Verlorene Provence - Pierre Lagrange - E-Book

Verlorene Provence E-Book

Pierre Lagrange

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Beschreibung

Ein Mord vor laufender Kamera – der zwölfte Band der Provence-Krimi-Reihe von Bestseller-Autor Pierre Lagrange Frühling in Südfrankreich: Während in Cannes die glamourösen Filmfestspiele stattfinden, finden einige internationale Stars auch ins Hinterland der Provence, um ein Remake des französischen Thriller-Klassikers »Die Mörderischen« zu drehen. Als einer der Hauptdarsteller vor laufender Kamera erschossen wird, mogelt sich der pensionierte Commissaire Albin Leclerc mitsamt seinem Mops Tyson in die Ermittlungen. Die Zahl der Verdächtigen ist groß, denn scheinbar jeder hat ein Motiv, vom eifersüchtigen Schauspieler über den rivalisierenden Regisseur bis zum undurchsichtigen Produzenten. Als ein weiterer Mord geschieht, ist klar: Ein Killer ist am Set – und er ist noch nicht fertig.

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Seitenzahl: 317

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Pierre Lagrange

Verlorene Provence

Der zwölfte Fall für Albin Leclerc

 

 

Über dieses Buch

 

 

Frühling in Südfrankreich: Während in Cannes die glamourösen Filmfestspiele stattfinden, wird im Hinterland der Provence ein Remake des französischen Thriller-Klassikers »Die Mörderischen« gedreht – mit internationaler Star-Besetzung. Als einer der Hauptdarsteller vor laufender Kamera erschossen wird, mogelt sich der pensionierte Commissaire Albin Leclerc mitsamt seinem Mops Tyson in die Ermittlungen. Die Zahl der Verdächtigen ist groß, denn scheinbar jeder hat ein Motiv, vom eifersüchtigen Schauspieler über den rivalisierenden Regisseur bis zum undurchsichtigen Produzenten. Als es einen weiteren Mordanschlag gibt, wird Albin und Tyson klar: Ein Killer ist am Set. Und er ist noch nicht fertig. 

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Pierre Lagrange ist das Pseudonym eines bekannten deutschen Autors, der bereits zahlreiche Krimis und Thriller veröffentlicht hat. In der Gegend von Avignon führte seine Mutter ein kleines Hotel auf einem alten Landgut, das berühmt für seine provenzalische Küche war. Vor dieser malerischen Kulisse lässt der Autor seinen liebenswerten Commissaire Albin Leclerc gemeinsam mit seinem Mops Tyson ermitteln.

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

1

An manchen Tagen, dachte Albin, lag etwas in der Luft. Man spürte es, roch es, schmeckte es – also: abgesehen davon, dass Frühling war und die Provence süß und köstlich und frisch duftete. Irgendetwas war anders als sonst. Etwas kündigte sich an, zog herauf.

Heute war ein solcher Tag.

Es war schwer zu beschreiben, wie diese Art der Wahrnehmung funktionierte. Eigentlich gar nicht. Zum Beispiel wusste niemand genau, woher kreative Menschen ihre Inspirationen bekamen. Wenn man sie befragte, wie ihre Ideen zustande kamen, zuckten sie meist nur mit den Achseln und sagten: »Keine Ahnung, kam aus dem Nichts, ist mir plötzlich unter der Dusche eingefallen.« Tausende Forscher haben versucht, der Funktionsweise der Kreativität auf die Spur zu kommen, um sie für die Allgemeinheit nutzbar zu machen, damit endlich jeder ein Einstein oder Molière, Monet oder Bill Gates sein konnte.

Was aber nicht ging. Es gab keinen solchen Werkzeugkasten, und Genies blieben Genies. Wobei diese Bezeichnung von dem lateinischen Begriff »Genius« hergeleitet wurde und für ein Geistwesen stand, das jemandem einen göttlichen Gedanken einflüsterte. Und vielleicht stimmte das am Ende, und es handelte sich womöglich wirklich um eine Art übersinnliches Eingreifen, das man weder wissenschaftlich erklären noch künstlich nachempfinden konnte.

Ähnlich war es wohl mit den Vorahnungen. Weil Albin nicht den blassesten Schimmer hatte, wie es funktionierte und woher diese Ahnungen kamen, erklärte er es sich manchmal schlicht und ergreifend mit der Idee vom Äther. Das war so eine Art unsichtbarer Stoff, der den Raum füllte wie die Dunkle Materie das All. Die alten Griechen hatten den Äther als fünftes Element beschrieben. Auch in anderen Gegenden wie Indien gab es solche Konzepte, in der Alchemie ebenfalls.

Wenn man sich diesen Äther wie einen großen Teich vorstellte, in den jemand einen Stein warf, dann schlug er kleine Wellen. Es gab Interferenzen. Tiere konnten derlei Störungen wahrnehmen und Menschen mit besonders sensiblen Antennen und geschärften Sinnen ebenfalls. Heutzutage versuchten Wissenschaftler, einen solchen Spürsinn mit künstlicher Intelligenz nachzuahmen. Es gab Programme, die sich mit Verbrechensvorhersagen befassten, die mit Millionen von statistischen Daten gefüttert und die – zugegeben – immer besser wurden. Aber sie würden niemals so gut werden wie jemand, der zwar nur über sporadische Statistiken verfügte, allerdings über viel Erfahrung. Jemand, der von der Natur sozusagen ausersehen war, mit beiden Beinen im Ätherteich zu stehen und jeden geringfügigen Wellenschlag zu spüren oder wenn auch nur ein Lüftchen die Oberfläche kräuselte.

Menschen wie Ex-Commissaire Albin Leclerc. Er hatte wahrgenommen, dass heute einer dieser speziellen Tage sein würde, als er mit seinem Mops Tyson vor die Haustür getreten war, die bereits sehr warme Morgenluft inhaliert hatte und darauf den Rauch einer Gitanes folgen ließ. Sein Eindruck festigte sich, je näher Albin dem Café du Midi kam, wo er seinen zweiten Morgenkaffee einnehmen wollte.

Das Café du Midi wurde von seinem alten Freund Matteo geführt – eine für Frankreich typische Mischung aus Bar Tabac, Café und Bistro mit einem angeschlossenen Pétanque-Platz. Die früher rote Markise war längst von der Sonne verblichen, die Fläche vor dem Café unter den Platanen mit Kies bestreut. Darauf standen einige kleine Tische, und auf einem davon befand sich ein gelber Aschenbecher mit dem Aufdruck »Ricard«, der Albins Stammplatz markierte. Er nannte ihn gerne sein »Büro«, weil er dort regelmäßig saß und alles gut im Blick hatte – insbesondere wenn Streifenwagen vom nahen Hôtel de Police hier stoppten, weil sich die Besatzung einen Kaffee oder ein Eis holte. Albin nutzte diese Gelegenheiten, um einen Schwatz zu halten und an Informationen darüber zu gelangen, was in Sachen Kriminalität gerade so los war und was es ansonsten Neues gab.

Normalerweise hielt sich Matteo im Halbdunkel des Innenraums auf, bis Albin erschien. Dann kam er mit einem frisch gebrühten Kaffee heraus und einer Schale Wasser für Tyson. Das Ritual war so verlässlich wie das Amen in der Kirche. Man konnte die Uhr danach stellen.

Heute aber nicht.

Heute war alles anders.

Matteo war draußen und lief zwischen dem Café und seinem uralten Lieferwagen hin und her. Dabei handelte es sich um das klassische Wellblechmodell von Citroën, einen Typ H in einer undefinierbaren Farbe zwischen Eierschale und Rost. Der Wagen war so aerodynamisch wie ein Ziegelstein mit stumpfer Front und dem riesigen Kühlergrill, auf dem ein überdimensionales Citroën-Logo angebracht war. Matteo kümmerte sich nicht im Geringsten darum, dass Albin bereits an seinem Tisch angekommen war. Er drückte die Gitanes im Aschenbecher aus und sah Matteo eine Weile beim Hin- und Herlaufen zu. Zwischen dem schütteren Haar glänzte die Kopfhaut des Wirtes feucht in der Sonne. Das Polohemd, das ein ebenso verblichenes Rot aufwies wie die Markise, war unter den Achseln und am Rücken vom Schweiß dunkel verfärbt. Die Jeans, die noch aus den Neunzigern stammen musste, war ihm tief auf die Hüften gerutscht, was jedes Mal unangenehme Perspektiven ermöglichte, wenn er sich bückte, um etwas in den Wagen zu wuchten.

Albin blickte zu Tyson, der neben ihm hockte und das Treiben ebenfalls verfolgte. Dann sah er wieder zu Matteo, der Albin nach wie vor geflissentlich ignorierte.

Albin sagte: »Wie soll aus dieser Bruchbude von Café noch etwas werden, wenn der Wirt seine Kunden nicht beachtet?«

Matteo schleppte eine Getränkekiste, hob sie in den Lieferwagen und erwiderte schwer atmend: »Kunden sind Personen, die Umsatz bringen. Pensionäre, die Sitzplätze blockieren und sich den ganzen Tag lang an einem Kaffee festhalten, sind keine Kunden. Sie sind eine Plage.«

»Wird das hier ein Umzug? Ist der Laden endlich pleite, und du räumst das Lager aus?«

»Ha!«

Matteo trat etwas näher. Er schnaufte wie ein Stier. Die Brust seines massigen Körpers hob und senkte sich rasch. Er reichte Albin gerade einmal bis zum Schlüsselbein. Mit seinen deutlich über eins neunzig überragte Albin die meisten Menschen. Er wurde gelegentlich mit einem weißhaarigen normannischen Kleiderschrank verglichen. Matteo hatte im Vergleich eher das Format eines baskischen Koffers.

Mit der Fingerspitze tippte er gegen Albins Brustbein. »Es gibt noch Menschen, die arbeiten müssen, mein Lieber, die die Wirtschaft ankurbeln, die artig ihre Steuern zahlen und dieses herrliche Land am Laufen halten, damit sich ältere Herrschaften wie der feine Monsieur Ex-Commissaire Leclerc in der sozialen Hängematte ausruhen können.«

Albin zog die zerknautschte Gitanespackung aus der Hosentasche und steckte sich eine neue Zigarette an. Wie lange waren er und Matteo Freunde? Schon immer. Matteo war ein wenig jünger als Albin und früher ein guter Amateurboxer gewesen. Er hatte eine reizende, aber etwas anstrengende Frau namens Iris. Die Ehe war kinderlos geblieben, und vielleicht deswegen hatte sich Matteo gegenüber Albins Tochter Manon immer besonders herzlich und beschützend verhalten.

Matteo war, wie so viele in Frankreich und vor allem im Süden, ein glühender Patriot und Anhänger des Rassemblement National, insbesondere von seiner ehemaligen Vorsitzenden Marine Le Pen, deren Bild mit Unterschrift über der Theke im Café hing. Er hatte sogar einmal für die Partei, die im Süden zahllose Bürgermeister stellte und in einigen Regionen stärkste politische Kraft war, kandidieren wollen.

Albin hingegen machte sich nichts aus Politik. Es gab Links und Rechts und die Mitte – und vielleicht brauchte es so unterschiedliche Kräfte, um ein Land in der Balance zu halten. An der Kriminalität änderte das alles jedenfalls nichts, und das schon seit Jahrtausenden – ganz egal, unter welcher Regierungsform oder politischen Ausrichtung, ob unter Königen, Diktatoren, revolutionären Republiken oder Stammesfürsten. Und es war auch völlig gleichgültig, ob man Tausende oder zig Millionen Euro pro Jahr zu deren Bekämpfung ausgab. Das Böse suchte sich wie Wasser stets einen Weg.

Albin paffte eine weiße Wolke in den knallblauen Himmel. Es würde ein heißer Tag werden. Ein komischer glühender Sommertag.

»Also?«, fragte er schließlich. »Was wird das hier, Matteo?«

»Das wirst du mir nie im Leben glauben.«

»Ich habe dir noch nie im Leben etwas geglaubt. Aber versuch es ruhig.«

»Ich bin doch im Wirteverein.«

»Ja.«

»Im Gaststättenverband und so weiter.«

»Mhm.«

»Da hört man so dies und das. Und ich habe meinen Cousin bei der Tourismusverwaltung. Da hört man ebenfalls dies und das.«

»Ja.«

»Also habe ich diesen großen Cateringauftrag bekommen. Und natürlich teilen wir uns das im Verband brüderlich, denn die Aufgabe ist so groß, da fällt für jeden etwas ab. Na ja. Catering, also, was man so Catering nennt. Natürlich haben die noch ganz anderes Catering vor Ort, aber es geht um Zulieferung, wie auch immer. Und heute ist es meine Tour. So sieht es aus.«

»Zulieferung? Catering, das kein Catering ist? Was soll das für ein Catering sein? Das klingt so, als würde man dich über den Tisch ziehen.«

Matteo grinste. »Ich sage doch: Du glaubst es mir nie. Tatsächlich weiß ich gar nicht, ob ich darüber mit Außenstehenden reden darf. Und ich habe eigentlich auch keine Zeit, es dir zu erklären, weil ich mich beeilen muss, und mir hilft ja niemand.«

»Du könntest jemanden um Hilfe bitten.«

»Wen denn?«

Albin rauchte.

»Dich?«

Albin stieß den Qualm aus.

Matteo lachte laut. »Damit du mir einen Herzinfarkt bekommst, wenn du eine Orangina-Kiste trägst?«

»Wenn du mit einem Kreislaufkollaps zusammenbrechen möchtest – bitte schön. Ist nur ein Angebot. Ich habe nichts weiter zu tun.«

Tatsächlich war Albin schrecklich langweilig. Er wurde schon verrückt, wenn er eine halbe Stunde lang zu Hause rumsaß und die Tapete anstarrte. Als sie ihn in Pension geschickt hatten, hatte es sich angefühlt, als sei er wie ein TGV in voller Fahrt vom Gleis genommen worden, und sämtliche Räder drehten im freien Lauf weiter. Die Kollegen hatten ihm zum Abschied Tyson geschenkt, seinen Mops, damit er etwas zu tun hatte und keinem mehr auf die Nerven gehen würde. Hatte beides nicht geklappt, wenngleich Tyson längst ein treuer Weggefährte geworden war, mit dem sich Albin außerdem glänzend unterhalten konnte.

Matteo fuhr sich mit der Hand über die Stirn und wischte den Schweiß ab. »Tatsächlich«, erwiderte er, »würde mir etwas Hilfe durchaus recht kommen. Ist schon eine Menge Zeug. Aber es geht ja auch um eine Menge Leute.«

»Und was ist das jetzt für ein Auftrag?«

Matteo erklärte es.

»Wirklich?«, fragte Albin, der nicht fassen konnte, was er gerade gehört hatte.

»Ja.«

»Also: ernsthaft? Bei deiner Ehre, deinem Vaterland und allem, was dir wie Marine Le Pen heilig ist, sprichst du die reine Wahrheit?«

»Die Wahrheit«, erwiderte Matteo, stand stramm und hielt sich die rechte Hand aufs Herz, »und nichts als die Wahrheit.«

2

Der eine Mann hatte ein blaues Auge und der andere eine blutende Nase. Trotzdem wollten sie sofort wieder aufeinander losgehen, was Castel allerdings verhindern konnte. Sie schnappte sich den einen, während Theroux den anderen mit seinem Körper blockierte.

Was für ein Wahnsinn, dachte Castel. Sie drehte dem Kerl den Arm auf den Rücken, presste ihn dann gegen die Beifahrertür und ignorierte das Schimpfen sowie die Flüche von dem Mann und seiner Frau, zu denen sich das Schimpfen des anderen und das Gezeter von dessen Frau addierten. Ein Irrsinn inmitten des Irrsinns auf dieser zum Teil abgesperrten Straße, wo das Treiben einem außer Kontrolle geratenen Karnevalsfest glich und sich eine Schlägerei entwickelt hatte, zu der Castel und Theroux hinzugerufen worden waren. Körperverletzung fiel schließlich in ihr Metier – und wer wusste, ob die beiden am Ende nicht noch mit Steinen oder Wagenhebern aufeinander losgegangen wären.

Die Rahmenbedingungen waren aber auch prekär. Kein Wunder, dass es hier Ärger gegeben hatte. Zunächst war heute der Parkplatz an der malerischen Gorges du Toulourenc gesperrt, um die Öffentlichkeit von der Schlucht fernzuhalten. Zudem parkten dort jede Menge Trailer und Transporter, und man hatte Zelte aufgebaut. Außerdem hatte die Gendarmerie die D242 und die D40A im Bereich zwischen den Orten Veaux und Pierrevon in jeweils einer Fahrtrichtung gesperrt und regelte den Verkehr. Ein privater Sicherheitsdienst unterstützte die Polizei nach Kräften.

Die D40A und die D242 waren nicht sehr breit. Und wie auf dem Parkplatz standen heute im Umfeld des Einstiegs in die Schlucht jede Menge Lkw, Lieferwagen, Trailer sowie kleine Campingzelte. Das machte die Straßen also noch schmaler, zudem die einspurige Sperrung.

Am Nadelöhr, der winzigen Brücke über den Toulourenc, stieß dann alles aufeinander. Von hier aus hatte man einen wundervollen Einblick in die Kluft, die der Fluss in die grauen Felsen gefressen hatte. Es gab an einigen Stellen Kies. An den Wochenenden sowie zur Hochsaison im Sommer war dort stets viel los, denn die Toulourenc-Schlucht war ebenso malerisch wie die großen Schluchten der Umgebung, aber leichter zugänglich. Man konnte über Kilometer hinweg durch das kristallklare Wasser waten, links und rechts an hohen Felsen hinaufblicken, sich an den Ufern in die Sonne legen und zum Abkühlen in den Fluss springen.

Heute gab es in der Schlucht noch eine andere Attraktion, weswegen viele Autofahrer vor oder hinter der Brücke und sogar auf ihr stoppten, um Fotos mit dem Handy zu machen. Die zwei vor Ort postierten Gendarmen hatten folglich alle Hände voll zu tun und waren einen Moment lang abgelenkt gewesen, weil sie vor der Brücke einen Kieslaster aufhalten mussten, anderer Verkehr Vorrang hatte, der Lastwagenfahrer das aber nicht einsehen wollte und eine Diskussion begann.

In diesem Augenblick der Unachtsamkeit kamen hinter ihrem Rücken ein Auto von links und eines von rechts. Beide wollten die Brücke gleichzeitig überqueren, über die aber nur ein Fahrzeug passte. Als die Autos Kühlergrill an Kühlergrill auf der Brücke standen, stellten die Fahrer fest, dass sich hinter ihnen bereits eine Schlange von Fahrzeugen gebildet hatte. Niemand kam mehr vor oder zurück.

In dieser aufgeheizten Atmosphäre waren dann die beiden Autofahrer aufeinander losgegangen.

Die Gendarmen waren eingeschritten, waren der Situation aber nicht gewachsen, weswegen sie Verstärkung angefordert hatten. Sie hatten die Streithähne immerhin so lange im Zaum gehalten, bis sich Castel und Theroux sowie drei Streifenwagenbesatzungen den Weg zur Brücke gebahnt hatten, nachdem sie ihre Autos am Parkplatz abgestellt hatten. Den Rest gingen sie zu Fuß, da auf der Straße alles verstopft war. Außerdem hatte die Gendarmerie beschlossen, den Bereich um die Brücke nun komplett abzuriegeln und eine Umleitung auszuschildern, weil die Situation beim besten Willen nicht mehr tragbar war. Daher wurden nun die Fahrzeuge zum Umkehren bewegt, unter Anweisung der Polizei hin und her rangiert, während die Mitarbeiter des privaten Sicherheitsdienstes damit befasst waren, die zahllosen Schaulustigen zu verscheuchen und wieder in ihre Fahrzeuge zu treiben.

Wie gesagt: ein Irrsinn.

Die Hölle auf Erden.

Dann war der Streit zwischen den beiden aggressiven Autofahrern erneut eskaliert.

Cat presste den Mann gegen das Auto und hörte Theroux am anderen Wagen.

»Sind Sie eigentlich alle bescheuert? Die Polizei ist hier – und Sie führen sich dennoch so auf? Sollen wir Sie in eine Zelle stecken, oder was?«

Theroux konnte es nicht gut vertragen, wenn die Behörden nicht respektiert wurden. Cat gefiel das ebenfalls nicht, aber sie war entspannter und hatte ihren Mann gut im Griff. Sie hatte früher in Marseille bei der Sondereinheit BRI-BAC gearbeitet, zwar nur hinter den Kulissen, aber die Kollegen hatten ihr so einige Kniffe gezeigt. Da machte es also nichts aus, dass Cat nicht sehr groß und von der Figur her eher drahtig war. Der Kerl wiederum, dem sie den Arm auf den Rücken drehte und gleichzeitig den Daumen überdehnte, wirkte vielmehr so, als würde er täglich mit Rinderhälften statt mit Hanteln trainieren.

Dann kamen endlich von links und rechts jeweils zwei Gendarmen, die den Capitaines Castel und Theroux die Streithähne abnahmen und wegbrachten.

Kaum eine Minute später kehrte wieder Ruhe ein. Die Schaulustigen waren verscheucht, die Straße weitgehend frei. Der Lärm legte sich. Man konnte sogar wieder Vögel zwitschern und das Wasser des Flusses plätschern hören.

»Meine Fresse«, sagte Theroux und stopfte sich das verrutschte Hemd mit den bunten Aufnähern wieder in den Bund seiner Flickenjeans – modisch war er irgendwo Anfang der Zweitausender hängengeblieben.

»Mhm«, erwiderte Cat und schob sich ein Kaugummi in den Mund. Sie setzte ihre Pilotensonnenbrille auf, weil das helle Licht blendete, lehnte sich gegen das hellblaue Metallgeländer der kleinen Brücke und betrachtete das Treiben in der Schlucht. Theroux neben ihr setzte ebenfalls die Sonnenbrille auf und atmete tief durch, bevor er mit einem Mal die Luft anhielt.

»Ist das …«, fragte er und deutete auf eine Frau, die in etwa fünfzig Metern am Wasser stand und mit jemandem sprach. »Ist das – doch, das ist doch … Oder?«

Jetzt sah auch Cat genauer hin, kniff die Augen etwas zusammen und nickte dann. »Doch, das ist sie.«

Theroux grinste. »Meine Güte. Ich fasse es nicht.«

Er wollte sein Handy aus der Jeanstasche ziehen, um ein Foto zu machen.

Cat stieß ihn an. »Das ist jetzt nicht dein Ernst.«

»Wieso?«

»Alain. Wir kommen hierher, weil Chaos herrscht und Dutzende Menschen Fotos machen wollen, was wir ihnen verbieten, und dann fängst du selbst damit an?«

Theroux sah Cat an. Sah sein Handy an. Dann blickte er zum Fluss und wieder zu Cat.

»Aber das ist doch …«

»Alain.«

»Das ist doch etwas ganz anderes.«

»Alain, bitte! Das ist nichts anderes.«

»Ich bin Polizist.«

»Genau. Eben drum.«

Einige Sekunden lang konnte man regelrecht sehen, wie in Therouxs Gehirn die Zahnräder arbeiteten. Manchmal setzte bei ihm das logische Denken aus. Dann schien es, als seien einige Synapsen nicht richtig miteinander verknüpft. In anderen Fällen wiederum arbeiteten diese Synapsen mit doppelter Lichtgeschwindigkeit und verblüfften mit brillanten Ideen. Leider konnte man nie vorhersehen, was gerade Sache war: Hyperspeed oder Blockade.

Aber schließlich schien Theroux zu begreifen.

»Du meinst, weil …«

»Genau, das meine ich, Alain.«

»Von wegen Vorbild sein und nicht mit zweierlei Maß agieren …«

»Exakt.«

»Ah, okay.« Theroux nickte. Er steckte das Handy wieder ein und sah zurück zum Toulourenc und der Frau am Wasser. Dann zuckte er, als eine weitere hinzukam, aber sofort wieder umdrehte, als die andere sie bemerkte, und so tat, als wolle sie ganz woandershin.

»Das war doch …«, stammelte Theroux.

»Denke schon«, sagte Cat, »das ist …«

Sie stockte, denn in diesem Moment sah sie einen Mann, der unter einer Pinie zum Vorschein kam. Er stand einige Meter von der Frau entfernt, streckte sich dekorativ und richtete sein Gesicht in die Sonne, bevor jemand zu ihm stieß, um mit ihm zu reden, worauf die beiden wieder verschwanden.

»Oh. Mein. Gott.« Cat spürte ein Kribbeln im Nacken.

»War das …«, murmelte Theroux.

»Mhm«, machte Cat und nickte.

Theroux lachte auf. Er schüttelte den Kopf und grinste wie ein Honigkuchenpferd, raufte sich dann die Haare.

»Meine Güte«, erwiderte er. »Wenn ich das meiner Frau erzähle. Total verrückt, Cat, oder? Und wir beide mittendrin.«

Ja, dachte Cat. Sie wäre zwar grundsätzlich lieber im Hôtel de Police in Carpentras geblieben, aber es war etwas dran: Wann konnte man das mal aus nächster Nähe erleben?

3

»Und genau dorthin fahren wir jetzt und liefern ab«, rief Matteo über den Motorenlärm hinweg und nahm eine scharfe Kurve, wozu er das riesige Lenkrad kurbeln musste wie einst der Navigator von Kapitän Louis Antoine de Bougainville das Steuer seiner Fregatte beim Einbiegen in die Magellanstraße kurz vor Kap Hoorn.

Falls wir lebend ankommen, dachte Albin, den die Fliehkraft nach rechts gegen die Beifahrertür presste. Dort gab es keinerlei Polsterung, nur dünnes Blech. Die Innenausstattung war mehr als spartanisch, die Sitze waren durchgesessen und hart. Die Fenster waren zur Hälfte aufgeklappt, denn so etwas wie eine Lüftung gab es nicht, und als Heizung diente nur ein kleines Kästchen in der Mitte des Armaturenbretts. Darunter beulte sich die Motorhaube nach innen in den Fahrerraum. Man konnte die Blechvorrichtung mit einem Handgriff öffnen – ganz praktisch, wenn man während der Fahrt mal schnell etwas Öl nachgießen wollte oder an der Ampel den Keilriemen spannen …

Albin klemmte Tyson im Fußraum fester zwischen seine Beine. Der arme Kerl war zu bedauern. Er hätte ihn auf den Schoß nehmen können, doch die aktuelle Variante erschien ihm etwas sicherer.

»Das ist ein Ding, oder?«, rief Matteo.

In der Tat, dachte Albin und hörte das Getriebe krachen, als Matteo den nächsten Gang hineinrammte. Das war schon ein ziemliches Ding.

»Nur eines«, ergänzte Matteo, »geht mir einfach nicht in den Kopf: Warum spielt es in der Nesque-Schlucht, aber dann gehen sie in die Toulourenc-Schlucht? Das ist doch etwas völlig anderes!«

»Vermutlich ist es praktischer«, rief Albin gegen den Motorenlärm an. »Bessere Infrastruktur, besser zugänglich, tausend verschiedene Gründe.«

»Aber es sieht doch jeder, dass es nicht die Nesque-Schlucht ist!«

»Wer weiß.«

»Was?«

»Wer weiß!«, rief Albin.

»Jedenfalls ist das ein Klassiker, oder? Bin mir nicht sicher, ob ich ihn kenne, aber das ist schon ein Begriff, oder?«

Das konnte man wohl sagen, dachte Albin, der den Film Die Mörderischen, über den sie gerade aus aktuellem Anlass sprachen, schon mehrere Male gesehen hatte. Es war ein französischer Thriller, ein Klassiker aus den siebziger Jahren, der in einem Atemzug mit Psycho oder Vertigo genannt wurde und auf einer Kurzgeschichte eines weltberühmten französischen Autorenduos basierte. In Cannes hatten gerade die Filmfestspiele begonnen – und in der Provence die Dreharbeiten zum Remake dieses Klassikers mit internationaler Starbesetzung.

Albin mochte alte Filme, und natürlich war ihm die Handlung von Die Mörderischen so geläufig wie die von Spartacus oder Lawrence von Arabien.

In Die Mörderischen ging es um den despotischen Winzer Henri Delassalle, der auf Kosten seiner herzkranken Frau Nicole Delassalle lebt, der das Weingut gehört. Henri ist ein Tyrann, der seine Frau und alle Angestellten terrorisiert. Er hat eine missbräuchliche Affäre mit der Arbeiterin Sylvie und nutzt das Machtgefälle schamlos aus. Die beiden Frauen wissen voneinander und sollten eigentlich Konkurrentinnen sein. Doch eint sie die Unterdrückung durch Henri, der sie sich ausgeliefert sehen, und andererseits der Hass auf den Sadisten. Als Sylvie einmal sagt, dass der Mistkerl am besten tot wäre, stimmt die Ehefrau zu – erst recht nach einem neuen Gewaltausbruch Henris.

Sie organisiert ein Picknick in einer Schlucht, wo die Frauen den Mann mit einem Jagdgewehr erschießen. Die Leiche lassen sie unter Steinen verschwinden. Danach meldet Nicole Henri als vermisst und gibt die besorgte Ehefrau.

Doch plötzlich kommt der Anzug aus der Reinigung, den Henri beim Mord trug. Wie kann das sein? Er wurde im Ort gesehen. Ist er gar nicht tot?

Die Frauen sind panisch, suchen nach der versteckten Leiche, um sich zu vergewissern – doch die ist fort. Die Aufregung macht der kranken Nicole massiv zu schaffen. Ihre Herzprobleme nehmen zu.

Sie heuert den Ex-Commissaire Jean Clouzot an, um nach ihrem als vermisst gemeldeten Mann zu suchen. Als eines Nachts im Wohnhaus des Weinguts schließlich Schritte zu hören sind und im Büro von Henri Licht brennt, dreht Nicole durch. Sie ruft in Panik Ex-Commissaire Clouzot an und gesteht am Telefon alles.

Clouzot bricht sofort auf, währenddessen findet Nicole im Bad ihren Mann Henri – der sich wie ein Zombie aus der Dusche erhebt. Sie bekommt einen Herzinfarkt und stirbt.

Es zeigt sich: Im Jagdgewehr steckten Platzpatronen. Sylvie und Henri hatten alles vorgetäuscht, um an das Erbe von Nicole zu gelangen. Doch als sie Nicoles Leiche beseitigen wollen, taucht Clouzot auf und übergibt das Verbrecherduo der Polizei.

Am Ende steht Clouzot am Grab von Nicole und bemerkt einen Kranz ihrer im Ausland lebenden Schwester, an die das Erbe fiel und die das Weingut verkaufen ließ – und genau diese vermeintliche Schwester steht unterdessen an einem Strand auf Jamaika: Es ist Nicole! Sie hatte die Intrige durchschaut und wiederum ihren Tod vorgetäuscht, um sich zu rächen und ein neues Leben zu beginnen.

Was für ein Plot – auch wenn er das Ende und den überraschenden Twist kannte, war der Film für Albin immer wieder ein Genuss.

Der internationale Cast für die Neuverfilmung war beachtlich, und der Film wurde an den Originalschauplätzen in der Provence gedreht. Matteo hatte Albin, der noch kein Wort davon gehört hatte, eben darüber berichtet. Er hatte etwas mit dem Handy gegoogelt und festgestellt, dass die Presse schon jede Menge herausgefunden hatte.

Die beiden Frauenrollen wurden von der britischen Diva Olivia Connor und dem aufstrebenden französischen Filmstar Claire Lambert gespielt.

Die männliche Hauptrolle war mit dem Frauenschwarm Bradley »Brad« Stone besetzt, der Veronique stets einen Seufzer wert war. Allerdings keinen so tiefen wie bei Yves Serrault. Der Grandseigneur des französischen Kinos spielte den Ex-Commissaire Clouzot.

Produziert wurde das Remake bezeichnenderweise von Olivier Besson jr., dem cholerischen Sohn des ursprünglichen Produzenten Olivier Besson, der auf den Fotos in der Zeitung stets wirkte wie ein enger Verwandter von Gerard Depardieu. Regie führte Wilson Fairchild, ein Brite, der schon für einen James Bond im Gespräch war und letztes Jahr sogar für den Oscar nominiert worden war.

Die Dreharbeiten liefen überall in der Provence, auch auf einem Weingut nahe dem Luberon, das einem Freund von Fairchild gehörte. Der Mann war ebenfalls ein bekannter britischer Regisseur und zählte damit zu den vielen Stars, die sich im Midi niedergelassen hatten, wo sie die Atmosphäre, die Landschaft und die Ruhe genossen.

In Matteos Lieferwagen konnte hingegen von Ruhe keine Rede sein. Nicht wegen des lauten Motors und der Fahrgeräusche durch die geöffneten Fenster und nicht weil Matteo fortlaufend plapperte, als habe er die Hälfte seines Espressovorrates auf ex getrunken. Er war aufgeregt, zu einem echten Drehort mit echten Stars zu fahren und somit gewissermaßen Teil der Neuproduktion eines französischen Leinwandheiligtums zu sein.

Dann stieg Matteo in die Eisen, als sie eine Straßensperre erreichten. Ein Einsatzwagen der Gendarmerie stand quer auf der Straße. Eine junge Beamtin trat an den Lieferwagen heran und erklärte, dass es hier nicht weiterginge. Matteo wiederum erläuterte, dass er zum Cateringservice gehörte und dringend weitermüsse, weil man ihn erwartete. Er hob seinen Hintern an, zog ein zusammengefaltetes Stück Papier aus der Gesäßtasche seiner Jeans und entfaltete es, hielt es der Polizistin hin, die es überflog.

»Neben mir sitzt außerdem Commissaire Albin Leclerc«, sagte Matteo. »Der Commissaire Leclerc, den kennen Sie sicher, oder?«

Die Polizistin gab sich unbeeindruckt, ging um das Fahrzeug herum und warf einen Blick auf das Nummernschild. Dann kam sie wieder zurück und sagte: »Tut mir sehr leid, Monsieur, aber das Nummernschild entspricht nicht dem auf Ihrer Passiergenehmigung.«

»Natürlich nicht«, sagte Matteo und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ohne den kühlenden Fahrtwind wurde es in der prallen Frühlingssonne schnell sehr warm im Auto. »Das Kennzeichen ist das von meinem Privatwagen, und das hier ist der Lieferwagen, weil ich das sonst nicht alles in den Kofferraum bekommen hätte.«

»Tut mir leid«, erwiderte die Gendarmin. »Ihr Dokument zeigt nicht das erforderliche Kennzeichen an. Ich kann Sie leider nicht zum Drehort vorlassen.«

»Madame«, sagte Matteo. »Ich habe verderbliche Ware in meinem Fahrzeug und Getränke, die gekühlt werden müssen. Man erwartet mich. Mein Erscheinen ist erforderlich für die Grundversorgung der Crew. Wir können das Gelingen unseres Filmes nicht von einem Autokennzeichen abhängig machen.« Jetzt redete er schon von unserem Film, du liebe Zeit, dachte Albin. »Es ist von essenzieller und regelrecht nationaler Bedeutung, dass ich …«

»Wie gesagt«, kürzte die Polizistin ab. »Das falsche Kennzeichen, und damit …«

»Pff«, machte Matteo und sah Albin hilfesuchend an. »Und jetzt?«

Albin lehnte sich über Matteo hinweg, lächelte die Polizistin an, warf einen Blick auf ihr Namensschild und die Abzeichen auf ihren Schultern und tippte sich grüßend gegen die Stirn. »Adjutante Dubois – der Mann hat recht, und wenn ich vorschlagen darf: Überprüfen Sie doch das Kennzeichen dieses Transporters und das auf dem Dokument angegebene und gleichen die Halter der Fahrzeuge miteinander ab. Dann werden Sie sehen, dass alles in Ordnung ist.«

Die Polizistin dachte kurz nach. »Moment«, sagte sie und ging zurück zum Fahrzeug, in dem ihr Kollege saß.

»Um Himmels willen!«, rief Matteo. »Dieses Land wird noch in der Bürokratie versinken! Lieber Napoléon, wir können dich nicht nach Moskau ziehen lassen, weil dein Kennzeichen nicht das richtige ist! Mon Général de Gaulle, die Amerikaner sind in der Normandie gelandet, aber wir können sie nicht vorlassen, denn ihre Kennzeichen …«

»Reg dich nicht auf«, sagte Albin. »Sie macht nur ihren Job.«

»Genau das ist es ja!« Matteo warf die Hände hoch. »Wenn sich jeder an die Vorschriften klammert und es davon tausend Millionen gibt, dann kann es mit Frankreich nicht vorangehen! Die haben doch alle Bretter vor dem Kopf. Bretter, Bretter, Bretter.« Er schlug sich mit der Hand vor die Stirn, um zu untermalen, wie vernagelt die Personen waren, über die er sich gerade aufregte.

»Achte auf deinen Kreislauf«, sagte Albin.

»Ist doch wahr!«

Dann kam die Polizistin zurück und nickte Matteo zu. »Wir haben die Kennzeichen überprüft. Alles in Ordnung. Aber nächstes Mal sollten Sie es besser bei der Produktionsleitung anmelden, wenn Sie ein anderes Fahrzeug nehmen, Monsieur. Wir müssen wirklich scharf aufpassen. Wir hatten gerade heute schon ziemlich viel Ärger.«

Matteo lächelte breit.

»Vielen Dank, Adjutante«, sagte Albin.

»Besten Dank«, ergänzte Matteo. »Es ist hervorragend zu erleben, wie flexibel unsere Gendarmerie arbeitet. Ich wünschte, unsere wunderbare Nation hätte mehr Leute wie Sie, Madame!« Albin rollte innerlich mit den Augen. »Wenn Sie einmal nach Carpentras kommen, besuchen Sie mich im Café du Midi. Ich gebe Ihnen und Ihren Kollegen ein Eis aus. Mögen Sie Vanille?«

Die Gendarmin lachte kurz und nickte. Sie legte den Kopf schief und fragte. »Sie sind wirklich Commissaire Albin Leclerc?«

»Wirklich und ehrlich«, sagte Albin.

Die Gendarmin lächelte knapp. »Mein Vater kannte Sie. Luc Dubois aus Mazan.«

»Ist ja ein Ding«, erwiderte Albin, »der gute Luc. Ich hoffe, es geht ihm gut, meine Grüße.«

»Richte ich gern aus.« Sie trat einen Schritt zurück und deutete nach vorn. »Okay, dann können Sie durchfahren. Und dann werden Sie ja gleich Ihre Exkollegen Theroux und Castel treffen.«

»Ach«, machte Albin und wunderte sich. »Was machen die denn hier?«

»Wie gesagt«, erklärte die Gendarmin, »wir hatten hier heute schon etwas Ärger – mit Schaulustigen und raufenden Autofahrern, aber nichts Schlimmes.«

Na, dachte Albin, wenn nichts Schlimmes los war, dann musste er sich ja keine Gedanken machen.

4

Olivia Connor und Claire Lambert, dazu noch Bradley Stone – alle drei hier regelrecht zum Greifen nah …

Ja, dachte Cat und lehnte sich über die blaue Brüstung der Brücke. Sie hatte heute Abend fraglos etwas zu erzählen.

Olivia Connor musste Mitte vierzig sein und galt als große Charakterdarstellerin. Auf den ersten Blick hatte es gerade eben so gewirkt, als kämen sie und Claire Lambert nicht so gut miteinander klar. Gut, sie war eine Shakespeare-Darstellerin und kam vom Theater, soweit Cat wusste. Claire Lambert hatte keine vergleichbare Ausbildung, war nicht einmal dreißig und über das Modeln zum Film gekommen. Sie hatte ihren Durchbruch als Nebendarstellerin in einem Streifen gefeiert, in dem sie die meiste Zeit halbnackt herumgelaufen war. Seither wurde sie als legitime Nachfolge von Brigitte Bardot gehandelt, obwohl sie längst nicht so kurvig und eher schlank war.

Claire hatte zwei Millionen Follower auf Instagram, TikTok und anderen sozialen Medien, darunter auch Cat. Sie war von den Titelseiten kaum wegzudenken und machte außerdem immer wieder durch Skandale auf sich aufmerksam, Affären, Drogengeschichten, Nervenzusammenbrüche …

Tja, und Bradley Stone. Brad. Castels Lebensgefährte Jean Villeneuve hatte irgendwann einmal gemeint: Wenn Michelangelo heute ein männliches Model für einen Marmorblock benötigte, das das Schönheitsideal seiner Generation am besten repräsentierte, dann würde er sicherlich Brad Stone auswählen. Stone hatte gerade die vierzig erreicht, und die Fotos seiner Party in Las Vegas mit seinen Film- und Rockstarfreunden waren überall zu sehen gewesen. Er galt als ewiger Single und Sonnyboy, der seine weiblichen Begleitungen mindestens einmal im Quartal wechselte. Aber war das ein Wunder? Welche Frau wollte denn nicht an der Seite von Brad gesehen werden?

»Was machen die denn da?«, fragte Theroux.

In die Crew war jetzt Bewegung geraten. In etwa hundert Meter Entfernung waren auf einem Kiesbett große Sonnensegel aufgebaut worden, wahrscheinlich Reflektoren oder um das Licht abzuschirmen. Dort stand außerdem jede Menge technisches Equipment herum, das Cat nicht identifizieren konnte.

An das Kiesbett grenzten Felsen an, und dort tauchte nun Brad Stone auf, trank aus einer Flasche und ließ sich etwas erklären. Mehrere Personen, bei denen es sich um Kamera- und Tonleute oder den Regisseur und Assistenten handeln mochte, liefen umher. Dazwischen stand eine etwas verloren wirkende Frau, die ein Gewehr hielt, das ihr eben von jemandem in die Hand gedrückt worden war. Ganz am Rande der Szene stand ein älterer Herr in kurzen Hosen mit Sonnenhütchen. Das war ein Monsieur Peyrot aus Avignon, den man vorhin an der Polizeiabsperrung durchgelassen hatte – er war einer der Kameramänner des Originalfilms gewesen und zu einem Setbesuch eingeladen worden.

»Sieht aus«, murmelte Cat, »als ob sie eine Szene einrichten würden. Kennst du den ursprünglichen Film, Alain?«

»Hab ihn schon mal gesehen«, erwiderte er. »Lange her. Meine Frau mag keine alten Filme.«

Cat blickte zur Seite, als sie Motorengeräusche hörte – eher ein Sirren, da es sich um einen Elektromotor handelte. Ein schwarzer SUV deutscher Bauart sauste heran und fuhr über die Brücke.

Cat und Theroux pressten sich an das Geländer, damit sie nicht umgefahren wurden. Durch die abgedunkelten Seitenscheiben konnte Cat auf der Rückbank Olivia Connor erkennen, die mit ihrem Handy beschäftigt war und nicht aufblickte. Schließlich verschwand der Wagen in Richtung des Parkplatzes, den die Filmcrew mit ihren Fahrzeugen als Basislager belegt hatte. Dort standen große und kleine Trailer, Wohnwagen, es gab Toiletten und eine Art Open-Air-Restaurant unter Sonnenschirmen. Es wirkte, als kampierte dort ein moderner Zirkus. Dasselbe, nur in kleiner, war hier am Set etwas abseits eingerichtet: ein Camp für die Crew, wo es ebenfalls Toilettenwagen gab, mobile Überdachungen im Schatten, unter denen technisches Equipment lagerte, sowie ein Zelt, in dem Snacks und Getränke verfügbar waren. Der Rest der Fahrzeuge parkte an den Straßenrändern.

Cat und Theroux wollten sich gerade wieder zum Fluss drehen, als der nächste SUV angesaust kam und ebenfalls über die Brücke fuhr. Darin saß Claire Lambert, die durch die getönten Scheiben blickte und Cat und Theroux ein Lächeln zuwarf und kurz mit den Fingern winkte. Dann verschwand auch dieser SUV.

»Sie hat mich angesehen«, sagte Theroux. »Claire Lambert hat mich angesehen und mir sogar zugewunken.«

Cat rollte mit den Augen, drehte sich dann wieder zum Fluss, lehnte sich über die Brüstung und sah dabei zu, wie Brad Stone sich zwischen die Felsen stellte und sich etwas erklären ließ. Ein paar Meter vor ihm stand die Frau mit dem Gewehr, der ebenfalls etwas erklärt wurde, und es wurden Kameras um sie herum und weiße Reflektoren neben Stone aufgebaut. Außerdem schleppten zwei Personen Schaumgummimatten an, die sie an den Felsen auf den Boden legten und Gestrüpp drauf verteilten.

»Wohin sind denn die Frauen gefahren?«, fragte Theroux. »Wenn ich mich richtig erinnere, dann erschießen in dem Film die beiden doch den Typen, und wenn ich eins und eins zusammenzähle, dann spielt Brad Stone sicherlich den Mann und Olivia Connor und Claire Lambert die beiden Frauen?«

Cat zuckte mit den Achseln. »Denke ich auch. Vielleicht müssen die sich noch schminken lassen, und sie lassen die Szene zunächst von Assistenten einrichten.«

»Aber die waren doch eben schon am Set?«

»Ich weiß es auch nicht.«

»Man könnte sie doch dort unten schminken. Da müssen sie doch nicht hin und her fahren?«

»Boah!« Cat rollte mit den Augen. »Alain, woher soll ich das wissen? Sie werden schon ihre Gründe haben. Abgesehen davon sind wir hier überflüssig. Wir sollten wieder nach Carpentras zurückfahren. Unser Job hier ist erledigt, und was die beiden Streithähne von vorhin angeht: Um die kümmert sich die Gendarmerie.«

»Klar«, sagte Alain.

Dennoch bewegte er sich kein Stück. Cat ebenfalls nicht. Wie er sah sie weiterhin dabei zu, wie an den Felsen die Szene eingerichtet wurde und sich Brad Stone jetzt in Position stellte.

Die Kameraleute schienen sich mit ihren Geräten zu beschäftigen. Ein Assistent bugsierte die Frau mit dem Gewehr in Position und markierte ihren Standort mit einer Spraydose auf dem Kies. Ein anderer lief zwischen den Kameras hin und her und redete mit jemandem, der wohl der Regisseur war. Er deutete mit den Händen in Richtung Brad Stone, zeigte dann wieder auf die Kameras und auf die Frau mit dem Gewehr, worauf der Regisseur nickte und eine Geste machte: »Dann nur zu.«

Jemand kam mit einer Art Aluminiumsack an, reichte dem Regisseur ein Gerät, das wie ein Tablet aussah, und zog ihm dann den Sack über den Kopf. Schließlich zielte die Frau mit dem Gewehr auf Brad Stone.

»Was machen die denn da? Was ist das für eine Aludecke?«, fragte Cat.

»Diese Kameras sind digital«, sagte Theroux. »Schätze, er kann auf dem Tablet die Livebilder sehen, die von den Objektiven eingefangen werden, und weil die Sonne so intensiv ist, ziehen sie ihm den Sack über, damit es um ihn herum dunkel ist und er etwas auf dem Gerät erkennen kann.«

»Ah, das klingt logisch. Sieht aber ziemlich komisch aus.«

»Was für ein Aufwand«, sagte Theroux. »Wenn man diesen ganzen Irrsinn sieht, dann wird einem klar, warum so ein Film zig Millionen Euro kostet. So viele Leute und so viel Technik.«