Vernunft und Dogma - Leo N. Tolstoi - E-Book

Vernunft und Dogma E-Book

Leo N. Tolstoi

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Beschreibung

In den Jahren 1879-1884 arbeitete Leo N. Tolstoi an seiner "Untersuchung der dogmatischen Theologie". 1891 veröffentlichte L. Albert Hauff unter dem Titel "Vernunft und Dogma" eine Übersetzung des ersten Teils des Werkes. Die vorliegende Neuedition dieser Ausgabe für eine deutschsprachige Leserschaft enthält im Anhang außerdem die Legende von den "drei Greisen" (1886), eine Darstellung von Pavel Birjukov zum theologiekritischen Selbststudium Tolstois (1909) sowie einen Text von Eugen Drewermann ("Das 'Unaussprechliche' als Gegenstand reiner Wortmagie", 1993). Eine Zeitlang versucht Tolstoi, im Raum der Kirche jene Glaubensspur weiterzuverfolgen, die einen Ausweg angesichts seiner Verzweiflung an der "Sinnlosigkeit" des eigenen Lebens eröffnet. Bei der Lektüre eines weit verbreiteten Dogmenhandbuches des Moskauer Metropoliten Makaraji tritt große Ernüchterung ein: "Man denkt unwillkürlich, dass die einfachste, klarste Schlussfolgerung aus allen hervorgegangenen Streitigkeiten nur die eine sei, man solle keine Dummheiten reden, man solle vor allem nicht lehren, was niemand begreifen kann und, was noch wichtiger ist, man solle nicht darauf hin die hauptsächlichsten Grundlagen des Glaubens, die Liebe und die Nachsicht für den Nächsten, erschüttern." Bedeutsam sind für den russischen Dichter nicht abstrakte Dispute, sondern der Schrei nach Erlösung und der Glaubenssinn der einfachen Christenmenschen: "Fragt einen Bauern, ein Weib, was die Dreifaltigkeit sei, so wird von zehn kaum einer antworten, und man kann nicht sagen, dass das von Unwissenheit herrühre. Fragt man aber, worin die Lehre Christi besteht, so antwortet jeder. Das Dogma der Dreifaltigkeit ist nicht kompliziert und nicht lang, warum also kennt es niemand? Deshalb, weil man nicht kennen kann, was keinen Sinn hat." -"Von hundert Frauen und Männern aus dem Volke verstehen nicht mehr als drei die Personen der Dreieinigkeit herzuzählen und nicht mehr als dreißig können sagen, was die Dreieinigkeit sei, verstehen aber nicht die Personen aufzuzählen und schließen Nikolai den Wundertäter und die Mutter Gottes mit ein. Der ganze Rest weiß nichts von der Dreieinigkeit." Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe A, Band 2 (Signatur TFb_A002) Herausgegeben von Peter Bürger Editionsmitarbeit: Gottfried Orth

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Inhalt

Vorwort der Herausgebers

Leo N. Tolstoi

V

ERNUNFT UND

D

OGMA

Eine Kritik der Glaubenslehre

(

Issledovanie dogmatičeskogo bogoslovija, 1879-1884 – Erster Teil dieser Schrift)

Mit Genehmigung des Verfassers aus dem Russischen übersetzt von L. Albert Hauff

(

1891)

_____

Anhang

D

REI

G

REISE

(

Три старца | Tri starza, 1886)

Von Leo N. Tolstoi

K

RITISCHE

A

RBEIT

Ein Kapitel aus dem dokumentarischen Werk „Tolstois Biographie und Memoiren“, 1909

Von Pavel Birjukov

Statt eines Nachwortes

D

AS

„U

NAUSSPRECHLICHE

ALS

G

EGENSTAND REINER

W

ORTMAGIE

Aus dem Werk „Glauben in Freiheit“, 1993

Von Eugen Drewermann

Kommentiertes Verzeichnis zu Editionen von Tolstois Kritik der dogmatischen Theologie

Ausgewählte Literatur zu Tolstois religiösen Schriften

LEO N. TOLSTOI (1828-1910)

Fotograf: Konstantin Shapiro, 1839-1900 (commons.wikimedia.org)

VORWORT DES HERAUSGEBERS

Beim Studium des Dogmenhandbuches „denkt man unwillkürlich, dass die einfachste, klarste Schlussfolgerung aus allen hervorgegangenen Streitigkeiten nur die eine sei, man solle keine Dummheiten reden, man solle vor allem nicht lehren, was niemand begreifen kann und, was noch wichtiger ist, man solle nicht darauf hin die hauptsächlichsten Grundlagen des Glaubens, die Liebe und die Nachsicht für den Nächsten, erschüttern.“

LEO N. TOLSTOI (→ S. →)

Das bürgerlich geprägte Kirchentum, welches sich gegenwärtig in einem rasanten Tempo pulverisiert, besteht weithin aus ‚theologiefreien Zonen‘. Hier zeigt man sich inzwischen nicht mehr bekümmert über einen Weltkatechismus, in welchen die Buchhalter der obersten Kirchenbehörde sogenannte Glaubensbesitztümer förmlich abgeheftet haben. Über vielerlei wird im kirchlichen Medienzirkus unserer Tage debattiert, aber nicht über die so naheliegende Frage, ob denn die Messe in ihrer Tag für Tag weitergeschleppten Form des Hofzeremoniells die brennenden Fragen des dritten Jahrtausends – die Menschwerdung des Menschen und die Freilegung einer wirklich auf das Ganze schauenden ‚Katholizität‘ – überhaupt (noch) zum Ausdruck bringen kann. Selbst den Zelebranten scheinen die mirakulösen Hochgebete aus einer ‚anderen Welt‘ nichts mehr zu sagen.1 Schon hört man aus dem Innenraum des Tempels die Bitte, die überkommenen religiösen Obliegenheiten doch zumindest noch als Kulturgut zu bewahren – zum Nutzen von ‚Heimat‘, Gesellschaft und Staatswesen. Dass ein Bischof in überzeugender Weise vorträgt, die heillose Menschenwelt brauche die Wegweisung aus Nazareth so dringlich wie ein Verdurstender das Wasser, hat man aber schon lange nicht mehr vernommen.

Gleichgültigkeit und gedankenlose Routine gab es zu allen Zeiten bei den versorgten Dienern des Tempelwesens. Zugeben müssen wir allerdings, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch leidenschaftlich gerungen wurde um eine ‚gute Theologie‘ – nicht selten gar unter Teilnahme eines breiten Publikums. Es standen Fragen auf der Tagesordnung, wie sie – nur ein Jahrzehnt nach dem Ersten Vatikanum – auch der Russe LEO N. TOLSTOI (1828-1910) in seinen theologiekritischen Schriften aufgeworfen hat. Die Religion war diesem Anhänger der ‚Lehre Christi‘ das Wichtigste im Leben – eine Frage auf Leben und Tod. Kummer ob der Unbekümmertheit von amtlichen Sachwaltern der als heilig geltenden Überlieferungen trieb ihn zum theologischen Selbststudium. Die hierbei entstandenen Arbeiten wurden im Anschluss an seine „Beichte“ (Band 1 unserer Reihe) auch veröffentlicht. In Russland selbst durften die theologie- und kirchenkritischen Werke freilich viele Jahre nicht erscheinen. ‚Rechtgläubigkeit‘ war Staatssache.

Mitnichten stand am Anfang der Vorsatz, eine Attacke gegen alles Kirchliche ins Werk zu setzen: „Ich setzte noch nicht voraus, dass die Lehre falsch sei, ich bekämpfte den Gedanken daran …“ (→S. →). Bei den Bauern hatte der begüterte und schon weltberühmte Dichter den Glauben als jene Kraft wahrgenommen, welche die Menschen leben und lieben lässt. Er wollte zu diesen liebenden ‚Lebenskünstlern‘ gehören und reihte sich ein in das volkskirchliche Gefüge. Unverständliche Riten und Dogmen erschienen TOLSTOI zwar nicht als notwendig, um glauben zu lernen, sie galten ihm aber auch noch nicht als etwas Schädliches. Wider allen Vorsatz wurde zunächst ein Sakramenten-Empfang zum traumatischen Erlebnis. Vielleicht galt das Erschrecken der – nunmehr ins Bewusstsein gelangten – Versuchung, sich einer Religionsgestalt (bzw. Priesterkaste) zu unterwerfen, die die Angst der Sinnlosigkeit nur betäubt (statt zu Gott hinzuführen). Wohl bedeutend traumatischer noch war die Erkenntnis, dass die kirchlichen Autoritäten das Totmachen von Menschen – sofern sie als Feindes des Staates oder des eigenen Vaterlandes identifiziert waren – mit ihrem Segen rechtfertigen. Jetzt ging es in der Tat nicht mehr nur darum, ‚Unverständliches‘ besser zu verstehen. TOLSTOI musste in Erfahrung bringen, auf welcher Doktrin ein Kriegskirchentum fußt, das die ‚Lehre Christi‘ offenkundig beliebig bis hin zu einer Lehrverkündigung des Mordens umzubiegen versteht, andererseits aber im Namen der ‚Glaubenstreue‘ – im Einzelfall gar wegen eines einzigen Buchstaben – hohe Mauern zwischen den Menschen aufstellt statt sie gemäß dem Wesen jeder wahren Religion über alle Schranken hinweg zu vereinigen.

Nicht zuletzt stellt sich bezogen auf den von Theologen erfundenen ‚Gott‘ die Frage: „Auf welche Art ist der Widerspruch zu lösen zwischen der Güte und der Gerechtigkeit? Wie kann der gütige Gott für die Sünden mit ewigem Feuer strafen? […] Wie kann hier von Besserung und Liebe die Rede sein, wenn man für zeitliche Sünden ewig im Feuer bratet?“ (→S. →)

LEO N. TOLSTOI studierte von 1879 bis 1884 „wie ein guter Seminarist“ (→S. →; vgl. →S. →-→) vor allem die damals am meisten verbreitete „Orthodoxe dogmatische Theologie“ des Moskauer Metropoliten MAKARIJ I. (MICHAIL PETROWITSCH BULGAKOV, 1816-1882), erschienen 1847 bis 1853 in insgesamt sechs Bänden als ein Standardwerk für das Studium angehender Geistlicher. Zu diesem Zeitpunkt waltete allerdings schon die Kümmernis: Da „verlor ich diesen wichtigen Stützpunkt, den mir die Kirche geboten hatte, als Trägerin der Wahrheit, als Quelle jener Erkenntnis vom Sinne des Lebens, welchen ich im Glauben gesucht hatte.“ (→S. →)

Ein erster Teil von TOLSTOIS „Untersuchung der dogmatischen Theologie“ (Issledovanie dogmatičeskogo bogoslovija, 18791884) erschien 1891 – mit mangelhaftem russischen Text – zunächst in Genf, der zweite Teil erst ein halbes Jahrzehnt später ebenfalls in der Schweiz. 1903 veranstaltete WLADIMIR GRIGORJE- WITSCH TSCHERTKOW2 in England eine Gesamtedition der Untersuchung im Rahmen der „Werkausgabe der in Russland verbotenen Schriften Tolstois“. Erst drei Jahre vor dem Tod des Verfassers konnte auch in Russland eine ungekürzte Fassung veröffentlicht werden. – Im vorliegenden Band edieren wir erneut die Übersetzung der defizitären Ausgabe von 1891 durch L. ALBERT HAUFF (1838-1904), die 1891 – also sehr zeitnah – im Berliner Verlag von Otto Janke erschienen ist.3 Der Satz dieser Ausgabe irritiert, denn es werden einzelnen Zwischenüberschriften aus der behandelten Dogmatik des Metropoliten MAKARIJ I. hervorgehoben, während vier Ziffern zu Kapitelanfängen von TOLSTOIS Studie einfach fehlen. Anhand der zuerst 1904 veröffentlichten Gesamtübersetzung von CARL RITTER4 für eine deutschsprachige Leserschaft haben wir die Kapitelgliederung wieder hergestellt; die Eingriffe sind durch eckige Klammern kenntlich gemacht.

Keineswegs nebensächlich oder nur auf das exemplarisch herangezogene Lehrhandbuch anzuwenden sind die Beobachtungen TOLSTOIS zur Vorgehensweise (‚Methodik‘) der dogmatischen Literaturproduktion: „Es war unmöglich, die ausgesprochenen Gedanken zu untersuchen und zu beurteilen, weil nicht ein einziger klar ausgedrückter Gedanke darin zu finden war. Kaum wollte man einen Gedanken erfassen, um ihn zu überlegen, so entschwand er wieder, deshalb, weil er mit absichtlicher Unklarheit ausgedrückt war …“ (→S. →). „Immer wieder haben Worte nicht jene Bedeutung, die sie gewöhnlich in der Sprache haben, sondern irgend einen besonderen Sinn, dessen Bestimmung aber nicht gegeben war.“ (→S. →) „Die Kunstgriffe der Darlegung sind …: Unklarheit der Ausdrücke, Widersprüche, eine durch nichtssagende Worte verhüllte Erniedrigung des Gegenstandes und Herabführung desselben auf das niedrigste Gebiet, Vernachlässigung der Forderungen des Verstandes und immer wieder das beständige Streben, durch einen Wortschwall die verschiedenartigsten Ansichten von Gott, von Abraham bis zu den Kirchenvätern zu verbinden und allein auf diese Überlieferung alle Beweise zu gründen.“ (→S. →) Die Wiedergabe der tradierten Formeln wird in der ‚Anwendung‘ eines Dogmas durch beliebige Assoziationsketten und willkürliche Anreicherungen aus unterschiedlichsten Segmenten der Überlieferung ergänzt. Ohne Zweifel betrachtet TOLSTOI viele Seiten der Dogmatik als bloßes Erzeugnis klerikaler Geschwätzigkeit – ohne Sinn und Verstand.

Dem Anspruch nach soll selbstverständlich alles glasklar, widerspruchsfrei und unwiderleglich dargelegt werden. Genau besehen läuft die Methodik jedoch unausgesprochen – auf Schritt und Tritt – auf das Grunddogma von einer unfehlbaren Hierarchie hinaus, die überall die letztbegründende Instanz der Lehre darstellt und deren Wahrheitsspruch man nie hinterfragen darf. Mit anderen Worten: ‚Die Partei, die Partei hat immer recht.‘

Diese Verwaltung des ‚Glaubens-Depots‘ ist ein Gipfel von Machtausübung. Die Hierarchie ist außerdem symbiotisch mit den ‚weltlichen Mächtigen‘ verbandelt. Sie sorgt nicht zuletzt dafür, dass auch die ewige Lehre von einer gottgewollten Staats- und Strafmacht in der Dogmatik einen prominenten Platz erhält: „Das Wohlergehen der Reiche gewährt uns Ruhe … denn Gott hat die Obrigkeit zum allgemeinen Wohl eingesetzt. […] Vernichtest Du das Gericht, so vernichtest Du auch jede Ordnung in unserem Leben. […] Indem der Allerhöchste die irdischen Reiche regiert, setzt Er selber über sie Könige und verleiht den von ihm Erwählten durch die geheimnisvolle Salbung Kraft und Gewalt […], wenn du dich der Obrigkeit widersetzest, so widersetzest du dich dem göttlichen Willen“ (→S. →-→).

Die Glaubensbesitzer, die von Jesu Seligpreisung über unsere menschliche Bedürftigkeit offenbar nie etwas vernommen haben, müssen das Allerhöchste schließlich zu einer statischen, toten Angelegenheit machen: „Gott ist ein unwandelbares, allwissendes, allweises Wesen. Als unwandelbar kann Er, nachdem Er die vernünftigen Geschöpfe mit seiner Freiheit begabt hat, jetzt nicht seine Bestimmung wieder ändern …“ (→S. →)5.

Die inspizierte Dogmatik erschien Tolstoi nicht nur als ein Spott auf die Religion, sondern der Sache nach als ein gottloses Unternehmen. Die Beweise und Festschreibungen zerstören geradewegs den Glauben: „Gott und die Seele erkenne ich ganz ebenso, wie ich die Unendlichkeit erkenne, nicht vermittelst der Definition, sondern auf einem ganz anderen Wege. Die Definition aber zerstört in mir diese Erkenntnis. […] Dasselbe ist der Fall, wenn man von meiner Seele und ihren Eigenschaften spricht: Ich begreife nichts mehr und glaube nicht mehr an diese Seele.“ (→ 131-132)

Der TOLSTOI-Anhänger und Übersetzer EUGEN SCHMITT (18511916) wird 1901 bei Diederichs in Leipzig ein interessantes Buch über „Die Kulturbedingungen der christlichen Dogmen und unsere Zeit“ veröffentlichen. Darin werden am Rande auch Grenzen von TOLSTOIS Verständnis der Dogmengeschichte angesprochen.

Was sind überhaupt Dogmen? Da gibt es zunächst ‚Urbilder‘ der religiösen Überlieferungen wie die jungfräuliche Geburt eines anderen, neuen Lebens oder den Verlust des Paradieses6, die wir heute im Lichte von Religionsgeschichte und tiefenpsychologischen Zugängen (EUGEN DREWERMANN) besser würdigen können als TOLSTOI, der sie in seiner Religion unter dem Vorzeichen einer „Vernunft“, die zur Liebe befreit, nahezu ignoriert. Der russische Vorreiter von ‚Entmythologisierung des Christentums‘ kritisiert aber versiert die Konstrukte jener Dogmatik, welche ‚Urbilder‘ der Religion in kalten Begriffen dingfest machen will und solchermaßen zielgerichtet zerstört. – Allenfalls nur noch rudimentär oder gar nicht mehr wirkt ‚Urbildliches‘ im Hintergrund jener Proklamationen der staatskirchlich veranstalteten frühen Konzilien, die in sakrosankten abstrakten Formeln das ‚Wesen Gottes‘ festschreiben sollen (Zweinaturenlehre, Dreifaltigkeit) und den Jüngern Jesu am See Genezareth mit einiger Sicherheit rein gar nichts gesagt hätten. Auf diese unantastbaren Definitionen, die die rechtgläubigen Schultheologen selbst wie alles andere als etwas Unerklärliches darbieten7, konzentriert sich in erster Linie TOLSTOIS Untersuchung.

Alles läge daran, hinsichtlich der dogmatischen „Formeln“ allererst zu fragen, von welchem menschlichen oder göttlichen „Wesen“ denn jeweils überhaupt die Rede ist. Werden Gott und Mensch als Konkurrenten eingeführt (Machtfrage) oder unter dem biblischen Vorzeichen einer möglichen Entsprechung (Lebensfrage)? L. N. TOLSTOI zeigt diesbezüglich durchaus das nötige Problembewusstsein: „Gott ist also unendlich, unbegrenzt, frei und das wird durch Zitate bewiesen, und, wie immer, zeigen eben die Zitate, dass diejenigen, welche diese Worte geschrieben und gesprochen haben, Gott nicht begriffen haben, sondern … von irgend einem heidnischen, starken Gott sprechen, aber nicht von dem Gott, an welchen wir glauben.“ (→S. →)

Aus der dogmengeschichtlichen Entwicklung weiß TOLSTOI, dass z. B. das Wort „Hypostase“ je nach Autor bzw. Schule einmal für das „eine Wesen Gottes“, dann aber im Plural auch für die unterschiedenen „drei göttlichen Personen“ verwandt werden konnte.8 Man hat sich schließlich auf eins von beiden – das letzte – geeinigt. Das mindert nicht den Ansatz der Kritik. Alles muss begrifflich stets so weit getrieben bzw. zurecht gemacht werden, bis es irgendwie passt. Was für eine Form von ‚Offenbarung‘ soll das sein?

Wer, wie der Herausgeber dieses Bandes, daran festhält, dass das ‚Symbolon‘ von der göttlichen Dreifaltigkeit – trotz seiner staatskirchlichen Genese – unter bestimmten Voraussetzungen wirklich als ein Juwel des theologischen Nachsinnens in der Christenheit vermittelt werden könnte, ist versucht, an dieser Stelle lange Ausführungen zur eigenen Anschauung einzufügen. Doch all die klugen Belehrungen, die LEO N. TOLSTOI postum seitens der Apologeten bis heute über sich ergehen lassen muss, führen an der Sache vorbei. TOLSTOI trifft in seiner Studie keine Aussage darüber, ob irgendwann und irgendwo eine überzeugende Theologie der „Trinität“ überhaupt möglich sei. Er bezieht sich auf konkrete, durchaus zentrale Zeugnisse des Kirchentums seiner Zeit. Seine Kritik ist im wesentlichen ‚nachgeholt‘ worden von einem beträchtlichen Teil der systematischen Theologie, auch wenn man etwa in Rom die oberste Theologenpolizei noch im dritten Jahrtausend von einem intellektuell denkbar anspruchslosen (Defacto-)Fundamentalisten aus Deutschland leiten ließ. Wer den berühmten westlichen Kirchenvätern des 20. Jahrhunderts – KARL BARTH und KARL RAHNER – folgt, wird wie TOLSTOI sagen müssen, dass eine Rede von „drei göttlichen Personen“ nach alter Väter Sitte einfach nicht zur retten ist. – Daran ändert sich auch nichts, wenn die „drei Personen“ nunmehr etwa „subsistierende Relationen“9 (‚Beziehungen‘ als unterscheidbare ‚Unter-Seinsweisen‘) sein sollen …

Gegen den Kult der Begriffsfetische, welcher den amtlichen Verkündern selbst gar kein existentieller Ernstfall ist, macht TOLSTOI mit großem Nachdruck den allgemeinen Glaubenssinn der Christenmenschen geltend: „Fragt einen Bauern, ein Weib, was die Dreifaltigkeit sei, so wird von zehn kaum einer antworten, und man kann nicht sagen, dass das von Unwissenheit herrühre. Fragt man aber, worin die Lehre Christi besteht, so antwortet jeder. Das Dogma der Dreifaltigkeit ist nicht kompliziert und nicht lang, warum also kennt es niemand? Deshalb, weil man nicht kennen kann, was keinen Sinn hat.“ (→S. →) „Von hundert Frauen und Männern aus dem Volke verstehen nicht mehr als drei die Personen der Dreieinigkeit herzuzählen und nicht mehr als dreißig können sagen, was die Dreieinigkeit sei, verstehen aber nicht die Personen aufzuzählen und schließen Nikolai den Wundertäter und die Mutter Gottes mit ein. Der ganze Rest weiß nichts von der Dreieinigkeit.“ (→S. →-→)

Heute ist es nicht mehr so leicht möglich, TOLSTOI nach Art eines FEDOR STEPUN (1884-1965) als sozialrevolutionär ambitionierten ‚Jesuaner‘ auszugrenzen, der den Heiland bloß noch als einen „jüdischen Sokrates“ gewürdigt und zentrale Inhalte des Christentums verneint habe. Zunächst überzeugt eine Exkommunikation von ‚Jesuanern‘, denen man kurzerhand das ‚Christsein‘ absprechen will, heute auch im Innenraum der Kirchen die meisten Gläubigen nicht mehr. Wenn man sich aber schon auf die theologische Tradition beziehen will, kann man kaum übersehen, wieviel „Christologie“ in TOLSTOIS Schriften anzutreffen ist. Als ‚Jesuaner‘ wäre der Russe hier kaum angemessen anzusprechen.

Die Paragraphen der Lehrliteratur führten LEO N. TOLSTOI vor Augen, dass die sich selbst lehrende Kirche nicht etwa ein ‚Sakrament für die Einigung der menschlichen Familie‘ ist, sondern vielmehr ein Instrument zur Spaltung der Menschen: „Wie immer, wird durch irgend eine häretische Lehre erklärt, was anders von keinem vernünftigen Menschen begriffen werden kann.“ (→S. →) „Das Dogma aber ist nur ein Produkt des Streits. Deshalb muss man darstellen, was bestritten wurde, nur um zu sagen, worin die Lehre der Kirche bestehe. […] Dieser Streit ist auch nicht interessant und hat nichts gemein mit den Fragen des Glaubens, mit der Frage: ,Welchen Sinn hat mein Leben?‘“

TOLSTOI begann seine Untersuchungen der dogmatischen Theologie nicht aus einer neutralen – akademischen – Haltung heraus. Dies kommt auch zum Ausdruck durch folgendes Gebet in seiner Schrift (→S. →-→):

„Gott, Du unbegreiflicher, aber wahrhaft bestehender Gott, nach dessen Willen ich lebe! Du selbst hast dieses Streben in mich gelegt, Dich und mich selbst zu erkennen. Ich irrte, ich habe nicht dort die Wahrheit gesucht, wo ich sie hätte suchen sollen, ich wusste, dass ich mich verirrte. Ich gab meinen schlechten Leidenschaften nach und wusste, dass sie schlecht waren. Aber niemals habe ich Dich vergessen. Ich fühlte Dich immer, auch in den Augenblicken meiner Verirrungen. Fast wäre ich untergegangen, da ich Dich verloren hatte, aber Du reichtest mir die Hand, ich ergriff sie und das Leben erhellte sich für mich. Du hast mich gerettet, und ich suche jetzt nur eins: Dir näher zu kommen, Dich zu begreifen, soweit dies für mich möglich ist. Hilf mir, lehre mich. Ich weiß, dass ich gut bin, dass ich alle liebe oder lieben will, dass ich die Wahrheit lieben will. Du bist der Gott der Liebe und der Wahrheit, ziehe mich zu Dir, offenbare mir alles über Dich und mich, was ich begreifen kann.“

Glaubensspuren hatten TOLSTOI einen Ausweg aus Sinnlosigkeit und Verzweiflung eröffnet. Doch dann wurde ihm, der am Abgrund des seelischen Hungertodes gestanden hatte, im Kirchenraum nur eine imaginäre Speise vorgelegt, die – auch wenn sie mehr wäre als reine Fiktion oder Konstruktion – niemanden ernähren kann. Sollte es wirklich der „gütige Gott“ sein, der dem Verzweifelten, der nach Erlösung aus der Sinnlosigkeit schreit, durch den „Mund der Kirche“ antwortet: ,,Die Gottheit ist einig und dreifaltig. O herrliche Vorstellung!“ (→S. →)?

pb

Textquelle der dargebotenen Übersetzung | Graf Leo N. TOLSTOI: Vernunft und Dogma. Eine Kritik der Glaubenslehre. Mit Genehmigung des Verfassers aus dem Russischen übersetzt von L. A[lbert]. Hauff. Berlin: Verlag von Otto Janke 1891. [164 Seiten; enthält nur den ersten Teil von Tolstois Werk.]

1 TOLSTOI meint mit Blick auf Kirchendiener, die behaupten, sie glaubten alles Unerklärliche in dem von ihnen verkündeten amtlichen Dogma: „Aber das ist nicht wahr, sie glauben nicht und niemals hat Jemand daran geglaubt. Es ist eine erstaunliche Erscheinung.“ (→S. →)

2 Andere Schreibweise: Čertkov.

3 LEO N. TOLSTOI: Vernunft und Dogma. Eine Kritik der Glaubenslehre. Mit Genehmigung des Verfassers aus dem Russischen übersetzt von L. A[lbert]. Hauff. Berlin: Verlag von Otto Janke 1891.

4 LEO N. TOLSTOJ: Kritik der dogmatischen Theologie. Erster und Zweiter Band. Übersetzt von Carl Ritter. (= Leo N. Tolstoj. Gesammelte Werke. II. Serie, Band 1/2. Von dem Verfasser genehmigte Ausgabe von Raphael Löwenfeld). Leipzig: Eugen Diederichs Verlag 1904. – Eine Neuedition dieser Gesamtausgabe wird derzeit ebenfalls für unsere Tolstoi-Friedensbibliothek vorbereitet.

5 TOLSTOI kommentiert: „Und wenn in der Definition der göttlichen Eigenschaften hinzugefügt wird, dass Er seine Bestimmungen nicht ändere, so ist diese unrichtige Definition augenscheinlich nur deshalb gemacht worden, um sich später darauf zu stützen.“ (→S. 157)

6 Den Ausführungen TOLSTOIS zur Paradieserzählung (Genesis 2,4b-3,24) wird man nach Lektüre von EUGEN DREWERMANNS Werk „Strukturen des Bösen“ (1977– 1978) nur unbedingt Beifall spenden können (→S. →-→). Der Dichter erkennt jedoch klar, dass der Text eine subversive Erzählschicht in sich birgt, die der äußeren Lehrdeutung geradewegs widerspricht. Die wirklich erschütternde theologische Tiefe dieser biblischen, die Archetypen neu ausgestaltenden Urerzählung wird vom rechtgläubigen Dogmatiker und von TOLSTOI gleichermaßen (trotz der gegensätzlichen Standorte) nicht wahrgenommen.

7 TOLSTOI zitiert aus der Dogmatik des Metropoliten MAKARIJ I: „Nicht wenig Unbegreifliches werden wir auch in der Folge sehen bei der Erklärung der Dogmen von der Menschwerdung und der Person unseres Erlösers, von seinem Kreuzestod, von der ewigen Jungfräulichkeit der Mutter· Gottes, von der Wirkung der Gnade auf uns und Ähnlichem. Aber das Geheimnis der christlichen Geheimnisse ist unstreitig das Dogma von der allerheiligsten Dreieinigkeit. Wie in dem einigen Gott drei Personen sind, wie auch der Vater Gott und der Sohn Gott und der heilige Geist Gott ist und dennoch nicht drei Götter sind, sondern ein einiger Gott, – das übersteigt vollkommen jedes Verständnis!“ (→S. →)

8 „Das Christentum gibt uns einen anderen Begriff von dem Wesen, einen anderen von den göttlichen Personen. Aber das ist es ja eben, was ich suche, jenen ,anderen‘ Begriff von den Personen und dem Wesen, und den habe ich nirgends gefunden. Und nicht nur habe ich ihn nicht gefunden, er kann auch nicht existieren, da die Worte οὐσία und ὑπόστασις bald Verschiedenes, bald dasselbe bedeuten und willkürlich angewendet werden.“ (→S. →)

9 Diese Fährte mag weiterhelfen, der Begriff „Person“ jedoch gewiss nicht mehr. Wann wird man es endlich eingestehen?

VORBEMERKUNG DES ÜBERSETZERS

Das vorliegende Werk schließt sich an die kürzlich erschienene bemerkenswerthe Schrift Tolstoi’s „Meine Beichte“ an. Der Verfasser lehnt sich hier noch entschiedener, als in der „Beichte“ gegen den Zwang auf, welchen die Glaubenssatzungen ihm auferlegen, hält sich aber nicht mehr in der Defensive gegen diesen Zwang, sondern geht aggressiv vor, indem er die Satzungen der griechischorthodoxen Konfession, – officiell die ,,rechtgläubige Kirche“ genannt, – einer strengen Prüfung unterwirft.

Tolstoi studirte die rechtgläubige dogmatische Theologie, wie er selbst sagt, ,,wie ein Seminarist“ und theilt hier die Ergebnisse seiner Kritik mit. Das vorliegende Werk ist also für uns schon dadurch von ganz besonderem Interesse, daß es einen Einblick in das Lehrgebäude der rechtgläubigen Theologie bietet.

Um diesen Einblick ganz ohne Störung zu vermitteln, hielt es der Uebersetzer für geboten, mehr auf genaue Wiedergabe nicht nur des Wortlauts, sondern auch aller von Tolstoi gewollten Abtönungen des Ausdrucks zu halten, als auf stylistische Vollkommenheit. Dies mag zur Entschuldigung für etwaige Härten in der Übersetzung dienen. Ebenso wurden auch die zahlreichen Bibelstellen nicht nach der Luther-Bibel angeführt, sondern nach dem altslavischen Text der russischen Bibel, wie ihn Tolstoi citirt, so wortgetreu als möglich übersetzt, in der Voraussetzung, daß eine Vergleichung der citirten Bibelstellen in beiden Übersetzungen für manche Leser von einigem Interesse sein wird.

L. A[lbert]. H[auff].

[1891]

Leo N. Tolstoi

Vernunft und Dogma

Eine Kritik der Glaubenslehre

Issledovanie dogmatičeskogo bogoslovija(1879-1884)

EINLEITUNG

Durch zwingende Gründe bin ich zur Untersuchung der Glaubenslehre der rechtgläubigen Kirche veranlaßt worden. In der Vereinigung mit der rechtgläubigen Kirche hatte ich Rettung vor Verzweiflung gefunden. Ich war fest überzeugt, daß in dieser Lehre allein die Wahrheit liege. Aber viele, sehr viele Erscheinungen und Äußerungen dieser Lehre, welche meinen Grundbegriffen von Gott und seinem Gesetz widersprachen, führten mich darauf hin, mich der Erforschung dieser Lehre selbst zuzuwenden.

Ich setzte noch nicht voraus, daß die Lehre falsch sei, ich bekämpfte den Gedanken daran, weil ein einziger Irrtum in dieser Lehre das ganze Lehrgebäude zerstören mußte. Und damals verlor ich diesen wichtigen Stützpunkt, den mir die Kirche geboten hatte, als Trägerin der Wahrheit, als Quelle jener Erkenntnis vom Sinne des Lebens, welchen ich im Glauben gesucht hatte. Und ich begann, die Bücher zu studieren, welche die rechtgläubige Glaubenslehre darlegten. In allen diesen Werken fand ich, ungeachtet ihrer Verschiedenheit in Einzelheiten und einigen Unterschieden in den Schlußfolgerungen, eine und dieselbe Lehre, einen und denselben Zusammenhang zwischen den Theilen, eine und dieselbe Grundlage.

Ich las und studierte diese Bücher und werde in folgendem die Gefühle und Eindrücke schildern, welche ich durch dieses Studium empfangen habe. Wenn ich nicht durch das Leben zur unvermeidlichen Erkenntnis der Notwendigkeit des Glaubens hingeführt worden wäre, – wenn ich nicht gesehen hätte, daß dieser Glaube zur Grundlage des Lebens aller Menschen dient, – wenn nicht in meinem Herzen dieses durch das Leben erschütterte Gefühl sich von neuem befestigt hätte, – wenn die Grundlage meines Glaubens nur ein leichtgläubiges Vertrauen wäre, – wenn in mir nur derselbe Glaube lebte, von welchem die Theologie spricht (der Unterrichtete glaubt), – so wäre ich beim Durchlesen dieser Bücher nicht nur ein gottloser Mensch geworden, sondern auch der schlimmste Feind jedes Glaubens, weil ich in diesen Lehren nicht nur Sinnlosigkeit, sondern bewußten Lug und Trug der Menschen fand, welche den Glauben als Mittel zur Erreichung irgend welcher eigener Zwecke gewählt haben.

Das Studium dieser Bücher kostete mich entsetzliche Mühe, nicht nur wegen der Anstrengung, mit der ich den Zusammenhang zwischen den Aussprüchen zu finden suchte, denjenigen Zusammenhang, welchen darin die Verfasser dieser Bücher sahen, sondern auch wegen jenes inneren Kampfes, den ich beständig mit mir selbst zu führen hatte, um beim Lesen dieser Bücher meine Entrüstung zu zügeln.

Ich habe viel Papier verschrieben, indem ich begann, Wort für Wort zuerst das Glaubensbekenntnis zu analysieren, dann den Katechismus Philarets, dann die Epistel der orientalischen Patriarchen, dann die Einleitung in die Theologie, dann die dogmatische Theologie desselben Makari. Ein ernster, wissenschaftlicher Ton, wie der, in welchem diese Bücher, besonders die neueren, wie die Theologie Makaris, geschrieben sind, war beim Studium dieser Bücher unmöglich. Es war unmöglich, die ausgesprochenen Gedanken zu untersuchen und zu beurteilen, weil nicht ein einziger klar ausgedrückter Gedanke darin zu finden war. Kaum wollte man einen Gedanken erfassen, um ihn zu überlegen, so entschwand er wieder, deshalb, weil er mit absichtlicher Unklarheit ausgedrückt war, und unwillkürlich kehrte ich zur Analyse der einzelnen Ausdrücke dieses Gedankens zurück, wobei sich erwies, daß ein bestimmter Gedanke überhaupt nicht vorhanden war. Immer wieder haben Worte nicht jene Bedeutung, die sie gewöhnlich in der Sprache haben, sondern irgend einen besonderen Sinn, dessen Bestimmung aber nicht gegeben war. Wenn eine Bestimmung oder eine Erklärung eines Gedankens gegeben war, so war sie immer im umgekehrten Sinne gegeben. Zur Bestimmung oder Erklärung eines schwer verständlichen Wortes wurde immer wieder ein Wort oder Worte angewendet, welche gänzlich unverständlich waren. Lange zweifelte ich an mir selbst und erlaubte mir nicht, das zu verwerfen was ich nicht begreifen konnte, und mit allen Kräften der Seele und des Geistes bemühte ich mich, diese Lehre so zu verstehen, wie sie diejenigen verstanden, welche behaupteten, an sie zu glauben und verlangten, alle sollen auch glauben. Und das war um so schwerer für mich, je ausführlicher und pseudowissenschaftlicher die Lehre dargestellt war. Mit dem Studium des Glaubensbekenntnisses in altslavischer Sprache, in jener wörtlichen Übersetzung aus einem unklaren griechischen Text, konnte ich noch irgendwie meine Begriffe vom Glauben in Einklang bringen, aber beim Lesen des Sendschreibens der orientalischen Patriarchen, wo jene Dogmen schon ausführlicher ausgesprochen sind, konnte ich meine Glaubensbegriffe schon nicht mehr vereinigen und ich konnte fast nicht mehr begreifen, was unter den Worten zu verstehen war, die ich las. Mit dem Studium des Katechismus vermehrte sich meine Nichtübereinstimmung und Nichtverständniß noch mehr. Beim Lesen der theologischen Werke, zuerst von Damaskin und dann von Makari, erreichte die Nichtübereinstimmung und das Nichtbegreifen die höchste Stufe. Dafür aber begann ich jenes äußerliche Band, welches diese Worte vereinigte, zu begreifen, sowie jenen Gedankengang, der den·Verfasser leitete, und den Grund, warum es mir unmöglich war, ihm beizustimmen.

Lange mühte ich mich damit ab und endlich gelangte ich dahin, daß ich die Theologie studierte wie ein guter Seminarist, und indem ich dem Gedankengang, der den Verfasser leitete, folge, kann ich die Grundlage von allem erklären, sowie den Zusammenhang der einzelnen Dogmen unter sich und die Bedeutung jedes Dogmas in diesem Zusammenhang und, was das Wichtigste ist, ich kann auch erklären, warum gerade ein solcher und nicht ein anderer Zusammenhang gewählt wurde, obgleich er so seltsam erscheint. Und als ich dies erreicht hatte, entsetzte ich mich. Ich begriff, daß diese ganze Glaubenslehre eine mittelst der alleräußerlichsten, ungenauen Kennzeichen künstlich konstruierte Zusammenstellung von Glaubensäußerungen der verschiedenartigsten Menschen ist, welche nicht miteinander übereinstimmen und gegenseitig einander widersprechen.

Ich begriff, daß diese Zusammenstellung für niemand nützlich sein kann, daß niemals jemand an diese ganze Glaubenslehre glauben konnte, noch glaubte und daß daher die unmögliche Vereinigung dieser verschiedenartigen Glaubenslehren in eine einzige Verkündigung derselben als Wahrheit nur durch irgend einen äußerlichen ·Zweck veranlaßt worden sein konnte. Ich begriff auch diesen Zweck. Ich begriff auch, warum diese Lehre dort, wo sie gelehrt wird, – in den Seminaren, – in Wirklichkeit Gottlose hervorbringt· Ich begriff auch jenes seltsame Gefühl, das ich beim Lesen jener Bücher empfand.