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Wenn man seinen Feind begehrt … Die unschuldige Viviane sammelt gerade Heilkräuter, als ihr Dorf von einer Horde Wikinger überfallen wird. Sie gehört zu den wenigen Überlebenden und wird verschleppt und versklavt. Eigentlich sollte sie Thoralf, den Anführer der Wikinger, verachten, doch in Viviane regen sich Bewunderung und Begehren für diesen wilden Mann. Und auch er scheint hinter seiner ungestümen Fassade, Gefühle für sie zu hegen … Doch kann sie wirklich den Mann lieben, der ihre Heimat zerstört hat? Verbotenes Begehren im 10. Jahrhundert – Ein fesselnder historischer Liebesroman für Fans von Monica McCarty und Hannah Howell
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Seitenzahl: 516
Über dieses Buch:
Die unschuldige Viviane sammelt gerade Heilkräuter, als ihr Dorf von einer Horde Wikinger überfallen wird. Sie gehört zu den wenigen Überlebenden und wird verschleppt und versklavt.
Eigentlich sollte sie Thoralf, den Anführer der Wikinger, verachten, doch in Viviane regen sich Bewunderung und Begehren für diesen wilden Mann. Und auch er scheint hinter seiner ungestümen Fassade, Gefühle für sie zu hegen … Doch kann sie wirklich den Mann lieben, der ihre Heimat zerstört hat?
Über die Autorin:
Susan Hastings ist gelernte Geologin und war lange als Sachverständige für Geologie und Ökologie tätig. Während eines späteren Studiums entdeckte sie schließlich ihr schriftstellerisches Talent. Zunächst schrieb sie Kurzgeschichten, später zahlreiche Liebes- und Historienromane, die sie unter verschiedenen Pseudonymen erfolgreich veröffentlichte.
Bei dotbooks veröffentlichte Susan Hastings auch die folgenden historischen Liebesromane »Die Leidenschaft des Wikingers«, »Die Geliebte des Wüstenkriegers« und »Die Gefangene des Gladiators«, sowie den Erotik-Roman »Dark Heat – Gefährliche Leidenschaft«.
Die Website der Autorin: www.susan-hastings.de
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eBook-Neuausgabe Januar 2016, Januar 2025
Dieses Buch erschien bereits 2010 unter dem Titel »Wogen der Liebe« bei Knaur Taschenbuch und 2016 unter dem Titel »Die Sklavin des Wikingers« bei dotbooks.
Copyright © der Originalausgabe 2010 Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Copyright © der Neuausgabe 2016, 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Alexandra Dohse, www.grafikkiosk.de, München, unter Verwendung von Bildmotiven von Period Images und Shutterstock Images/Olaf Unger, Helen Hotson
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)
ISBN 978-3-98952-668-6
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Susan Hastings
Verschleppt von einem Wikinger
Roman
dotbooks.
Dong – dong – dong – dong. Das rhythmische Klopfen der Hämmer auf den Amboss klang zu Viviane herüber. Sie kniete am Eingang der Hütte vor einem großen hölzernen Trog, in dem sie den Brotteig knetete. Von der Schmiede gleich neben der Hütte wogte der Rauch des Feuers herüber und mischte sich mit der salzig-feuchten Luft, die vom Meer herwehte. Vivianes Blick schweifte über den Strand, hinter dem sich das dunkle Meer erstreckte. Heute schien es besonders friedlich. Die kleinen Wellen schwappten an das sandige Ufer, auf dem ein einziges Boot lag. Es war alt und sein Boden leckgeschlagen. Einst hatte es Vivianes Bruder Angus gehört. Doch Angus lebte nicht mehr.
Der Vater war niemals damit einverstanden gewesen, dass Angus Fischer wurde. Der Sohn eines Schmieds hatte das Handwerk des Vaters zu erlernen und die Tradition fortzuführen. Schon immer waren die Söhne in der Ahnenreihe des Hengist Folkming Schmiede gewesen. Gute Schmiede. Doch Angus schlug aus der Art. Schon als Kind stand er am Strand und starrte wie gebannt auf das Meer hinaus. Wenn die Fischer in der Nacht aufbrachen, um neue Fanggründe zu erschließen, und ihre Netze in das glitzernde Wasser auswarfen, dann wünschte er nichts sehnlicher, als mit ihnen zu fahren. Manchmal nahm ihn der eine oder andere Fischer mit, wenn er gar zu sehr bettelte. Doch meist gab es danach Ärger mit Hengist, der es Angus verboten hatte. Vor dem Schmied hatten alle Männer im Dorf Respekt. Nicht nur, weil er Muskeln und die Kräfte eines Bären besaß, sondern auch, weil er immer schwarz verrußt aussah wie ein Höllengeist. Außerdem neigte er zu jähzornigen Ausbrüchen, die seine Kraft noch verdoppelten. Nachdem Hengist einige Fischer derart verprügelt hatte, dass sie tagelang nicht ihrer Arbeit nachgehen konnten, nahm niemand mehr Angus mit hinaus zum Fang, so sehr er auch bat und flehte. Von da an arbeitete Angus in der Schmiede und lernte von Hengist das Handwerk.
Nach getaner Arbeit aber verschwand Angus regelmäßig. Zunächst glaubte Hengist, sein Sohn wandele auf Freiersfüßen, und er drängte ihn, endlich den Namen seiner Auserwählten zu verraten, damit er einen Brautwerber beauftragen konnte. Doch Angus lächelte nur und schwieg. Eines Tages dann brachte er sein Geheimnis mit nach Hause. Es war ein Boot, das er sich selbst gebaut hatte. Er teilte Hengist seinen Entschluss mit, Fischer zu werden und mit den anderen hinaus aufs Meer zu fahren. Erst hatte Hengist gebrüllt, dann holte er seinen großen Schmiedehammer, um das Boot zu zerschlagen. Im heftigen Ringkampf zwischen Vater und Sohn, dem das ganze Dorf beiwohnte, fiel Angus' Mutter, die zierliche Cedrilla, Hengist in den Arm.
»Versündige dich nicht, dein eigen Fleisch und Blut zu töten«, schrie sie.
Erst da kam Hengist wieder zur Besinnung, er blieb reglos stehen, ließ den Hammer aus der Hand fallen, drehte sich um und würdigte seinen Sohn keines Blickes mehr. Das blieb auch später so, als Angus hinaus aufs Meer fuhr und mit reichlich Fisch zurückkam. Hengist rührte keinen Bissen des Fischs an, den Angus fing und den die Mutter zubereitete. Stattdessen tauschte Hengist seine eigene Ware, Messer, Werkzeug, Beschläge und allerlei Zubehör, mit den anderen Fischern gegen deren Fisch. Cedrilla musste ihn dann zubereiten, und Hengist achtete ganz genau darauf, dass Cedrilla die Fische nicht verwechselte.
Viviane war noch zu klein, um zu begreifen, was für eine Tragödie sich da vor ihren Augen abspielte. Sie schaute immer bewundernd zu ihrem Bruder auf, der doch so ganz anders war als sie. Angus ähnelte seiner Mutter, einer stillen, aber im Innern zähen und kämpferischen Frau, die im Leben viel Leid erfahren hatte. Sie stammte von den Pikten hoch im Norden ab, und ihre Vorfahren waren auf eine geheimnisvolle Weise auf die kleine südenglische Insel gekommen. Man erzählte, sie seien Gefangene gewesen und von den keltischen Kriegern versklavt worden. Aber so genau wusste es keiner. Cedrilla jedenfalls war frei, wenngleich sie immer noch die blauen Zeichen auf der Haut trug wie ihre Ahnen. Aber die hatte sie als Kind schon bekommen, und sie konnte selbst nicht sagen, welche Bedeutung sie besaßen. Sie hatte die kleine Gestalt und das dunkle Haar an Angus vererbt. Und wahrscheinlich auch das rebellische Wesen. Allerdings hatte Cedrilla selten Gelegenheit, gegen Hengist aufzubegehren. Im Normalfall war er ja auch eher gutmütig, und sie kam gut mit ihm aus, man durfte ihn eben nur nicht reizen.
Genau das hatte Angus getan, und das würde Hengist ihm niemals verzeihen. Gerade noch duldete Hengist seinen Sohn in der Hütte am Tisch und hoffte nur, dass er bald eine Braut finden und endlich ausziehen würde, um sein eigenes Zuhause zu gründen. Dann müsste er sich nicht so für ihn schämen. Doch Angus ließ sich Zeit. Zu viel Zeit.
Eines Morgens kamen die Fischer des Dorfes zurück von ihrer Fahrt, und sie brachten Angus' Boot. Es war leer. Auch dann begriff Viviane noch nicht, was geschehen war. Sie konnte nicht verstehen, dass Angus sein Boot, das er über alles liebte, einfach allein gelassen hatte. Die Fischer schleppten es an den Strand und blieben schweigend daneben stehen. Viviane erinnerte sich später an Cedrillas lautstarkes Wehklagen und Weinen und an Hengists versteinertes Gesicht. Dann gingen sie alle in die kleine Holzkirche drüben auf den Klippen und beteten für Angus. Auch Viviane betete und wünschte, dass er bald wieder zurück zu seinem Boot käme. Doch es lag Jahr um Jahr am Strand, und Wind und Wellen setzten ihm zu, schlugen es leck und nagten am Holz.
Seit diesem Tag ging es Cedrilla schlecht. Sie bekam Husten und kränkelte. Viviane musste mehr und mehr der Hausarbeit übernehmen. Sie buk Brot und wusch die Wäsche, kümmerte sich um das Vieh und den kleinen Acker, bearbeitete den Garten und half dem Vater in der Schmiede. Seltsamerweise bereitete ihr genau das die größte Freude. Sie schaute dem Vater zu, wie er aus dem rot glühenden Metall mit geschickten Hammerschlägen Messer und sogar Schwerter zauberte. Für sie war der Vater ein Magier, der glühendes Metall zum Leben erwecken konnte. Fast jeder Mann im Ort besaß ein Schwert, das Hengist geschmiedet hatte. Nicht selten mussten sich die Dorfbewohner gegen räuberische Banden, übelwollende Seefahrer von anderen Küsten oder plündernde Krieger aus Fehden des Königs mit benachbarten Reichen zur Wehr setzen. Die Männer übten sich im Fechten, trugen zu den Feiertagen Wettbewerbe um den besten Schwertkämpfer aus und eiferten um die Würde des Klingenmeisters.
An solchen Tagen hätte Hengist seinen Sohn Angus gern unter den Kämpen gesehen, aber ihm war nur noch die Tochter Viviane geblieben. Er verbarg seine Enttäuschung, so gut es ging, und hängte sein ganzes Herz an Viviane. Wenigstens äußerlich kam sie nach ihm. Ihr Haar war von einem leuchtenden Kupferrot wie der Kessel, wenn sie ihn mit viel Eifer poliert hatte. Ihre Augen spiegelten das Grün der saftigen Wiesen und Wälder der kleinen Insel wider. Und wenn sie zu lange in der Schmiede gewesen war, dann sah sie genauso rußig aus wie Hengist.
Cedrilla beklagte sich darüber, dass es sich nicht zieme, wenn ein Mädchen sich mit Männerdingen beschäftige, und sie befürchtete, dass sich für Viviane deshalb kein Mann interessieren würde. Nicht zuletzt deshalb nahm sich Hengist einen Gehilfen, um ihn als Schmied auszubilden. Seitdem gehörte Patrick zur Familie. Hengist behandelte ihn fast wie einen eigenen Sohn.
Der anfangs dünne und hoch aufgeschossene Junge mit dem strubbeligen Haar und den Sommersprossen entwickelte sich nach einiger Zeit zu einem ansehnlichen jungen Mann, dem die Muskeln wuchsen wie Vivianes weibliche Rundungen und der Viviane immer öfter einen verstohlenen Blick zuwarf.
Hengist entging dies nicht, doch er sah es nicht ungern. Wenn Patrick in die Familie einheiratete, hätte Hengist einen angemessenen Nachfolger, und die Tradition konnte fortgesetzt werden. Ja, für ihn war es eigentlich beschlossene Sache, nachdem er bemerkt hatte, dass auch Vivianes Augen immer öfter zu Patrick wanderten. Sie schob ihm das größte Stück Fleisch zu und das knusprigste Stück Brot, sie nähte ihm sein Hemd mit besonderer Hingabe und feuerte ihn bei den Schwertkämpfen am lautesten an.
Natürlich musste Hengist darauf achten, dass sie zurückhaltend blieben, um auch hier die Sitten zu wahren. Es war nur eine Frage der Zeit, wann die beiden heiraten würden, nämlich wenn Viviane das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte. Dann würde er beim König um Erlaubnis bitten, seine Tochter verheiraten zu dürfen. Er würde dem König das Bittgeschenk überreichen, ein prachtvolles Schwert, das er bereits angefertigt hatte und das, in ein Leinentuch geschlagen, in der Truhe ruhte. Dieses Schwert war so kunstvoll gearbeitet, dass der König die Bitte nicht abschlagen könnte. Dann würde die kleine Kirche oben auf den Klippen mit frischem Laub geschmückt, und Viviane würde einen Kranz aus weißen Blüten auf ihrem roten Haar tragen. Pater Cedric aus dem Kloster, zu dem die Kirche gehörte, die die Bewohner aus den umliegenden Dörfern ebenfalls besuchten, würde die Trauung im Angesicht Gottes vollziehen. Dann würde das ganze Dorf ein großes Fest feiern, und Hengist würde es an nichts fehlen lassen. Wildschweinbraten und Lamm am Spieß sollte es geben und das Bier in Strömen fließen. Sie würden tanzen und lachen und fröhlich sein und zu Ehren des Brautpaares Schwertkämpfe, Geschicklichkeitsspiele und Wettläufe veranstalten. Nur das Wettrudern vor der Küste, darauf würde er verzichten.
***
Das Husten aus der Hütte holte Viviane aus ihren Gedanken, während ihre Hände unablässig den klebrigen Brotteig walkten. Sie sorgte sich um die Mutter und fürchtete, dass diese ihre Hochzeit nicht mehr miterleben würde. Immerhin lag noch ein langer Winter dazwischen, der hier auf der kleinen Insel stets recht rau war. Dann wehte ein heftiger und kalter Wind, brachte viel Regen, und die Wellen überspülten den Strand bis zu den Felsen. Schon mehrfach hatten sie erlebt, dass das halbe Dorf unter Wasser stand, das Mehl verschimmelte und eine große Hungersnot ausbrach. Zum Glück gab es das Kloster oben auf dem Berg. Die Mönche öffneten ihre Vorratskammern, teilten in christlicher Nächstenliebe und halfen den Dorfbewohnern zu überleben. Viviane würde, wenn sie das Brot gebacken hatten, zu ihnen gehen, um aus ihrer Klosterapotheke Heilkräuter gegen Mutters Husten zu holen. Die Mönche hegten einen Kräutergarten mit vielen seltsamen Pflanzen, die auf der Insel gar nicht vorkamen. Diese Pflanzen besaßen magische Kräfte und linderten die unterschiedlichsten Beschwerden. Die Mönche pflegten diese kostbaren Pflanzen nach überliefertem geheimem Wissen, damit ihnen der raue Wind und die winterliche Kälte nichts anhaben konnten. Kein Sterblicher außer den Mönchen selbst durfte den Garten betreten, und auch Viviane kam immer nur bis zur Klosterpforte. Aber stets hatten die Mönche ihr geholfen, und sie empfand Liebe, Respekt und Dankbarkeit den sanftmütigen Männern in den braunen Kutten gegenüber, die niemals ein Schwert in die Hand nahmen und Hilfe im Gebet suchten.
Die Sonne hatte ein Stück ihres Himmelswegs zurückgelegt und schien nun genau vor die Hütte, wo Viviane kniete. Sie streifte sich den Teig von den Händen und deckte den Trog sorgfältig mit einem Tuch ab. Nun musste der Teig in der Wärme gären, während sie zunächst nach Mutter schauen und dann den Backofen anheizen würde.
Das Innere der Hütte war denkbar schlicht. Sie bestand nur aus einem Raum, in dem sich die Feuerstelle befand. Ein hölzerner Tisch mit zwei rustikalen Bänken bildete den Mittelpunkt. An den Wänden zogen sich die schmalen Schlafpritschen entlang. Dazwischen standen Truhen und Körbe zum Aufbewahren des Hausrats. Patrick schlief im Stall, von dem mit einer geflochtenen Weidenwand ein Stück abgetrennt worden war. Aber selbstverständlich saß er bei den Mahlzeiten am großen Tisch der Familie, und auch sonst nahm er am Familienleben teil. Manchmal half er Viviane, die Schafe einzutreiben und zu melken, die Hühner zu füttern und die Feldarbeit zu verrichten. Das waren die Momente, wo er ihr unbeobachtet näher kommen konnte. Es waren die schönsten Momente!
Hengist Folkming besaß ein paar Schafe, die an den Hängen im Hinterland ihr Futter suchten. Hinter den Klippen lagen auch die schmalen Felder, die ein bisschen zum Lebensunterhalt beitrugen. Hengist war kein Bauer, niemand im Dorf war das. Die meisten waren Fischer, und die Erlöse ihrer Arbeit tauschten sie auf dem Markt – Fisch gegen Mehl oder eben Eisenwaren gegen Mehl. Die Schafe hielten sie der Wolle und der Milch wegen, und ab und zu wurde eines geschlachtet. In den Wäldern gab es Wildschweine, aber den Dorfbewohnern war es untersagt, selbst zu jagen. Nur die Wildhüter des Königs besaßen dieses Privileg. Alles, was nicht auf der königlichen Tafel landete, wurde an die Bevölkerung verkauft. Wild war teuer und daher etwas Besonderes. Viviane wusste, dass die Männer vor allem im Winter, wenn die Nahrung knapp war, trotzdem auf die Jagd gingen. Das Fleisch von Schweinen verlieh Unsterblichkeit und war schon deshalb heiß begehrt. Die Strafe war fürchterlich, wenn sie erwischt wurden. Unter den jungen Männern galt es als eine Art Mutprobe, ein Wildschwein zu erjagen. Auch Patrick hatte vor, in diesem Winter ein Schwein zu jagen, um damit Viviane zu imponieren. Sie gab sich immer noch recht verschlossen, wenn Patrick seine schüchternen Annäherungsversuche startete. Aber auch er hatte ihre heimlichen Blicke bemerkt, wenn er mit nacktem Oberkörper am Schmiedefeuer stand und den ledernen Blasebalg bediente. Und erst recht, wenn er kraftvoll den Schmiedehammer schwang.
Einmal hatte er sie in die Arme genommen, oben bei den Klippen. »Ich möchte dich immer beschützen«, hatte er zu ihr gesagt, während sie auf das Meer hinausschauten. Sie hatte sich lachend aus seinen Armen gewunden. »Ich kann mich selbst schützen. Schließlich weiß ich, wie ein Schwert geschmiedet wird und wie man damit umgeht.«
Danach war Patrick traurig gewesen, aber nicht entmutigt. Viviane war eben ein stolzes Mädchen, und er musste sich sehr bemühen, sie zu erobern.
Während sie über die Wiese lief, um die Schafe zusammenzutreiben, beobachtete er sie. Sie trug nur ein schlichtes Kleid aus einem dünnen Stoff, den sie selbst gewebt hatte. Sie schaffte es, aus der Wolle der Schafe einen wunderbar dünnen Faden zu spinnen, um daraus wiederum leichte Stoffe zu weben, die in dem kurzen Sommer sehr angenehm zu tragen waren. Angenehm auch für Patrick, denn er konnte so ihre körperlichen Vorzüge erahnen. Seit einiger Zeit veränderten sich ihre Proportionen, sie wurden rundlicher und weicher. Ihre Taille blieb trotzdem schmal, wie der sorgsam geflochtene Ledergürtel verriet, den sie trug. Überhaupt legte sie viel Wert auf saubere und sorgsam hergestellte Kleidung, auch wenn sie häufig in der rußigen Schmiede zu Gast war. Die kupfernen Fibeln, mit denen sie ihr Kleid an den Schultern zusammenhielt, hatte sie selbst gearbeitet und auch das kleine Kreuz, das sie am Lederband um den Hals trug. Ihr Haar war zu einem langen Zopf geflochten, der ihr auf den Rücken fiel, und manchmal trug sie ein ebenfalls geflochtenes dünnes Stirnband.
Sie waren alle Christen und getauft, seit langer Zeit schon, als missionierende Mönche auf die Insel gekommen waren, sich hier niedergelassen und ein Kloster gegründet hatten. Die Könige, die das Land beherrschten, wechselten. Mal bekannten sie sich zu dem neuen Gott, mal hörten sie auf die Druiden als ihre Ratgeber, aber das störte die einfachen Leute an der Küste nicht. Im Kampf gegen die Allgewalt der Natur, gegen Güte und Grausamkeit des Meeres und um das tägliche Überleben war es einfach wichtig, den Beistand Gottes erflehen zu können. Und wenn ab und zu auch einer der alten Götter oder eine der alten Göttinnen angerufen wurde, so konnte das sicher nicht schaden. Zwar predigten die Mönche immer wieder gegen den Irrglauben und heidnische Rituale, aber viele waren so fest in den Köpfen und Seelen der Menschen verankert, dass man ihnen nur andere Namen gab und sie einfach beibehielt.
Jeweils vierzig Tage nach der Sonnenwende wurden die vier großen keltischen Feste gefeiert. Daran hatte sich nichts geändert. So wurden zu Beltane immer noch die Tiere zwischen brennenden Holzstößen hindurchgetrieben und böse Geister mit Fackeln aus den Ställen gejagt, noch immer öffnete sich zu Samhain die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten, noch immer wurde zu Imbolc mit Lichtern der Göttin Brigid gehuldigt oder eben Maria Lichtmess gefeiert. Zu Lugnasad feierten sie das Erntedankfest, wo die Felder umgangen wurden und der Erdgöttin von den Erträgen geopfert wurde. Die uralte Quelle war noch immer heilig, und es gab auch die Dreieinigkeit. Die drei keltischen Götter des Handwerks, ja selbst die Göttin der Fruchtbarkeit, der Schmiede und des Heilens und der Dichtkunst wurde noch als dreieinige Gestalt verehrt. Die Muttergöttin war jetzt die Jungfrau Maria, die Viviane besonders gut gefiel. Schließlich erhoffte sie sich auch einmal viele Kinder, nicht nur von den Schafen.
Das hoffte auch Patrick, wenn er Viviane erst einmal erobert hatte. Doch im Augenblick konnte er nicht viel mehr tun, als ihr kleine Komplimente zu machen. Die Macht des Wortes war seit jeher gewaltig, und so dichtete er ihr kleine Verse, verglich sie mit den sich im Wind wiegenden Glockenblumen auf der Wiese, mit einem Strahl der im Osten aus dem Meer tauchenden Sonne oder einer perlmuttschimmernden Muschel, die aus den Wellen geboren wurde.
Viviane bedankte sich mit anderen Aufmerksamkeiten, wie einem besonders großen Stück Fleisch oder einem kunstvoll als keltischer Knoten verflochtenen Lederarmband für Patrick. Er musste sich also in Geduld üben und dafür die Vorfreude auskosten.
***
»Wie geht es dir, Mutter?«, wollte Viviane wissen, als sie die Hütte betrat. »Willst du nicht herauskommen und dich etwas in die Sonne setzen? Ihre Wärme tut dir bestimmt gut.«
Cedrilla winkte ab. Sie lag auf ihrer Pritsche, zugedeckt mit einer Wolldecke, die Viviane im vergangenen Winter gewebt hatte. »Lass mich nur hier liegen, Kind. Mich stört der Rauch aus der Schmiede, und wenn du den Backofen anheizt, wird es noch mehr Rauch, der mich quält. Es riecht nach Höllenbrut und Teufelsglut, nach dem Bösen aus der Unterwelt. Bestimmt kommt dieser schwarze Unhold und holt mich zu sich. Die Mönche sagen, der Teufel sucht nach Seelen.«
»Aber doch nicht nach deiner, Mutter«, erwiderte Viviane erschrocken. »Du kommst in den Himmel, wo immer Licht ist. Du darfst dich nicht hier drinnen verkriechen.«
Cedrilla hustete und rang nach Luft. Viviane stützte ihren Oberkörper. »Ich hole dir Kräuter von den Mönchen, die dir wieder ausreichend Luft verschaffen. Wo ist dein Minzesträußchen? Du solltest es doch über deinem Kopf hängen lassen.«
»Es ist heruntergefallen. Ein schlechtes Zeichen. Es waren die bösen Geister.«
Viviane reichte ihr eine Schale mit Tee, die Cedrilla langsam schlürfte. Dann hängte sie das Kräuterbündel wieder über ihrem Kopf auf.
»Pass auf, du wirst schon bald wieder gesund werden. Jetzt backe ich frisches Brot, und dann gibt es ein Festessen, das dir wieder Kraft verleiht.« Sie lächelte der Mutter aufmunternd zu. Doch Cedrilla erwiderte das Lächeln nicht. Sie wurde wieder von einem Hustenanfall geschüttelt. Viviane stützte sie, bis der Anfall vorbei war. Kraftlos ließ sich Cedrilla auf ihr Lager sinken. »Ich werde schon bald in die Anderswelt eintreten und dort meinen Sohn wiedertreffen«, flüsterte sie.
Viviane legte ihre Hand auf die ihrer Mutter. »Es ist noch nicht die Zeit dafür. Du sollst noch auf dieser Welt wandeln, Mutter. Auch, weil ich dich brauche.«
Cedrilla schüttelte sacht den Kopf. »Du brauchst mich nicht mehr. Du gehst deinen Weg allein.«
»Es sind schwarze Gedanken, die deinen Geist beherrschen. Lass sie hinausfliegen, damit dein Geist wieder frei ist.« Viviane öffnete die Tür weit, damit Licht und Luft in die niedrige Hütte dringen konnten. Draußen bereitete sie den steinernen Ofen vor, in dem sie das Brot backen wollte. Während das Reisig brannte und die Steine aufheizte, formte Viviane aus dem Teig runde Brotlaibe. Als das Feuer heruntergebrannt war, kratzte sie die Glut beiseite und schob die Brote in die Öffnung. Nicht lange, und ein verführerischer Duft breitete sich aus. Er verdrängte den schwefeligen Gestank aus der Schmiede. Mit einer flachen Holzkelle hob sie schließlich die fertigen Brote aus dem Ofen und legte sie zum Abkühlen aus. Aus dem Vorratshäuschen neben dem Wohnhaus holte sie den Rest einer geräucherten Lammkeule. Mit einem scharfen Messer schnitt sie vier dünne Scheiben ab und hängte die Keule wieder auf. Sie war dunkel und fest und würde noch einige Wochen halten. Das Vorratshäuschen war dicht und fensterlos gebaut, so dass kein Tier sich an den gelagerten Vorräten gütlich tun konnte. Sie packte alle Brote bis auf eines in den Hängekorb. Manchmal verirrten sich doch findige Mäuse in die Hütte. Der Brotkorb hing an einem eingefetteten Faden, an dem die Mäuse abrutschten.
Das letzte Brot jedoch teilte sie in vier Teile und legte jeweils eine Scheibe Schinken darauf. Zwei Teile brachte sie dem Vater und Patrick in die Schmiede, einen Teil reichte sie der Mutter und forderte sie auf zu essen, den vierten Teil verspeiste sie selbst. Bis zum Abend, wenn es die Hauptmahlzeit gab, würden sie nun nichts mehr benötigen, außer einem Krug braunem Bier vielleicht.
Cedrilla kaute appetitlos auf dem Brot herum, dann legte sie es beiseite. »Nimm es, Kind, damit du kräftig wirst, um allen Herausforderungen des Lebens trotzen zu können. Für mich brauche ich es nicht mehr. Ich spüre das Ende auf dieser Welt nahen.«
»Mutter, du machst mich traurig, wenn ich dich so reden höre. Ich weiche dir das Brot in Milch ein, damit du es besser essen kannst.« Endlich löffelte Cedrilla wenigstens die Milchsuppe. Viviane ergriff einen geflochtenen Handkorb. »Ich gehe jetzt hinauf zum Kloster, um frische Kräuter für dich zu holen. Die werden dir helfen.«
Cedrilla richtete sich auf. »Ich möchte in die Kirche gehen. Gott will mich sehen, und er wird entscheiden, ob ich auf dieser Welt bleibe oder gehen muss.«
»Dazu bist du viel zu schwach. Gott sieht dich auch hier, und er wird sich freuen, dass du wieder zu Kräften kommst.«
Während Viviane den Hügel erklomm, auf dessen Spitze das Kloster lag, dachte sie über die Worte der Mutter nach. Auch wenn ihre ganze Familie getauft war, so brachte Cedrilla doch immer wieder Gott und Götter, alten und neuen Glauben durcheinander. Im Zweifelsfall wurde angerufen, was ihr gerade in den Sinn kam.
Viviane vertraute mehr auf den starken Glauben, den die Mönche des Klosters vermittelten, und auf ihre Heilkünste.
Das Kloster stand an einer Stelle, von der die Alten behaupteten, früher sei es eine heilige Kultstätte der Kelten gewesen. Dem Ort musste viel Kraft innewohnen. Das bedeutete, dass auch die Kräuter, die dort oben wuchsen, diese Kraft besaßen.
Während ihres Aufstiegs ließ sie sich den Wind um die Nase wehen, der hier oben auf den Klippen schon recht heftig zauste. Doch sie mochte diese raue, salzige Brise. Auf halbem Weg drehte sie sich zum Meer um und atmete tief durch. Auch wenn sie die Tochter eines Schmieds war, liebte sie die See. Sie liebte das Meer an den schönen Tagen, wenn es ruhig und glatt in der Sonne glitzerte wie heute, aber auch das Meer bei Sturm, wenn Himmel und Wasser eins wurden und es die Wellen zornig gegen das Land schleuderte. Sie konnte Angus' Sehnsucht nach dem Meer verstehen und seinen Wunsch, Fischer zu sein. Sie stieg weiter hinauf auf den Hügel, der dicht mit kurzem Gras bewachsen war. Oben trat der felsige Untergrund zutage. Einen Augenblick setzte sie sich auf eine der Klippen, um zu verschnaufen und die Aussicht zu genießen. Das Dorf mit seinen Hütten lag jetzt winzig klein wie Spielzeug unten in der Bucht. Zwei Felsvorsprünge zu beiden Seiten des Dorfes bildeten einen natürlichen Schutz für den Strand, wo die Fischerboote lagen und an Gestellen die Netze zum Trocknen hingen. Aus der Schmiede stieg Rauch in den blauen Himmel, und selbst hier oben konnte sie das Klingen der Hämmer auf dem Eisen hören, mal laut, mal leise, je nachdem, wie der Wind gerade stand. Von hier oben schienen alle Sorgen ganz klein und unbedeutend.
Ob Gott es auch so sah, wenn er vom Himmel auf die Menschen herniederblickte? Konnte er überhaupt die Sorgen der Menschen verstehen, wenn er doch so hoch oben thronte?
Viviane erinnerte sich beim Anblick der winzigen elterlichen Hütte wieder an den Grund ihres Aufstiegs. Sie erhob sich und eilte zur Pforte des Klosters, das von einer hohen Mauer umschlossen war. Die Steine waren kaum behauen und mit viel Mühe aufeinandergesetzt. Die Mauer wirkte etwas trutzig und abweisend, aber Viviane ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie wusste, dass dahinter wohlwollende Mönche wohnten, die stets ein gutes Verhältnis zu den Dorfbewohnern hatten. Sie zog an dem Strick neben der hölzernen Pforte, und eine kleine Glocke schlug an. Es dauerte eine geraume Weile, bis sich das Tor öffnete. Es war Bruder Geoffroy, der dahinter stand.
»Gelobt sei Jesus Christus, Viviane«, grüßte er sie. »Du hast dir einen schönen Tag ausgesucht, um uns zu besuchen.«
»Gelobt sei Jesus Christus, Pater Geoffroy. Ich hoffe, es ist auch für Euch ein schöner Tag. Mich führt eine Bitte an Euch hierher. Mutter geht es immer schlechter. Sie benötigt eine Medizin gegen ihren Husten. Außerdem verlässt sie der Lebensmut. Sie nimmt kaum Nahrung zu sich und sehnt sich nach Angus. Ich mache mir ernsthafte Sorgen um sie.«
»Das betrübt mich, solche schlechten Nachrichten zu hören«, erwiderte der Mönch betroffen. »Aber gegen fast jedes Leiden ist ein Kraut gewachsen, und die richtige Mischung macht es. Ich werde für deine Mutter eine Medizin zusammenstellen.«
»Danke, Pater«, lächelte Viviane und setzte sich auf die Bank neben der Pforte. Sie würde eine Weile warten müssen, denn Pater Geoffroy stellte die Medizin immer sehr sorgsam zusammen. Viviane hätte zu gern erfahren, wie er das machte, aber darauf ruhte ein großes Geheimnis. Niemand durfte das Kloster betreten, schon gar kein weibliches Wesen. Sie hatte keine Ahnung, was sich in der Klosterapotheke tat. Ihre Fantasie sprühte Sternschnuppen. Daheim gab es auch ein Regal mit allerlei Krügen, Körben und Schüsseln zum Aufbewahren der Lebensmittel. Ob es in der Apotheke auch so aussah? Aber was war überhaupt eine Apotheke? Ganz sicher wurde dort gezaubert. Wie sonst konnten die Mönche wissen, welche Kräuter sie in welchen Dosen zusammenrühren mussten, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen? Ganz geheuer war ihr die Sache nicht, und einerseits war sie froh, dass sie hier draußen warten konnte. Andererseits war sie wissbegierig, und auch wenn sie ein bisschen Angst hatte, hätte sie sich vielleicht sogar durchgerungen, eine Apotheke zu betreten, wenn die Mönche sie gelassen hätten.
Aber so war es gut, wie es war, und sie wartete geduldig, bis sich die Klosterpforte wieder öffnete. Pater Geoffroy trug ein kleines Körbchen in der Hand. Er zeigte es Viviane.
»In diesem Beutelchen befindet sich ein Tee. Er löst den Husten in der Brust und regt zum Schwitzen an. Das Krankheitsbild wird sich anfangs verstärken. Keine Bange, der Körper schwemmt nur die bösen Säfte aus, die ihn plagen. Nach drei mal drei Tagen wird der Husten weg sein. In diesem Fläschchen befindet sich ein Tonikum, von dem deine Mutter nach dem sechsten Tag täglich dreimal einen Löffel voll zu sich nehmen soll. Es stärkt sowohl den Geist als auch den Körper, regt den Appetit an und fördert den Frohmut. Mit dieser Salbe jedoch reibe ihren Körper ein, wenn sie nicht mehr schwitzt, vor allem Brust und Rücken, und tue dies auch dreimal am Tag. Damit wird sie besser atmen können, und die Haut wird wieder straff und rosig. Sie duftet sehr stark und brennt, wenn man sie in die Augen reibt. Also achte darauf, dass du sie sorgsam anwendest.«
Er drückte Viviane das Körbchen in die Hand.
»Lieber Pater Geoffroy, wie kann ich Euch nur danken?« Sie zog eine Münze unter ihrem Kittel hervor, doch der Mönch lehnte mit einer höflichen Geste ab.
»Gott lehrte uns, für die Armen und Kranken, die Schwachen und Bedürftigen zu sorgen. Es ist unsere Art von Nächstenliebe, allen Bewohnern des Dorfes zu helfen. Selbstverständlich schließen wir deine Mutter in unsere Fürbitten ein und wünschen ihr eine baldige Genesung.« Er erhob sich. »Lass uns ein Stück des Wegs gemeinsam gehen, ich will nach den Schafen sehen, die dort drüben weiden. Hin und wieder entfernt sich ein Tier zu weit von der Herde und ängstigt sich dann. Auch die Tiere gehören zu den schwachen Kreaturen, für die wir verantwortlich sind.«
Viviane schlenderte neben ihm her. Sie unterhielt sich gern mit den Mönchen, vornehmlich mit Pater Geoffroy, aber auch einige andere wussten viele interessante Dinge zu erzählen. Sie konnten schreiben und lesen, besaßen eine Bibliothek mit unzähligen Büchern, die sie zum Teil selbst abschrieben und prächtig ausgestalteten. Sie erforschten die Sterne und die Pflanzen, erprobten die Wirkung von Kräutern und Tinkturen. Und natürlich kannten sie sich bestens in allen Glaubensfragen aus. Sie spendeten Trost und Beistand, tauften die Kinder und vermählten die Paare, beteten für die Kranken und Verschollenen, für die Verstorbenen und ihre Seelen, damit sie in den Himmel kamen. Sie brauten Bier und buken Brot, sie bauten Korn und Rüben an und Blattgemüse. Sie hielten Ziegen, Schafe und sogar Schweine, Hühner und Gänse, Maultiere und Ochsen. Sie arbeiteten hart, beteten viel, schliefen wenig. Und doch halfen sie jedem, der sie um Hilfe bat.
»Morgen früh werden wir ins Dorf kommen, um Fische zu kaufen, wenn die Fischer vom Fang zurückkehren«, sagte Pater Geoffroy. »Da werde ich auch nach deiner Mutter schauen, ob die Medizin schon anschlägt. Aber sie muss Geduld haben und das Beten nicht vergessen.« Ein Lächeln stand in seinem runden Gesicht. »Das Beten ist das Wichtigste!«
»Ich weiß«, erwiderte Viviane versonnen. »Ich werde es Mutter ausrichten.«
»Aus dem Gebet schöpfen wir die Kraft«, fuhr Pater Geoffroy fort. »Das Gebet ist die Zwiesprache mit Gott, die …« Er brach mitten im Satz ab und starrte mit offenem Mund und aufgerissenen Augen aufs Meer.
»Was habt Ihr, Pater Geoffroy?«, wollte Viviane wissen. Ihre Augen folgten seinem Blick, und sie erstarrte ebenfalls. Hinter der Landzunge, die die Bucht nach Osten abschirmte, schob sich ein Schiffsbug hervor. Er sah aus wie ein Pferdekopf mit geschwungenem Hals. Ihm folgte ein schlanker Bootskörper mit geblähtem Segel. Ein zweiter gebogener Drachenbug erschien hinter der Klippe, dann ein dritter.
»Wikinger!« Pater Geoffroy ächzte. »Schnell, Mädchen, bring dich in Sicherheit. Alarm! Alarm! Komm mit ins Kloster. Das werden sie wohl nicht antasten.« Der etwas beleibte Mönch raffte seine Kutte und lief, so schnell er konnte, zurück zum Kloster. Er läutete wie wild die kleine Glocke. Augenblicklich wurde es unruhig in den Gemäuern, und es war vorbei mit der beschaulichen Ruhe. Kurze Zeit später läutete die Glocke des Kirchturmes. Ihr durchdringendes Geläut alarmierte auch die Bewohner des Dorfes.
Einen Moment überlegte Viviane, ob sie dem Pater ins Kloster folgen sollte. Hinter den hohen Mauern wäre sie tatsächlich sicher. Aber ihre Familie im Stich lassen? Die kranke Mutter konnte sich doch gar nicht von ihrem Lager erheben! Es blieb keine Zeit, alle Dorfbewohner hinauf ins Kloster zu bringen. Kurz entschlossen packte sie ihr Körbchen fester und lief den Hügel hinab.
Die drei Boote näherten sich schnell. Sie steuerten genau auf die Bucht zu. Auch im Dorf wurde es sofort unruhig. Die Männer griffen zu ihren Waffen. Frauen und Kinder eilten zum Hügel. Die Alten blieben zurück und verschanzten sich in einer der größeren Hütten. Einige der Frauen zerrten das Vieh an Stricken hinter sich her.
Das erste Wikingerboot holte die Segel ein, dann die beiden anderen. Mit den langen Rudern manövrierte die Besatzung das erste so nahe wie möglich an den Strand, die beiden anderen blieben etwas weiter draußen liegen. Wie Ameisen sprangen plötzlich Männer an Land und rannten auf die Hütten zu. Ihr durchdringendes Gebrüll ließ die zurückgebliebenen Bewohner erstarren. Die Angreifer boten einen schrecklichen Anblick. In Leder und metallbeschlagene Lederüberwürfe gekleidet, mit eisernen Helmen und Kappen auf den Köpfen, gierigen wilden Blicken und blitzenden Waffen stürmten sie den Strand herauf.
Die Männer des Dorfes versuchten die Angreifer mit aller Gewalt zu stoppen. Doch die Wikinger waren ihnen sowohl zahlenmäßig als auch an Kräften überlegen.
»Da oben sind die Weiber mit dem Vieh«, schrie einer. Zwei Handvoll der Wikinger nahmen sofort die Verfolgung auf. Die anderen liefen von Hütte zu Hütte, plünderten sie und steckten sie dann in Brand.
Viviane war noch zu weit weg, um irgendetwas tun zu können. Ihre einzige Sorge galt der Mutter. Vater und Patrick würden sich ihrer Haut schon zu erwehren wissen.
Als ginge es um ihr eigenes Leben, rannte sie den Berg hinab. Den Korb hatte sie schon längst verloren. An sich selbst dachte sie im Augenblick überhaupt nicht. Als sie die bärtigen wilden Männer auf sich zukommen sah, durchfuhr sie ein eisiger Schreck. Es waren fünf, und ihre grimmigen Gesichter verhießen nichts Gutes.
»Jesus hilf«, flüsterte Viviane, dann schlug sie wie ein wildes Kaninchen einen Haken.
»Fangt sie«, rief einer der Wikinger. Die anderen schwärmten aus und kreisten sie ein. Doch Viviane war flink. So schnell würde sie sich nicht ergeben. Sie würde sich überhaupt nicht ergeben! Sie sprang zwischen ihnen hindurch, narrte sie, bis sie stolperten oder sich gegenseitig anrempelten. Sie mochten stark sein, diese Wikinger, aber irgendwie waren sie auch schwerfällig. Vivianes Plan ging auf, sie entkam ihnen, und ihr Abstand vergrößerte sich. Mit einem kurzen Blick über die Schulter vergewisserte sie sich, dass die fünf Männer ihr nicht folgen konnten. Unvermittelt stieß sie gegen ein Hindernis. Sie war so verwirrt darüber, dass sie nicht einmal erschrak. Das Hindernis war nicht so fest wie ein Baum, es gab hier auch gar keinen. Aber es war groß und verdunkelte ihr die Sicht. Instinktiv riss sie die Arme nach vorn, um sich zu schützen. Wie eiserne Klauen packten zwei riesige Hände ihre Gelenke und hielten sie fest.
»Was haben wir denn hier für ein Häschen gefangen?« Die Stimme war rau und tief, klang jedoch belustigt. Viviane blickte auf und schaute den Mann gegen die Sonne an. Sie sah sein helles Haar wie Gold schimmern. Es wehte im Wind. Im Gegensatz zu den anderen Wikingern trug er keine lederne Kappe. Doch sein Gesicht blieb im Schatten. Sie blinzelte. »Lass mich los, du Raubein«, schnaufte sie und wehrte sich mit aller Kraft. Das Resultat war, dass sich seine Hände noch fester um ihre Handgelenke schlossen. Sie fürchtete, dass er ihr die Arme brechen würde.
Dann stieß er sie grob zurück, so dass sie zu Boden stürzte. Die Männer, die ihr gefolgt waren, lachten. »Kein Hase, sondern ein Fuchs«, rief einer. »Füchse sind schlau.«
»Nur ein Mädchen«, erwiderte der große Mann. Seine Haltung, sein Auftreten, ja seine Stimme verrieten, dass er der Anführer war. »Nehmt sie mit.« Damit war für ihn die Angelegenheit erledigt, und er stapfte weiter den Berg hinauf. Offensichtlich war das Kloster das Ziel ihrer Begierden. Daran würden sie sich die Zähne ausbeißen, dachte Viviane, während die anderen Männer sie hochzerrten und zum Strand hinunterstießen. Aus den Augenwinkeln sah sie Rauch aufsteigen. Es war die Schmiede!
Ihr Atem stockte. »Mutter!«, schrie sie. »Mutter!« Sie spürte einen derben Stoß im Rücken und strauchelte. Dann stand auch ihre Hütte in Flammen. »Nein! O nein!« Verzweifelt unternahm sie einen erneuten Fluchtversuch, der jedoch kläglich scheiterte. Diesmal passten die Männer auf Einer griff in ihr Haar. Mit einem klagenden Schmerzlaut ging sie in die Knie. Ein anderer riss sie wieder auf die Beine. »Vorwärts!«, bellte er sie an.
Tränen verschleierten ihren Blick. Es war nicht der körperliche Schmerz. Die Hütte ihrer Eltern brannte lichterloh. Tote säumten ihren Weg hinunter zum Strand. Schreie, Waffenlärm, Gebrüll, Hohngelächter, das Knacken und Prasseln der Flammen – wie betäubt lief sie. Kinder rannten schreiend umher und suchten ihre Mütter. Eine Frau stürmte in ihr brennendes Haus. Dann stürzte es über ihr zusammen. Einige Männer des Dorfes kämpften verbissen gegen die Übermacht der Angreifer.
Die Bilder prägten sich ihr ein, diese Bilder würde sie zeit ihres Lebens nicht vergessen! Wie sie den Mann hasste, der dies angerichtet hatte!
Es war nur ein klägliches Häuflein Überlebender, die am Strandzusammengetrieben wurden. Die Wikinger fesselten ihnen Hände und Füße, damit sie nicht flüchten konnten.
Als sich die Dämmerung über den Strand senkte, wurden mehrere Feuer entzündet. Sie beleuchteten eine gespenstische Szenerie. Zwischen den Feuern verteilt, hockten Gruppen von Gefangenen. Es waren nur wenige Frauen und Männer und kaum Kinder. Viviane stellte fest, dass sich auch keiner der Mönche aus dem Kloster unter ihnen befand. Vom Gipfel des Hügels aber stieg ein dünner schwarzer Rauchfaden in den Himmel. Verzweifelt presste Viviane die Augen zu. Sie vernahm leises Wehklagen, das einige der Wikinger, die zwischen den Feuern umherliefen, mit gezielten Fußtritten zum Verstummen brachten. Viviane zog und zerrte an ihren Handfesseln. Doch der grobe Strick schnitt sich nur tiefer in ihre Gelenke ein.
So versuchte sie, eine halbwegs erträgliche Haltung einzunehmen, zog die Beine an und stützte die Stirn auf die Knie. Sie faltete die gefesselten Hände, so gut es ging, und betete. Sie fragte Gott, warum er dieses Unrecht zuließe, und sie schwor Rache, immer wieder Rache.
Erst spät kam der Anführer mit einem Trupp Männer vom Hügel herab. Sie schleppten die Beute aus dem Kloster herbei. Sofort entbrannte ein Streit unter den anderen. Mit einer barschen Geste brachte der Anführer sie zum Schweigen. Er schien den Respekt seiner Männer zu genießen, denn gleich darauf brachten sie einhellig und gemeinsam die Beute auf die Drachenboote.
Viviane hob den Kopf. Die Schiffe nickten wie schlafende Pferde mit ihren Drachenköpfen und schaukelten sacht auf den Wellen. Ab und zu hallte ein rauer Befehl übers Wasser. Der Anführer mit seinem honigblonden Haar, das bis auf die Schultern fiel, war ein großer Mann. Er trug einfache, grobe Kleidung. Brust und Rücken wurden durch einen Lederpanzer geschützt. Die Gefangenen würdigte er mit keinem Blick. Hoch erhobenen Hauptes überwachte er die Verladung der Beute. Es bot das Bild eines Siegers.
Viviane befürchtete, dass er sich gar nicht mit Gefangenen belasten würde. Wahrscheinlich würde er sie an Ort und Stelle niedermetzeln lassen. Vielleicht würden sie auch auf einen Sklavenmarkt gebracht und versteigert. Dann schon lieber gleich tot! Sie bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick, in den sie ihren ganzen Hass legte. Dann senkte sie den Kopf wieder auf die Knie.
Von alldem schien der Anführer nichts zu bemerken. Er war zufrieden, vor allem mit der reichen Beute aus dem Kloster. Der Überraschungsangriff war gelungen. Diese Christen waren ein seltsames Völkchen. Beschenkten ihren Gott mit Reichtümern und lebten selbst in bitterer Armut. In der Küche der Mönche sah es aus, als hätte bereits ein Überfall stattgefunden. Etwas Fisch, ein paar Kräuter, kaum Mehl für zehn Brote, kein Fleisch, nur krümeliger Käse und saures Bier. Er wandte sich um, als einer der Männer einen störrischen Hammel herbeizerrte.
»Er ist der Einzige, den ich erwischen konnte«, sagte der Mann. »Diese Hammel sind genauso verstockt wie ihre Besitzer.«
Es war nur eine Handbewegung des Anführers, die dem Mann signalisierte, was er zu tun hatte. Er zog ein Messer aus dem Gürtel, schlachtete den Hammel und häutete ihn. Dann nahm er ihn aus und steckte ihn auf einen großen Ast. Aus vier Balken zimmerte er grob zwei Kreuze, die er neben einem Feuer platzierte. Er legte den gepfählten Hammel darüber und begann ihn langsam über der Glut zu drehen. Nicht lange, und ein verführerischer Bratenduft breitete sich aus.
Viviane, deren Magen schon seit Stunden knurrte, krümmte sich zusammen. Gleichzeitig mit dem heftigen Hunger befiel sie Übelkeit. Von diesen Räubern würde sie keinen Bissen annehmen. Offenbar hatten die Wikinger ihre Beute auf den Schiffen verstaut und kamen nun zurück, um am Mahl teilzunehmen. Sie hockten sich um das Feuer, lachten und unterhielten sich und warteten, bis das Fleisch gar war. Keiner kümmerte sich um die Gefangenen.
Viviane ertastete hinter ihrem Rücken einen Stein. Im Schutze der Dunkelheit musste sie versuchen, sich zu befreien. Vielleicht konnte sie mit Hilfe des Steins ihre Fesseln zerschneiden. Doch der Stein war von der Brandung rund geschliffen. Trotzdem versuchte sie, an einer rauen Stelle das Seil anzuritzen. Wenn sie erst einmal einen Anfang gefunden hatte, würde sie es bestimmt durchscheuern können. Hin und wieder warf sie einen Blick hinüber zu den Männern. Doch die hatten nur Augen für den Hammel am Spieß. Unverdrossen scheuerte sie mit den Fesseln über den Stein. Es tat höllisch weh, und sie biss die Zähne zusammen.
Währenddessen brutzelte das Hammelfleisch, und die Wikinger begannen mit ihren Messern große Stücke herauszuschneiden. Sie taten dies grobschlächtig und großzügig. Gierig bissen sie hinein und schlangen die Stücke herunter wie Tiere. Mit den Ärmeln ihrer groben Kittel wischten sie sich das tropfende Fett vom Kinn.
Viviane wandte angeekelt den Kopf ab und rieb verbissen weiter. Die Fessel treidelte etwas auf und gab nach. Das machte ihr Mut. Plötzlich gab es einen Ruck, und ihre Hände waren frei. Sie blieb sitzen und blickte sich vorsichtig um. Die Wikinger fühlten sich so sicher, dass sie nicht einmal Wachen aufgestellt hatten. Langsam ließ sich Viviane zur Seite sinken, als wolle sie schlafen. Dann zog sie die Arme nach vorn und rieb ihre schmerzenden Handgelenke. Sie stützte sich auf die Ellenbogen und begann sich kriechend vorwärtszubewegen. Immer wieder hielt sie inne und blickte sich um. Niemand bemerkte etwas. In ihren Schläfen hämmerte das Blut, und sie überlegte fieberhaft, wie sie vorgehen sollte. Sie musste die Gefangenen befreien. Aber wie? Sie hatte kein Messer bei sich, um ihnen die Fesseln durchzuschneiden. Sie musste sich eine Waffe besorgen, ein Schwert, einen Dolch, notfalls von einem der Getöteten.
Sie kroch weiter, vom Feuer weg, auf eine dunkle, reglos am Boden liegende Gestalt zu. Es war einer der Fischer aus dem Dorf Sein Körper erkaltete langsam, und Viviane schauderte, als sie die Hand ausstreckte und nach seinem Gürtel tastete. Jeder Fischer trug ein kleines Messer bei sich, das wusste sie genau. Es hatte schon manchem von ihnen das Leben gerettet, wenn sie sich in einem der Netze oder Taue verhedderten und über Bord gezogen zu werden drohten. Halb unter dem leblosen Körper ertastete Viviane das kühle Metall. Langsam, mit angehaltenem Atem, zog sie das Messer hervor. Sie fühlte am verzierten Griff, dass es ein Messer aus der Schmiede ihres Vaters war. Das verlieh ihr Zuversicht und Mut. Ihre Hand schloss sich fest um den Griff. Stück für Stück zog sie es unter dem Körper des Fischers vor. Sie atmete auf, als sie es geschafft hatte. Noch ein prüfender Blick, dann schnitt sie eilig ihre Fußfesseln durch.
Die Wikinger hatten begonnen, lautstark zu singen. Das reichlich genossene Bier lockerte ihre Zungen. Ihre Lieder klangen rau und rhythmisch. Einige Männer sprangen auf und stampften mit den Füßen im Takt. Gegen das hell brennende Feuer hoben sie sich wie unheimliche, schwarze Gestalten ab. So stellte Viviane sich die Teufel der Hölle vor, wild, ungebärdig, im animalischen Tanz um das Feuer.
Diese Wikinger waren Teufel, mordlustige Räuber, gnadenlose Eroberer und seelenlose Wilde; Heiden, die Götter anbeteten, ebenso animalisch wie sie. An den Boden geduckt wie eine Raubkatze auf Beutefang, schlich sie sich zu der Gruppe Gefangener, die etwas abseits des Feuers hockten.
»Pssst, ich bin's, Viviane«, raunte sie einem älteren Mann zu, den sie als Ersten erreichte. Sie schnitt ihm die auf den Rücken gefesselten Hände frei. Mit einem leisen Aufstöhnen wandte er sich um.
»Komm, wir müssen die anderen befreien«, flüsterte sie und kroch weiter zum Nächsten. Sie hob erst den Kopf, als sie gegen ein Hindernis stieß. Es war ein Männerbein, in groben Wollstoff gekleidet und mit Lederriemen umwickelt. Der Schreck durchfuhr sie wie ein Dolchstoß. Ihr Blick glitt an dem Bein nach oben, bis sie in zwei unglaublich blaue, spöttisch blickende Augen schaute.
Der Anführer der Wikinger war aus dem Dunkel aufgetaucht wie ein Geist. Viviane hatte ihn weder kommen hören noch gesehen.
»Schau an, die kleine Wildkatze! Und sie will sich klammheimlich davonstehlen.« Mit einem schnellen Schritt trat er auf Vivianes Hand und presste sie in den Sand. Viviane verkniff sich einen Schmerzenslaut, musste aber das Messer fallen lassen. Er bückte sich danach und hob es auf. Sein Blick wurde deutlich unfreundlicher. »Also die Gefangenen wolltest du befreien? Mir meine Beute streitig machen?« Er hockte sich nieder, seinen Fuß immer noch auf ihrer Hand. »Weißt du, wenn dies einer meiner Männer machen würde, dann hätte er im nächsten Augenblick das Messer zwischen seinen Rippen. Bei solchen Dingen kenne ich keine Gnade.« Er spielte abwägend mit dem Messer in seiner Hand. Viviane, die nicht aufstehen konnte, ließ den Kopf auf den Boden sinken. Ihr Heldenmut war verflogen, und Tränen stürzten in ihre Augen. Sie schämte sich dafür, wollte vor diesem Mann keine Schwäche zeigen. Sie hatte ihr Leben verwirkt. Einen Versuch war es wert gewesen.
Sie konnte nicht sehen, wie sich seine Miene wieder aufhellte. Er betrachtete das am Boden liegende Bündel Mensch mit den langen roten Haaren. Dann glitt sein Blick zu dem Messer in seiner Hand. Ihm fiel die kunstvolle Bearbeitung auf. Die Schneide war sauber geschmiedet, es war eine solide Arbeit. Vielleicht war es das Messer, das seinen Zorn besänftigte. Mit der anderen Hand fasste er in Vivianes Haar und sah in ihr Gesicht. »Tränen?« In seiner Stimme klang Spott. »Das passt aber nicht zu einer kleinen, schlauen Füchsin, die sich aus der Falle befreien will.« Er ließ sie wieder los, und Vivianes Kopf fiel in den Sand. Zwischen ihren Zähnen knirschte es. Verzweiflung und ohnmächtige Wut rangen in ihr miteinander. Doch sie sah ein, dass es sinnlos war, gegen diesen Mann zu kämpfen, der ihr nicht nur körperlich überlegen war. Ihr Leben lag in seiner Hand wie jetzt das Messer. Von einem Augenblick zum anderen konnte er darüber entscheiden, und sie war sich überhaupt nicht sicher, wie diese Entscheidung aussehen würde. Sie wusste nur, dass die Wikinger wegen ihrer Gnadenlosigkeit gefürchtet waren.
Ohne den Fuß von Vivianes Hand zu nehmen, erhob er sich, steckte das Messer in seinen Gürtel und fesselte den alten Mann wieder. Dann erst trat er einen Schritt zurück und gab Vivianes Hand frei. Im gleichen Augenblick packte er ihr Haar und zog sie daran hoch. Der Schmerz war heftig, und Viviane presste die Lippen zusammen. Er zog sie von den Gefangenen fort, hin zum Feuer.
Seine Leute tanzten und sangen und schmausten und tranken noch immer. »Schaut mal, was ich hier gefangen habe«, rief der Anführer mit dröhnender Stimme. »Diese kleine Füchsin wollte sich davonstehlen.« Augenblicklich herrschte Ruhe, und alle Männer starrten Viviane an. Dann fingen sie an zu lachen und zu grölen. »Her mit ihr, die bringt uns Spaß!«
Eine tiefe Zornesfalte grub sich zwischen die Augenbrauen des Anführers. »Wer sollte die Gefangenen bewachen?«, fragte er drohend.
Ein untersetzter, stämmiger Wikinger trat vor. Es war einer derjenigen, die dem Bier am meisten zugesprochen hatten und nun nicht mehr ganz sicher auf den Beinen waren. Auch sein Blick war gar nicht mehr fest.
Der Anführer ließ Vivianes Haar so plötzlich los, dass sie zu Boden fiel. Im gleichen Moment schlug er mit der Faust nach dem Mann, der wie eine vom Blitz gefällte Eiche umstürzte. »Danke Odin, dass ich die Flucht noch verhindert habe, sonst wäre dein Leben weniger wert als das einer Qualle, die der Sturm an den Strand spült.«
Der Geschlagene rappelte sich ächzend hoch und hielt sich das Kinn. Mit eingezogenem Kopf verzog er sich in Richtung der Gefangenen.
Ohne sich weiter um Viviane zu kümmern, hockte sich der Anführer in die Nähe des Feuers. Einer seiner Männer eilte diensteifrig herbei und reichte ihm ein großes Stück Fleisch und einen Krug Bier. Als wäre nichts geschehen, begann er zu essen.
Viviane hockte noch immer im Sand und wusste nicht, was sie tun sollte. Der Anführer kümmerte sich nicht mehr um sie, aber auch die anderen Männer taten so, als wäre sie gar nicht da. Und sie wurde auch nicht wieder gefesselt. Viviane vermutete, dass der Anführer der Wikinger sie prüfen wollte, ob sie wieder einen Fluchtversuch wagte. Sie überlegte kurz, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Ein zweites Mal würde er sich nicht so nachsichtig zeigen. Auf allen vieren kroch sie aus dem Kreis heraus und setzte sich hinter den Anführer. Eine Weile kaute er noch an seinem Hammelfleisch herum, dann wandte er sich zu ihr um. »Du glaubst wohl, du stehst jetzt unter meinem persönlichen Schutz, wenn du dich hinter meinen Rücken setzt?« Er lachte belustigt und klopfte mit der flachen Hand neben sich in den Sand. »Komm, setz dich zu mir.« Zögernd kroch Viviane näher. »Du bist schlau«, sagte er. »Unter dem Schutz des Drachens greift kein Wolf an. Du glaubst, du bist bei mir sicher.« Sein Lächeln widersprach seinem sonst so gnadenlosen Auftreten, und einen Moment glaubte Viviane seinen Worten. Doch im nächsten Augenblick brandete das Misstrauen wieder auf. Sie schaute ihn reglos an. Er warf ihr ein Stück gebratenes Fleisch zu, wie man einem Hund einen Knochen hinwirft. Es fiel in Vivianes Schoß. Sie nahm es vorsichtig. Der Duft stieg ihr in die Nase, verführte ihre Sinne. Ihr Magen knurrte und krampfte sich schmerzhaft zusammen. Hunger tat weh. Sie wandte den Kopf zum Berg, wo die verkohlten Mauern des Klosters noch immer dünne Rauchsäulen in den Himmel schickten. Jemand lachte laut und hämisch, zwei der Wikinger stritten sich. Leise wimmerte eine Frau. Es kam aus der Gruppe der Gefangenen. Langsam drehte Viviane sich wieder um und begegnete dem Blick des Anführers. Mit einer kurzen, heftigen Bewegung schleuderte sie das Fleisch zurück. Es prallte gegen seine Brust und fiel in den Sand. An seiner Miene sah sie, dass er überrascht war. Verärgert zog er die Augenbrauen zusammen.
»Stolz bist du auch noch«, stellte er fest. Das Fleisch ließ er liegen und beachtete sie nicht mehr.
***
Obwohl sich Viviane gegen den Schlaf wehrte, der sie zu übermannen drohte, dämmerte sie irgendwann weg. Erst als der Morgen mit seiner feuchten Kühle heraufzog, erwachte sie. Sie zitterte vor Kälte und Erschöpfung. Über dem Wasser lag eine Dunstschicht, in der die ankernden Drachenboote sanft auf den Wellen schaukelten. Es sah aus, als nickten sie auffordernd mit den Köpfen. Augenblicklich war Viviane hellwach und sprang auf. Keine Fessel behinderte sie, und auch sonst schien sich niemand um sie zu kümmern. Die Wikinger hatten begonnen, ihre Boote zu beladen. Den größten Teil der Beute hatten sie bereits am Abend auf die Boote gebracht. Jetzt trieben sie die Gefangenen zum Wasser. Frauen und Kinder schrien, weinten und wehklagten. Hilflos stand Viviane inmitten des Durcheinanders. Ein paar Hunde kamen zögernd näher. Es waren Tiere aus dem Dorf, verstört durch die nächtlichen Ereignisse. Auch Viviane hatte einen Hund besessen. Sie konnte nicht erkennen, ob er unter ihnen war. Wie alle Hunde des Dorfes wuchs auch er halbwild auf und erkämpfte sich innerhalb des losen Rudels ein paar Bissen von den Abfällen am Strand. Jetzt hätte Viviane sich gewünscht, dass sie ihn so abgerichtet hätte wie die königlichen Jäger, deren Hunde sich selbst vor Wildschweinen nicht fürchteten und sie todesmutig stellten. Sie hätte den Hund auf diese furchtbaren Wikinger gehetzt, und er hätte sie alle nacheinander totgebissen.
Sie beobachtete, wie die Wikinger die Gefangenen vor sich hertrieben, und wurde sich bewusst, dass es ein aussichtsloser Wunschtraum war. Gegen die Wikinger gab es kein Mittel, kein Hund, keine Gewalt, kein Gebet. Sie waren wie die Höllenflut selbst, sie kamen und gingen und hinterließen verbranntes Land und Verwüstung. Sie versuchte, unter den Gefangenen Patrick zu entdecken, doch sie konnte ihn nicht sehen. Wahrscheinlich war er ebenso tot wie fast alle Bewohner des Dorfes, wie Vater Hengist, wie Mutter Cedrilla, wie Pater Geoffrey. Mutlosigkeit und Verzweiflung ergriffen sie. Sie sollte die allgemeine Verwirrung nutzen, um endgültig zu flüchten. Vielleicht fand sie noch einige Überlebende, die sich retten konnten. Sie fuhr herum und wollte losrennen, doch eine Hand verkrallte sich in ihrem Haar und hinderte sie daran. Mit einem leisen Klagelaut sank sie in die Knie.
»Wohin will die Füchsin laufen? Hat sie Angst vor dem Wasser?« Es war der hünenhafte Anführer der Wikinger. Mit gutmütigem Spott bedachte er ihr vergebliches Bemühen, vor ihm zu flüchten. In Vivianes Herz flackerte es. Fast war sie geneigt, ihm so etwas wie Vertrauen entgegenzubringen. Doch sie war sich nicht sicher, ob er es wirklich ehrlich meinte. Vielleicht war es nur die Arroganz des Siegers, die er an den Tag legte. Er war ein Räuber und Mörder, das durfte sie niemals vergessen.
Viviane fühlte plötzlich, wie sie von kräftigen Armen hochgehoben wurde. »Glaub ja nicht, dass ich dich einfach entfliehen lasse«, lachte er und schritt mit seiner Beute ins Wasser. So gelangte Viviane als Einzige trockenen Fußes zu den Drachenbooten. Sie wusste nicht, warum ihr diese Sonderbehandlung zuteilwurde, und sie empfand sie auch nicht als Privileg. Der Wikinger warf sie kurzerhand über die Bordwand, und sie kullerte ins Boot hinein. Die Männer nahmen an den Ruderbänken Platz. Die Gefangenen wurden im vorderen Teil zusammengepfercht. Auch Viviane bekam einen Tritt ab und kroch nach vorn. Niemand kam auf die Idee, ihr Fesseln anzulegen. Es hatte auch keinen Sinn zu flüchten, denn ein Kommando ertönte, und die Männer griffen zu den Rudern. Mit geschickten Manövern entfernten sie sich vom Ufer. Viviane hob den Kopf und blickte über die Reling hinüber zum Land. Oben auf der Klippe stand die Kirche, unerschütterlich und erhaben, als wäre nichts geschehen. Sie war ihrer Schätze beraubt und nur noch eine leere Hülle. Am Hang grasten versprengt die restlichen Schafe der Herde, die sich vor den Eroberern retten konnten. Von den Hütten des Dorfes waren nur noch verkohlte Ruinen übrig geblieben, aus denen noch immer dünne Rauchfahnen emporstiegen.
Der Nebel über dem Meer lichtete sich. Unter rhythmischen Ruderschlägen glitten die Drachenboote dem Horizont entgegen, während sich am Strand die Hunde mit den Möwen um die Reste des Hammels stritten.
Viviane legte den Kopf auf die harten Planken, die dunkel und rau und vom Salz des Wassers zerfressen waren. Und doch schossen die Boote schnell und zielsicher durch die Wellen. Der Steuermann hatte das Segel hissen lassen, und der Wind fuhr hinein. Das Segeltuch knatterte und blähte sich auf. Viviane ahnte, warum die Wikinger die Schrecken der Meere waren. Ihre Boote gaben ihnen die Kraft und Wendigkeit. Die unheimlichen Drachenköpfe am Bug verbreiteten, wo immer sie auftauchten, Schrecken bei den Küstenbewohnern.
Eine bleierne Schwere übermannte sie und tiefe Resignation. Von diesem Boot war eine Flucht unmöglich. Die einzige Möglichkeit war der Freitod. Und selbst da war sie sich nicht sicher, dass sie der Anführer nicht wieder aus dem Wasser herausfischen lassen würde.
Ihr Blick wanderte zu ihm hin. Er stand breitbeinig am erhöhten Heck des Bootes. Der Wind zauste seine blonden Locken, während er aufmerksam den Horizont beobachtete. Doch die drei Drachenboote waren allein auf dem Meer. Die Küste lag als schmaler dunkler Streifen da, als versinke sie im Meer. Mit ihr versanken Vivianes Erinnerungen. Sie fühlte sich, als wäre eine Lebensader durchschnitten. Und dieser Mann, der dort so überlegen und selbstsicher, ja herrisch und unerschütterlich stand, war schuld daran.
Zorn keimte in ihr auf und Hass. Er war die Verkörperung ihres Feindes, er stand für all seine rauen Gesellen, die ihm bedingungslos gehorchten und seine Befehle ausführten. Sie presste die Augen zu engen Schlitzen zusammen und ballte ihre Fäuste. Mehr konnte sie nicht tun. Wie hatte sie nur einen Augenblick lang zu ihm irgendeine Art von Vertrauen empfinden können!
Sie versuchte, eine halbwegs erträgliche Lage einzunehmen, was auf dem Boot nicht ganz einfach war. Den besten Schutz hatte sie im Windschatten des hochgezogenen Bugstevens, der die gleiche Höhe hatte wie das geschwungene Heck. Gleich neben ihnen saßen die ersten Ruderer auf ihren schmalen Holzbänken. Viviane bekam einen Tritt in den Rücken und versuchte, sich in Sicherheit zu bringen. Die Gefangenen duckten sich und drängten sich zusammen, um dem unangenehmen Wind ein wenig zu trotzen. Viviane schob sich zu ihnen heran und überlegte, ob sie ihnen die Fesseln lösen sollte. Ein Blick auf den Ruderer neben ihr ließ sie den Plan gleich wieder vergessen. Außerdem besaß sie kein Messer mehr. Das steckte im Gürtel des Wikingers.
Sie segelten immer in Sichtweite der Küste in Richtung Osten. Viviane, die noch niemals ihr Dorf verlassen hatte, überkam eine heftige Angst. Die Welt war so schrecklich groß, das Meer so weit und das Ufer so fern. Ob ihr Bruder Angus auch diese Angst verspürt hatte, als er auf das Meer hinausgefahren war? Sie stellte sich den Sturm vor, die dunklen, hohen Wellen, die sein Boot herumwarfen wie eine Nussschale. Eine dieser schrecklichen Wellen hatte ihn über Bord geschleudert. Das Meer gab, aber es nahm sich auch seinen Lohn dafür. Viviane schauderte. Sie liebte das Feuer, seine Wärme, seine Kraft. Feuer spendete Leben, Feuer ließ Eisen glühen, Feuer garte das Essen. Ihr Magen knurrte, und sie durfte gar nicht daran denken, dass sie stolz und trotzig das Stück gebratenen Hammel abgelehnt hatte. Wie gern würde sie jetzt in ein Stück saftiges Fleisch beißen! Aber dass sie vor den Augen dieses grausamen Eroberers ihre Würde bewahrt hatte, machte sie noch stolzer. Sie würde sich vor ihm nicht erniedrigen.
Doch der Anführer der Wikinger schien sie nicht mehr zu beachten. Mit harschem Ton erteilte er Befehle, ließ das Segel straffen, so dass es sich noch mehr blähte. Der schlanke Mast musste aus einem besonderen Holz gemacht sein, dass er nicht brach, sondern elastisch wie ein Bogen nachgab.
Auch die Mannschaft war den Unbilden der Natur schutzlos ausgeliefert. Ab und zu schäumte die Gischt der Wellenkämme über die flache Bordwand. Obwohl das Boot mit so vielen Menschen besetzt war, hatte es kaum Tiefgang. Das war auch der Grund, warum die Wikinger so nahe an die Ufer heranfahren konnten.