Inhaltsverzeichnis
Buch
Titel
Drei Jahre zuvor
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Danksagung
Vorschau
Ein Gespräch mit Esther Verhoef und Berry Escober
Copyright
Buch
Angehörige einer international operierenden kriminellen Organisation werden mehrmals von einem Unbekannten überfallen. Die Vorgehensweise des Einzelgängers ist kalt, berechnend und hoch professionell. Er scheint genauestens über den Aufbau und die Abläufe innerhalb der Organisation Bescheid zu wissen, denn es ist ihm bereits gelungen, mehrere ihrer Mitglieder zu töten. Fieberhaft setzt die Vereinigung alles daran, den Mann zu finden und auszuschalten. Die Fotografin Susan Staal hingegen kämpft mit einem Problem privater Natur. Vor zwei Jahren hat sie in Ägypten den charismatischen Sil Maier kennengelernt, als er ihr in einer brenzligen Situation zur Seite sprang. Seither pflegt sie eine intensive E-Mail-Beziehung zu ihm und muss sich eingestehen, dass sie sich leidenschaftlich in ihn verliebt hat. So fährt sie eines Nachmittags zu Sil und offenbart ihm ihre Gefühle. Auch Sil fühlt sich stark zu ihr hingezogen, will jedoch seine Frau Alice nicht verlassen. Alice ihrerseits ist besessen von dem Ehrgeiz, Moderatorin bei der Fernsehproduktionsfirma Programs4you zu werden. Dafür ist sie bereit, alles zu tun, und nimmt auch eine heftige Auseinandersetzung mit Sil in Kauf. Der nämlich hat entschieden etwas gegen den vorgespiegelten Glanz und Pomp der glitzernden Fernsehwelt und warnt sie davor.
Eines Tages sieht Alice dann aber ihre große Chance gekommen, denn Paul, ihr Chef, bedeutet ihr, dass er sie für einen Moderatorenjob fest ins Auge gefasst hat. Doch die Dinge entwickeln sich ganz anders, als Alice erwartet. Als ein tragischer Unfall passiert, spitzen sich die Ereignisse zu. Und als Sil kurz darauf mit der Post eine Videoaufnahme seiner Frau zugesandt bekommt, zögert er nicht einen Moment und handelt …
The things we doto the people that we loveThe way we breakif there’s something we can’t takeDestroy the worldthat we took so long to make
Bush, The people that we love (Golden State)
Drei Jahre zuvor
Er hatte beim Schießtraining schon mal besser abgeschnitten, aber dennoch war Harry an jenem Abend recht zufrieden mit sich. Er winkte den Leuten an der Bar zu, die er als seine Freunde ansah, und trat hinaus in die Dunkelheit. Die Straße war verlassen. Er zog die Waffe aus dem Schulterholster. Eine Heckler & Koch Mark 23 SOCOM. Die Pistole glänzte matt im Licht der Straßenlaternen. Sie war voll geladen. Zwölf blanke.45 ACP Patronen warteten ordentlich in einer Reihe darauf, dass er den Abzug betätigte.
Aber er durfte nicht.
Nur wenn er und seine Freunde noch ein Weilchen allein zurückblieben, nachdem die Sportschützen bereits nach Hause gegangen waren, wurden die lästigen Regeln über Bord geworfen, und es ging so richtig zur Sache.
Vor einem Monat hatte er seine neue Waffe zum ersten Mal herumgezeigt. Die Erinnerung daran brachte ihn zum Lächeln.
Sie hatten sich um ihn geschart. Sich im Stillen gefragt, ob er wirklich der war, der er vorgab zu sein. Hatten ihn plötzlich mit anderen Augen gesehen. Kein Wunder, denn es war äußerst schwierig, an ein solch edles Stück wie diese HK heranzukommen.
Die Mark 23 war in den 1990er-Jahren für die Spezialeinheit des amerikanischen Militärs entwickelt worden, das United States Special Operations Command, kurz SOCOM. Produziert wurde sie in Deutschland, im Auftrag des Pentagons. Inzwischen war die Waffe schon seit geraumer Zeit bei den Navy Seals und den Rangers in Gebrauch – den richtig harten Jungs.
Und jetzt besaß auch Harry eine.
Er drehte die Waffe in der Hand hin und her, fuhr mit dem Daumen über die eingravierten Buchstaben und Ziffern auf dem Lauf. Er hätte sie im Schlaf aufsagen können. Er betrachtete das Gewinde an dem verlängerten Lauf, befühlte die Vertiefungen im Gehäuse. Man konnte alles Mögliche an der Pistole anbringen, Schalldämpfer, Taschenlampe, Infrarotlaser. Einen Schalldämpfer hatte er bereits aufgetrieben. Ein schweres Ding, siebenhundert Gramm, mit einer ziemlich unpraktischen Länge von vierundzwanzig Zentimetern. Mit Schalldämpfer besaß die Waffe eine Gesamtlänge von fast fünfzig Zentimetern und wog mit vollem Magazin über zwei Kilo. Da hatte man wenigstens etwas in der Hand. Kein Vergleich zu der Glock 17, für die er einen offiziellen Waffenschein besaß und die zu Hause in seinem Tresor verstaubte. Damit lief doch jeder Bauerntrampel herum.
Er steckte die HK zurück in sein Schulterholster und begann zu pfeifen. Obwohl es kalt war, ging er langsam. Heimlich hoffte er, dass ihn jemand belästigen würde. Dass einer von diesen Junkies versuchen würde, ihn auszurauben. Dann würde er in einer einzigen fließenden Bewegung seine HK ziehen – und dann würde er mal gerne das Gesicht des Typen sehen, der meinte, er könne ihm etwas anhaben! Tja, der hätte ihn wohl ganz schön unterschätzt. Wie ihn so viele unterschätzten. Zu Hause und bei der Arbeit.
Dass er nicht gerade markig aussah, wusste er selbst. Mit gut hundert Kilo bei knapp einem Meter siebzig und einer beginnenden Glatze liefen einem weder die Frauen in Scharen hinterher noch wichen andere Männer respektvoll vor einem zurück. Konnte man aber im rechten Moment eine Waffe ziehen, sah die Sache schon anders aus. Dann war man wer, dann wurde man respektiert. Allein die Vorstellung war erhebend. Er blickte sich um, doch weit und breit war kein Angreifer in Sicht. Schade.
Er suchte in seiner Jackentasche nach einem Marsriegel, den er auf dem Hinweg in einer Imbissbude gekauft hatte. Er zögerte einen Moment. Seine Frau meinte, er solle Diät halten. Das hatte er sich auch fest vorgenommen. Aber damit konnte er ein andermal anfangen. Er riss die Verpackung auf, warf das Papier achtlos auf die Straße und schob sich fast den ganzen Riegel auf einmal in den Mund. So schmeckten sie ihm am besten.
Er hatte seinen Verfolger nicht kommen hören und so dauerte es einen Moment, bis er begriff, dass der plötzliche Druck auf seiner Kehle von einem Arm verursacht wurde. Der Arm gehörte zu einem Körper, der größer war als seiner. Und muskulöser. Der Druck war so stark, dass er schwarze Flecken sah. Er bekam kaum noch Luft. Bei dem Versuch, Atem zu schöpfen, fiel ihm der Schokoriegel aus dem Mund und hinterließ eine braune, glitschige Spur auf seiner hellblauen Jacke, bis er über die dickste Stelle seines Bauches hinwegrutschte und mit einem leisen Plumps vor ihm auf dem Bürgersteig landete.
Er spürte den Lauf einer Pistole am Hinterkopf. Der Druck auf seiner Kehle ließ nach. Dankbar sogen sich seine Lungen voll mit frischem Sauerstoff.
»Deine Waffe, wo hast du sie?«, fragte eine Männerstimme hinter ihm.
»In … in meinem Schulterholster.«
»Schalldämpfer?«
»Jackentasche. In meiner Jackentasche.«
»Munition?«
»Auch.«
Der Angreifer griff in Harrys Jackentasche und zog den Schalldämpfer heraus. Eine Sekunde später hatten zwei Schachteln Munition (ACPs) den Besitzer gewechselt. Dann sagte der Mann: »Zieh die Jacke aus. Nicht umdrehen! Eine falsche Bewegung und ich knalle dich ab!«
Der Mann nahm den Arm weg, und Harry musste husten. Anschließend zog er ganz langsam seine Jacke aus und ließ sie zu Boden fallen.
»Hände hinter den Kopf! Und immer schön langsam.«
Harry nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte und keine Dummheiten machen würde. Er faltete die Hände hinter dem Kopf. Prompt drückte der Angreifer ihm die Pistole in das weiche Rückenfett. Harry fühlte, wie sein Schulterholster abgeschnallt wurde, wagte aber nicht zu protestieren.
Der Pistolenlauf wurde zurückgezogen. Gleich darauf hörte Harry Schritte, die sich in schnellem Tempo entfernten.
Dennoch behielt er vorerst die Hände hinter dem Kopf. Seine Augen waren weit aufgerissen. Erst viele endlose Minuten später wagte er es, sich umzublicken.
Er war allein.
Er hob seine Jacke auf und sah, wie etwas herunterfiel. Es war ein etwa zwanzig Zentimeter langes Stück Metallrohr.
»Scheiße!«, rief er.
Aber niemand hörte ihn.
1
Susan betrat mit einer großen Tasse frisch aufgebrühtem Kaffee ihr Arbeitszimmer und setzte sich an den PC. Sie war froh, dass der Jetlag allmählich nachließ. Die bohrenden Kopfschmerzen von gestern waren einem leichten Schwindelgefühl gewichen. Sie konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, dutzende Zeitzonen in knapp vierundzwanzig Stunden zu überwinden. In dieser Hinsicht war ein Flug von Australien nach Europa so ziemlich das Übelste, was einem passieren konnte.
Gespannt klickte sie das Explorer-Icon an und loggte sich bei Hotmail ein. Musste gleich darauf ihre Enttäuschung hinunterschlucken. Ihre Mailbox war leer. Aber sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Vielleicht kam ja heute Abend noch eine E-Mail.
Ihr Blick wanderte über die Ordner auf dem Regalbrett über dem PC und blieb schließlich an der dritten Mappe von links hängen. Auf dem Rücken stand mit dicken Filzstiftbuchstaben Sagittarius, der Name von Sils Firma, der auch den ersten Teil seiner E-Mail-Adresse bildete. Die Mappe enthielt über hundert E-Mails, manche nur eine halbe DIN-A4-Seite lang, andere achtmal länger. Sie hatte sie ausgedruckt und sorgfältig geordnet. Speziell zu diesem Zweck den Ordner angelegt. Zugleich war sie sich bewusst gewesen, dass ihr Verhalten etwas Zwanghaftes hatte. Doch sie konnte sich einfach nicht dagegen wehren. In den vergangenen zwei Jahren hatte sie von einer Nachricht Sils zur anderen gelebt.
Zwei Jahre, in denen sie an fast nichts anderes hatte denken können.
Sie schaute hinaus. Kaum eine Wolke am Himmel; die Sonne tauchte die Stadt in ein gelblich orangefarbenes Licht. Mildes Herbstwetter in’s-Hertogenbosch. Sie ging ins Wohnzimmer und öffnete die Glasschiebetür, stellte zwei Klappstühle auf und setzte sich hin, den Kaffeebecher in den Händen.
Hier auf der Rückseite des jahrhundertealten Häuserblocks schien die Zeit stillzustehen. Zu dieser Stunde hörte man nur Vogelgezwitscher und dann und wann das gedämpfte Knattern eines Mopeds. Sobald sie jedoch die Tür im Hauseingang hinter sich zuzog, war diese stille Welt plötzlich weit entfernt und eine pulsierende Hektik empfing sie, wie sie so alten Stadtteilen wohl eigen war.
Die Türklingel schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Ein durchdringendes Summen. Sie hatte sich schon so oft vorgenommen, die Klingel auszutauschen, doch durch die vielen Reisen war sie nie dazu gekommen. Sie stand auf und öffnete die Tür. Renos dunkelblondes Haar hing ihm strähnig um das Gesicht. Er war klapperdürr und trug viel zu weite Kleidung, darunter gebrauchte Teile aus Armeebeständen, die aussahen, als seien sie zehn Jahre lang von einem schlampigen Anstreicher getragen worden. Sein kantiges Gesicht wurde von einer Narbe verunstaltet, die sich quer über den Wangenknochen zog. Sie stammte von einem Fall durch eine Glasscheibe. In dem halben Jahr, das sie in Australien verbracht hatte, hatte er sich kein bisschen verändert.
»Yo, San«, sagte er.
»Yo.«
»Ich wollte mich nur nochmal bei dir bedanken«, sagte er und überreichte ihr einen Strauß Astern, den er angesichts des hastig darumgewickelten Zeitungspapiers entweder gerade auf dem Markt gekauft oder irgendwo geklaut haben musste.
»Du brauchst dich nicht zu bedanken, ich war doch froh, dass jemand auf meine Wohnung aufgepasst hat. War noch irgendetwas?«
»Nein, nichts Wichtiges«, antwortete er. »Ich bin auch nicht sehr oft hier gewesen. Aber es war ganz angenehm, hin und wieder in einem sauberen Bett zu schlafen.«
Sie ging in die Küche, um die Astern kürzer zu schneiden und in eine Vase zu stellen. Reno inspizierte den Kühlschrank und nahm sich ein kaltes Dosenbier heraus, mit dem er sich auf die kleine Dachterrasse verzog.
»Wo wohnst du denn zurzeit?«, rief sie von der Küche aus.
»Bei Alex.«
Sie holte eine Dose Tonicwater aus dem Kühlschrank und setzte sich neben ihn.
»Alex?«
Sie hatte Alex nie gemocht. Warum, konnte sie nicht sagen.
»Alex ist schon in Ordnung«, sagte er. »Wie war’s denn so in Down Under?«
»Normal. Das Übliche. Arbeitsam.« Sie hatte keine Lust, über Australien zu reden. »Und wie klappt es mit Stonehenge?«
Er zuckte mit den Schultern und sagte: »Nächsten Monat spielen wir im 013. Wir wissen nur noch nicht genau, welche Stücke«, fügte er mit einem zynischen Unterton hinzu und trank einen Schluck von seinem Bier.
»Was soll das denn heißen?«
Er betrachtete nachdenklich die alte, efeubewachsene Stadtmauer, die die Sonnenstrahlen bis in die frühen Abendstunden von der Dachterrasse fernhielt.
»Alex will aus Stonehenge so was Ähnliches wie Rammstein machen.«
Sie runzelte die Stirn. Reno als Abklatsch des publikumsnahen, charismatischen Till Lindemann? Zwar besaß Reno eine starke Ausstrahlung, eine sehr starke sogar, aber keineswegs dieses Übermenschliche, fast Teuflische des Rammstein-Sängers. Das konnte man eher von Alex behaupten. Außerdem machte Reno eine andere Art von Musik.
Das alles passte nicht zusammen.
»Und was willst du?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie das noch weitergehen soll«, sagte er. »Mir ist das alles viel zu durchgeplant. Alex meint, wir müssten unsere Songs stärker straffen. Sie sind ihm zu ausufernd.«
»Wenn er unbedingt eine andere Richtung einschlagen will, dann lass ihn doch seine eigene Band gründen.«
Wieder zuckte Reno mit den Schultern. »Vielleicht tut er das sogar.«
»Und was sagen Jos und Maikel dazu?«
»Die richten sich ganz nach Alex. Du weißt doch, wie er sein kann.«
Sie nickte. Versuchte, dem Gespräch eine positive Wendung zu verleihen. »Aber das ist doch ein sehr wichtiger Schritt für euch, im 013 aufzutreten, oder? Ist schließlich ein ziemlich großer Laden.«
»Aber ich weiß nicht, ob ich das wirklich will«, erwiderte er leise. »Nach meinem Gefühl ist da einfach zu viel Publikum. Aber Alex war nicht zu bremsen, du kennst ihn ja. Na ja, wir werden sehen.«
Mit unglücklicher Miene trank er noch einen Schluck von seinem Bier.
Sie wusste, was ihm solche Sorgen bereitete. Reno legte Wert darauf, dass seine Musik schwer verständlich war, er betrachtete sie als eine Art nonkonformistischer Kunst. Sobald zu viele Leute seine Musik zu verstehen glaubten, wurde sie von der Kunst zum Massenprodukt. Dann mussten Termine eingehalten werden, tauchte ein Manager auf, und ehe man sich versah, war Stonehenge eine Art Fabrik, und Reno wäre gezwungen, sein Produkt termingerecht zu liefern. Dann würde er parfümierte Briefe von vierzehnjährigen Mädchen erhalten – und hätte seinen Status als unverstandener Künstler verloren. Doch im Grunde, so glaubte Susan, hatte er Angst vor Veränderungen. Er lebte von einem Tag zum anderen. Wobei es in seinem Fall auch nicht ratsam war, allzu weit vorauszudenken.
»Ich würde es trotzdem machen, Reno. Egal, mit welchen Stücken. Die meisten Musiker würden sich um eine solche Chance reißen.«
Er verzog mürrisch das Gesicht und entgegnete: »Ich bin nicht wie die meisten Musiker.«
»Das weiß ich. Und das schätze ich auch an dir. Aber trotzdem. Ich finde die Idee gar nicht so schlecht.«
Er sagte nichts.
Eine Weile lang saßen sie beide in Gedanken versunken da. Das Jaulen eines Mopedmotors hallte von der hohen Stadtmauer wider und erstarb nach und nach.
Er war ihr zu still. Sie schaute ihn von der Seite an. Sah den glasigen Blick in seinen Augen. Solche Momente der Abwesenheit, der Apathie fast kamen bei ihm öfter vor. Sie schrieb sie den Drogen zu, seiner Genialität, die von Zeit zu Zeit ganz plötzlich einen Kurzschluss verursachte, oder vielleicht auch einer Kombination von beidem. Sie stand auf, um die leeren Dosen wegzuwerfen, und wandte sich in der Tür noch einmal zu ihm um. Es war nicht schwer, das Kind in ihm zu erkennen, das er einmal gewesen war. Der zehnjährige Junge, der seine Eltern durch einen schrecklichen Autounfall verloren hatte und von einem Tag auf den anderen auf sich selbst gestellt war, inmitten einer feindlichen Umgebung, die ihm eigentlich Sicherheit und Verständnis hätte bieten sollen. Er war mit der Alltagsrealität nicht fertig geworden, die sicherlich härter gewesen war als die härtesten Musikstücke, die sein Geist hervorbrachte. Dass Susan mit vierzehn ihre Mutter verloren hatte, schuf ein Band zwischen ihnen.
In einer plötzlichen Anwandlung ging sie zu ihm hin und schlang die Arme um seinen mageren Körper. Sie legte das Kinn auf seinen Kopf, wiegte seinen Oberkörper langsam hin und her.
»Komm schon, Reno. Wach auf.«
Allmählich kam er wieder zu sich. Er legte seine knochigen Hände auf ihre und drückte sie sanft. Es steckte keine Erotik in der Bewegung oder der Berührung. Es war nur ein Moment der Verbundenheit. Zwei Menschen, die einander etwas bedeuteten.
»Eines Tages schreibe ich ein Stück über dich«, sagte er heiser. »Eine Ballade.«
Sie drückte seine Schulter und ging in die Küche. Summte vor sich hin. Sie empfand Renos Gesellschaft als inspirierend. Er scherte sich nicht um Äußerlichkeiten, Status oder Geld. Und niemand konnte Something in the way von Nirvana so gut interpretieren wie er, verhalten, mit geschlossenen Augen, eins mit seiner Gitarre. In diesen verträumten Momenten schien es, als sei Kurt Cobain selbst aus dem Jenseits zurückgekehrt, um eine letzte Zugabe zu spielen. Susan kriegte jedes Mal eine Gänsehaut. Sie war froh, dass sie Reno damals kennen gelernt hatte und dass sie sich, wenn auch unregelmäßig, bis heute trafen.
»Übrigens hast du einen neuen Nachbarn«, verkündete er, als sie zurückkehrte.
»Ach ja?«
»Ja, er hat sich bei mir vorgestellt. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht der Richtige sei und er sich an dich wenden müsste. Netter Kerl. Wirst ihn schon noch kennen lernen.«
Später am Abend lud sie ihn in ein kleines Restaurant in ihrer Straße ein und stopfte ihn mit Steak und Paprika voll. Anschließend schaute er bei ihr noch ein bisschen fern und vernichtete dabei die restlichen Dosen Bavaria-Bier aus ihrem Kühlschrank. Gegen elf ging er, eine Wolke von Marihuanaqualm hinterlassend, der ihre Sinne unangenehm reizte, bis sie sich um zwölf Uhr wieder an den PC setzte.
Keine Nachricht von Sil.
Ihre Hände blieben wie eingefroren über der Tastatur hängen. Dann schüttelte sie den Kopf und fuhr den Computer herunter. Morgen vielleicht.
In der dunklen Stille ihres Schlafzimmers rang sie vergeblich darum, ihre Gedanken abzuschalten. In den letzten zwei Jahren hatte sie sich an diesen Zustand gewöhnt. An das weinerliche Selbstmitleid, das unweigerlich nachts angeschlichen kam. Wenn sie keine Ablenkung hatte. Der Schmerz, den sie so gut kannte und den ihr Körper begrüßte wie einen alten, vertrauten Freund.
Um vier Uhr lag sie immer noch hellwach im Bett.
»Das ist doch Wahnsinn«, sagte sie laut.
Sie setzte sich auf und stieg aus dem Bett. Schaltete das Licht im Wohnzimmer ein und dimmte es bis auf eine erträgliche Helligkeit. Ging in die Küche und setzte Teewasser auf. Während der Wasserkocher summte, schaltete sie im Arbeitszimmer den Computer ein. Sie kehrte in die Küche zurück und bereitete sich eine Tasse Tee zu. Zwei Stückchen Zucker und ein tüchtiger Schuss Milch. Sie setzte sich aufs Sofa und dachte an ihre erste Begegnung mit Sil vor zwei Jahren zurück. Eine Begegnung, die ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt und ihr eine krankhafte Beziehung zu ihrem PC eingetragen hatte.
Ein Reisemagazin hatte sie beauftragt, eine Fotoreportage über den Tourismus im ägyptischen Badeort Hurghada durchzuführen. Sie hatte eine einwöchige Standard-Pauschalreise gebucht, aber ziemlich bald festgestellt, dass drei Tage Aufenthalt mehr als genug gewesen wären. Was den Urlaubern als historisches Ziel angepriesen wurde, erwies sich als kilometerlange Kette hastig hochgezogener Hotelkomplexe und Ressorts entlang einer zweispurigen Asphaltstraße, eingebettet zwischen der endlosen Wüste und dem Roten Meer. Den zehntausenden deutschen, russischen und niederländischen Feriengästen, die nicht zum Tauchen oder Schnorcheln hierher gereist waren, blieb nichts anderes übrig, als sich mit der Situation abzufinden. Und abfinden bedeutete an der ägyptischen Küste zum Beispiel, an zahmen Exkursionen zu den Beduinen teilzunehmen, zu versuchen, tagsüber nicht von der Sonne gegrillt zu werden, und sich abends mit dem guten lokalen Stella-Bier volllaufen zu lassen, während man das Animationsprogramm verfolgte, das verdächtig nach einem bunten Abend für das Hotelpersonal aussah.
Was es wahrscheinlich auch war.
Susan hatte die mit Maschinengewehren bewaffneten Wachen auf den Mauern rund um den immensen Fünf-Sterne-Komplex patrouillieren sehen und die Botschaft begriffen. Sie tat, wozu sie gekommen war, und verbrachte die restliche Zeit lesend an dem fast ausgestorbenen Hotelstrand – die meisten Hotelgäste hielten sich lieber an einem der Pools auf. Die lagen ungefähr fünfhundert Meter näher an den Hotelgebäuden, was bei der sengenden Hitze und Temperaturen von um die vierzig Grad einen großen Unterschied ausmachte. Da ihrer Erfahrung nach die Männer in dieser Gegend bislang nur unzureichend an Frauen gewöhnt waren, die im Bikini oder oben ohne über ihre Strände ausschwärmten, trug sie einen lächerlich keuschen, dunkelblauen Badeanzug.
Zur Sicherheit. Um niemanden zu provozieren.
Aber das reichte offenbar nicht.
Drei Tage vor ihrer Abreise, gegen sechs Uhr abends, tauchte plötzlich wie aus dem Nichts ein Ägypter neben ihrer Strandliege auf. Er war jung, um die fünfundzwanzig, etwa einen Meter fünfundsiebzig groß und muskulös. Er hatte ein schmales Gesicht und ein vorzeitig ruiniertes Gebiss. Tief liegende, fast schwarze Augen, die sie auf eine Weise ansahen, wie sie es sich in den Niederlanden niemals hätte gefallen lassen. Aber sie war nicht in den Niederlanden. Sie blickte sich Hilfe suchend um, nach irgendjemandem, egal, wem, sah aber nichts als die leise plätschernden Meereswellen und hunderte, in schnurgeraden Reihen aufgestellte Liegestühle mit zugeklappten Sonnenschirmen daneben. Einige Holzstrandhütten mit Schilfdach machten einen ebenso verlassenen Eindruck.
Keine Hilfe weit und breit.
Und keine Zeugen.
Der Ägypter war ihrem Blick gefolgt und grinste, dass sie seine braun marmorierten Zähne sah.
Sie überlegte blitzschnell. Sie war eine Frau. Er war ein Mann. Mehr Muskelmasse. Jung, stark. Er brauchte nur einmal richtig zuzulangen, und es wäre um sie geschehen. Also musste sie zu faulen Tricks greifen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie ihm beide Daumen tief in die Augenhöhlen bohrte, bevor er sich verteidigen konnte. Wusste, dass sie dann auf jeden Fall weitermachen müsste, was immer auch danach geschah. So aggressiv wie möglich, sich bis zum Äußersten verteidigen wie eine in die Enge getriebene Katze. Ihn treffen, wo sie nur konnte. Beißen, schubsen, treten. Und dabei schreien wie eine Wahnsinnige.
Doch eine ängstliche Stimme in ihrem Inneren flüsterte ihr zu, dass ein aggressiver Angriff ihre Niederlage nur hinauszögern würde. Dass sie den ungleichen Kampf verlieren und die Aggression sich gegen sie richten würde. Lieber flüchten vielleicht? Nein, der Mann stand zu nahe bei ihr.
Zu nahe?
Vielleicht könnte sie sich ducken und sich von der Liege hinunterrollen lassen. Und dann die Beine in die Hand nehmen. Sie war gut in Form. Und sie würde um ihr Leben rennen, wodurch sie vielleicht schneller war als er. Fünfhundert Meter, weiter war es nicht bis zu der schützenden Meute am Schwimmbecken. Sie musste sich entscheiden.
Ihr Gedankengang nahm vielleicht drei Sekunden in Anspruch. Gerade als sie aufspringen wollte, sah sie, wie der Mann den Blick auf einen Punkt hinter ihr richtete. Sich daraufhin umdrehte und davonging. Nach ein paar Metern wütend über die Schulter zurückblickte. Weiterlief. Die Gefahr war gebannt, genauso schnell und unerwartet, wie sie heraufgezogen war. Ihr Körper befand sich noch im Alarmzustand. Ihr Herz hämmerte gegen die Rippen, und ihr Atem ging schnell.
Das Ganze hatte höchstens ein paar Minuten gedauert. Mindestens genauso lange brauchte sie, um zu begreifen, dass da jemand hinter ihr war. Sie drehte sich um.
Ein Mann stand da. Ein Europäer. Kurze, dunkle Haare. Von der Tauchermaske und dem Schnorchel in seiner Hand tropfte das Meerwasser. Seine Schwimmflossen lagen hinter ihm im Sand. Er stand sehr aufrecht. Die Schultern gestrafft. Wie eine römische Statue. Er starrte dem Nordafrikaner in einer Weise hinterher, von der ihr angst und bange wurde. Anschließend blickte er sie an. Sein Ausdruck wurde weicher.
»Du solltest dich lieber nicht allein hier aufhalten«, sagte er mit einem kurzen Nicken in die Richtung, wo der Ägypter nur noch als Punkt in der Ferne erkennbar war. »Manche von denen können einfach nicht damit umgehen.«
Sie nickte nur.
Er hatte schöne Augen. Wie wandelbar sie waren, hatte sie eben gerade beobachtet. Blitzschnell hatte sein Gesichtsausdruck gewechselt, von eiskalt zu aufrichtig besorgt.
Faszinierend.
»Bist du allein unterwegs?«, fragte er.
Sie nickte.
»Vielleicht solltest du beim nächsten Mal lieber nach Teneriffa oder Benidorm fliegen.«
»Ich bin beruflich hier.«
»Arbeitest du bei der Tauchschule?«
»Nein, ich bin freie Fotografin.«
»Bist du dann nicht fünfhundert Kilometer zu weit südöstlich?«
»Nein, ich bin mit einer Dokumentation über den Tourismus hier an der Küste beauftragt.«
Er verzog zynisch das Gesicht. »Sehr aufregend.«
Sie blickte über seine Schulter hinweg den langen Strand entlang. »Wie man sieht.«
Der Mann war verschwunden, als sei er niemals da gewesen.
»Bleib in Zukunft um diese Zeit lieber in der Nähe des Hotels«, riet er ihr sanft. »Hier ist es zu einsam. Und das wissen diese Typen auch.«
Sie nickte und zog die Knie an. Schlang die Arme darum und rechnete irgendwie damit, dass er weggehen würde. Doch er setzte sich ans Fußende ihrer Liege, in den Schatten des Sonnenschirms, und blickte sie schweigend an. Es war still, bis auf das Rauschen der Wellen. Von ferne, aus der Richtung des Swimming-Pools, trug der Wind hin und wieder Musik herüber. I miss you like the deserts miss the rain. Everything But The Girl spielten die hier mindestens zehnmal am Tag. Genau wie die verstaubten Nummern von Tom Jones und, großer Gott, sogar Boney M.
Kinderstimmen, Kreischen, Spaß. Weit weg.
Eine andere Welt.
»Wie heißt du?«, fragte sie, um das Schweigen zu brechen.
»Sil.«
»Ich heiße Susan.«
Sie wagte es nicht, die Hand auszustrecken. Sie befürchtete einen Kurzschluss, wenn sie ihn berührte.
»Wie lange bleibst du noch?«, fragte er.
»In vier Tagen kann ich endlich nach Hause«, sagte sie. »Und du?«
»Ich muss es noch anderthalb Wochen aushalten.«
»Was machst du denn hier?«
Sein Blick wanderte zum Meer. »Das frage ich mich auch manchmal.«
Die Art und Weise seiner Antwort ließ ihr keinen Spielraum für weitere Fragen. Also schwieg sie und betrachtete ihn verstohlen.
Gerade Nase. Ansprechende, mandelförmige Augen mit langen, schwarzen Wimpern. Blau. Oder grün. Grau? Gerade, rechteckige Kinnpartie. Scharf gezeichnete, dunkle Augenbrauen. Sie konnte nichts an ihm entdecken, das ihr nicht gefiel. Er strahlte eine große Kraft aus. Energie. Sie spürte einen unwiderstehlichen Drang in sich aufkommen, ihn zu fotografieren. In Schwarz-Weiß. Genau so, wie er jetzt hier saß.
Aber sie sprach ihren Wunsch nicht aus.
Abrupt wandte er ihr sein Gesicht zu. Schien geradewegs in sie hineinzuschauen.
Sie fühlte sich ertappt.
»Hast du Angst gehabt?«
Sie dachte nach.
Angst?
»Ja«, antwortete sie schließlich. »Aber hauptsächlich war ich wütend, glaube ich. Es macht mich rasend, dass sich so ein Schwachkopf nur aufgrund seiner körperlichen Überlegenheit etwas nehmen könnte, was mir gehört. Und sich dann Jahre später noch daran erinnern würde, wie er mir mitgespielt hat. Und damit bei seinen gehirnamputierten Freunden angäbe, die genauso ein tristes, armseliges Leben führen wie er. Das gönne ich einem solchen Idioten einfach nicht.«
Sie geriet wieder in Rage.
Unbewegt schaute er sie an.
»Jedenfalls war ich eher wütend als ängstlich«, fügte sie hinzu.
»Verletzlichkeit«, sagte er. »Verletzlichkeit macht dich wütend.«
Er wandte den Blick wieder dem Meer zu. Blieb ruhig sitzen und unternahm nicht den geringsten Versuch, das Gespräch in Gang zu halten. Susan schaute ebenfalls über das Wasser und spürte, wie sie allmählich ruhiger wurde.
Das Schweigen zwischen ihnen fühlte sich nicht unangenehm an. Vielleicht weil sie den Eindruck hatte, dass es nicht zwischen ihnen hing, sondern sie umgab wie eine Glasglocke. Am liebsten wäre sie für den Rest ihres Aufenthalts hier sitzen geblieben. Schweigend, am Strand. Das fühlte sich gut an. Mehr als gut.
»Merkwürdig, was?«, sagte er plötzlich und schaute ihr direkt in die Augen.
Sie nickte kaum merklich. Es war wirklich sehr merkwürdig.
Eine leichte Brise kam auf. Sie strich sich eine Locke hinter das Ohr.
»Okay, Susan«, sagte er und stand von der Liege auf. »War nett, sich mit dir zu unterhalten. Ich gehe dann mal wieder. Mal sehen, ob meine Frau inzwischen aufgewacht ist. Bei dem Fraß hier ist es das reinste Wunder, dass man ihr nicht den Magen auspumpen musste.«
Er entfernte sich ein paar Schritte, hob im Gehen seine Schwimmflossen vom Sand auf und verschwand in Richtung des Hotelkomplexes, wo den Gästen zum dreißigsten Mal an diesem Tag Rivers of Babylon vorgedudelt wurde.
»Vielen Dank nochmal!«, rief sie ihm nach.
Er hob, ohne sich umzudrehen, die Hand zum Zeichen, dass er sie verstanden hatte. Sie stand auf, packte ihre Sachen in eine Plastiktasche und spazierte langsam zurück zum Hotel.
In den nächsten Tagen versuchte sie ihm auszuweichen, hauptsächlich weil sie sich unsicher fühlte. Dennoch begegnete sie ihm andauernd. An der Rezeption. Bei den Aufzügen. Am Frühstücksbuffet. Und an dem großen, ellipsenförmigen Swimming-Pool, an dessen Rand seine Frau saß, in gezierter Pose wie ein Filmstar, mit den Zehen im Wasser plätschernd, stets in höchst aparten Bikinis und Pareos – jeden Tag eine andere Kreation -, während er mit dem Fanatismus eines Wettkampfschwimmers seine Bahnen zog. Er hätte gut ein Wettkampfschwimmer sein können. Die Figur dazu hatte er.
Jedes Mal begegneten sich ihre Blicke.
An dem Abend bevor die Maschine der Martinair sie wieder nach Schiphol zurückbrachte, stand er in der Schlange am Büffet hinter ihr. Er hielt zwei Teller in einer Hand und pikte prüfend mit einer Gabel in die aufgetragenen Speisen. Als er sie fragte, ob sie sich zu ihnen an den Tisch setzen wolle, stimmte sie zu.
Es war keine gute Idee.
Seine Frau Alice fühlte sich offensichtlich unbehaglich, auch wenn sie ihre Nervosität krampfhaft hinter einem viel zu lauten, künstlichen Lachen zu verbergen versuchte. Susan erkannte die Zeichen der Ohnmacht, die Alice verspüren musste. Sah, wie sich die Unsicherheit schattengleich über das hübsche, offene Gesicht der Blondine legte.
Und tatsächlich hatte Alice allen Grund dazu, sich unsicher zu fühlen. Nicht zuletzt weil ihr Mann seine volle Aufmerksamkeit einer fremden Frau widmete, die wünschte, dass Alice zur Toilette gehen und mindestens vier Stunden dort bleiben würde. Nach einer halben Stunde entschuldigte sich Susan und ging auf ihr Zimmer. Sie fühlte sich der Konfrontation mit den beiden einfach nicht mehr gewachsen.
Um sechs Uhr am nächsten Morgen wartete er schon in der Lobby auf sie. Eine halbe Stunde bevor der Bus die Touristen zum Flughafen brachte, kritzelte sie auf sein Drängen ihre E-Mail-Adresse auf die Rückseite einer Visitenkarte des Hotels. Er half ihr mit ihrem Gepäck. Schaute dem Bus vom überdachten Eingang des Hotels aus nach, bis er durch die von Männern mit Maschinengewehren bewachte Einfahrt des Komplexes hindurch verschwand.
Zu Hause angekommen hatte sie getan, was sie tun musste. Hatte die Filme entwickeln lassen. War in die Redaktion gegangen und hatte die Dias abgegeben. Eingekauft, Wäsche gewaschen. Ihren Vater angerufen. Das Übliche, was sie immer tat, seitdem sie von Jules geschieden war. Und größtenteils fiel es ihr gar nicht so schwer. Aber irgendwie fühlte es sich anders an.
Leerer.
Sinnloser.
Unvollständig.
Als die erste E-Mail eintraf, knapp eine Woche nach ihrer Rückkehr aus Hurghada, las sie sie an die zwanzig Mal. Sie antwortete zwei Tage später und wog dabei jedes Wort sorgfältig ab. Damals konnte sie noch nicht ahnen, dass dies den Beginn eines intensiven E-Mail-Kontakts darstellte, der nun bereits seit zwei Jahren anhielt und der immer intensiver wurde. Sie wog ihre Worte schon lange nicht mehr ab, bevor sie sie ihm anvertraute, und sie glaubte, dass sie ihn besser kannte als irgendjemand sonst.
Und umgekehrt.
Sie lebte quasi nur noch von seinen E-Mails.
Mit dem Becher in den Händen ging sie in ihr Arbeitszimmer. Startete den Computer und klickte das Explorer-Icon an. Gab die Adresszeile ein und wartete. Tippte ihr Passwort und ihren Benutzernamen und schaute gespannt auf den Bildschirm.
Sie hatte eine Mail. Von Sil.
Er hatte sie schon heute Nachmittag abgeschickt, also war sie wahrscheinlich irgendwo im Cyberspace hängen geblieben. Sie fing an zu lesen.
Susan,[susan] was du über die Beschränkungen mancher Men-schen geschrieben hast, verstehe ich nicht so ganz.
[sil] Ich wollte damit sagen, dass jeder Mensch mit seinen eigenen Stärken und Schwächen geboren wird. Jeder unterliegt gewissen Beschränkungen, auch du und ich, und die Grenze des persönlichen Begriffs- oder Leistungsvermögens liegt nicht bei jedem auf demselben Niveau. »Was nicht drinsteckt, kann man auch nicht rausholen«, so in dem Sinne. Manchmal stört mich die Beschränktheit meiner Mitmenschen, aber mir ist klar, dass ich sie nicht ändern kann – weil sie innerhalb ihres Rahmens funktionieren, und ich mich nun mal innerhalb eines anderen Rahmens bewege. Das habe ich inzwischen eingesehen. Aber das bedeutet nicht, dass ich innerhalb der Grenzen der anderen leben kann oder will. Ich bleibe ich.
[susan] Ich muss das unbedingt mal loswerden; vielleicht begebe ich mich auf dünnes Eis, wenn ich dir gestehe, dass mir unser Kontakt sehr am Herzen liegt. Aber du sollst wissen, dass mich gleichzeitig Gewissensbisse plagen. Du weißt schon, warum. Glaube ich.
[sil] Wenn sich deine Gewissensbisse auf Alice beziehen (stimmt doch, oder?), kann ich dich beruhigen. Mit ihr führe ich diese Art von »Gesprächen« nicht. Als ich sie kennen lernte, dachte ich über viele Dinge noch anders. Doch im Laufe der Zeit habe ich mich verändert. Sie sich nicht, aber das kann man ihr nicht zum Vorwurf machen. Die Liebe ist geblieben und wird, wie ich es im Moment sehe, auch nicht vergehen.
Ich freue mich auch auf deine E-Mails. Hoffe, dass es dir gut geht (und dass dir keine Typen mit antiquiertem Frauenbild über den Weg laufen, schließlich bin ich ja nicht da, um dich zu beschützen!). Frage mich manchmal, wo die Grenze liegt. Bagatellisiere das Ganze dann, indem ich mir einrede, dass doch nichts dabei ist, miteinander zu reden, oder?;-) Mach dir keine Sorgen. Sil
PS: Willkommen zu Hause.
»Nein, Sil«, sagte sie laut. »Es ist nichts dabei, miteinander zu reden.« Sie drückte die rechte Maustaste und der Drucker erwachte summend zum Leben. Das DIN-A4-Blatt glitt aus dem Hewlett-Packard heraus. Sie lochte es und heftete die ausgedruckte Mail in dem Ordner ab. Stellte den Ordner wieder zurück und starrte ausdruckslos auf den Bildschirm.
»Wo liegt die Grenze?«, fragte sie sich laut. Die Antwort fügte sie im Stillen hinzu: Die Grenze liegt in der Distanz, die wir wahren müssen. Kein Kontakt in der wirklichen Welt.
Er liebte Alice, und das würde immer so bleiben. Das hatte sie schwarz auf weiß. Alice war seine Frau, mit der er bis ans Ende seiner Tage zusammenbleiben würde, und sie war nur die Freundin-auf-Abstand, mit der er seine Gedanken teilte. Seine verbale Sparringspartnerin. Oder bedeutete sie ihm vielleicht sogar noch weniger? Schließlich war es einfacher, seine innersten Gedanken einer Tastatur anzuvertrauen als einem Menschen aus Fleisch und Blut. Waren die Mails an sie nichts weiter als eine Möglichkeit, Worte loszuwerden, wie eine Form des Tagebuchs, zufällig gerichtet an eine Hotmail-Adresse, einen Resonanzkörper ohne Gesicht?
Sie schüttelte den Kopf. Es war spät, sie wurde gefühlsduselig und war nicht klar im Kopf. Morgen würde alles schon wieder ganz anders aussehen. Kurz darauf schlüpfte sie wieder ins Bett und fiel schließlich in einen unruhigen Schlaf.
2
Das Gewerbegebiet machte einen trostlosen Eindruck. Der anhaltende Regen hatte graue Pfützen auf dem Asphalt hinterlassen, die das orangefarbene Licht der Straßenlaternen in bizarren Formen widerspiegelten. Die meisten Betriebe, die auf der Welle des Wirtschaftswachstums mitgeschwommen waren, hatten sich inzwischen an anderen, prestigeträchtigeren Orten niedergelassen. Zurückgeblieben war dieses Durcheinander von mangelhaft in Stand gehaltenen Lagerhallen und kleinen Bürogebäuden, verfallen und verrostet, weggedrängt in eine vergessene Ecke der Stadt. Inzwischen hatten sich Firmen darin angesiedelt, die sich keinen Deut um den äußeren Eindruck scherten oder die die schäbige Umgebung nicht einmal wahrnahmen: Abbruchunternehmer, Schrottplatzbetreiber und Alteisenhändler. Hier und da standen Gebäude leer und waren zu vermieten. Manche schon seit über einem Jahr. Die einst so farbenfrohen Reklameschilder waren ausgeblichen, Plakate von Wind und Regen zerrissen. Schon an einem normalen Werktag vermittelte das Gelände den Eindruck dumpfer Ergebenheit, doch an diesem regnerischen Montagabend war es absolut ausgestorben, als habe an diesem Ort die Apokalypse bereits stattgefunden. Das laute Röhren eines Geländemotorrads übertönte kaum das Rauschen des Regens, der inzwischen wie aus Eimern vom Himmel fiel. Der Fahrer, gekleidet in einen schwarzen Gore-Tex-Anzug und Trekkingschuhe, bog auf den mit Betonplatten befestigten Hof einer leer stehenden Firma ein. Er stellte seine Maschine hinter einer Reihe von Müllcontainern ab. Ließ den Schlüssel im Zündschloss stecken. Legte den Helm ab und kontrollierte den Sitz seiner Sturmhaube. Die dicken Motorrad-Lederhandschuhe zog er aus und streifte stattdessen ein paar schwarze Latexhandschuhe über. Er öffnete den Reißverschluss seiner Jacke und zog eine Waffe hervor, eine Heckler & Koch.45.
Er blickte sich um. Vergewisserte sich, dass niemand ihn beobachtete, und fiel in einen Laufschritt. Ein paar Straßen weiter suchte er Deckung hinter einem vergammelten Bauaufsichtswagen und richtete den Blick nach vorn.
Auf der anderen Seite des Bauwagens, etwa sechs Meter von ihm entfernt und schräg gegenüber der Einfahrt zum Betriebsgelände, erkannte er die Silhouette eines Mannes, der halb verdeckt hinter einem Baum stand. Ein junger Russe, so wusste er, der die Aufgabe hatte, die Zufahrtsstraße zu bewachen. Er stand mit dem Rücken zu ihm und wirkte nicht besonders aufmerksam. Etwa alle dreißig Sekunden leuchtete ein orangeroter Punkt auf. Der Wachtposten rauchte. Er ging wahrscheinlich davon aus, dass die Gefahr sich auf vier Rädern nähern würde, und im Rücken fühlte er sich von dem drei Meter hohen Maschendrahtzaun geschützt, der das Betriebsgelände von den Weideflächen auf der anderen Seite trennte.
In diesen Zaun hatte er vor einer Woche ein Loch geschnitten, das er anschließend mit dünnem Draht wieder zusammengezogen hatte, sodass die Beschädigung kaum auffiel. Es war vorhin eine Kleinigkeit gewesen, den Draht wieder zu lösen und mitsamt Motorrad durch die Öffnung im Zaun zu schlüpfen. Auf dem Rückweg würde er Gott sei Dank nicht mehr durch die nassen, matschigen Wiesen pflügen müssen, sondern die Hauptstraße benutzen können.
Wenn alles gut ging jedenfalls.
Wie immer löste die Vorstellung, dass die Sache schiefgehen könnte, eine körperliche Reaktion in ihm aus, die ihn in einen angenehmen Rauschzustand versetzte. Unwillkürlich verfestigte sich sein Griff um die regennasse Pistole. Er atmete tief ein.
Es wurde Zeit, aktiv zu werden.
Er war bereit.
Innerhalb von drei Sekunden stand er hinter dem Wachtposten. Der fuhr herum, und schon traf ihn der schwere Schlitten der Pistole mit einem dumpfen Schlag am Kopf. Als er nicht sofort umfiel, folgte ein weiterer, härterer Schlag. Daraufhin sank der Wachtposten in sich zusammen und blieb reglos liegen.
Er schaute hinunter in sein Gesicht. Verdammt, noch ein halbes Kind, sah aus wie kaum achtzehn. Im Schein der Straßenlaternen wirkte er wie das Opfer eines Verkehrsunfalls. Eines roadkill. Dunkles Blut vermischte sich mit dem Regen. Rasch zog er die Handschuhe aus und befühlte die Halsschlagader. Erleichtert stellte er fest, dass der Junge noch lebte.
Abrupt, als erwache er aus einem Traum, wurde ihm klar, dass ihn das eigentlich nicht interessieren sollte. Diese Jungs wussten, welches Risiko sie eingingen. Niemand war unschuldig. Auch der da nicht. Er vergeudete nur kostbare Zeit.
Hastig streifte er die Handschuhe wieder über. Schleifte den leblosen Wachtposten in den schwarzen Schatten der Sträucher und drehte ihn auf den Bauch. Zog ihm die Arme auf den Rücken und fesselte ihm die Handgelenke mit einem Kabelbinder. Verfuhr mit den Fußknöcheln auf dieselbe Weise. Zögerte einen Moment. Ein kräftiger Schlag auf den Kopf konnte einen Mann für eine volle Stunde ausschalten, aber unter Umständen auch nur für fünf Minuten. Es konnte noch eine Weile dauern, bis er hier fertig war, und er würde auf diesem Weg zurückfahren. Um ganz sicherzugehen, verwendete er einen dritten Kabelbinder dazu, Handgelenke und Fußknöchel miteinander zu verbinden.
Für den Kerl würde es ein ungemütliches Erwachen geben. Ohne Hilfe konnte er sich nicht wieder befreien.
Das Bündel vor seinen Füßen stieß ein unterdrücktes Stöhnen aus. Er ignorierte es und begann, die Kleidung des Jungen zu durchsuchen. In einem Hüftholster fand er einen kleinen, silberfarbenen Revolver. Er runzelte die Stirn. Hielt sich der Kerl für Billy the Kid? Er klappte die Trommel heraus. Drei Patronen. Er klopfte sie aus der Walze und warf die Waffe ein paar Meter weit ins Gebüsch. In einer der Innentaschen entdeckte er ein Handy, das dem Revolver hinterherflog. Er fasste in die andere Innentasche. Ein Portemonnaie. Ein schwarzes Markenexemplar aus Nylon mit Klettverschluss. Er inspizierte flüchtig den Inhalt. Nichts Besonderes. Er ließ es achtlos liegen.
Ohne sich noch einmal umzuschauen, entfernte er sich in westlicher Richtung. Ungefähr vierhundert Meter vor ihm ragte eine klotzige, aus Spundwandprofilen errichtete Lagerhalle auf. Das Gebäude, das er in den vergangenen Wochen observiert hatte und von dem er sämtliche Risse, Spalten und Fugen kannte.
So verlassen das Gebäude bei Tage war, so betriebsam ging es dort in manchen Nächten zu.
Er wusste auch, dass nachts Wachtposten aufgestellt wurden: einer am Eingang des Firmengeländes und einer vor dem Gebäude, neben der Eingangstür. Sie hatten keinen besonders professionellen Eindruck auf ihn gemacht, telefonierten häufig mit ihren Handys und sahen sich zu wenig um. Die Wachtposten wurden nicht in jeder Nacht aufgestellt, aber wenn sie da waren, tauchte jedes Mal kurz darauf entweder eine schwarze Mercedes-Stretchlimousine oder ein weißer Lieferwagen auf, verschwand hinter einem der Rolltore und fuhr etwa zwei Stunden später wieder in die Nacht hinaus. Von seinem Versteck aus hatte er das alles genauestens beobachtet und registriert.
Gründliche Vorbereitung war das A und O.
Er befand sich jetzt direkt vor dem Gebäude. Hielt den Blick starr auf die große, rechteckige Halle gerichtet. Auf der Vorderseite dienten zwei hohe Rolltore zum Be- und Entladen und seitlich gab es eine Zugangstür für das Personal. Eine schmale Holztreppe führte zu ihr hinauf. Das Gebäude hatte keine Fenster. Lediglich ein nachlässig abgestellter, violetter Mercedes 500 SL verriet, dass die Halle nicht so verlassen war, wie es zunächst den Anschein hatte.
Ein rascher Blick auf die Uhr. Eine Minute vor Mitternacht. Der weiße Lieferwagen war vor ungefähr zwanzig Minuten losgefahren. Wenn sie nicht von ihren Gewohnheiten abgewichen waren, konnten sich jetzt nur noch zwei, höchstens drei Männer im Gebäude befinden. Dazu der eine am Eingang.
In einem großen Bogen rannte er um die Lagerhalle herum. Kletterte über den Maschendrahtzaun. Suchte ohne innezuhalten Deckung im Schatten der rückwärtigen Fassade. Dort blieb er stehen, eine Schulter an das nasse Profilmetall gedrückt. Suchte in der Seitentasche nach dem Schalldämpfer und schraubte ihn ohne hinzusehen auf den Lauf.
Er wollte möglichst nicht schießen, bevor er im Inneren der Halle war. Zwar reduzierte ein Schalldämpfer in Kombination mit der richtigen Munition die Lautstärke eines Schusses um die Hälfte. Aber selbst dann noch war der Knall wahnsinnig laut. Dass es immer noch regnete, kam ihm allerdings sehr entgegen.
Er schlich weiter bis zur Ecke des Gebäudes. Hielt Ausschau. In fünfunddreißig, vierzig Metern Entfernung saß ein Mann auf der Treppe vor dem Personaleingang. Der Wachtposten wirkte ebenso unaufmerksam wie sein Kollege. Über seiner dunklen Silhouette kringelte sich Zigarettenrauch in die Luft. Er konzentrierte sich bis zum Äußersten in dem Versuch, Einzelheiten zu erkennen. Der Wachmann trug eine Kapuze und hielt den Blick zur Straße gerichtet.
Er machte sich ein genaues Bild der Lage. Links die Seitenwand des Gebäudes. Rechts eine Hecke und hohe Sträucher. Dazwischen abgesacktes Pflaster, rote Klinker, die im Dämmerlicht vor Regen glänzten. Keinerlei Hindernis zwischen ihm und dem Posten, vierzig Meter ohne Deckung. Ein gefährlicher Weg.
Leider konnte er nicht deutlich erkennen, ob der Mann mit gezogener Waffe dasaß. Doch eines war sicher: Wenn der Wachtposten auch nur das Geringste hörte oder sich zufällig umblickte, wäre der Teufel los.
Er musste ein erhebliches Risiko eingehen. Holte tief Luft. Volle Konzentration. Er ging auf den Mann zu, die HK mit gestreckten Armen im Anschlag, die Mündung auf den Bewacher gerichtet.
Noch fünfzehn Meter, zwölf, zehn, acht.
Eine Kopfbewegung und er würde schießen. Der Wachtposten schaute sich nicht um, hörte nichts. Er dankte im Stillen Petrus. Er war nur noch fünf Meter entfernt und noch immer hatte sich die Wache nicht gerührt.
Vier, drei, zwei.
In einem geschmeidigen Sprung hechtete er auf den Mann zu, nahm ihn in den Schwitzkasten und presste ihm den Lauf der HK gegen den Hinterkopf.
»Wenn du den Helden spielst, schieße ich dir den Kopf weg.«
Der Mann saß da wie erstarrt. Was nicht bedeuten musste, dass er gefügig war, ja nicht einmal, dass er Angst hatte. Vielleicht wartete er nur eine passende Gelegenheit zur Gegenwehr ab. Er wollte ihm so wenige Chancen wie möglich geben. Erst seine Waffe. Dann der Rest. »Hör gut zu«, sagte er. »Nimm mit der linken Hand den Lauf deiner Waffe, mit Daumen und Zeigefinger. Leg sie langsam auf den Boden.«
Ein Arm kam in sein Blickfeld. Eine Hand. Eine Waffe. Der Wachtposten hatte tatsächlich mit gezogener Pistole gewartet. Er warf die Waffe nachlässig weg, als wolle er sagen: Hier hast du sie, Scheißkerl. Viel Spaß damit.
»Steh auf!«
Der Mann gehorchte. Im Stehen war er größer als erwartet. Er hielt weiterhin seinen Hals umklammert, den Lauf der Waffe an seine Kopfhaut gedrückt. Fester als nötig. Einschüchterungstaktik.
Ohne Vorwarnung zog er seinen Arm zurück und trat den Wachtposten mit voller Kraft in den Rücken. Der Mann stieß einen unterdrückten Schrei aus, stolperte nach vorn und schwankte. Hielt sich aber auf den Beinen.
Rasch bückte er sich und hob die Waffe auf. Steckte sie ein. Nahm seine HK in beide Hände.
»Hände in den Nacken. Los! Da rüber!«, zischte er.
Der Mann zögerte. Behielt die Arme seitlich am Körper, ein wenig abgespreizt. Jahrelanges intensives Bodybuilding und weiß Gott was für Hormone, die dem Muskelaufbau noch nachgeholfen hatten.
Der Mann starrte ihn wütend an. Der würde nicht mitspielen.
»Los, wird’s bald!«
Er musste den Kerl ein paar Meter von sich fernhalten. Nicht zu nahe kommen lassen. Das war einer von der ganz harten Sorte. Schon sein Hals hatte sich wie aus Beton gegossen angefühlt. Der Wachtposten verschränkte aufreizend langsam die Hände hinter dem Kopf und starrte ihn unverwandt an. Rührte sich nicht. War auf hundertachtzig. Funkelte drohend mit den Augen und wünschte ihm in unterdrückten russischen Flüchen wahrscheinlich Pest und Cholera an den Hals. Er erwiderte sein drohendes Starren. Zuckte nicht mit der Wimper. Die HK fest in der Hand. Kein Zittern, nichts.
»Posjol ty nachuj!«, brummte der Kerl. Er war immer noch wütend, gab aber endlich klein bei. Setzte sich murrend in Bewegung. Mit der Pistole im Anschlag folgte er ihm. Drängte ihn bis in die hinterste Ecke des Geländes.
Der Schuss klang gar nicht mal so laut. Der Regen dämpfte das Geräusch um weitere zwanzig Prozent. Der Wachtposten sank in sich zusammen. Ob ein Schuss reichte? Aber nochmals zu schießen hätte ein zu großes Risiko bedeutet.
Er begutachtete das Resultat. Ein kleines Loch in der Lederjacke, zwischen den Schulterblättern. Er trat den Mann in die Seite. Keine Reaktion. Eine dunkle Flüssigkeit strömte aus einer Wunde in seiner Brust. Der Unterkiefer hing ihm herunter, und seine Augen starrten glasig ins Leere.
Tot.
Eine hastige Durchsuchung förderte ein Walkie-Talkie und ein Handy zu Tage. Er checkte das Walkie-Talkie. Zu seiner Erleichterung war es ausgeschaltet. Er warf einen Blick hinüber zur Ecke des Gebäude. Fühlte sich gehetzt.
Hatten die da drin etwas gehört?
Er zog die Waffe des Toten aus seiner Jackentasche und begutachtete sie. Eine Pistole, jugoslawisches Modell. Er löste mit einem Klicken das Magazin und steckte es ein. Warf die Waffe in hohem Bogen über den Zaun. Schaute wieder zum Gebäude hinüber. Niemand. Ein paar Meter von ihm entfernt, halb verborgen von überhängenden Sträuchern, stand ein Müllcontainer. Er griff den schlaffen, bleischweren Körper unter den Achseln und schleifte ihn dahinter. Warf erneut einen Blick über die Schulter. Immer noch niemand zu sehen. Also hatten sie nichts gehört. Davon konnte er inzwischen ausgehen.
Er sprintete zur Treppe vor dem Personaleingang, die Waffe in der rechten Hand. Sprang die Stufen hinauf. Blieb vor der Tür stehen und lauschte, hörte aber nichts als das nervtötende Rauschen des Regens. Er schluckte, atmete tief ein und drückte versuchsweise gegen die Tür. Wie erwartet, war sie nicht verschlossen. War ja auch unnötig, solange dieser Kraftprotz mit schussbereiter Pistole Wache schob. Er schlüpfte hinein und duckte sich sofort. Machte sich so klein wie möglich. Ein kleines Ziel war schwerer zu treffen.
Aber es geschah nichts.
Das grelle Licht in der Fabrikhalle blendete ihn für einen Moment. Die Halle war riesig. Sicher an die acht Meter hoch, vierzig Meter breit und anderthalbmal so lang. Die gleißende Helligkeit stammte von Neonleuchten an der Decke. Es roch nach Benzin, nach Öl. Nach Metall. Autos standen herum. Einige ohne Nummernschild. Ersatzteile. In der Mitte der Arbeitsfläche befanden sich zwei Hebebühnen, darunter eine tiefe, gelb gekachelte Grube. Links von ihm lag ein Stapel Autoreifen. Rechts in einer Ecke waren Felgen aufeinandergetürmt. Die Benzindämpfe reizten seine Augen.
Er kroch bis zu einem ausgeschlachteten BMW und schaute hinüber zum Büro. Es befand sich in der hinteren rechten Ecke, in einer Höhe von ungefähr fünf Metern, sodass der Platz darunter für die Lagerung von Material genutzt werden konnte. Dort lagen weitere Felgen. Man erreichte den Verwaltungsraum über eine schmale Metalltreppe, die in einer Balustrade aus rohem Bauholz mündete. Die Zugangstür zum Büro befand sich in der Mitte zwischen zwei Fenstern, die mit Jalousien abgedunkelt waren.
Er lauschte gespannt. Das Einzige, was er hörte, waren der Regen und dröhnende Housemusik aus den Lautsprechern des Ghettoblasters, den er irgendwo links von seinem Standort lokalisierte. Er wartete. Sah, wie der Boden unter ihm nass tropfte. Erst als er sicher war, dass sich niemand außerhalb des Büros aufhielt, ging er hinter dem BMW in die Knie und streifte seine Motorradhaube ab. Wrang sie aus. Zog sie wieder über den Kopf. Sie fühlte sich kalt an.
Er stand auf. Rannte rasch, jede Deckung nutzend, hinüber zu der langen Treppe. Mit der HK im Anschlag lief er, so schnell er konnte, die schmalen Stufen hinauf. Das Metall knarzte ein wenig. Doch auch in diesem Fall erwies sich der Regen als äußerst nützlich. Die Tropfen, die gegen die riesigen Metallwände und auf das Dach prasselten, verursachten ein Geräusch, als fielen Millionen Nägel vom Himmel.
Auf der schmalen Balustrade blieb er stehen, mit dem Rücken dicht an der Holzverkleidung. Er richtete die Waffe auf die Tür. Jetzt hörte er Stimmen, die leise sprachen, wie er annahm, auf Russisch. Er verstand kein Wort. Lauschte konzentriert. Vermutete, dass sie zu zweit waren. Entweder hatten sie ihn nicht gehört, oder sie waren Profis mit Nerven aus Stahl und versuchten, ihn plaudernd in Sicherheit zu wiegen, während sie ihn hinter der Tür mit gezogenen Waffen erwarteten. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, und das Adrenalin pulsierte durch seine Adern.
Das war der entscheidende Moment.
Monatelang hatte er sich darauf vorbereitet.
Das war seine Chance.
Los!
Mit voller Wucht trat er die Tür ein, feuerte einen Schuss auf den Boden ab und zog sich blitzschnell wieder zurück. Rollte sich auf dem Boden zusammen. Wenn jetzt geschossen wurde, dann auf Brusthöhe. Immer zu hoch. Aber nichts geschah.
Nur den Bruchteil einer Sekunde später stand er drin, die HK mit gestrecktem Arm vor sich haltend. Mit einem Blick erfasste er die Situation in dem engen, verrauchten und irgendwie süßlich riechenden Raum. Zwei alte Metallschreibtische, ein mit Stickern beklebter Holzschrank in der Ecke, unbehandelter Holzboden. Auf der linken Seite ein kleiner Tisch, an dem zwei Männer saßen, ein älterer mit ergrauendem Haar und ein jüngerer, schmalerer. Auf dem Tisch lagen Banknotenbündel ausgebreitet. Die Beute des heutigen Tages.
Die Männer starrten mit großen Augen in den Pistolenlauf. Eher erstaunt und verärgert als ängstlich. Sie waren an Gewalt gewöhnt. Daran gewöhnt man sich schnell, das wusste er aus Erfahrung.
Beängstigend schnell.
Mit einer fast unmenschlichen Selbstbeherrschung sagte er: »Auf den Boden, die Hände hinter den Kopf.« Die Männer blickten ihn weiterhin an. Sie rührten sich nicht. Der ältere starrte wie angewurzelt in den Lauf der HK und schien weniger selbstsicher zu sein, als er vorgab. Die Augen des jüngeren wanderten zum Tisch. Er folgte dessen flüchtigem Blick und sah eine Waffe neben den Geldscheinen liegen.
Das konnte ins Auge gehen.
»Hinlegen, verdammt, und zwar plötzlich!«
Zur Bekräftigung feuerte er nochmals einen Schuss ab, knapp am Kopf des jüngeren vorbei. Die Kugel schlug ein Loch in den Schrank hinter den Männern, und der Raum füllte sich mit umherflatterndem Papier, Staub und Holzsplittern. Jetzt ließen sie sich zu Boden fallen.
Blitzschnell griff er nach der Waffe auf dem Tisch, einer kleinen, silberfarbenen Pistole mit lächerlich kurzem Lauf, insgesamt höchstens fünfzehn Zentimeter lang. Er prüfte, ob sie gesichert war, und steckte sie ein.
Die Männer regten sich nicht. Er streifte seinen Rucksack ab und stellte ihn auf den Tisch. Ließ die beiden Männer nicht aus den Augen. Packte mit der freien Hand alle Banknoten ein, die sich in Reichweite befanden. Noch immer hatten sich die beiden Russen nicht gemuckst. Sie lagen flach auf dem Boden, die Gesichter von ihm abgewandt. Wahrscheinlich rechneten sie damit, jeden Moment eine Kugel abzukriegen. Er zog den Rucksack zu. Steckte die Arme einen nach dem anderen durch die Tragriemen.
Er war noch lange nicht fertig. Jetzt kam der schwierigste Teil. Reinzukommen war eine Sache, mit heiler Haut wieder rauszukommen eine ganz andere. Einfach umdrehen und weglaufen konnte er vergessen. Es gab hier garantiert noch weitere Waffen. Er hätte sie alle einfordern können, aber dabei hätten die beiden mit Sicherheit einen Riesenzirkus veranstaltet. Und je mehr Zeit verstrich, desto größer war die Gefahr, dass er die Situation falsch einschätzte und Fehler beging.
Dann eben die harte Tour, beschloss er spontan. Die beiden waren Scheißkerle. Sie konnten ihm egal sein. Er richtete die HK nach unten und schoss dem jüngeren Mann ins Bein. In dem geschlossenen Raum löste der Schuss eine größere Wirkung aus, als er gedacht hatte. Süßlicher Geruch nach Eisen, Blutgeruch. Pulverdampf. Ihm sausten die Ohren. Das einsetzende Geschrei ging ihm durch Mark und Bein. Gerade wollte er dem zweiten Mann dieselbe Behandlung verpassen und zielte bereits, als er aus den Augenwinkeln heraus sah, dass der junge Mann eine Waffe in der Hand hielt. Für eine halbe Sekunde zeigte die Mündung auf ihn. In einem Reflex riss er die HK herum und drückte den Abzug. Durch die Wucht des Einschlags bäumte sich der Oberkörper des Mannes auf. Wo der Hinterkopf des Russen gewesen war, sah man nur noch eine klebrige Masse aus Haar und Fleisch. Der ältere Mann machte Anstalten sich umzudrehen. Rasch zielte er und schoss erneut, diesmal tiefer. Das.45er Geschoss bohrte sich in den Oberschenkel des Mannes. Er schrie und fluchte. Das würde ihn jedenfalls für eine Weile schachmatt setzen.
Überall war Blut. Er wollte nur noch weg.
Wie vom Teufel gehetzt rannte er aus dem Büro hinaus, die Treppe hinunter und zur Tür, wobei er jede nur mögliche Deckung nutzte. Als er die Halle zur Hälfte durchquert hatte, krachte ein Schuss, dessen Echo durch den Raum hallte. Das Geschoss schlug ein Loch in einen großen Sack mit Styropor-Verpackungsmaterial, keinen Meter von ihm entfernt. Die Stückchen flogen ihm um die Ohren und raubten ihm für einen Moment die Sicht. Zeit, sich umzuschauen, hatte er nicht. Fluchend rannte er weiter, bis er die Ausgangstür fast erreicht hatte. Nochmals wurde ein Schuss abgefeuert, ziemlich ungezielt, denn die Kugel schlug etwa fünf Meter von ihm entfernt ein. Das konnte bedeuten, dass sich der Abstand zwischen ihm und dem Schützen allmählich vergrößerte.
Bei der BMW-Karosserie hielt er inne und duckte sich. Blickte zur Tür. Auf den letzten Metern gab es keinerlei Deckung. Er schaute sich kurz um, lange genug, um zu erkennen, dass der ältere Mann bäuchlings auf der Balustrade lag und gerade seine Waffe nachlud. Er ging in die Hocke, stützte den Arm auf der Motorhaube ab, zielte und drückte ab. Der Mann rollte sich zur Seite und die Kugel durchschlug eines der Bürofenster. Das zersplitternde Glas verursachte einen Höllenlärm, prasselte von der Balustrade hinunter in die Halle. Der Mann war nicht mehr zu sehen. Er feuerte noch ein paarmal und traf dabei die Bürotür und einen Teil der Balustrade. Er lief los und gab sich selbst Deckung, indem er mit einer Hand weiterschoss.
Im nächsten Moment atmete er die ersehnte frische Luft durch seine feuchte Sturmhaube hindurch ein. Er rannte zur Rückseite des Gebäudes, erreichte sein Motorrad, drehte den Zündschlüssel, drückte den Starterknopf und fuhr vorsichtig, um auf den Betonplatten nicht wegzurutschen, in die Nacht hinein.
Bis sich der Mann zum Ausgang geschleppt hatte, war er schon kilometerweit weg, sechshundert Fünfzig-Euro-Scheine sicher verstaut in seinem Rucksack.
3
»Du wirst nicht jünger«, flüsterte Alice ihrem Spiegelbild zu. Sie beugte sich über das Waschbecken, um ihre Haut besser begutachten zu können. In der unbarmherzigen Toilettenbeleuchtung wirkte der Teint ihres klassisch geschnittenen Gesichts mit der dünnen Haut, die sich über die Jochbeine spannte, äußerst ungesund auf sie.
Sie sah aus wie eine Leiche. Eine leblose Meryl Streep.
Gott sei Dank gab es Männer, die so etwas attraktiv fanden.
Nach einer letzten nervösen Inspektion eilte sie den Flur entlang. Öffentlicher Bereich, also Bauch einziehen, Schultern straffen, Augenbrauen leicht hochziehen, um die beginnenden Hängelider zu kaschieren, und forscher Schritt. Sie war kurz vor einem Nervenzusammenbruch, aber keine Frau sollte sich hinter ihrem Rücken über Symptome beginnenden Verfalls lustig machen können. Ihr Ziel war es, immer und überall einen positiven Eindruck zu hinterlassen, egal, wie unbedeutend der Anlass auch sein mochte. Vor allem hier war das wichtig, innerhalb des Stahl- und Glaspalastes von Programs4You.
Fast fünf Jahre lang hatte sie hart gearbeitet, ohne je einen Fehler zu machen. Eine vorbildliche Kraft. Jetzt war die Zeit gekommen, die Früchte ihrer Anstrengungen zu ernten. Sie konnte nicht umhin festzustellen, dass sie die richtige Frau am richtigen Ort und zum richtigen Zeitpunkt war.
Das war die Chance ihres Lebens.
Pauls Büro lag im obersten Stockwerk des ultramodernen Gebäudes, auf der Direktionsetage. Dort gab es keine Fenster. Im gesamten Stockwerk nicht. Das ganze Gebäude war transparent, bis auf das oberste Stockwerk, das von außen aussah wie ein rechteckiger schwarzer Block.
Durch die offene Tür sah sie, dass er telefonierte, in der für ihn typischen Haltung: halb in einem schwarzen Sessel liegend, einen Fuß auf dem Schreibtisch, einen Stift in der Hand, mit dem er ungeduldig auf den Schreibtisch klopfte. Er wirkte wie ein kleiner Junge im Kino, der nicht den ganzen Film über still sitzen konnte und schon nach fünf Minuten quer in seinem Sitz hing. Mit einem Wink gab er ihr zu verstehen, dass sie hereinkommen und ihm gegenüber Platz nehmen sollte. Dabei fuhr er fort zu telefonieren. Alice schaute sich um. So oft kam sie nun auch wieder nicht hierher, in dieses Büro, das bei den Angestellten von Programs4You als »Höhle des Löwen« galt. Schwarzer Teppichboden, drei schwarze Wände. Die vierte Wand direkt gegenüber von Pauls lederbezogenem Schreibtisch war dagegen vollständig mit Spiegelglas verkleidet, sodass er den ganzen Tag die Person vor Augen hatte, die ihm am meisten am Herzen lag. Der Raum wurde von Spots erhellt, die in die schwarze Decke eingelassen waren.
Sie war beeindruckt. Was vermutlich der Zweck des Ganzen war.
»Du hast es schon gehört, nehme ich an?«
Sie schrak aus ihren Gedanken auf und nickte mechanisch. »Dreams4You wird produziert«, sagte sie. »Herzlichen Glückwunsch. Bestimmt bist du sehr zufrieden damit.«
Er saugte auf eine kindliche Art seine Unterlippe ein und lehnte sich in seinem Ledersessel zurück, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Den Stift hatte er inzwischen weggelegt. Noch immer blickte sie auf die Sohle einer seiner Schuhe. Van Bommels.
»Zufrieden? Kann man wohl sagen. Endlich habe ich diese trägen Säcke so weit gekriegt. Hat mich eine Stange Geld gekostet, sie zu mästen und abzufüllen. Aber der Vertrag ist unterzeichnet. Veni, vidi, vici!« Während seines gesamten Monologes hatte er kampflustig sein eigenes Spiegelbild hinter ihr angeschaut.
»Wo soll die Sendung denn ausgestrahlt werden?«
»Auf Y