Public Health Action Cycle (aus: Rosenbrock & Hartung o. J.)
Die Orientierung an einem Modell bzw. Konzept differentiellen und passgenauen Handelns bedeutet nicht die ausschließliche Orientierung an einem standardisierten oder normierten Vorgehen – oder den Rückgriff auf bestimmte Programme. Soziale Situationen – und um solche handelt es sich in der Regel in professionellen pädagogischen oder psychologischen Zusammenhängen – sind immer durch ein hohes Maß an Komplexität und Ungewissheit gekennzeichnet; sie sind nur begrenzt vorhersagbar (vgl. Luhmann, 2000; Nentwig-Gesemann, 2008) und konstituieren bzw. konstruieren sich durch das Miteinander der agierenden Akteure. Dies bedeutet, dass einerseits zwar auf (Handlungs-) Routinen zurückgegriffen werden kann, andererseits jedoch immer wieder neu die jeweilige (Interaktions-) Situation be(ob)achtet, eingeschätzt und analysiert werden muss.
In der vorliegenden Literatur zur Angewandten Entwicklungspsychologie (Petermann & Schneider, 2007a; Hetzer et al., 1990), aber auch zur Prävention von Entwicklungsstörungen (z. B. von Suchodoletz, 2007b) oder von Verhaltensauffälligkeiten (z. B. Fingerle & Grumm, 2012; Röhrle, 2007; Lohaus & Domsch, 2009) finden sich eine Vielzahl von Präventions- und Interventionsprogrammen für verschiedenste Alters- und Zielgruppen zur »Anwendung« bei den verschiedensten Problemlagen (Überblick bei: Lohaus & Domsch, 2009). Ein Teil dieser Programme wird auch im vorliegenden Buch vorgestellt – zuvor sollen jedoch Möglichkeiten und Grenzen anhand von fünf Fragstellungen diskutiert werden:
Dabei stellt nach Wettstein und Scherzinger (2012, S. 174) »eine differenzierte Diagnostik eine Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Intervention dar.« Die entsprechende differenzierte Problemwahrnehmung ist die zentrale Ausgangsbasis für Programmauswahl und Anwendung; es kommt auf die »Passung zwischen Präventionsangeboten und der individuellen und interaktionalen Problemsituation« an (ebd.).
Im Übrigen haben sich Präventionsprogramme, bei denen allein Information und Aufklärung im Mittelpunkt stehen, als relativ unwirksam erwiesen. »Wenn Verhaltensänderungen erreicht werden sollen, dann sind Trainingsprogramme effektiver, die neue Verhaltensmuster z. B. mit Rollenspielen, einüben« (von Suchodoletz, 2007b, S. 8; ebenso: Heinrichs et al., 2002, Beelmann, 2006).
Zwar sind einzelne Programme einfacher zu evaluieren und erreichen daher aus methodischen Gründen oft zufriedenstellende Effekte. Dennoch betont eine Vielzahl von AutorInnen (Beelmann, 2006; Beelmann & Lösel, 2007; Heinrichs et al., 2002; Durlak, 2003; Röhrle, 2008), dass die Programme im Optimalfall Kinder, deren Eltern und das soziale Umfeld erreichen müssen (multimodale oder systemische Perspektive) und in deren Lebenswelt ansetzen sollten (Setting-Ansatz). Dabei erweisen sich langfristig eingesetzte Programme erfolgreicher als kurze Programme oder einzelne Trainings.
Bei »umfassenden Präventionsprojekten, die eine Kombination verschiedener Maßnahmen beinhalten […] ergeben sich positive Ergebnisbilanzen, die auch längerfristig erzielt werden, sodass derartige Präventionskonzepte zumindest für Kinder und Familien aus Kontexten mit chronischen und multiplen Problemkonstellationen zur Zeit die beste Wahl zu sein scheinen« (Beelmann & Schmitt, 2012, S. 126). Auch von Suchodoletz (2007b, S. 8) betont:
»Um relevante Effekte zu erreichen, ist es oft erforderlich, mehrere Lebensbereiche (Schule, Familie, weiteres Umfeld) einzubeziehen.«
Fingerle et al. (2012) führen aus, dass mittlerweile klare Orientierungen vorliegen, wie Programme inhaltlich gestaltet sein müssen, damit sie erfolgreich sind. Allerdings gibt es eine Reihe von Implementationsproblemen sowie »eine nicht immer ausreichende Berücksichtigung der Adressatenperspektive« (ebd., S. 9). Auch von Suchodoletz (2007b) weist auf das Problem hin, dass viele Programme, die unter Erprobungsbedingungen positiv evaluiert wurden, an der langfristigen Umsetzung in die Praxis scheitern. Dies bedeutend vor allem, dass die Programme nutzerfreundlich und auf Zielgruppen zu adaptieren sein müssen. Weiterhin ist eine gute Schulung der Programmanbieter nötig; »eine größere Wirksamkeit [wird] durch Programme erzielt, die Supervisions- bzw. Monitoring-Elemente beinhalten« (Beelmann & Schmitt, 2012, S. 135).
Grumm et al. (2012) widmen sich der Frage, wie bedeutsam die Akzeptanz eines Programms ist: »Das heißt, dass die angewendeten Methoden zur Zielgruppe und zur durchführenden Person passen müssen, dass die Ziele des Programms als wertvoll und sinnvoll wahrgenommen werden müssen und dass der zeitliche Aufwand im Verhältnis zum subjektiv erlebten Nutzen stehen muss« (ebd., S. 158). In diesem Zusammenhang wird die »soziale Validität« als »ein weiteres Kriterium für die Güte von Prävention« diskutiert (ebd., S. 160).
Von Suchodoletz (2007b, S. 7 f.) spricht sich für die »Entwicklung spezieller Programmvarianten für spezifische Zielgruppen aus […] Zielgruppen, insbesondere wenn diese aus den unterprivilegierten Schichten kommen, müssen spezifisch angesprochen werden. Die Wege müssen kurz, die Zugangshürden niedrig und die Erreichbarkeit einfach sein. Sollen Familien mit Migrationshintergrund einbezogen werden, dann müssen auch kulturelle Besonderheiten berücksichtigt werden.«
In vorliegenden Forschungsergebnissen zeigt sich einerseits, dass die Effekte »universeller Präventionskonzepte [tendenziell] geringer sind als die Wirkungen gezielter Präventionsmaßnahmen« (Beelmann & Schmitt, 2012, S. 129). Andererseits hängt dies in erster Linie mit methodischen Aspekten zusammen: So kommt z. B. Problemverhalten in nicht selektierten Stichproben in geringerem Maße vor, es verändert sich dann entsprechend auch nicht. In den unausgelesenen Gruppen entwickelt auch die Mehrheit in der Kontrollgruppe keine Verhaltensprobleme. Bei selektiven Programmen sind die zu operationalisierenden Variablen als Erfolgsmaße in der Regel enger zu fassen und entsprechend näher auf das Programmziel zu beziehen. »Proximale Kriterien, die den Inhalten der Prävention sehr nahe stehen (z. B. Problemlösekompetenzen bei einem sozialen Kompetenztraining), ergeben in der Regel deutlich höhere Effekte als distale Erfolgsmaße (z. B. Verhaltensbeurteilungen von unbeteiligten Dritten)« (ebd., S. 135).
Der Vorteil universeller Maßnahmen besteht in »ihrer geringen Stigmatisierungstendenz und ihrer in der Regel sehr niedrigen Zugangsschwelle, (die dann) auch einen besseren Einstieg in umfassendere und spezifischere gezielte Präventionsmaßnahmen ermöglichen. In diesem Sinne schlägt Greenberg (2004) vor, Programme zu initiieren, die die unterschiedlichen Präventionsarten vereinen und sowohl universelle Elemente beinhalten als auch gezielte Vertiefungen zulassen« (ebd., S. 130).
Zusammenfassend erscheint es angemessen, »stufenweise vorzugehen. Kostengünstigere universelle Präventionsansätze (mit begleitender Diagnostik) wären dabei ein Einstieg in verschiedene Programmpfade, die mit den Hochrisikogruppen zu individuell zugeschnittenen intensiven Maßnahmen führen« (Beelmann & Lösel, 2007, S. 250). Die Programmintensität sollte gestaffelt und aufbauend über Kindergarten, Grundschule und weiterführende Schule immer wieder aufgefrischt werden.
Bei indizierten Programmen oder Maßnahmen werden Gruppeninterventionen in der Präventionsforschung eher kritisch diskutiert: Das Zusammenführen mehrerer Kinder oder Jugendlicher mit deutlichen Verhaltensauffälligkeiten bzw. -störungen kann zu negativen Effekten der gegenseitigen »Ansteckung« führen (Dodge et al., 2006; Perren & Graf, 2012).
Ein bedeutender Diskussionspunkt ist die Frage, wie sehr ein Programm standardisiert – und entsprechend konzepttreu umgesetzt – werden muss, damit es seine Wirkung entfalten kann. So verweisen einerseits Beelmann und Schmitt (2012) auf verschiedene Studien, denen zufolge die Effekte umso höher ausfallen, je besser die Vorgaben eines Programms umgesetzt werden. Wettstein und Scherzinger (2012, S. 182) betonen andererseits, dass »Standardisierung […] die Trainings inhaltlich und didaktisch unflexibel (macht) und die Gefahr besteht, dass gelernte Inhalte nicht in den Alltag transferiert werden«. Die Autoren plädieren für einen Bezug zwischen Programm und (pädagogischem) Alltag: »Für einen besseren Transfer ist es deshalb sinnvoll, Probleme in der Arbeit an realen Situationen anzugehen. Dabei wird unmittelbar dort interveniert wo die Probleme im Alltag auftreten […] Manualgetreue Anwendung von Programmen oder adaptives Handeln können in Widerspruch stehen« (ebd. S. 182). Wettstein und Scherzinger schlagen vor, von Metastrategien auszugehen und pädagogisches Handeln permanent zu reflektieren. Sie verweisen auf das Kompetenzmodell von Dreyfus und Dreyfus (1987), in dem Kompetenzstufen von Novizen bis zum Experten unterschieden werden. »Novizen wenden Regeln starr an, ohne die Merkmale der Gesamtsituation zu berücksichtigen. Dagegen erkennen Experten scheinbar mühelos holistische Ähnlichkeiten und nutzen intuitive Muster, ohne diese in Komponenten zu zerlegen« (Wettstein & Scherzinger, 2012, S. 183). Es geht also um »eine adaptive Gestaltung von Inhalten standardisierter Programme auf die individuellen Hintergründe der Schüler« (Grumm et al., 2012, S. 171).
Reicher und Jauck (2012) haben in diesem Zusammenhang den Begriff der »adaptiven Trainerkompetenz« (ebd., S. 39) geprägt. Adaptive Trainerkompetenz bedeutet, »dass nicht nur Inhalte thematisiert werden, sondern auch flexibles Reagieren und Fragen des Wann-und-Wie-Reagierens«. Nach Schick und Cierpka (2009) ist ein Gespür der Trainer für die Balance zwischen »Manualtreue und individuellen Durchführungsstil« erforderlich (Schick & Cierpka, 2009, S. 665, zitiert in Reicher & Jauck, 2012, S. 39.). Die Konsequenz daraus ist, dass nicht nur die TrainerInnen sorgfältig ausgebildet werden, sondern auch eine supervidierende Begleitung erfolgen sollte (s. o.; ebenso: Green & Tones, 2010; Gollwitzer, 2005).
Die referierten Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Für theoretisch gut begründete und systematisch aufgebaute Programme kann in der Regel eine gute Wirksamkeit nachgewiesen werden.
Die Auswahl eines Programms muss differentiell und spezifisch für eine Ziel- und Altersgruppe erfolgen.
Multimodale Programme, die mehrere Ebenen (z. B. Kinder, Eltern und Fachkräfte) »ansprechen« sind wirkungsvoller als isolierte Trainings.
Spezifische und universell ausgerichtete Programme haben ihre jeweiligen Vorteile: Spezifische Programme sind auf eingeschränkte Zieldimensionen bezogen und erweisen sich dabei als erfolgreicher; universelle Programme haben niedrigere Zugangsschwellen und wirken breiter. Im optimalen Fall sind beide Formen bedarfsgerecht zu kombinieren.
Bei der Implementierung ist die AdressatInnenperspektive zu berücksichtigen, die KursleiterInnen (TrainerInnen) sind zu qualifizieren und sollten supervidierend begleitet werden.
Bei der Programmdurchführung muss ein Bezug zu Alltagssituationen hergestellt werden und das Programm muss an die Zielgruppe angepasst werden; die besondere Kompetenz der AnwenderInnen liegt im Halten der Balance zwischen größtmöglicher Manualorientierung und der Adaptation an die jeweilige Zielgruppe.
Im Mittelpunkt des Buches stehen Möglichkeiten, Methoden (und Programme) der Unterstützung einer gesunden Entwicklung von Kindern im Altersbereich von der Geburt bis zum Ende des Grundschulalters und vor dem »eigentlichen« Eintritt in das Jugendalter.
Als Ausgangspunkt werden dazu im ► Kap. 2 auf der Grundlage eines biopsycho-sozialen Entwicklungsmodells verschiedene Entwicklungsperspektiven und relevante Entwicklungsdimensionen vorgestellt.
In ► Kap. 3 werden allgemeine Systematiken entwicklungsförderlichen (professionellen) Handelns dargelegt; insbesondere wird der schon erwähnte Kreislauf differentiellen, passgenauen Handelns vertieft.
Die folgenden Kapitel orientieren sich in ihrem Aufbau zum einen an der oben abgeleiteten (Zielgruppen-)Spezifität: Es erfolgt eine »Stufung« von der Unterstützung von Normalentwicklung (► Kap. 4) über gezielte Prävention von Verhaltens- und Entwicklungsstörungen (► Kap. 5) bis zur gezielten Unterstützung (Intervention) bei klar erkennbaren und diagnostizierbaren Problemen oder Auffälligkeiten (► Kap. 6).
In diesen Kapiteln wird zum anderen nach Altersphasen und/oder Institutionen bzw. Entwicklungsumwelten untergliedert.
Es werden dabei jeweils auch einzelne Programme oder evaluierte Konzepte nach einem weitestgehend einheitlichen Prinzip vertieft vorgestellt. Diese Vorstellung kann aufgrund der Vielzahl existierender Programme nur exemplarisch bzw. kursorisch erfolgen; die entsprechende Auswahl erfolgte nach Plausibilitäts- und Praktikabilitätskriterien. In den entsprechenden Kapiteln finden sich jedoch Hinweise auf weitere Programme1.
Die Unterscheidung der Programme erfolgt nach den dargelegten Gliederungsprinzipien, dies kann jedoch nicht immer vollständig trennscharf gelingen: So hat z. B. das Programm »Faustlos« (Cierpka, 2004a, b) für Kindertageseinrichtungen den Anspruch der Gewaltprävention, damit inhaltlich eher eine selektive Zielsetzung (und wird dementsprechend in ► Kap. 5.2 vorgestellt) – andererseits kann es sich prinzipiell auch an alle Kinder einer Kindertageseinrichtung richten und fördert die Wahrnehmung sozialer Situationen, die Empathie und Konfliktlösefähigkeiten (und hätte demnach auch in ► Kap. 4.2 vorgestellt werden können).
Abb. 1.4: Logik des Buchaufbaus
In einer zusammenführenden Tabelle wird noch einmal eine Übersicht über die verschiedenen aufgeführten Programme und ihre Zielsetzungen gegeben.
Das abschließende Kapitel befasst sich mit dem besonders relevanten Aspekt der Zusammenarbeit von Professionellen und Eltern bzw. Familien (► Kap. 7).
1 Einen sehr breiten Überblick über »Psychologische Förder- und Interventionsprogramme für das Kindes- und Jugendalter« bietet bspw. das Werk von Lohaus & Domsch (2009); hierbei werden allerdings keine Bezüge zum pädagogischen Alltag in den Lebenswelten der Kinder bzw. Bildungsinstitutionen und zur dementsprechenden Implementierung hergestellt.
In diesem Kapitel werden verschiedene, aufeinander bezogene Perspektiven auf die menschliche Entwicklung vorgestellt. Der zentrale Ausgangspunkt ist dabei ein biopsycho-soziales Entwicklungsmodell, das unterschiedliche empirische Befunde zur Erklärung von Verhalten und Erleben integriert und sich an entsprechenden Entwicklungskonzepten orientiert (Petermann et al., 2004; Montada, 2008).
Zur Erklärung menschlichen Verhaltens und Erlebens werden unterschiedliche und z. T. widersprechende theoretische Orientierungen herangezogen. Montada (2008, S. 10 f.) unterscheidet dabei vier »Entwicklungstypologien«. Am komplexesten sind die interaktionistischen Theorien, die davon ausgehen, dass sich ein aktives Individuum in einer gleichfalls aktiven Umwelt bewegt und beide in ständiger Wechselwirkung Entwicklung beeinflussen. Diese haben eine große Nähe zu systemischen Konzeptionen, die davon ausgehen, dass »Menschen leben, agieren und [sich] in sozialen bzw. ökologischen Systemen [entwickeln]. Alle Teile dieser Systeme stehen in Relation zueinander, ihre Aktivitäten können andere Teile beeinflussen« (ebd., S. 12; s. auch z. B. Wilkening & Cacchione, 2007).
Dieses Modell wird der Realität menschlicher Entwicklung in (sich wandelnden) Umwelten sicherlich am ehesten gerecht und erfasst die Vielfalt und Komplexität menschlichen Seins am besten – es ist andererseits ein komplexes und kompliziertes Modell, weil immer eine Vielzahl von Bedingungen, Faktoren und Variablen berücksichtigt werden muss und einfache Aussagen wie »Intelligenz ist vererbt« oder »Das Kind verhält sich so, weil es ihm seine Eltern vormachen« unter dieser Perspektive nicht zutreffend sein können.
Das integrative Modell lässt sich in Anlehnung an Fröhlich-Gildhoff (2013) wie in ► Abb. 2.1 darstellen:
Der Grundgedanke ist dabei, dass sich im Leben immer wieder Entwicklungsaufgaben (1a), bzw. aktuelle Anforderungen oder kritische Lebensereignisse (1b) stellen, die vom Individuum bewältigt werden müssen. Die Art und Weise der Bewältigung ist abhängig von der bisherigen (Entwicklungs-)Geschichte – und hierbei dem Zusammenspiel von biologischen Bedingungen (3) und sozialen Erfahrungen (4), sowie aktuell wirkenden Schutz- und Risikofaktoren (5), die dem Individuum mit seiner bisher entwickelten Struktur (2) insgesamt Bewältigungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen. Die Bewältigung kann entwicklungseinschränkend (6b) oder entwicklungsförderlich (6a) erfolgen.
Abb. 2.1: Integriertes bio-psycho-soziales Entwicklungsmodell
Im Folgenden sollen die einzelnen Aspekte betrachtet werden.
Das Konzept der Entwicklungsaufgaben (1a) wurde zum ersten Mal von Havighurst (1948) in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht und von der allgemeinen Entwicklungspsychologie (z. B. Oerter & Montada, 2008; Steinebach, 2000) wie von der klinischen Entwicklungspsychologie (z. B. Oerter et al., 1999) und der Entwicklungswissenschaft (Petermann et al., 2004) aufgegriffen.
Entwicklungsaufgaben sind solche Anforderungen, die sich dem Individuum im Lauf der Lebensjahre stellen, und die dann in spezifischer Weise bewältigt bzw. »beantwortet« werden müssen. Diese Entwicklungsaufgaben resultieren aus
biologischen Faktoren
(z. B. der Notwendigkeit, physiologische Zustände wie den Schlaf-Wach-Rhythmus zu regulieren oder Laufen zu lernen)
gesellschaftlichen Vorgaben, Zielen und Erwartungen
(z. B. dem Eintritt in den Kindergarten oder die Schulpflicht mit sechs Jahren)
sowie
individuellen Zielsetzungen
.
Die folgende Zusammenstellung zeigt beispielhaft die Abfolge von zentralen Entwicklungsaufgaben – bis zum Alter der Adoleszenz2:
Tab. 2.1: Entwicklungsaufgaben
Aufgaben des Säuglingsalters (bis ca. ein Jahr)
Aufbau sensomotorischer Schemataerster Aufbau von BindungsrepräsentationenAuf- und Ausbau von physiologischen RegulationsfertigkeitenAufgaben des Kleinstkindalters/Krabbelalters (bis ca. drei Jahre)
Aufbau eines differenzierten EmotionsspektrumsDifferenzierung der motorischen FertigkeitenAufbau von frühen Denk- bzw. Problemlösungskompetenzen und der MentalisierungsfähigkeitErwerb von sprachlichen KompetenzenAufgaben der Kindheit und des Vorschulalters (ca. drei bis ca. sechs Jahre)
Ausbau von sozialen Kompetenzen (Perspektiveübernahme, Konfliktlösefähigkeit, angemessene Selbstbehauptung; Fähigkeit, sich Unterstützung zu holen)erster Aufbau von moralischen Kompetenzenvorsichtige Lösung von den Bezugspersonen und Aufbau tragfähiger Beziehungen zu Gleichaltrigen und anderen ErwachsenenErwerb von GeschlechtsrollenkompetenzenAufgaben des Schulalters (ca. sieben bis ca. zwölf Jahre)
Erwerb von schulbezogenen Fähigkeiten (Anpassung an die Normen der Schule, Anstrengungsbereitschaft, Aufbau schulbezogener Leistungsmotivation …)Ausbau sozialer Kompetenzen, besonders im Umgang mit GleichaltrigenDifferenzierung des fähigkeitsbezogenen SelbstkonzeptsAufgaben der Adoleszenz (ca. 13 bis ca. 20 Jahre)
Erwerb von sexuellen KompetenzenErwerb von Kompetenzen zur Identitätsfindung (Geschlecht, Werte und Normen, Berufsorientierung, Partnerschaft …) und zur selbstständigen Orientierung in der multioptionalen WeltErwerb von Kompetenzen zur Loslösung von den ElternNeben Entwicklungsaufgaben stellen sich aktuelle Anforderungen oder auch sogenannte »kritische Lebensereignisse« wie Geburt von Geschwistern, Scheidung der Eltern oder Ortswechsel (z. B. Greve, 2008; Steinebach, 2000; Filipp, 2007).
Die Art und Weise der Bewältigung ist maßgeblich abhängig von der bisher entwickelten handlungsleitenden inneren Struktur (2), dem Selbst des Kindes (bzw. Jugendlichen, oder auch Erwachsenen). Diese Struktur entwickelt sich aus dem Zusammenspiel von biologischen Bedingungen (3)3, z. B. dem Temperament und konkreten sozialen Erfahrungen (4). Dabei werden diese Erfahrungen emotional bewertet und intrapsychisch repräsentiert; der Säuglingsforscher Stern (1992) spricht von verallgemeinerten Abbildern, von Interaktionserfahrungen. Diese Repräsentationen bilden eine zunehmend stabilere, zunehmend hierarchisch gegliederte Struktur von handlungsleitenden inneren Schemata. Dieses »Selbst« oder, wie Stern sagt »Selbstempfinden«, empfinden »wir […] als einzelnen, abgegrenzten, integrierten Körper, wir empfinden ein Selbst als Handlungsinstanz, ein Selbst, das unsere Gefühle empfindet, unsere Absichten fasst, unsere Pläne schmiedet, unsere Erfahrungen in Sprache umsetzt und unser persönliches Wissen mitteilt. Meistens bleiben diese Selbstempfindungen (ähnlich wie das Atmen) außerhalb des Bewusstseins, aber sie können in das Bewusstsein gebracht und dort behalten werden. Instinktiv verarbeiten wir unsere Erfahrungen so, dass sie zu einer Art einzigartiger, subjektiver Organisation zu führen scheinen« (Stern, 1992, S. 80; vgl. ausführlich Fröhlich-Gildhoff, 2009). Entsprechungen zum Aufbau dieser inneren Struktur finden sich in Ergebnissen der Neurobiologie (z. B. Hüther, 2004, 2005).
Von besonderer Bedeutung beim Aufbau innerer Strukturen und deren neurophysiologischer Korrelate ist die Passung zwischen den biologischen Bedingungen, den je aktuellen und aktualisierten Möglichkeiten des Kindes und eben der Art und Weise, wie Eltern und Bezugspersonen damit umgehen (können) (vgl. dazu das ► Kap. 4.1, das die »Entwicklungsumwelten« behandelt). Unterstützend bei der Bewältigung sind Schutz- und Risikofaktoren, (5) die in der aktuellen Situation wirksam werden, deren Zusammenspiel das Individuum bei der Bewältigung unterstützt oder unter Umständen auch hindert (vgl. hierzu ► Kap. 2.3). Die Art und Weise der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben und kritischen Lebensereignissen wirkt wiederum zurück auf das Individuum und seine innerseelische Struktur. Die Bewältigung kann entwicklungsförderlich und erfolgreich verlaufen, aber eben auch entwicklungseinschränkend. Ein Beispiel hierfür wäre ein zurückhaltendes Kind, das bisher bei der Bewältigung von schwierigen Situationen oder Anforderungen eher überbehütet wurde und auf diese Weise wenig (erfolgreiche) Erfahrungen in neuen Situationen sammeln konnte. Dieses Kind wird vermutlich Angst vor dem Übertritt in die Kindertageseinrichtung entwickeln und sich dann, wenn es wiederum nicht adäquat unterstützt wird, zurückziehen und möglicherweise aus dieser Überforderungssituation heraus stärkere Ängste oder psychosomatische Beschwerden entwickeln. Solche Bewältigungserfahrungen sind nach Montada »Wendepunkte« im Leben, »sie können psychische Störungen erzeugen, aber auch zu vielfältigen Entwicklungsgewinnen führen, wenn sie gemeistert oder bewältigt werden« (Montada, 2008, S. 39). Unter der Perspektive der Passung geht es darum, die Umweltereignisse mit den Zielen des Individuums, seinen Potentialen, aber auch Unterstützungsmöglichkeiten im Umfeld in Relation zu setzen. Das hier dargestellte Modell knüpft an eine Vielzahl psychologischer Konzeptionen an, z. B. das von Heckhausen und Schulz zur Optimierung von primärer und sekundärer Kontrolle (Heckhausen, 1999; Schulz & Heckhausen, 1996). Grundannahme dieses Modells ist es, dass der Mensch ein Grundbedürfnis hat, »seine Umwelt zu kontrollieren. Schon im Säuglingsalter erleben es Menschen und auch viele andere Spezies als positiver, wenn sie durch ihr eigenes Verhalten ihre Umwelt positiv beeinflussen können [...]« (Glück, 2007, S. 43; s. a. Grawe, 2004). Diese Kontrolle kann durch aktives, auf die äußere Umwelt gerichtetes Verhalten erzielt werden, aber auch durch innere Prozesse. Hier finden sich Parallelen zu der im Folgenden beschriebenen Bewältigungsperspektive.
Ein von der Struktur her dem bio-psycho-sozialen Entwicklungsmodell ähnliches Modell ist das Konzept der Bewältigung (Coping, Lazarus, 1999; s. a. Carver, 1989). Dieses von der Stress forschung (ursprünglich: Selye, 1948; Siegrist, 2005) weiter ausdifferenzierte Modell geht davon aus, dass Außenanforderungen innerpsychisch wahrgenommen und hinsichtlich ihres Belastungsgrades oder -charakters als Belastungsfaktor(en) (Stressoren) emotional bewertet werden:
Abb. 2.2: Bewältigungsmodell
Die Außenanforderungen lassen sich vor allem unterscheiden nach Intensität, Dauer, der normativen Bedeutung – aber auch der realen Wahlmöglichkeit für das Individuum. Im Zusammenspiel mit wahrgenommenen Bewältigungsmöglichkeiten – und hier spielt soziale Unterstützung eine bedeutende Rolle – kommt es zur Bewältigung der realen Außenanforderungen.
Sowohl das Wahrnehmen und Bewerten der Belastungsfaktoren als auch das Wahrnehmen der eigenen Bewältigungsmöglichkeiten wiederum ist zum einen abhängig von biographischen Erfahrungen; bedeutsame Faktoren sind dabei bisherige Bewältigungserfahrungen, Erfahrungen mit sozialen Beziehungen und insbesondere sozialer Unterstützung, aber auch andere Faktoren wie die eigene Erfolgsorientierung. Zum anderen haben vorhandene individuelle Kompetenzen einen wichtigen Einfluss: Dies sind allgemeine Kompetenzen wie Selbstwirksamkeitserwartungen, das eigene Kontrollerleben, die Selbstregulation oder allgemeine soziale Kompetenz. Diese Kompetenzen müssen dann allerdings situationsspezifisch zu den jeweiligen Anforderungen passen.
Die Art der Bewältigung – grundsätzlich sind zu unterscheiden nicht erfolgreiche, erfolgreiche oder eine Bewältigung über Umwege, z. B. Symptome – wirken wiederum zurück auf die eigenen Erfahrungen, auf das Kompetenzerleben und natürlich die Wahrnehmung zukünftiger Stressoren sowie auf die eigenen Bewältigungsmöglichkeiten. Es ergibt sich also auch hier ein Kreislauf oder besser: Entwicklungsmodell von der Bewältigung von Aufgaben und Anforderungen (solche können auch Entwicklungsaufgaben sein) und dem Rückwirken auf innerpsychische Prozesse und Strukturen.
Aus Langzeit-, aber auch systematischen entwicklungspsychologischen Studien sind eine Reihe von Risiko- und Schutzfaktoren identifiziert worden (Zusammenstellungen bei Bengel et al., 2009; Rönnau-Böse, 2013), deren Zusammenspiel die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben und/oder besonderen Belastungen beeinflussen. Diese Schutz- und Risikofaktoren werden in personale, also im Individuum liegende, soziale, das heißt das unmittelbare soziale Umfeld betreffende und weitere Umwelt-Faktoren unterschieden.
Bei der übergreifenden Betrachtung der verschiedenen Längsschnittstudien4 im Rahmen der Resilienzforschung und insbesondere der bekannten Kauai-Studie von Werner (2000, 2007) konnten folgende Schutz-Faktoren identifiziert werden (vgl. Rönnau-Böse & Fröhlich-Gildhoff, 2012):
mindestens eine stabile emotionale Beziehung zur einer primären Bezugsperson (das ist im optimalen Fall ein Elternteil, allerdings können auch andere Personen aus dem Umfeld wie z. B. Großeltern, andere nahe Verwandte, aber auch professionelle Fachkräfte diese Funktion erfüllen);
Bindungsfähigkeit und die Realisierung »feinfühligen« Verhaltens durch die Bezugspersonen, um sicheres Bindungsverhalten zeigen zu können;
emotional warmes, offenes, aber auch klar strukturierendes Erziehungsverhalten der Bezugspersonen (eine besonders positive Bedeutung hat hier ein autoritativer
bzw.
demokratischer Erziehungsstil) (Wustmann, 2004, S. 108 ff.; Petermann, Niebank & Scheithauer, 2004 – hier findet sich eine Bestätigung der »frühen« Forschungen von Tausch & Tausch, 1998);
soziale Unterstützung außerhalb der Familie;
soziale Modelle, die angemessenes Bewältigungsverhalten in Krisensituationen zeigen, Kinder ansprechen und ermutigen;
frühe Möglichkeiten, Selbstwirksamkeitserfahrungen machen zu können und so entsprechend positive internale Kontrollerwartungen/-überzeugungen herauszubilden;
damit verbunden: Selbstvertrauen, positiver Selbstwert, positives Selbstkonzept;
dosierte soziale Verantwortlichkeit;
kognitive Kompetenzen, die angemessen angeregt werden müssen;
Selbststeuerungs-
bzw.
Selbstregulationsfähigkeiten, die mit Unterstützung durch Bezugspersonen (vor allem bei der Affektregulation) herausgebildet werden;
Phantasie;
ein stabiles »Kohärenzgefühl«, also das Gefühl der Verstehbarkeit von Ereignissen und Erlebnissen, der Bewältigbarkeit
bzw.
Handhabbarkeit von Anforderungen und der Sinnhaftigkeit
bzw.
der Bedeutsamkeit des eigenen Tuns (Antonovsky 1997);
damit verbunden ist allgemeiner das Erfahren und das Erleben eines Sinns und einer Bedeutung der eigenen Existenz; hier kann Glaube eine wichtige Bedeutung haben;
gute oder zumindest sichere sozio-ökonomische Bedingungen.
(hierzu insgesamt: Petermann, Niebank & Scheithauer, 2004; Opp & Fingerle, 2007; Werner, 2000, 2007; Wustmann, 2004; Bengel et al., 2009).
Abb. 2.3: Zusammenspiel von Risiko- und Schutzfaktoren bei der Bewältigung von Anforderungen
Diese Schutzfaktoren sind in der Regel nicht alle vorhanden oder in der Entwicklung zu »erreichen« – allerdings zeigen die entsprechenden Studien, dass die Fähigkeit zur entwicklungsförderlichen Bewältigung von Krisen und Belastungen am ehesten gelingt, je mehr Schutzfaktoren wirksam sind.
Auch der Begriff der Schutzfaktoren wird von einigen AutorInnen kritisch diskutiert, da eben diese Faktoren nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Risiken abmildern und somit eine »automatische« prognostische Gültigkeit begrenzt ist (Bengel et al., 2009). Es wird vor allem darüber »gestritten«, ob die Schutzfaktoren erst dann bedeutsam oder wirksam sind, wenn Risiken auftreten (und dann diese Risikofaktoren durch protektive Faktoren abgemildert werden) – oder ob das Vorhandensein von Schutzfaktoren per se Risiken (ver)hindert. Bengel, Meinders-Lücking und Rottmann (2009) fassen die Befundlage wie folgt zusammen: »Ein umfassendes differenziertes und empirisch fundiertes Modell zur Wirkung von Schutz- und Risikofaktoren können bei der derzeitigen, z. T. inkonsistenten Befundlage und aufgrund fehlender Daten nicht formuliert werden. Es lassen sich jedoch einige prinzipielle Aussagen zu Schutzfaktoren aus dem aktuellen Forschungsstand ableiten:
Schutzfaktoren entfalten ihre Wirkungen in Abhängigkeit von Risikokonstellationen und Umgebungsbedingungen. Das Ausmaß der vorliegenden Belastung
bzw.
der Risikokonstellationen nimmt Einfluss auf die Wirkung der Schutzfaktoren.
Schutzfaktoren können generelle und protektive Wirkungen entfalten.
Der Effekt von mehreren Schutzfaktoren kann sich aufaddieren und auch multiplikativ wirken.
Kinder und Jugendliche durchlaufen Phasen unterschiedlicher Vulnerabilität.
Manche Schutzfaktoren entfalten ihre Wirkungen in Abhängigkeit von der jeweiligen Entwicklungsphase.
Schutzfaktoren können zu Risikofaktoren werden und umgekehrt.
Schutzfaktoren stehen in Wechselwirkungen mit anderen Merkmalen und Faktoren, sie können die Wirkungen anderer Merkmale beeinflussen (moderierende Wirkung).
Einige Schutzfaktoren sind beeinflussbar und veränderbar (z. B. Selbstwirksamkeitserwartung), andere sind nicht veränderbar (z. B. Geburtenreihenfolge)« (Bengel et al., 2009, S. 160).
Nach Fingerle (2011, S. 213) kommt es »nicht nur auf die Verfügbarkeit von Ressourcen an, sondern auf eine gewisse Flexibilität in ihrem Einsatz«. Fingerle schlägt hierfür den Begriff »Bewältigungskapital« vor: »Über Bewältigungskapital zu verfügen bedeutet, Ressourcen zu identifizieren, zu nutzen, und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Potential von Problemen und Krisen weiter zu entwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen« (ebd., S. 213).
Ein wesentlicher Schutzfaktor ist die Resilienz. Resilienz wird definiert als »psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken« (Wustmann, 2004, S. 18). Um der entwicklungspsychologischen Perspektive gerecht zu werden, formulieren Welter-Enderlin und Hildenbrand (2006, S. 13) folgende Definition: »Unter Resilienz wird die Fähigkeit von Menschen verstanden, Krisen im Lebenszyklus unter Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern und als Anlass für Entwicklung zu nutzen.«
Der Begriff der Resilienz muss dynamisch und flexibel aufgefasst werden: Resilienz kann nicht einmal erworben und dann für immer behalten werden, sondern verändert sich im Laufe des Lebens eines Menschen – abhängig von Erfahrungen und Ereignissen insbesondere im Zusammenhang der Bewältigung von Krisen und Belastungen (Opp & Fingerle, 2007; Rutter, 2000).
In der heutigen Resilienzforschung wird hingegen der »relative Charakter von Resilienz« (Opp & Fingerle, 2007, S. 14) betont, das heißt Resilienz ist nicht gleichbedeutend mit völliger Unverwundbarkeit, sondern die Ausprägung wird vom Zusammenspiel von Risiko- und Schutzfaktoren beeinflusst. Außerdem spielt die Kumulation (Anhäufung) von Faktoren eine nicht unerhebliche Rolle. Je mehr Belastungen und Risiken vorliegen, desto mehr protektive Faktoren zur Bewältigung sind erforderlich (Lösel & Bender, 2007). Dies macht deutlich, dass Resilienz immer kontextuell betrachtet werden muss und nicht ein universeller, auf alle Individuen gleich übertragbarer Begriff ist. Auch Bengel et al. betonen: »Resilienz ist als ein hoch komplexes Zusammenspiel aus Merkmalen des Kindes und seiner Lebensumwelt zu verstehen« (Bengel et al., 2009, S. 20). Somit ist Resilienz »situationsspezifisch und multidimensional« (ebd., S. 21).
Abb. 2.4: Resilienzfaktoren
Die Resilienzforschung befasste sich lange Zeit mit der Identifikation resilienzförderlicher Faktoren, die jedoch selten so klar beschrieben wurden, dass sie in ein Handlungs- bzw. Förderkonzept zu übertragen sind. Rönnau-Böse (2013) sowie Fröhlich-Gildhoff, Dörner und Rönnau-Böse (2012) haben aus der Vielzahl von Studien die empirisch am besten bestätigten Elemente gebündelt und zu sechs übergeordneten Resilienzfaktoren zusammengefasst.
Diese sechs zentralen Faktoren, die die Grundlage für eine gezielte Förderung der Resilienz darstellen, können wie folgt differenzierter beschrieben werden (Fröhlich-Gildhoff & Rönnau-Böse, 2011):
Im Vordergrund der Selbstwahrnehmung steht die ganzheitliche und adäquate Wahrnehmung der eigenen Emotionen und Gedanken, also die Wahrnehmug von sich selbst. Gleichzeitig ist es wichtig, sich selbst dabei zu reflektieren, das heißt sich zu sich selbst in Beziehung setzen zu können und andere Personen ebenfalls angemessen wahrzunehmen und sich ins Verhältnis zu ihrer Wahrnehmung zu setzen.
Fremdwahrnehmung meint die Fähigkeit, andere Personen und ihre Gefühlszustände angemessen und möglichst »richtig« wahrzunehmen bzw. einzuschätzen und sich in deren Sicht- und Denkweise versetzen zu können.
… umfasst die Fähigkeit, eigene innere Zustände, also hauptsächlich Emotionen und Spannungszustände, herzustellen und aufrechtzuerhalten und deren Intensität und Dauer zu modulieren bzw. zu kontrollieren – und damit auch die begleitenden physiologischen Prozesse und Verhaltensweisen zu regulieren. Dazu gehört beispielsweise das Wissen, welche Strategien zur Selbstberuhigung und Handlungsalternativen es gibt und welche individuell wirkungsvoll sind.
Um sich selbst regulieren oder steuern zu können, brauchen Säuglinge und Kleinkinder die Hilfe ihrer Bezugspersonen. Ab dem 5. Lebensjahr können Kinder ihre Emotionen in der Regel selbstständig und ohne soziale Rückversicherung regulieren. Eine gelingende Entwicklung führt hierbei zu Empathiefähigkeit und emotionaler Perspektivenübernahme.
… ist vor allem das grundlegende Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und verfügbaren Mittel und die Überzeugung, ein bestimmtes Ziel auch durch Überwindung von Hindernissen erreichen zu können.
Eine große Bedeutung haben dabei die Erwartungen, ob das eigene Handeln zu Effekten führt oder nicht. Diese Erwartungen steuern schon im Vorhinein das Herangehen an Situationen und Aufgaben, damit auch die Art und Weise der Bewältigung, und führen so oftmals zu einer Bestätigung des eigenen Selbstwirksamkeitserlebens. Die Erwartungen hängen stark von den Erfahrungen ab, die ein Mensch vor allem in den ersten Lebensjahren macht, sie sind jedoch auch – durch Erfahrungen – veränderbar. Für die Ausprägung der Selbstwirksamkeitserwartungen spielen eigene Handlungen die größte Rolle, wenn also Handlungen Erfolg haben, stärken sie die Selbstwirksamkeitserwartung, Misserfolge schwächen sie (Jerusalem, 1990).
Der Begriff »Soziale Kompetenz« wird sehr unterschiedlich definiert. Im Kern geht es um die Fähigkeit, im Umgang mit anderen soziale Situationen einschätzen und adäquate Verhaltensweisen zeigen zu können, sich emphatisch in andere Menschen einfühlen sowie sich selbst behaupten und Konflikte angemessen lösen zu können. Es geht aber auch darum, auf andere Menschen aktiv und angemessen zugehen zu können, Kontakt aufzunehmen sowie zwischenmenschliche Kommunikation aufrechtzuerhalten und adäquat zu beenden. Des Weiteren zählt zur sozialen Kompetenz die Fähigkeit, sich soziale Unterstützung zu holen, wenn dies nötig ist.