Verruchte Begierde - Sandra Brown - E-Book

Verruchte Begierde E-Book

Sandra Brown

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Beschreibung

Ein neues, verführerisches Katz-und-Maus-Spiel von New York Times-Bestsellerautorin Sandra Brown

Fernsehmoderatorin Kari Wynne macht einen einzigen Mann für ihr Unglück verantwortlich – den zielstrebigen Rechtsanwalt McKee. Wegen ihm wurde ihr verstorbener Gatte verleumdet und ihr Leben zerstört. Nun ist Kari fest entschlossen, sein Ansehen wieder herzustellen und den Skandal zu ersticken. Doch bei der Suche nach der Wahrheit über ihren geliebten Ehemann und den Mann, den sie hassen möchte, flammen nicht nur Hassgefühle auf, sondern auch eine unerwartete Leidenschaft, die sie sowohl erschreckt, als auch unendlich verzückt …

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Seitenzahl: 432

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Buch

Fernsehmoderatorin kari Wynne macht einen einzigen Mann für ihr Unglück verantwortich – den zielstrebigen Rechtsanwalt Mckee. Wegen ihm wurde ihr verstorbener Gatte verleumdet und ihr Leben zerstört. Nun ist Kari fest entschlossen, sein Ansehen wiederhezustellen und den Skandal zu ersticken. Doch bei der Suche nach der Wahrheit über ihren geliebten Ehemann und den Mann, den sie hassen möchte, flammen nicht nur Hassgefühle auf, sondern auch eine unerwartete Leidenschaft, die sie sowohl erschreckt als auch unendlich verzückt ...

Autorin

Sandra Brown arbeitete als Schauspielerin und TV-Journalistin, bevor sie mit ihrem Roman Trügerischer Spiegel auf Anhieb einen großen Erfolg landete. Inzwischen ist sie eine der erfolgreichsten internationalen Autorinnen, die mit jedem ihrer Bücher die Spitzenplätze der New-York-Times-Bestsellerliste erreicht! Ihren großen Durchbruch als Thrillerautorin feierte Sandra Brown mit dem Roman Die Zeugin, der auch in Deutschland auf die Bestsellelisten kletterte – ein Erfolg, den sie mit jedem neuen Roman noch einmal übertreffen konnte. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.

Weitere Informationen finden Sie unter: www.sandra-brown.de

Inhaltsverzeichnis

BuchAutorinVorwortKapitel 1Copyright

Liebe Leserin,

bevor ich anfing, Thriller zu schreiben, habe ich jahrelang Romanzen verfasst. Verruchte Begierde wurde zum ersten Mal vor über zehn Jahren veröffentlicht.

Die Geschichte spiegelt die damals modernen Trends und Einstellungen wider, das Thema aber hat allzeit universelle Gültigkeit. Wie in allen Romanzen geht es auch in diesem Werk um zwei Menschen, deren Liebe unter einem schlechten Stern zu stehen scheint. Es gibt Augenblicke der Leidenschaft, des Schmerzes und der Zärtlichkeit – sie alle gehören dazu, wenn man sich in jemanden verliebt.

Das Schreiben von Romanzen hat mir großen Spaß gemacht. Sie haben eine optimistische Ausrichtung und einen ganz eigenen Charme. Falls Sie zum ersten Mal ein Buch dieser Gattung lesen, wünsche ich Ihnen dabei viel Spaß.

Sandra Brown

1

»Wir haben ein Feuer südlich der Sechsten in der Clermont Avenue. 42H auf eurer Karte. Seht zu, dass ihr dort schleunigst hinkommt. Ich will ein paar gute Aufnahmen.«

Die zweieinhalb Zentimeter lange Aschespitze von Pinkie Lewis’ Zigarette rieselte unbemerkt auf seine verkratzte, mit Papieren übersäte, zugemüllte Schreibtischplatte. Der gestresste Nachrichtenredakteur legte eine kurze Pause ein und begrüßte die junge Frau, die gerade ein zwei Tage altes Weberli, eine Rolle Abdeckband und zwei Becher kalten, grauen Kaffees an die Seite geschoben und dann auf der Kante seines Schreibtischs mit einem knappen »Hallo, Schatz!« Platz genommen hatte.

»Wenn ihr mit dem Feuer fertig seid«, lenkte er seine Aufmerksamkeit wieder auf die beiden Männer, die vor seinem Schreibtisch lungerten, »fahrt noch bei der Grundschule vorbei, in der die Drittklässler Briefe an die Russen schreiben. Falls wir noch eine Lücke in den Sechs-Uhr-Nachrichten haben, gibt das eine nette Human-Interest-Story ab. Habt ihr irgendwas von Jack gehört? Er sollte die Festnahme der Drogendealer filmen und ist schon seit vier Stunden unterwegs.«

»Vielleicht hofft er ja, dass sie ihn das Zeug probieren lassen, und hängt deshalb noch ein bisschen länger da herum.« Grinsend schulterte der Kameramann sein Gerät. Der Reporter, der gerade sein Jackett anzog, fand die Bemerkung seines Kollegen offenkundig witzig, denn er lachte brüllend auf.

»Dafür kriege ich den Kerl am Arsch«, stieß Pinkie knurrend aus. »Also, worauf wartet ihr beiden faulen Säcke noch?« Das Grinsen der beiden Männer war wie weggewischt. Wenn Pinkie mit dieser Stimme sprach, gingen in den meisten Menschen wundersame Veränderungen vor. »Bis ihr endlich vor Ort seid, ist das verdammte Feuer wahrscheinlich längst gelöscht. Aber ich will Flammen, Rauch, Tragödien sehen«, brüllte er und schwenkte, um seine Worte zu untermalen, seine Arme durch die Luft. »Also haut endlich ab!«

Der Reporter und der Kameramann stolperten eilig los. Pinkie starrte ihnen böse hinterher und raufte sich das Haar. Oder hätte sich das Haar gerauft, hätte er noch mehr gehabt. So strich er sich mit der Hand über den sich immer weiter ausdehnenden kahlen Fleck oberhalb seiner fleischigen Stirn. Den Spitznamen Pinkie trug er wegen seines hellen Haars und dem stets geröteten Gesicht.

»Eines Tages kriegst du sicher einen Herzinfarkt«, bemerkte die junge Frau und drückte angewidert drei vergessene Kippen in dem überfüllten Aschenbecher aus. Er hatte sie nicht richtig ausgemacht, und so schickten sie Schwaden stinkenden Rauchs in die bereits verseuchte Luft des Redaktionsraumes.

»Nee. Dafür trinke ich zu viel Whiskey. Da traut sich keine Krankheit mehr an mich heran.« Pinkie griff nach einem Styroporbecher, trank einen Schluck und verzog angewidert das Gesicht. »Los, ich lade dich auf einen Kaffee ein«, erklärte er, nahm die junge Frau am Arm und führte sie durch den Flur in Richtung der verschiedenen Süßigkeiten- und Getränkeautomaten, die extra in einer Nische standen, damit sie den beständigen Fußgängerverkehr zwischen den Büros nicht behinderten.

Wie gewöhnlich klopfte er sich auf die Tasche, ohne dass er das erforderliche Kleingeld darin fand. »Lass mich dieses Mal bezahlen«, schlug ihm Kari Stewart lächelnd vor. Der Kaffee war zu schwarz und viel zu bitter, doch zumindest war er heiß. Sie lehnte sich gegen die Wand, stellte ihre Beine voreinander und nahm einen vorsichtigen Schluck.

Das Lächeln, mit dem Pinkie sie bedachte, verriet väterliche Zuneigung. »Schön, dass du vorbeigekommen bist. Bisher war es einfach ein grauenhafter Tag. Eine der Videokameras hat den Geist aufgegeben. Die Reparatur wird ein Vermögen kosten, und dann machen sie mir die Hölle heiß, weil ich das Budget mal wieder überzogen habe. Außerdem sind zwei zwar wenig pfiffige, aber zuverlässige Leute mit Grippe ausgefallen«, bellte er. »Ich brauche einen Drink.«

»Du brauchst eine anständige warme Mahlzeit, deutlich weniger Zigaretten, deutlich weniger Whiskey …«

»Ja, Mutter …«

»… und eine gute Frau, die dich ordentlich versorgt.«

»Ach ja?«, fragte Pinkie kämpferisch. Das Thema war ihm hinlänglich vertraut. »Schwebt dir da vielleicht jemand Spezielles vor?«

»Bonnie.«

»Diese vertrocknete, alte Schachtel! Die ist doch viel zu alt für mich.«

Kari lachte unbekümmert auf. Die Telefonistin, die sämtliche Anrufe bei dem Sender mit erstaunlicher Effizienz und endloser Geduld entgegennahm, hatte schon seit Jahren eine Schwäche für den bärbeißigen Redakteur. »Du wirst dich niemals ändern, Pinkie. Du bist voreingenommen, stur, knurrig und berechenbar. Genau das ist es, was ich an dir liebe.« Sie pikste fröhlich in den Rettungsring, der über seinem Gürtel hing.

»Wie ist das Interview gelaufen?«

»Er war genauso ätzend wie sein Ruf.« Kari hatte morgens einen alternden Schauspieler besucht, der bisher vor allem in Comedy-Serien aufgetreten war, jetzt aber zum »richtigen Theater« gewechselt hatte und mit einer Truppe bei sogenannten Theater-Dinnern seine Kunst zum Besten gab. »Ich kann verstehen, warum seine diversen Serien derart den Bach runtergegangen sind. Er war unhöflich, widerlich und herablassend. Aber wie heißt es doch so schön? Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Ich habe mir die Probe gestern Abend angesehen. Es war einfach grauenhaft. Ich hätte nicht gedacht, dass jemand ein tolles Neil-Simon-Stück derart ruinieren kann.«

Pinkie zerknüllte seinen leeren Becher, warf ihn Richtung Mülleimer und merkte nicht, dass er daneben traf. »Mach den alten Knacker ohne Rücksicht auf Verluste fertig, ja? Ich will Biss in meiner Sendung haben, selbst in deinem Unterhaltungsteil.«

Kari salutierte. »Zu Befehl, Herr General.«

Er verzog sein leuchtendes Gesicht zu einem Grinsen und zündete sich eine neue filterlose Zigarette an. »Das ist es, was ich an dir liebe. Du machst mir niemals irgendwelche Scherereien.« Er schlenderte in Richtung des Redaktionsraumes davon und rief ihr über die Schulter zu: »Außerdem hast du phänomenale Beine.«

Kari nahm das Kompliment als die neckische Geste zwischen Freunden, die es war. Pinkie war ihr Freund und ihr Verbündeter, seit sie fünf Jahre zuvor von WBTV unter Vertrag genommen worden war. Während andere sich von dem knurrigen Redakteur einschüchtern ließen, hatte sie als grüne Praktikantin ohne jedwede Erfahrung seinen Bluff nach ein paar Monaten durchschaut und sich dadurch seinen ewigen Respekt verdient. Sie sprach mit ihm, wie es kein anderer jemals wagen würde, und kam, weil sie sich gegenseitig wirklich mochten, damit durch. Sie wusste, dass er nicht mal annähernd so bissig war, wie er immer tat.

Pinkie sah in ihr eine engagierte, eifrige und gründliche Reporterin, bei der er sich darauf verlassen konnte, dass sie keinen »Bockmist« fabrizierte wie die meisten anderen, wenn man ihnen nicht andauernd auf die Finger sah. Er mochte auch ihre warme, herzliche Persönlichkeit und ihre ausgeprägte Weiblichkeit, und seine Hoffnung hatte sich bestätigt, dass die Zuschauer des Senders von ihr ebenso begeistert wären wie er selbst.

Als Kari zwei Jahre zuvor die Frau von Thomas Wynne geworden war, hatte Pinkie Angst gehabt, er würde sie verlieren. Doch sie hatte ihm versichert, dass sie ihre Arbeit weiterführen würde und dass Thomas damit einverstanden war. »Bis wir beschließen, eine Familie zu gründen, will er, dass ich weiter tue und lasse, was ich will. Und ich will weiter für dich arbeiten«, hatte sie ihm erklärt.

»Vielleicht gerätst du dabei in einen Interessenkonflikt, Kari«, hatte Pinkie düster festgestellt. »Wie kannst du unvoreingenommen über die Politik in unserer Stadt berichten, wenn dein eigener Mann im Stadtrat sitzt?«

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Und auch wenn ich es schrecklich finde, mich aus dem Bereich zurückzuziehen, habe ich wahrscheinlich keine andere Wahl.«

»Und was willst du stattdessen tun?«

»Ich habe bereits eine Idee. Wir wäre es, wenn die Nachrichtensendung einen Unterhaltungsteil bekäme?«

Seine weißen Augenbrauen waren hochgeschossen, dann aber hatte er nachdenklich die Stirn in Falten gelegt. »Was stellst du dir genau darunter vor?«

Er hatte auf ihre Urteilskraft und ihre Fähigkeit, ihre Idee erfolgreich umzusetzen, vertraut. Kari Stewarts Kritiken waren ein Highlight jeder Sendung. Sie war scharfsinnig und amüsant, ohne jemals bösartig oder beleidigend zu sein, und die Zuschauer beteten sie an.

Jetzt ging Kari in den Schneideraum, machte die Tür hinter sich zu, setzte sich auf einen Stuhl und fischte die Videokassette aus der überdimensionalen Tasche, die sie immer bei sich trug. Dann schob sie sich ihre blonde Lockenmähne aus dem Gesicht, steckte die Kassette in den dafür vorgesehenen Schlitz des Schneidegeräts und sah sich das Interview, das sie vor kaum einer Stunde geführt hatte, noch einmal an.

Sie griff nach dem Telefon und wählte eine Nummer. »Sam, hi. Kari hier. Kannst du den Film, den du gestern Abend bei der Probe gedreht hast, bitte in Schneideraum drei bringen? Danke.«

Ein paar Momente später ging die Tür hinter ihr auf. »Danke, Sam. Leg die Kassette einfach auf den Tisch. Ich füge Ausschnitte daraus in meinen Beitrag ein.«

Sie drückte ein paar Knöpfe, sah sich abwechselnd den ungeschnittenen Film und die Zusammenschnitte an, und da sie derart in die Arbeit vertieft war, bemerkte sie gar nicht, dass die Tür nicht wieder zugegangen war.

»Kari.«

Pinkies Stimme und der ungewohnte Ton, in dem er sprach, brachten sie dazu, die Arbeit kurz zu unterbrechen und den Kopf zu drehen. Sie hatte ihn bereits erlebt, wenn er total begeistert war, weil sie mit einer Story alle Konkurrenten ausgestochen hatten, oder wenn er melancholisch seinen Whiskey trank, da er mit den Einschaltquoten einer Sendung nicht zufrieden war. So wie in diesem Augenblick jedoch hatte sie ihren Freund noch nie gesehen: todernst, mit herabhängenden Schultern, niedergeschlagen, und – was am untypischsten war – kreidebleich.

Sie erhob sich halb von ihrem Stuhl. »Pinkie, was ist los?«

Er legte eine Hand auf ihre Schulter und drückte sie sanft zurück auf ihren Platz.

»Vor ein paar Minuten kam über Polizeifunk eine Unfallmeldung rein.«

»Und?« Sie bekam Angst. »Was für eine Unfallmeldung?«

Er strich sich mit der Hand über den Kopf, fuhr sich dann durch das Gesicht und verzerrte dadurch seine Züge. »Ein Fahrzeug hat einen Fußgänger erwischt. Nur ein paar Blocks von hier entfernt, mitten in der City. Ich habe einen Kameramann hingeschickt. Er hat gerade angerufen.«

Sie schob seine Hände fort, als er versuchte, sie an ihrem Platz zu halten, und stand wieder auf. »Thomas? Ist etwas mit Thomas?« Es gab sonst niemanden in ihrem Leben. Pinkie würde sich nicht so verhalten, wenn es nicht um Thomas ginge, wusste sie.

Sie stürzte zur Tür, doch Pinkie hielt sie fest. »Ja, Kari.«

»Ist er verletzt? Was ist mit ihm? Was ist passiert?«

»Er wurde von einem Laster angefahren.«

»Oh, mein Gott.«

Pinkie sah auf ihre Brust, die für ihn ungefähr auf Augenhöhe war. »Er … er war auf der Stelle tot. Es tut mir leid, Schätzchen.«

Während eines Augenblicks brachte sie keinen Ton heraus und stand völlig reglos da. Vor Entsetzen war sie wie gelähmt. Dann wollte sie mit leiser Stimme wissen: »Du sagst, Thomas ist tot?«

Sie packte Pinkies Hemd und fing an, ihn zu schütteln. »Ein Laster hat ihn überfahren? Hat ihn einfach überfahren?«, schrie sie ihn verzweifelt an.

Inzwischen drängten sich mehrere Angestellte des Senders in der Tür des Schneideraums. Die Frauen schluchzten leise vor sich hin, und den Männern war ihr Unbehagen deutlich anzusehen.

»Kari, Kari.« Pinkie tätschelte ihr begütigend den Rücken.

»Das muss ein Irrtum sein. Es kann ganz unmöglich …«

»Ich habe es mir von dem Reporter ein Dutzend Mal bestätigen lassen, bevor ich hierhergekommen bin.«

Sie war kreidebleich, starrte ihn mit großen Augen an und bewegte ihre Lippen, brachte aber keinen Ton heraus.

»Komm«, bat Pinkie sanft. »Sie haben ihn ins Krankenhaus gebracht. Ich fahre dich hin.«

Zuallererst fiel ihr die Kälte auf. Sie war nie zuvor in einem derart kalten Raum gewesen, dachte sie. Die doppelte Schwingtür hinter ihr ging lautlos zu, als sie an Pinkies Arm den Raum betrat. Sie drängte sich an ihren Freund, denn dieser nüchterne, klinische Ort war ihr sofort verhasst.

Die Neonlichter taten in den Augen weh, und sie empfand die Helligkeit beinahe als Beleidigung. Sollte dieser Raum nicht dunkel sein, um dem Tod eine gewisse Würde zu verleihen? Hier aber galt der Tod nur als physikalisches Phänomen. Der ganze Raum war unglaublich steril. Und entsetzlich kalt.

Sie hätte am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht, aber Pinkie hielt sie fest.

An einem Schreibtisch saß ein Mann in einem weißen Kittel. Als er sie entdeckte, stand er sofort auf. »Mrs Wynne?«

»Ja.«

Er führte sie zu einem großen Tisch, auf dem die Gestalt eines Mannes unter einem weißen Laken lag. Kari stieß ein leises Wimmern aus und warf sich die Hand vor den Mund.

Wie sollte sie es ertragen, sich Thomas’ verstümmelten, blutigen Leichnam anzusehen? Würde sie ihm und auch sich selbst Schande machen mit ihrer Reaktion? Würde sie in Ohnmacht fallen? Einen hysterischen Anfall bekommen? Anfangen zu schreien?

Der Pathologe schlug das Laken auf.

Vielleicht hatte sich ja irgendwer einen geschmacklosen Schmerz mit ihr erlaubt? Oder vielleicht war dies alles nur ein grässliches Versehen?

Sie starrte auf den Mann, der das Laken hielt, und er sah die unausgesprochene Frage und den Unglauben in ihrem Blick.

»Der Aufprall hat ihn getötet«, erklärte er ihr sanft. »Der Laster hat ihn von hinten erwischt, und das Trauma hat sich über sein Rückgrat bis in seinen Schädel ausgedehnt. Er hat eine Schwellung am Rücken. Davon abgesehen …«

Er sprach den Satz nicht zu Ende aus.

Kari starrte auf den Körper ihres Mannes. Er sah aus, als schliefe er. Sein Gesicht war vollkommen entspannt. Das silbergraue Haar, das sie bei ihrer ersten Begegnung so attraktiv gefunden hatte, war ordentlich frisiert. Die Hand, die neben seinem Körper lag, sah aus, als ruhe sie sich nur ein wenig aus, wäre aber jederzeit bereit, sich einen Tennisschläger zu schnappen oder ihr über das Haar zu streichen, wie er es so gerne tat.

Sein hochgewachsener Körper wirkte noch genauso stark wie am Vormittag, als er sie zum Abschied in den Arm genommen hatte. Er hatte geradezu fanatisch in einem Fitness-Studio trainiert, um seine straffen Muskeln zu erhalten und damit er nicht wie viele andere Männer seines Alters auseinanderging.

»Thomas, Thomas, Liebling.« Die Wände des kalten Raumes warfen ihre geflüsterten Worte laut zurück. Fast hätte sie erwartet, dass er die Augen öffnen würde, um sie lächelnd anzusehen. Dass sie wieder das wunderbare Blitzen seiner leuchtend blauen Augen sehen und hören würde, wie er ihr mit seiner volltönenden Stimme eine Antwort gab.

Sie hatte gedacht, es würde unerträglich, seinen malträtierten Leib zu sehen. Doch es war beinahe noch schlimmer, dass er so normal erschien. Sein unberührter Zustand machte alles nur noch irrealer und absurder. So, als wäre all das nicht geschehen.

Doch es war geschehen. Weshalb er schrecklich still auf diesem Stahltisch lag.

»Wo sollen wir ihn hinschicken?«

»Ihn hinschicken?«

»Ich werde Sie nachher anrufen«, wandte sich Pinkie an den Mann. »Mrs Wynne hatte noch keine Zeit, um irgendwas zu arrangieren.«

»Verstehe.« Der Pathologe wollte Thomas wieder zudecken.

»Warten Sie!«, schrie sie. Ihre Worte prallten gespenstisch von den Wänden ab. Sie konnte Thomas nicht alleine lassen. Nicht an diesem grauenhaften Ort. Nicht in diesem kalten, kalten Raum.Wenn sie ihn hier liegen ließe, mit dem Laken über dem Gesicht, wäre es offiziell. Damit käme sie noch nicht zurecht. Sie konnte sich ganz einfach noch nicht eingestehen, dass Thomas, dass ihr Ehemann nicht mehr am Leben war.

Pinkie legte ihr sanft die Hände auf die Schultern. »Komm, Kari, wir müssen wieder gehen.«

»Thomas.« Ein dichter Strom von Tränen rann ihr über das Gesicht. Zögernd streckte sie die Finger nach ihm aus. Berührte sein Haar und seine Stirn.

Dann brach sie wild schluchzend in Pinkies Armen zusammen, und er führte sie hinaus.

Der Zusammenstoß war völlig unerwartet, einmalig, bizarr gewesen, sagten alle Zeugen aus. Es war ein schöner Tag gewesen, doch aus irgendeinem Grund hatte der Fahrer des Lieferwagens plötzlich die Kontrolle über das Fahrzeug verloren, als er um eine Ecke gebogen war. Der Laster war ins Schwanken geraten, auf den Bürgersteig gekracht und hatte Denver einer seiner angesehensten Bürger sowie Kari Stewart Wynne ihres Ehemanns beraubt. Er war nach einer Verabredung zum Mittagessen auf dem Weg zurück in Richtung des Gerichts gewesen. Hatte sich dabei wahrscheinlich in der trügerischen Sicherheit gewiegt, die die meisten Menschen den Gedanken daran, dass sie einmal sterben müssen, erfolgreich verdrängen ließ.

Doch der Aufprall auf den Gehweg hatte ihn sofort getötet.

Kari starrte auf den blumengeschmückten Sarg. Konnte es tatsächlich sein, dass ihr dynamischer, vitaler Ehemann leblos in dieser Kiste lag?

Sie packte Pinkies Hand. Er war ihr in den letzten beiden Tagen eine große Stütze gewesen und hatte unzählige Details geklärt, während sie selber wie in Trance herumgelaufen war. Sie war dankbar für dieses mentale Niemandsland, in dem sie sich bewegte. Denn es schützte sie vor der Realität. Ohne diesen Rückzugsort käme sie mit alldem sicher nicht zurecht.

Sie hatte keine Eltern mehr, die ihr hätten beistehen können. Ihre Mutter war gestorben, als sie noch ein Kind gewesen war, und ihr Vater, den sie angebetet und bewundert hatte, hatte das Zeitliche gesegnet, kurz bevor sie mit ihrem Abschluss in Kommunikationswissenschaft vom College abgegangen war.

Und jetzt hatte das Schicksal ihr auch noch Thomas genommen.

Sie vollzog die Rituale der Beerdigung, fühlte sich dabei aber vollkommen leer.

Erst, als sie zusammen mit Bonnie in Pinkies Wagen saß und er sie nach Hause fuhr, brach sie in Tränen aus. Bonnie hielt ihr schweigend eine Packung Taschentücher hin.

»Wisst ihr noch, als wir geheiratet haben?«, wollte Kari von den beiden wissen. »Die Leute waren damals vollkommen schockiert.« Ihre Stimme hatte einen rauen Klang. Vielleicht hatte sie mehr geweint, als ihr bewusst gewesen war.

»Die Leute sind immer geschockt, wenn ein Paar nicht der Norm entspricht. Und du warst über dreißig Jahre jünger als dein Mann«, stellte Bonnie fest.

»Zweiunddreißig, um genau zu sein. Doch für mich hat es sich nie so angefühlt.«

»Thomas hat auch nicht so alt ausgesehen, wie er war. Und er hat ganz sicher nicht wie die meisten anderen Männer Anfang sechzig gelebt.«

Kari lächelte Bonnie an. »Nein, das hat er nicht.« Dann blickte sie aus dem Fenster und war überrascht, als sie das Treiben auf der Straße sah. Aber schließlich war dies für die meisten Menschen ein normaler Wochentag. Für sie alle ging das Leben einfach weiter, wie wenn nichts geschehen wäre.

»Der Tod meines Vaters hat mich fertiggemacht«, meinte sie nachdenklich. »Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich, als ich zum Sender kam, nur das einzige Ziel im Leben hatte, beruflich erfolgreich zu sein. Ich wollte damals nur noch für meine Arbeit leben. Doch dann habe ich Thomas kennengelernt. Er hat meinem Leben wieder einen Sinn gegeben. Ich weiß nicht, was ich ohne ihn gemacht hätte. Wir waren so glücklich.« Sie stieß einen Seufzer aus. »Ist das Schicksal eifersüchtig, wenn man glücklich ist?«

»Manchmal denke ich, dass es so ist«, pflichtete ihr Bonnie freundlich bei. »Du bist wunderschön und ungeheuer talentiert. Thomas Wynne war reich und ungemein erfolgreich. Es hat immer so gewirkt, als ob ihr beiden alles hättet, was man sich nur wünschen kann.«

»Das hatten wir tatsächlich«, bestätigte Kari, während Pinkie seinen Wagen in die Einfahrt des Hauses lenkte, das ihr und Thomas’ Heim gewesen war. »Bitte kommt doch noch mit rein.«

»Bist du sicher?«, fragte Pinkie sie. »Wir wollen uns bestimmt nicht aufdrängen, aber ich könnte einen Schluck von irgendetwas Alkoholischem vertragen.«

»Ich habe noch eine Flasche deines Lieblingsbrandys«, sagte Kari, zog den Schlüssel aus der Tasche und machte die Haustür auf. Sie hatte den Angestellten heute freigegeben, damit sie die Beerdigung besuchen konnten und weil ihr bewusst gewesen war, dass sie nur die engsten Freunde um sich haben wollen würde, wenn sie nach der Trauerfeier nach Hause kam. »Und außer dir würde kein Mensch jemals diesen Fusel trinken.«

Pinkie wusste es zu schätzen, dass sie sich bemühte, einen kleinen Scherz zu machen. Denn ihm war bewusst, dass sie innerlich völlig gebrochen war. Sie hatte Thomas angebetet und noch nicht mal einen Hauch von Kritik vertragen, wenn sie gegen ihren Mann gelenkt gewesen war. Er hatte insgeheim immer gedacht, dass diese Beziehung nicht gesund für Kari war, hätte das ihr gegenüber aber niemals laut gesagt.

Trotz des fahlen Sonnenlichts, das durch die Sprossenfenster fiel, war es im Inneren des Hauses düster und empfindlich kühl. Kari drehte den Thermostat ein wenig höher, als sie das Wohnzimmer betrat, nahm ihren Hut ab und zog ihren Mantel aus, schien nicht zu wissen, was sie damit machen sollte, und warf schließlich beides einfach achtlos über einen Stuhl.

»Ich werde die Drinks besorgen«, bot sich Pinkie an und trat bereits vor die antike Bar. »Was möchtest du, Bonnie?«

»Whiskey, ohne alles.«

»So ist’s recht. Kari?«

»Oh … egal«, murmelte sie, während sie sich ermattet auf das Sofa sinken ließ.

Bonnie Strand beugte sich leicht in ihrem Sessel vor und nahm Karis Hand. Pinkie hatte sie wenig schmeichelhaft als alte Schachtel tituliert. Doch das war sie ganz sicher nicht. Die silbrig grauen Strähnen in den braunen Haaren machten ihre Züge weich, und durch die Falten, die sie hatte, wurde ihr ausdrucksvolles Mienenspiel nicht geschmälert, sondern durchaus vorteilhaft betont.

Sie war eine noch immer attraktive Frau von Mitte vierzig, die von ihrem Mann nach der Geburt des dritten Sohns verlassen worden war. Über zwanzig Jahre hatte sie sich abgerackert, um ihre Familie durchzubringen, jetzt aber war auch der jüngste ihrer Söhne mit dem College fertig und hatte sich mit einigem Erfolg ein eigenes Leben aufgebaut. Bonnie war zäh, doch weichherzig und Karis Meinung nach einer der »normalsten« Menschen, denen sie jemals begegnet war.

»Ich werde hier ausziehen müssen«, durchbrach Kari die Stille in dem Raum.

»Warum?«, fragte Bonnie verständnislos.

»Schätzchen«, meinte Pinkie, als er mit den Gläsern vor die beiden Frauen trat. »Du bist nicht in der Verfassung, um eine solche Entscheidung zu treffen.«

»Wenn ich mich nicht konzentriere, wenn ich nicht nachdenke, wird mein Hirn noch mehr verkümmern, und ich werde ins Koma sinken oder so.« Sie musste sich zwingen weiterzuleben, sahen sie das nicht? Am liebsten hätte sie einfach die Augen zugemacht und gar nichts mehr getan, vor allem nicht über die Zukunft nachgedacht, aber ihr war klar, dass sie keine andere Wahl hatte. »Sobald meine Sachen gepackt sind, ziehe ich hier aus.«

»Bist du sicher, dass es das ist, was du willst?« Pinkie sah sie forschend an und drückte ihr eins der Gläser in die Hand.

Er hatte Brandy für sie ausgesucht. Sie nahm einen vorsichtigen Schluck und spürte, wie die Flüssigkeit durch ihren Hals in ihren Magen rann. »Ja. Thomas hat dieses Haus mit seiner ersten Familie gebaut. Seinen Sohn und seine Tochter habt ihr vorhin gesehen. Sie hätten mich ablehnen können, als wir geheiratet haben. Aber das haben sie nicht getan. Ihre Mutter hat aus diesem Haus das Heim gemacht, in dem sie aufgewachsen sind. Ich hätte nie gewollt, dass sie das Gefühl haben, ich würde mir etwas nehmen, was mir nicht gehört.« Sie nippte erneut an ihrem Drink. »Als Thomas nach unserer Hochzeit sein Testament geändert hat, habe ich deshalb darauf bestanden, dass er dieses Haus seinen Kindern hinterlässt.«

»Was ein ziemlich großes Zugeständnis war«, stellte Pinkie fest. »Schließlich ist der Schuppen mindestens eine Million wert.«

Das in Cherry Hills, Denvers exklusivster Wohngegend, gelegene Grundstück war weit über einen Hektar groß. Eine von Blautannen gesäumte Einfahrt führte zu einem Herrenhaus im Tudorstil mit fünfzehn Räumen und zu einem Garten mit Swimmingpool, beleuchtetem Tennisplatz und modernen Stallungen. Das Grundstück war also mindestens so spektakulär wie das Gebäude selbst.

Sie breitete die Arme aus und zwang sich zu einem Lächeln, als sie von den beiden anderen wissen wollte: »Was sollte ein Mädchen aus der Arbeiterklasse denn mit all dem Raum?«

Ihre Freunde sahen sie zweifelnd an.

»Ich werde nicht mehr so viele Gäste einladen, wie Thomas und ich es getan haben. Die meisten unserer Freunde kannte ich sowieso durch ihn. Ich werde also meine Sachen packen und mir eine kleinere Bleibe suchen.« Sie blickte in die Flüssigkeit in ihrem Glas, die im Licht der nachmittäglichen Sonne einen warmen Bernsteinton annahm. »Außerdem will ich hier nicht mehr leben ohne …«

Sie kämpfte mit dem nächsten Tränenstrom, und als sie sich wieder gefasst hatte, blickte sie Pinkie fragend an. »Ich habe doch wohl noch einen Job, oder?«

»Mach dir darüber keine Gedanken«, knurrte er, kehrte zurück zur Bar und schenkte sich noch einmal nach.

»Obwohl Sally Jenkins darauf brennt, endlich meinen Platz zu übernehmen? Nein, Sir. Spätestens in einer Woche bin ich wieder da.«

»Also bitte, Kari«, schnauzte Pinkie und wirbelte zu ihr herum. »Lass dir Zeit. Lass die Wunde heilen. Vergiss das kleine Fräulein Hot Pants. Sie springt vorübergehend für dich ein, aber wenn du wiederkommst, wartet dein alter Job auf dich. Das ist dir doch wohl klar. Da kann die kleine Jenkins heiß sein, wie sie will.«

»Was soll das heißen?«, fragte Bonnie plötzlich argwöhnisch und richtete sich kerzengerade auf.

»Was soll was heißen?«

»Dass die kleine Jenkins heiß ist.«

»Das soll heißen, dass sie beinahe alles täte, nur damit sie einen Platz in der Sendung bekommt.«

»Wie zum Beispiel mit jemandem ins Bett zu gehen, der ihr diesen Platz besorgen könnte?«, stieß Bonnie zwischen zusammengebissenen Zähnen aus.

»Ja, genau.«

»Hat sie dir ein Angebot gemacht?«

Pinkie stemmte seine fleischigen Fäuste in die Hüften und baute sich vor ihr auf. »Ja. Na und?«

»Und was hast du getan?«, fragte Bonnie kühl.

»Nichts. Ich stelle Leute nicht im Bett, sondern im Sender ein.«

Bonnie setzte ein zufriedenes Lächeln auf und lehnte sich wieder bequem zurück. »Und was tust du im Bett?«

Bellend wie ein wütender Hund wandte sich Pinkie wieder Kari zu. »Du weißt, dass dein Job sicher ist.«

Kari hatte den Schlagabtausch zwischen ihren Freunden gebannt mit verfolgt. »Danke, Pinkie. Aber ich will trotzdem nicht allzu lange freimachen. Sobald ich hier ausgezogen bin, komme ich zurück. Das würde auch Thomas wollen«, fügte sie leise hinzu, senkte den Kopf und zog mit ihrem Finger einen endlosen Kreis auf dem Rand von ihrem Glas.

Bonnie bedachte Pinkie mit einem vielsagenden Blick und stand entschlossen auf. »Wir werden dich jetzt alleine lassen, Kari. Oder können wir noch etwas für dich tun?«

Die junge Frau erhob sich ebenfalls. »Nein, danke. Ich komme schon zurecht. Ich brauche erst mal etwas Zeit für mich selbst.«

An der Haustür drückte Pinkie ihr die Hand. »Komm wieder zur Arbeit, wenn du willst, doch sei dir gegenüber nicht zu hart.«

»Das bin ich nicht.«

»Das ist es, was mir so an dir gefällt. Du hast wirklich Mumm.«

Sie sah ihn mit einem zärtlichen Lächeln an. Selbst in seinem dunklen Anzug und mit der Krawatte wirkte er zerzaust und ungepflegt. »Vergiss nicht meine phänomenalen Beine«, stichelte sie sanft.

Er küsste sie auf die Wange und wandte sich unbeholfen ab. Bonnie wartete darauf, dass er ihr die Tür des Wagens öffnete. »Willst du hier vielleicht Wurzeln schlagen?«, fauchte er sie an. »Nun steig schon endlich ein.«

Er quetschte sich hinter das Lenkrad, und die arme Bonnie hatte keine andere Wahl, als die Beifahrertür selber aufzumachen und neben ihm Platz zu nehmen, bevor er sie womöglich einfach stehen ließ. Nachdem sie eingestiegen war, zog sie die Tür geräuschvoll wieder zu, und sie fuhren davon.

Ein Lächeln umspielte Karis Lippen, das jedoch sofort wieder verflog, als sie die Haustür schloss und sich der Leere dieses großen Hauses und der Leere ihres zukünftigen Lebens gegenübersah.

Das Bier war kalt und bitter, aber ohne es zu schmecken, stellte er die Dose wieder fort.

Er lungerte in seinem Lieblingssessel, der sich an sein Rückgrat schmiegte, als hätte der Designer seine Form extra an seinen Körper angepasst, stellte die Fingerkuppen aneinander und starrte über das auf diese Art geformte Zelt auf den Bildschirm seines Fernsehers. Die Kiste war auf Stumm geschaltet, denn den gesprochenen Teil des Nachrichtenbeitrags hatte er inzwischen praktisch auswendig gelernt. Die Bilder aber zogen ihn auch weiterhin in ihren Bann.

Wahrscheinlich war er in der ganzen Stadt der Einzige gewesen, der nicht zu der Beerdigung gegangen war. Die Kirche war bis auf den letzten Platz besetzt gewesen, und die Menschen, die nicht mehr hineingekommen waren, hatten sich vor dem Portal gedrängt. Beinahe alle, die erschienen waren, hatten sich im Anschluss an den Gottesdienst dem Autokorso angeschlossen, von dem der berühmte Tote bis zu seinem Grab begleitet worden war.

Sämtliche Fernsehsender Denvers hatten von der Beerdigung berichtet.

Weil der Immobilienmakler und der Diener des Gemeinwohls Thomas Wynne schließlich ein angesehener Bürger ihrer Stadt gewesen war. Außerdem hatte er einen intelligenten, wunderschönen Star eines Lokalsenders zur Frau gehabt.

Zusammen hatten sie den amerikanischen Traum verkörpert.

Und er, Hunter McKee, müsste dafür sorgen, dass aus diesem Traum, der so jäh geendet hatte, für die junge Witwe nachträglich ein Albtraum werden würde. Ein Gedanke, der ihm schwer im Magen lag.

In diesem Augenblick klingelte sein Telefon. Er schob sich die Schildpattbrille auf die Stirn, beugte sich nach vorn, schaltete den Videorekorder aus, griff nach dem Hörer und sagte knapp: »McKee.«

»Hunter, hier spricht Silas Barnes.«

»Hallo, Silas. Wie war die erste Woche im Ruhestand?«

»Unruhig.«

Hunter lachte. »Nach über zwanzig Jahren als Bezirksstaatsanwalt von Denver muss man sich an so viel Ruhe und Frieden sicher erst einmal gewöhnen.«

»Ich nehme an, Sie haben die Nachrichten gesehen.« Der ehemalige Staatsanwalt ersparte sich jeden Smalltalk und sprach direkt den Grund seines Anrufs an.

Hunter wusste diese verbale Sparsamkeit durchaus zu schätzen. »Ja«, erwiderte er ernst. »Sie haben mir da ein ganz schönes Chaos hinterlassen, Silas.«

»Tut mir leid. Es war von Anfang an ein fürchterliches Chaos. Aber jetzt …«

»Ja, jetzt.« Passend zu seinem abgrundtiefen Seufzer fuhr sich Hunter mit der Hand durch das mahagonibraune Haar. »Jetzt wird die Witwe von den Sünden ihres Mannes heimgesucht.«

»Sie scheint eine nette junge Frau zu sein.«

»Eine ziemlich lahme Beschreibung, Silas.«

Der Ältere lachte auf. »Ich versuche nur, Sie etwas aufzumuntern. Glauben Sie, dass sie mit Ihnen kooperieren wird?«

»Mir graut es schon davor, sie darum zu bitten.«

»Vielleicht können Sie sich den Luxus gar nicht leisten, sie darum zu bitten. Vielleicht müssen Sie sie dazu zwingen.«

»Davor graut es mir noch viel mehr.«

»Nun, falls ich Ihnen auf irgendeine Weise helfen kann …«

»Sie hätten Ihre Pensionierung noch ein paar Monate verschieben und diese verfluchte Sache selber klären können.«

»Das hat meine Krankheit leider nicht zugelassen. Ich habe Ihnen diesen Fall wirklich nicht gerne aufs Auge gedrückt. Ich fürchte, es wird nicht mehr lange dauern, und Ihnen steht das Wasser bis zum Hals, Hunter.«

»Tja, das ist eben eins der Risiken dieses Berufs, nicht wahr?«

»Ich fürchte, ja. Und wenn ich nicht denken würde, dass Sie mit diesen Schwierigkeiten fertig werden, hätte ich Sie nicht als kommissarischen Leiter dieses Amtes vorgeschlagen. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden Sie bei der anstehenden Wahl offiziell zu meinem Nachfolger gewählt.«

»Ich weiß Ihr Vertrauen zu schätzen. Danke, dass Sie angerufen haben.«

»Gern geschehen. Auf Wiederhören.«

Hunter legte wieder auf und trank einen Schluck von seinem Bier. Dann spulte er den Film zurück, schob sich die Brille wieder vor die Augen, spielte die Aufnahme noch einmal ab und dachte, er hätte sie inzwischen mindestens ein Dutzend Mal gesehen, seit der Beitrag in den Sechs-Uhr-Nachrichten gekommen war.

Sie stieg aus der Limousine. In dem schwarzen Futteralkleid sah sie so verdammt zerbrechlich aus wie ein Püppchen aus feinstem Porzellan. Sie hielt sich kerzengerade, wandte allerdings den Kopf von der Menge und den Kameras der Journalisten ab.

Es war sicher nicht leicht, berühmt und die Hauptperson in einer Tragödie zu sein. Da sie die war, die sie war, waren alle Augen auf sie gerichtet, und ihr war selbst in ihrer Trauer keinerlei Privatsphäre vergönnt. Trotzdem kam ihm Mrs Wynne wie der Inbegriff von Würde und Gefasstheit vor.

Dort. Die Kamera ging nah an ihr Gesicht heran. Was für ein Gesicht! Obwohl es hinter dem durchsichtigen schwarzen Schleier ihres Huts nicht deutlich zu erkennen war, zog es ihn in seinen Bann. Es war ganz bestimmt nicht das Gesicht des Feindes, dachte er. Die klar definierten Ebenen und Kanten waren sicher einer der Gründe, aus denen sie so telegen war, nahm er an. Sie war kaum geschminkt, doch das nahm ihr nichts von ihrem Liebreiz, sondern zeigte nur, wie weich, wie jung und wie verletzlich diese Witwe war.

Er fing leise an zu fluchen. Warum sah sie nicht zäh wie Leder, hart wie Stahl aus? Warum sah sie nicht weltläufig, verschlagen, abgebrüht, durchtrieben, raffiniert und hinterlistig aus? Es würde seinen Job erheblich leichter machen, sähe sie nicht so verdammt heldenhaft und tragisch aus, wie die vom Schicksal gebeutelte Prinzessin in einem der Märchen der Gebrüder Grimm.

Ihr Kiefer wirkte zart, doch fest. Sie hatte eine schmale Nase, und ihr Mund war weich und … verdammt! … wie sollte er es formulieren? … feminin. Es gab keine direkte Aufnahme der Augen, was wahrscheinlich besser war. Er wäre sicher besser dran, wenn er keine Ahnung hatte, welche Form und Farbe ihre Augen hatten, überlegte er. Die blonden Haare hatte sie sich im Genick zu einem straffen Knoten aufgesteckt.

Jetzt kam der Teil, der ihn immer ganz besonders rührte. Ganz egal, wie oft er sich den Film inzwischen angesehen hatte, formte sich auch dieses Mal in dem Moment, in dem sie nach der weißen Rose griff, ein Kloß in seinem Hals. Durch den Schleier hindurch küssten ihre Lippen die perfekte weiße Knospe, und dann legte sie die Blume auf den Sarg. Ihre Finger – klein und zart wie die von einem Kind – schienen dabei kurz zu zögern, schließlich aber rang sie sich dazu durch.

Wütend auf sich selbst, weil er so masochistisch war, sich den Film so häufig anzusehen, stellte er den Videorekorder aus. Genug. Er sähe sich den Film bestimmt nicht noch mal an. Er warf seine Brille auf den Couchtisch, stapfte in die Küche und holte sich ein frisches Bier.

Er handelte sich dadurch ganz bestimmt nur unnötigen Ärger ein. Vielleicht würde es nie nötig sein, diese junge Witwe zu befragen. Aber wenn es nötig wäre, würde er es tun, und er würde mit geladener Waffe in diese Vernehmung gehen. Er musste seine Arbeit tun und würde sich von nichts und niemand daran hindern lassen, sie so gut zu machen, wie es möglich war.

Bis zur offiziellen Wahl des Nachfolgers von Silas Barnes war er der oberste geschäftsführende Staatsanwalt der Stadt und des Bezirks. Und er musste glänzen, wenn er diesen Job auf Dauer haben wollte, denn die Steuerzahler würden ganz genau verfolgen, was er tat. Vor allem galt es, außer seinem eigenen Ehrgeiz immer auch dem Recht zu dienen. Richtig? Ganz genau.

Weshalb fühlte er sich dann so hundeelend? Weshalb hatte er nicht den gewohnten Drang, der Wahrheit auf den Grund zu gehen? Was war mit seinem Eifer, die Leben der Wynnes auseinanderzunehmen, bis nichts davon mehr im Verborgenen lag? Weshalb hatte er stattdessen das Verlangen, Kari Stewart Wynne vor allen zu beschützen? Sogar vor ihm selbst?

Er trat ans Fenster seiner Wohnung, zog die Jalousien hoch und starrte auf die nächtliche Skyline der Stadt. Was machte sie wohl heute Abend? Trug sie noch immer das schwarze Kleid? Waren ihre blonden Haare noch immer in dem straffen Knoten eingezwängt? Ob jemand bei ihr war? Jemand, der sie tröstete und in den Armen hielt?

Das Gefühl, das er herunterschlucken musste, war so bitter wie sein Bier. Es war reine Eifersucht.

Der erste Tag wäre der Schlimmste, wusste sie. Also würde sie am besten die Zähne zusammenbeißen und ihn hinter sich bringen. Wenn sie die anderen doch nicht nur so voller Mitleid ansehen würden. Sie am besten überhaupt nicht ansehen würden. Die unpersönlichen Augen der Video- und Studiokameras würde sie aushalten. Es waren die Augen der Menschen, deren Blicke sie ganz einfach nicht ertrug.

Bonnie winkte ihr von ihrem Platz aus zu und reckte die Daumen in die Luft. Kari ging den Flur hinab in das Rückgebäude und ließ sich davon trösten, wie vertraut ihr die Umgebung war.

Abgesehen vom Personal änderte sich im Redaktionsraum nie etwas. Die Reihe von Monitoren, die unter der Decke hingen, damit man sie von überall aus sah, strahlten verschiedene Programme aus. Die drei größten nationalen Sender boten momentan ein erhitztes Paar, das sich in einer Seifenoper stritt, den aufgewühlten Gewinner einer Spielshow sowie eine gereizte Hausfrau, die über die Flecken in ihrer Wäsche lamentierte, an. Zwei private Lokalsender brachten dreißig Jahre alte Situationskomödien, auf einem anderen Monitor lief der Börsenbericht, und der letzte Bildschirm, der im Augenblick nicht eingeschaltet war, übertrug aus ihrem eigenen Studio.

Eine Wolke aus Zigarettenrauch hing über den Schreibtischen. In einer Ecke fand gerade ein Wettbewerb im Papierkügelchen-Schießen statt. Die Konkurrenten waren gelangweilte Cutter, die darauf warteten, dass die Reporter mit Videos und Skripten zurückkamen und es Arbeit für sie gab. Der Produzent der Sechs-Uhr-Nachrichten ließ sich einem mitfühlenden Zuhörer gegenüber lautstark über seine Ex-Frau aus. Ständig klingelten irgendwelche Telefone, und Nachrichtendienste schickten ihnen Geschichten aus aller Welt ins Haus.

Da Pinkie nicht an seinem Schreibtisch saß, bahnte sich Kari einen Weg zu ihrem eigenen Tisch, der hinter zwei Meter hohen Stellwänden verborgen war. Auf dem Schreibtisch lag ein großer Haufen Post. Sie sah sie eilig durch, zog Geschäftsbriefe hervor, legte einen extra Stapel mit den Beileidsschreiben an, und eine Stunde später hatte sie von all den Danksagungen, die sie hatte schreiben müssen, einen Krampf in ihrer rechten Hand.

Gerade, als die letzte Karte fertig war, hörte sie, wie Pinkie eine seiner typischen Beleidigungen schrie. Sie stand auf und sah, dass er vor seinen Schreibtisch trat und einen ganzen Schwall von Schimpfworten auf Sally Jenkins und den Studioleiter, die ihm zögernd folgten, niedergehen ließ. Seine Zigarette war heruntergebrannt, doch das nahm er gar nicht wahr, als er sie von einer Seite seines Mundes auf die andere wandern ließ. Sein schütteres Haar stand wirr in alle Richtungen um seinen Kopf.

Dann entdeckte er plötzlich Kari, brach seine Tirade ab, schob die anderen unsanft an die Seite und stürzte auf sie zu. »Gott sei Dank, dass du wieder da bist. Ich verliere hier allmählich den Verstand.« Er umarmte sie und wandte sich den anderen beiden zu. »Also, habt ihr nichts zu tun?«, brüllte er sie an. »Macht euch gefälligst wieder an die Arbeit, ja?«

Sally Jenkins legte tröstend eine Hand auf Karis Arm. »Sie sind aber früh zurück.«

Die junge rothaarige Frau bedachte sie mit einem unschuldigen Blick. Doch Kari wusste, er war ganz sicher nicht echt. Einer der Kameramänner hatte ihr gegen ihren Willen sämtliche Details seines Dates mit ihr erzählt. Ihr Busen hatte die komischen Dimensionen wie bei einer Barbie-Puppe, hatte er erklärt. Und nicht der liebe Gott, sondern ein plastischer Chirurg hatte ihn ihr geschenkt. Kari mochte Sally nicht, denn sie nutzte ihre körperlichen Vorzüge, um in einem Metier voranzukommen, in dem vor allem harte Arbeit unerlässlich war.

»Sie sind wirklich unglaublich tapfer«, säuselte sie noch und glitt lautlos aus dem Raum.

»Ein Hirn wie eine Seifenblase«, murmelte Pinkie abfällig und zündete sich schlecht gelaunt die nächste Zigarette an. »Gestern Abend hat sie ihre Einleitung vermasselt, und der Studioleiter hat zu schnell mit der Aufnahme begonnen. Sie konnte den Fehler nicht mehr korrigieren und …«

»Ich habe es gesehen«, fiel Kari ihm ins Wort.

»Dann hast du auch gesehen, was für eine Katastrophe dieser Beitrag war. Gott, ich bin wirklich froh, dass du wieder da bist. Noch ein Tag länger mit dem Weib und … sie hat einen wirklich tollen Busen, das gestehe ich ihr zu. Aber ich glaube, sie bewahrt ihr Hirn in ihren Brüsten auf, denn im Kopf hat sie es ganz eindeutig nicht.«

Es fühlte sich gut an, wieder einmal laut zu lachen, stellte Kari fest. Pinkie aber unterzog sie einer eingehenden Musterung und stellte rüde fest: »Du siehst nicht gerade wie das blühende Leben aus, allerdings habe ich auch schon Schlimmeres gesehen.«

»Danke, das ist wirklich nett.«

»Bist du inzwischen umgezogen?«

Kari nickte kurz. »In eine Wohnung draußen beim Stausee. Sie ist ziemlich klein, aber ganz neu und bestens ausgestattet. Man kann den Swimmingpool und den Tennisplatz der Anlage benutzen, und vor allem ist das Grundstück rund um die Uhr bewacht.«

»Klingt, als hättest du die Absicht, dich dort zum Winterschlaf zurückzuziehen.«

»Wie soll ich das wohl tun, wenn mich jeden Abend Tausende von Menschen sehen?«

Trotzdem war Pinkie noch nicht ganz zufrieden und fuchtelte mit einem seiner kurzen, dicken Zeigefinger vor ihrem Gesicht herum. »Ich werde nicht zulassen, dass du dich in dein Schneckenhaus zurückziehst, also

Die amerikanische Originalausgabe erschien 1985 unter dem Titel Sw eet Angerbei Warner Books, Inc., New York

1. Auflage Deutsche Taschenbuchausgabe April 2011 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright der Originalausgabe © 1985 by Sandra Brown

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2011 by Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: HildenDesign, München Umschlagmotiv: © scorpionka/iStockphoto Redaktion: Anita Hirtreiter ED · Herstellung: sam Satz: DTP Service Apel, Hannover

eISBN 978-3-641-10323-1

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