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Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, deiner großen Liebe zweimal zufällig zu begegnen? Laura und Matthias verlieben sich während des ersten Semesters ihres Medizinstudiums ineinander. Doch plötzlich verschwindet Matthias spurlos. Acht Jahre später treffen sie sich zufällig wieder und es kommt ein Geheimnis ans Licht, das sie beide betrifft.
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Seitenzahl: 403
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PROLOG
1. KAPITEL
2. KAPITEL
3. KAPITEL
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5. KAPITEL
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7. KAPITEL
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19. KAPITEL
20. KAPITEL
21. KAPITEL
22. KAPITEL
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25. KAPITEL
26. KAPITEL
27. KAPITEL
28. KAPITEL
29. KAPITEL
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31. KAPITEL
32. KAPITEL
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34. KAPITEL
35. KAPITEL
36. KAPITEL
37. KAPITEL
38. KAPITEL
39. KAPITEL
40. KAPITEL
41. KAPITEL
42. KAPITEL
43. KAPITEL
44. KAPITEL
45. KAPITEL
46. KAPITEL
47. KAPITEL
48. KAPITEL
49. KAPITEL
50. KAPITEL
51. KAPITEL
52. KAPITEL
53. KAPITEL
54. KAPITEL
55. KAPITEL
56. KAPITEL
57. KAPITEL
58. KAPITEL
59. KAPITEL
60. KAPITEL
EPILOG
Matthias
Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich erfuhr, dass wir die anderen sind
Es war der Tag, an dem mein Großvater beerdigt wurde. Ich war zehn Jahre alt. Meine Großmutter hatte uns einen Tag zuvor angerufen. Meine Mutter weinte nicht, redete jedoch den ganzen restlichen Tag nicht mehr mit mir.
Am nächsten Tag fuhren wir alle mit der Bahn nach München. Ich fand es merkwürdig, dass mein Großvater dort beerdigt wurde und nicht in Rosenheim. Schließlich haben wir doch dort gelebt und ich bin davon ausgegangen, dass er zwar in München gearbeitet hat, aber ansonsten in unserer Nähe wohnt. Wobei ich nie bei ihm zuhause gewesen bin.
In der Kirche hat uns niemand begrüßt, keiner schien uns zu kennen. Als wir zu dritt in der letzten Reihe Platz genommen hatten, fragte ich verwundert:
„Wieso sind so viele Leute da, die wir nicht kennen, Oma? Und wieso sitzen wir nicht ganz vorne, sondern fremde Leute?“
Meine Großmutter drückte sanft meine Hand, sagte aber nichts. Ich schaute meine Mutter neben mir an, die nur reglos mit blassem Gesicht dasaß.
„Mama, ist das noch eine andere Familie von Opa?“, fragte ich, ohne eigentlich genau zu wissen, was das bedeutete. Meine Mutter schaute mich mit traurigen Augen an und sagte:
„Ja. Nur, dass wir seine andere Familie sind und nicht die.“
Laura
vor 8 Jahren
„Ich habe den Studienplatz!“, brülle ich so laut, dass es beinah im ganzen Haus widerhallt. Doch ich bin so überglücklich, dass ich es in die ganze Welt posaunen möchte!
Wieder und wieder sehe ich auf der Internetseite nach, um sicher zu gehen, dass ich mich nicht doch verlesen habe. Dabei wickele ich ständig eine meiner langen blonden Haarsträhnen um den Zeigefinger. Das tue ich immer, wenn ich nervös oder aufgeregt bin. Aber da steht es: Ich habe einen Studienplatz für Medizin.
Den allerersten Schritt auf meinem Weg, um Ärztin zu werden, habe ich geschafft!
Ich stürme aus meinem Zimmer, stürze die Wendeltreppe hinab und bin nur kurze Zeit später auf der Treppe, die ins Wohnzimmer führt. Bereits tausende Male in den vergangenen neunzehn Jahren bin ich diese Treppen schon hinuntergestürmt. Aber heute fühlt es sich irgendwie anders an: So, als ob ich in ein neues Leben hinausrenne!
Aber das ist ja eigentlich auch so: Schließlich wird mit dem Studium ein völlig neuer Lebensabschnitt für mich anfangen!
In mir ist pures Glücksgefühl und ich spüre ein warmes Prickeln überall. Allerdings auch eine gehörige Portion nervöse Anspannung im Bauch. Werde ich dieses lange schwierige Studium überhaupt schaffen?
„Ich werde Medizin studieren!“, verkünde ich lautstark, noch bevor ich in der Küche angekommen bin. Meine Ängste schiebe ich beiseite. Heute will ich mich einfach nur freuen!
Meine Eltern sitzen, wie jeden Tag um fünf Uhr nachmittags, im Esszimmer bei einer gemeinsamen Tasse Tee. Als sie mich heranstürmen sehen, steht meine Mutter lächelnd auf und drückt mich an sich.
„Herzlichen Glückwunsch, mein Schatz!“, ruft sie begeistert. Heute achtet sie mal nicht darauf, ob ich ihr Falten in die teure Hermès Bluse mache. Ihre herzliche Überschwänglichkeit bringt mich zum Grinsen. Ist sie doch anfangs alles andere als begeistert davon gewesen, dass ich Ärztin werden will.
Als ich diesen Wunsch das erste Mal geäußert habe, war ich ungefähr vier. Aber bis heute habe ich daran festgehalten, ohne genau sagen zu können, was mich eigentlich an diesem Beruf so fasziniert.
Doch meine Mutter hat mir immer zu bedenken gegeben, dass sie den Beruf für eine Frau für wenig familienfreundlich hält. Gleichzeitig im Schichtdienst zu arbeiten und für eine Familie da zu sein, ist auch sicherlich herausfordernd. Sie wollte immer, dass ich Lehrerin werde. Irgendetwas im öffentlichen Dienst mit geregelten Arbeitszeiten sei doch viel leichter mit einer Familie zu vereinbaren. Aber das habe ich mir zu keiner Zeit für mein Leben jemals vorstellen können!
Je älter ich wurde, desto häufiger haben wir uns sogar deswegen gestritten. Mein Vater hat sich dabei immer ganz fein herausgehalten, denn er hat gerne seine Ruhe. Allerdings arbeitet er auch wahnsinnig viel, was für mich nicht wirklich zusammenpasst. Aber um fünf Uhr nachmittags ist er immer da, um mit meiner Mutter Tee zu trinken. Das war schon immer so, solange ich denken kann.
Mit sechzehn habe ich sie jedoch endlich von meinem Berufswunsch überzeugen können. Ich habe ihr zu bedenken gegeben, dass ich, wenn ich Medizin studiere, eine viel höhere Chance darauf hätte, einen zukünftigen Chefarzt kennenzulernen, als wenn ich an einer Schule arbeite. Wahrscheinlich, meinte ich zu ihr, lernen die meisten Ärzte ihre zukünftige Frau doch bereits an der Uni kennen. Der gutverdienende Arzt wäre dann, wenn ich ihm im Krankenhaus begegne, bereits vergeben. Ich musste mir die ganze Zeit während des Gesprächs ein Lachen verkneifen, doch ich konnte förmlich sehen, wie es in meiner Mutter gearbeitet hat. Mein Vater hat nur gegrinst, als er die Reaktion meiner Mutter verfolgt hat. Für meine Argumentation hatte ich mir natürlich den fünf Uhr Tee ausgesucht, um die Gefahr, dass sie aus der Haut fährt, etwas abzumildern.
Aber nach diesem Gespräch hatte ich plötzlich ihren Segen! Und obwohl sich mein Vater das Ganze nur schweigend angeschaut hat, glaube ich, dass ich ihn mit meiner Hartnäckigkeit wirklich beeindruckt habe.
„Wunderbar, Laura. Wirst du zu Hause wohnen oder ziehst du ins Studentenwohnheim?“, fragt mein Vater mich mit seiner ruhigen tiefen Stimme und holt uns damit aus unserer Euphorie. Mein Vater ist eben durch und durch Pragmatiker, was gut ist, denn plötzlich wird mir klar, dass ich gar nicht weiß, wo ich überhaupt studieren werde. Über das Onlineportal hatte ich mich nur ganz allgemein auf einen Studienplatz in Deutschland bewerben können. Aber ob ich es tatsächlich an die LMU geschafft habe, habe ich völlig vergessen, nachzuschauen.
„Das weiß ich noch gar nicht, Papa. Ich muss nochmal rauf!“, rufe ich, während ich bereits wieder auf der Treppe bin.
In meinem Zimmer angekommen rufe ich sofort wieder den Bescheid auf. Dann stutze ich.
„Der Studienplatz ist ja gar nicht in München!“, stöhne ich auf. Enttäuscht blicke ich erneut auf meinen Bildschirm. Meine Freude hat soeben einen tüchtigen Dämpfer bekommen. Da steht nicht Ludwig-Maximilian-Universität, wie ich gehofft hatte, sondern der Name einer Uni, von der ich noch nie etwas gehört habe. Und er ändert sich auch nicht, egal wie oft ich nachschaue.
„Ich habe einen Studienplatz an der Ruhr-Universität Bochum“, lese ich mühsam den sperrigen Namen vor.
Bochum. Vielleicht ist die Stadt gar nicht so weit weg von München, auch wenn ich noch nie von ihr gehört habe?
„Was? Du willst ausziehen!“, ruft meine Mutter entsetzt.
Meine Eltern sind einfach hinterhergekommen und stehen jetzt in meinem Zimmer zwischen meinen weißen Schleiflackmöbeln herum. Mein Bett habe ich auch noch nicht gemacht und meine Mutter runzelt auch prompt die Stirn.
„Bochum? Wo ist das denn? Kannst du das nicht ändern und hier studieren, Laura?“, fragt sie entrüstet.
„Ich habe keine Ahnung, wo Bochum ist“, sage ich niedergeschlagen und zücke mein Handy. Hoffentlich ist das kein Kuhdorf!
Nö, eher völlig verdreckt, denke ich entsetzt, als ich die Bilder mit rauchenden Schloten im Internet betrachte.
Verdammt! Wieso konnte ich keinen Studienplatz in Hamburg oder Heidelberg bekommen? Meine Schulfreundin Susanne wird in Berlin studieren, allerdings Geschichte und Politik. Das sind leider nicht so meine Fächer, besonders Geschichte. Mir ist völlig schleierhaft, wieso man sich mit der Vergangenheit herumschlagen soll, die man doch ohnehin nicht mehr ändern kann. Trotzdem klingt diese Studienadresse doch sehr viel schöner als dieses Bo…chum. Mit diesem Städtenamen kann doch niemand etwas anfangen.
Weiter suche ich gar nicht erst. Bestimmt gibt es ansonsten auch kaum etwas Erwähnenswertes über diese Stadt. Im Gegensatz zu München wirkt Bochum einfach nur recht klein. Die Uni hingegen scheint sehr groß zu sein, stelle ich verblüfft fest. Über 43.000 Studenten befinden sich auf dem Campus!
Mein Vater liest sich erstmal in Ruhe den Bescheid durch.
„Das ist doch völlig egal, Laura, wo und an welcher Uni du studieren wirst. Du hast es im ersten Anlauf geschafft, einen Studienplatz für Medizin zu bekommen! Ich bin wirklich sehr stolz auf dich.“ Mit diesen Worten drückt er mich fest an sich. Fast kommen mir die Tränen vor lauter Rührung.
Mein Vater hat recht. Ich sollte mich freuen, dass ich überhaupt das Studium sofort beginnen darf und nicht erst noch hundert Wartesemester absitzen muss!
Abends sitze ich noch lange mit meinen Eltern im Wohnzimmer. Der Kamin ist leider aus, dafür ist es im August zu warm. Trotzdem würde ich jetzt liebend gerne dem Knistern des Feuers lauschen. Es macht immer alles so heimelig.
Meine Mutter hat sich irgendwann auch gefreut und natürlich habe ich ihr Versprechen müssen, spätestens an Weihnachten nach Hause zu kommen.
Nach der anfänglichen Enttäuschung bin ich jetzt einfach nur noch aufgeregt. Mein Bauch blubbert förmlich vor lauter Vorfreude. Es ist so toll, dass mein Traum wahr wird.
Allerdings werde ich ausziehen müssen. Das ist irgendwie etwas, worüber ich bei meiner Bewerbung überhaupt nicht nachgedacht habe. Das wird ebenso neu für mich werden, wie an einer Universität zu studieren. Alleine zu leben, alleine für mich verantwortlich zu sein, darunter kann ich mir genauso wenig vorstellen wie unter einem Studium. Wobei das Studium vielleicht hoffentlich noch ähnlich wie die Schule sein wird, nur dass ich dann haufenweise Fächer haben werde, die mich wirklich interessieren.
„Ich habe mir überlegt, dass wir eine eigene Wohnung für dich anmieten, Laura. Dann brauchst du nicht im Studentenwohnheim zu wohnen. So toll ist das nämlich nicht, glaub mir“, versichert mir mein Vater, denn er weiß genau, wovon er spricht. Er hat während seiner gesamten Studienzeit in einer kleinen Bude in einem Wohnheim in Bayreuth gewohnt. Das war so damals, hat mein Großvater immer behauptet, der allerdings nicht studiert hat, sondern das Familienunternehmen in München einfach so von seinem Vater übernommen hat. Mein Vater hingegen musste erstmal ein BWL-Studium absolvieren, bevor er dann in der Poststelle der Firma angefangen hat. Danach hat er etliche Abteilungen durchlaufen, bis er in die Chefetage aufsteigen durfte. Glücklicherweise brauche ich den Laden aber nicht zu übernehmen. Das hat mir mein Vater bereits zugesichert, als ich sechs Jahre alt war. Ich solle einfach schauen, was mir Spaß macht, meinte er zu mir, denn er hätte kein Problem damit, seine Anteile eines Tages zu verkaufen. Mit sechs fand ich das eher lustig, später war ich jedoch dankbar dafür, denn ein BWL-Studium kommt für mich ebenso wenig in Frage wie Geschichte.
„Danke Papa!“, sage ich erleichtert und gebe ihm direkt einen kleinen Kuss auf die Wange, die nach teurem Aftershave riecht. Meine Mutter schenkt es ihm immer zu jeder Gelegenheit, weil sich mein Vater nie etwas wünscht.
„Schau mal, Laura. Wäre das nicht vielleicht schon etwas?“ Dabei zeigt er mir die Exposees von zwei Wohnungen auf einer Seite im Internet. Eine liegt direkt in einem „Unicenter“ und eine ist etwas weiter weg, hat aber ein paar Quadratmeter mehr.
„Am besten, du rufst dort an, Papa“, sage ich und bin auf einmal völlig überfordert. Ich habe keine Ahnung, was für meine zukünftige Wohnung wichtig ist. Noch ein weiterer Punkt, meine Aufregung ansteigen zu lassen.
Da mein Vater ein Mann der Tat ist, sagt er direkt am nächsten Tag die andere Wohnung zu, nachdem die Wohnung im „Unicenter“ bereits vergeben ist.
„Schau es dir mal an, Laura. Hauptsache, du hast überhaupt schon mal eine Wohnung. Notfalls suchst du dir vor Ort für das nächste Semester eine andere“, schlägt er vor.
Meine erste eigene Wohnung, durchfährt es mich und ein Schauer läuft mir meinen Rücken herunter.
Mein neuer Lebensabschnitt kann beginnen!
Seit drei Wochen lebe ich jetzt in Bochum, eine gar nicht so kleine Stadt in Nordrhein-Westfalen, die nur leider recht weit von München entfernt ist. Dreckig ist es nur an manchen Ecken. Meine Wohnung liegt, trotz einer lauten Hauptstraße, eher versteckt im Grünen.
Und obwohl es natürlich meine ersten Schritte ins Erwachsenwerden sein sollten, bin ich doch erleichtert darüber, dass meine Eltern mitgekommen sind. Zumindest für die ersten drei Wochen.
Mein Vater hat uns ein Appartement nah an der Uni gebucht, was wesentlich komfortabler ist als ein Hotelzimmer. Meine Mutter hat für uns alle gekocht und in Ruhe habe ich mit meinen Eltern meine neue Wohnung einrichten können, ohne zwischen Kisten schlafen zu müssen.
Dank des handwerklichen Geschicks meines Vaters, ist meine Wohnung nach diesen drei Wochen bereits vollständig eingerichtet. Wir haben sämtliche SB-Möbelläden in Bochum und Umgebung abgeklappert und anschließend alles gemeinsam aufgebaut. Mein Vater und ich haben schon immer gerne Sachen zusammengebaut, sehr zum Leidwesen meiner Mutter, weil sie das so wenig schicklich für einen Geschäftsführer findet. Aber mein Vater ist stolz auf seine riesige grüne Werkzeugkiste, die er selbstverständlich nach Bochum mitgenommen hat. Ich bin mir sicher, dass er irgendein Handwerk gelernt oder Maschinenbau studiert hätte, wenn mein Großvater ihm die Wahl gelassen hätte. Also tobt er sich eben an solchen Dingen in seiner wenigen Freizeit aus. Nachdem uns bereits der Mensch im ersten Möbelhaus vor Wartezeiten von bis zu drei Monaten gewarnt hat, musste auch meine Mutter zugeben, dass es einfacher ist, die Sachen selbst abzuholen und aufzubauen. Wir haben dafür einen kleinen Transporter gemietet und sind dann sämtliche Möbelhäuser abgefahren. Dann haben wir gemeinsam die Sachen hochgeschleppt und waren nach drei Tagen fertig. Mein Muskelkater war heftig! Am nächsten Tag sind wir in ein riesiges Schwimmbad in Herne, eine Stadt neben Bochum, gefahren und haben dort den ganzen Tag über gefaulenzt. Meine Mutter und ich haben uns sogar eine Massage gegönnt. Während unserer Aufbauaktion ist sie alleine nach Düsseldorf zum Einkaufen gefahren und war entzückt von der „Kö“. Allerdings hat sie uns nicht näher erläutert, was das genau sein soll. Wir haben auch nicht nachgefragt, weil das meinen Vater und mich ohnehin nicht interessiert. Selbstverständlich hat sie sofort darüber gemeckert, dass ich nicht in Düsseldorf studiere, aber das haben wir dann ignoriert, sowohl mein Vater als auch ich.
Glücklicherweise ist in der Wohnung eine Küche mit drin. Auf die hätte ich warten müssen, denn eine vollständige Küche aufzubauen und auch noch anzuschließen, das hätte sich mein Vater dann doch nicht zugetraut.
Irgendwann dazwischen war meine Einschreibung an der Uni. Jetzt bin ich ganz offiziell an der Ruhr-Universität Bochum, kurz RUB, eingeschrieben und habe einen Studentenausweis mit einem grässlichen Foto darauf. Theoretisch darf ich damit sogar im gesamten Bundesland herumfahren. Aber das werde ich erst machen, wenn meine Eltern weg sind. Vielleicht starte ich mit Düsseldorf und schaue mir das „Kö“ an.
Als wir das erste Mal die Wohnung besichtigt haben, war ich schon etwas enttäuscht. Sie roch nach Farbe und war insgesamt kahl und ungemütlich. Meine Mutter hat ständig herumgenörgelt und meinen ersten Eindruck auch nicht besser gemacht: Das Haus ist zu alt, der 20-minütige Weg zur Uni viel zu lang, die U-Bahn Haltestelle sei auch viel zu weit weg und es könnte grüner sein und überhaupt sei Bayern viel schöner und mondäner als das Ruhrgebiet. Mein Vater und ich haben uns nur vielsagend angegrinst.
„Wärest du doch in München zur Uni gegangen“, hat sie gejammert. „Dann hättest du bei uns wohnen können“, meinte sie beim Anblick des briefmarkengroßen Bads.
„Äh, Mama, da habe ich aber leider keinen Studienplatz bekommen“, musste ich sie erinnern und mein Vater hat mit den Augen dazu gerollt. Aber so, dass sie es nicht sehen konnte.
„Für die Grundschule hättest du sicherlich einen Studienplatz bekommen“, sagte sie spitz.
Ja, vielleicht, aber lieber nein! Ich habe wirklich nie Lehrerin werden wollen, schon gar nicht an einer Grundschule! Das könnte ich mir nicht mal in meinen allerfinstersten Albträumen vorstellen! Schniefende, schreiende Kinder, die einen ständig etwas fragen. Eine absolute Horrorvorstellung, wenn man mich fragt.
Mittlerweile bin ich sogar sehr zufrieden mit meinen 30 Quadratmetern; ein kleines Schlafzimmer, ein gar nicht so kleines Wohnzimmer, in dem die rote Küchenzeile an einer Wand steht und ein Bad mit Duschkabine, das aber sogar Platz für eine Waschmaschine bietet. Für mich reicht das völlig. Die meiste Zeit werde ich ohnehin an der Uni sein. Fünf Minuten Fußweg zur U-Bahn sind nun wirklich nicht weit und umzusteigen brauche ich auch nicht. Ich bin einfach erleichtert darüber, dass ich mir nicht mit zehn anderen Leuten ein Bad teilen muss. Was mir mein Vater aus seiner Studentenwohnheimzeit erzählt hat, klingt schrecklich. Ich bin ihm so dankbar dafür, dass er mir das erspart.
Es ist Samstag und morgen werden meine Eltern nach Hause fahren. Heute Nacht werde ich das erste Mal in meiner eigenen Wohnung schlafen. Zugegeben, ich habe Angst davor, aber da muss ich jetzt durch.
Mein Vater sieht sich noch einmal in Ruhe um, dann drückt er mir einen Geldschein in die Hand und zieht meine Mutter in Richtung Wohnungstür.
„Ich glaube, du wirst es dir hier schon ganz nett machen, Laura. Komm Lisbeth, wir fahren noch eine halbe Stunde bis zum Appartement und ich bin müde. Schlaf gut, mein Schatz.“
Das Klicken der Tür nehme ich nur unterbewusst wahr. Ich blicke in meine Hand und sehe einen Hunderteuroschein darin aufblitzen. Den packe ich direkt in mein Portemonnaie und schaue mich jetzt zum ersten Mal ganz in Ruhe um. Dafür stelle ich mich mitten ins Wohnzimmer und ziehe tief den Geruch meiner neuen Wohnung ein, was jedoch sehr unangenehm ist. Der Geruch der neuen Möbel und der Farbe steigen mir beißend in die Nase. Mein Blick fällt auf die beiden weißen Regale, die an der rechten Seite des Wohnzimmers stehen. Gegenüber vom Eingang, am Kopf des Zimmers, steht eine graue Couch. Alles passt so gerade eben hinein. Den Regalen gegenüber steht die Küche und verleiht durch das Rot dem Raum einen herrlichen Farbtupfer. An der Küche vorbei führt ein kleiner Gang zu meinem Schlafzimmer und das Bad.
Rasch öffne ich die Fenster. Die Oktobersonne hat meine Wohnung bereits tüchtig aufgeheizt. Dabei schaue ich hinaus auf eine begrünte Straße, die Häuser in dieser Siedlung sehen irgendwie alle gleich aus; weiße Fassade, blassblaue Fensterrahmen. Die U-Bahn kann ich von hier aus nicht sehen, aber sie ist nicht weit und eigentlich bin ich froh darüber, nicht das ständige Rappeln bis hierhin hören zu müssen.
Meine Möbel aus München nach Bochum transportieren zu lassen, wäre zu viel Aufwand gewesen. Für mein Schlafzimmer habe ich mir ein weißes Bett mit Schubladen und einen zweitürigen, weißen Kleiderschrank ausgesucht. Mehr passt ohnehin nicht hinein. Auf den Schreibtisch habe ich verzichtet, denn ich hätte ihn nirgends hinstellen können oder auf das Sofa verzichten müssen. Also haben wir einen kleinen, weißen Küchentisch mit vier passenden Stühlen gekauft und ihn in die Mitte des Wohnzimmers gestellt. Die vier Stühle wirken merkwürdig leer auf mich. Aber vielleicht finde ich ja ein paar nette Kommilitonen zum Lernen, die ich dann zu mir einladen kann.
Letzten Samstag waren wir auf einem Flohmarkt, der an der Uni stattfindet. Ein Geheimtipp, der am schwarzen Brett in der Uni hing und den ich nur durch Zufall entdeckt habe, als ich nach gebrauchten Büchern Ausschau gehalten habe. Dort habe ich einen kleinen dunkelroten Plüschsessel entdeckt und mich sofort darin verliebt. Mein Vater hat ihn oben auf das Auto geschnallt und fluchend haben wir ihn gemeinsam in den zweiten Stock in meine Wohnung getragen. Die Türen meiner zukünftigen Nachbarn haben mitgeklappert, weil sie alle wissen wollten, wer einen solchen Lärm macht.
Das Appartement, in dem ich mit meinen Eltern gewohnt habe, war nur fünf Minuten von der Uni entfernt. Dadurch konnte ich den Campus schon ein bisschen kennenlernen. In den Gebäuden bin ich zunächst sehr herumgeirrt, bis ich das Schwarze Brett bei der Fachschaft der Mediziner gefunden hatte.
Am besten hat mir der Botanische Garten gefallen. In dem bin ich zweimal mit meinen Eltern spazieren gegangen. Nachdem wir uns nur einmal die Innenstadt von Bochum angesehen hatten, habe ich mir vorgenommen, woanders einkaufen zu gehen. Nicht weit von der Innenstadt, soll es ein Einkaufszentrum geben oder vielleicht fahre ich auch in die benachbarten Städte. Von den Entfernungen her sind die nächsten größeren Städte wie Dortmund oder Essen ja nur einen Katzensprung entfernt, wobei groß mir sehr relativ erscheint im Vergleich zu einer Millionenstadt wie München.
Irgendwann bekomme ich Hunger. Für mich ist es ungewohnt, einkaufen zu gehen und das nicht nur zum Spaß zu tun, sondern, um den Kühlschrank zu füllen. Zu Hause hat meine Mutter alles gemacht, auch das Einkaufen. Ich brauchte ihr nur zu sagen, was ich haben möchte. Mit knurrendem Magen gucke ich schnell im Internet nach, wo der nächste Supermarkt ist. Nur wenige Meter, zum Glück und offen hat er bis zehn Uhr abends.
Schnell laufe ich dorthin, bin aber völlig überfordert von dem breiten Angebot und begnüge mich mit Brot, Käse und Tomaten.
Zu Hause futtere ich hungrig meine Käsebrote und gucke dabei irgendetwas im Fernsehen. Der Fernseher ist ein Einzugsgeschenk meiner Eltern und dass, obwohl sie schon die gesamte Einrichtung bezahlt haben. Ich bin ihnen so dankbar dafür. Irgendwann gehe ich schlafen, finde aber erstmal keine Ruhe. So viele Gedanken schwirren mir im Kopf herum. Zum Glück habe ich noch den Sonntag, um mich mental auf meinen ersten Studientag vorzubereiten.
Durch den wenigen Schlaf bin ich am nächsten Tag hundemüde, was nach einer Stunde Joggen besser wird. Doch trotz der Bewegung kann ich auch die nächste Nacht wieder nur sehr schlecht einschlafen.
Wie wohl mein erster Tag morgen an der Uni sein wird? Hoffentlich werden nette Leute da sein.
Auch am Montag wache ich unausgeschlafen auf, als mein Wecker um halb sieben klingelt.
Allein zu leben ist generell eine neue Erfahrung für mich. Da ich ohne Geschwister aufgewachsen bin, habe ich nie mein Zimmer oder meine Sachen teilen müssen. Das Haus meiner Eltern ist riesig, keine Ahnung, wieso sie nicht mehr Kinder haben wollten. Ich bin aber froh darüber, denn ich weiß nicht, ob ich das so lustig gefunden hätte. Eigentlich bin ich ganz gerne ein Einzelkind, denn dadurch habe ich immer viele Geschenke und die ganze Aufmerksamkeit für mich allein bekommen. Ich bin auch froh darüber, dass ich mich jederzeit zurückziehen konnte, ohne dass mir nervige Geschwister hinterhergelaufen sind. Alle meine Großeltern haben mich auch immer verwöhnt, denn ich bin das einzige Enkelkind in dieser Familie. Mein Vater hat keine Geschwister. Meine Mutter hat zwar einen Bruder, aber der hat keine Familie und wir sehen ihn sporadisch oder an Weihnachten.
Schnell packe ich mir ein paar Brote ein und laufe gegen sieben Uhr zur U-Bahn. Dann werde ich zwar viel zu früh da sein, aber ich bin mir gar nicht sicher, wo genau der Hörsaal überhaupt ist!
Während ich in der Bahn sitze, muss ich wieder an das erste Mal denken, als ich meinen Eltern mitgeteilt habe, dass ich Ärztin werden will. Ich hatte von meinem Onkel einen kleinen Arztkoffer zu meinem vierten Geburtstag geschenkt bekommen. Ich habe sofort sämtliche Familienmitglieder verarztet, meine Puppen, die Hunde und sämtliche Besucher, die vorbeikamen und höflich genug waren, das über sich ergehen zu lassen. Noch am selben Abend habe ich meinen Eltern mitgeteilt, dass ich beschlossen habe, Kinderärztin zu werden. Keine Ahnung, was sie dazu gesagt haben. Ich kann mich nur noch an dieses Gefühl erinnern, dass ich genau wusste, was ich eines Tages werden will. Und dieses Gefühl hat mich seit diesem Tag nicht mehr verlassen.
Nach etwa zwanzig Minuten bin ich da und steige zusammen mit vielen anderen Leuten an der Haltestelle „Ruhr Universität“ aus. Schnell laufe ich zum M-Gebäude, den Gebäuden für die Mediziner. Beinah automatisch komme ich zum richtigen Hörsaal, sogar ohne ihn großartig suchen zu müssen.
Es ist bereits viertel vor acht und vor der Tür stehen schon ganz viele Leute. Alle scheinen auf ihre erste Vorlesung zu warten, so wie ich. Mein Herz klopft, mein Blick schweift zu den anderen. Natürlich nicht, um das Heiratsmaterial abzuchecken, wie meine Mutter es mir empfohlen hat. Im Augenblick habe ich wirklich keine Ambitionen für so etwas und ich muss auch nicht zwangsläufig heiraten. Wozu auch? Bis jetzt habe ich nur einige wenige Beziehungen gehabt, aber ich finde, dass diese Dinge völlig überbewertet sind. Ich will mich in erster Linie auf mein Studium konzentrieren.
Wer ist das?
Mein Blick bleibt an einem Jungen hängen. Irgendwie sieht er völlig anders aus als alle anderen. Ich kann nicht sagen, was genau anders an ihm ist. Er trägt Klamotten wie viele hier; eine verwaschene Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Doch auf mich hat er eine ganz besondere Ausstrahlung. Ich starre und starre. Plötzlich sieht er auf. Unsere Blicke kreuzen sich, doch dann sieht er sofort wieder weg. Aber der kurze Blick hat gereicht, um die Traurigkeit in seinen Augen zu erkennen.
Ich schnappe aus meinen Gedanken, als ein Mann im Anzug beschwingt an uns allen vorbeirauscht, kurz grüßt und dann in den Hörsaal läuft. Das scheint der Biologieprofessor zu sein. Die Gespräche verstummen abrupt und schweigend folgen wir ihm in den Hörsaal. Zum Glück muss ich nach dieser Vorlesung nicht sofort den nächsten Hörsaal suchen, denn alle Vorlesungen werden hier stattfinden. Nachdem die Biologievorlesung zu Ende ist, stehen die meisten erstmal auf. Ich strecke mich etwas. Mein Kopf schwirrt.
„Hi. I`m Mary.“ Ein Mädchen mit einem dunklen Hautteint, frechen pechschwarzen Locken und knallroten Lippen, das bereits die ganze Zeit über neben mir gesessen hat, grinst mich an. Ich finde sie sofort sympathisch.
„Äh, hi Mary. Do you speak German?”, frage ich holperig zurück. Mein Englisch ist jetzt nicht so toll, hoffentlich sind nicht noch mehr Leute hier, die kein Deutsch sprechen.
„Oh, I understand everything but it`s difficult forme to speak. Please, just talk to me in German, I need to practice”, fordert sie mich zum Glück auf.
„Klar, kein Problem“, sage ich erleichtert und gemeinsam setzen wir uns wieder auf unsere Plätze. Abwartend steht der Chemieprofessor unten und räuspert sich. Dabei ist mein Kopf bereits voll mit dem Biowissen von gerade eben. Wie soll ich das nur schaffen?
„Ganz schön viel Stoff“, stöhne ich.
„Stoff?“, fragt Mary erstaunt.
„She means the quantity of the biology lecture. Yes, it was heavy, wasn’t it?” Äh ja, genau das, was du gesagt hast, denke ich seufzend, nachdem das Mädchen zu meiner Linken einfach mal so in fließendem Englisch geantwortet hat. Sie ist das krasse Gegenteil zu Mary: goldblonde lange Haare, helle Haut, zarte rosa Lippen. Sie sieht aus wie einer dieser kitschigen Engel, fehlt nur noch ein weißes Nachthemd und eine Harfe.
„Hallo, ich bin Nina“, grüßt sie mich, zum Glück auf Deutsch und mit einer sehr melodischen Stimme.
„Ich heiße Laura“, antworte ich und lächele sie erleichtert an.
„Ich bin Johannes“, stellt sich jetzt ein Junge mit kurzen dunkelblonden Haaren vor, der neben Nina sitzt und sie anzuhimmeln scheint, was sie aber offensichtlich ignoriert. Dann setzen wir uns schnell wieder hin, nachdem der Professor uns allen einen strafenden Blick zugeworfen hat. Die nächste Vorlesung beginnt und ich versuche, mich jetzt auf Chemie zu konzentrieren.
Um ein Uhr haben wir drei Vorlesungen hinter uns und beschließen, in die Mensa zu gehen. Danach haben wir für heute frei, denn zum Glück wird noch kein Praktikum stattfinden. Allerdings hängen die Listen für die Gruppen bereits irgendwo aus. Wo, das müssen wir alle noch herausfinden.
Als ich gegen drei Uhr nachmittags wieder zu Hause bin, bin ich völlig fertig. Trotzdem zwinge ich mich dazu, meine Notizen durchzugehen. Die ersten Übungsblätter sind zum Glück nicht ganz so schwer, nach drei Stunden habe ich sie alle fertig und kann ein wenig aufatmen. Vielleicht frage ich die anderen einfach, ob wir nicht gemeinsam lernen wollen.
Die nächste Nacht schlafe ich viel besser, wahrscheinlich wegen der Erschöpfung des ersten Unitages.
Der nächste Vorlesungstag startet mit einer Stunde Chemie, dann folgt eine Stunde Psychologie. Danach beschließen wir, in die Cafeteria zu gehen, denn glücklicherweise findet unser zehn Uhr Seminar nicht statt.
„Was meint ihr. Wollen wir nicht mal zusammen lernen? Der Stoff ist ganz schön heftig“, schlage ich vor, als wir alle vor einer dampfenden Tasse Kaffee sitzen. Alle nicken.
„Oh, yes, that would be so helpful!“, stöhnt Mary.
„Aber wo wollen wir uns zum Lernen treffen? In der Bibliothek darf man nicht reden und die Cafete ist zu laut“, gibt Nina zu bedenken. Cafete, was für ein merkwürdiges Wort für die Cafeteria, denke ich amüsiert.
„Wenn ihr wollt, können wir gerne bei mir lernen. Ich habe eine eigene Wohnung“, sage ich schüchtern, weil ich nicht protzig erscheinen möchte. Alle schauen mich auch sofort verblüfft an.
„Du wohnst nicht in einem Studentenwohnheim?“, fragt Johannes erstaunt.
„Äh nein, ich habe eine kleine Wohnung etwa zwanzig Minuten mit der U-Bahn von hier.“
„Then we really should learn at your place, if you don`t mind”, grinst Mary. Zum Glück habe ich alles verstanden und nicke.
„Ja klar, kein Problem! Nächsten Samstag?“, schlage ich vor. Alle nicken mir freundlich zu.
Ich hoffe, sie denken jetzt nicht, ich sei reich oder so. Keine Ahnung, wieso mir das peinlich ist. Schließlich heißt Studentenwohnheim nicht zwangsläufig, dass die Eltern kein Geld haben, wie man ja an meinem Vater sieht. Trotzdem hoffe ich, dass, wenn sie erstmal die Einrichtung meiner Wohnung sehen, sie erkennen, dass ich kein reiches, verwöhntes Mädchen bin.
Der Rest der Woche vergeht wie im Flug. Ich bin wirklich froh darüber, dass ich sofort an meinem ersten Tag so nette Leute getroffen habe! Morgens treffen wir uns immer um halb acht vor dem Hörsaal. Den Jungen mit den braunen Locken sehe ich ebenfalls jeden Morgen, doch habe ich mich noch nicht getraut, ihn anzusprechen. Auch scheint er lieber für sich zu sein. Ich habe ihn jedenfalls noch nie mit jemandem sprechen gesehen.
Vielleicht könnte ich ihn für Samstag einladen, denke ich plötzlich am Donnerstag. Merkwürdig ist es schon, dass er mir immer sofort auffällt, sobald ich vor dem Vorlesungssaal stehe. Eigentlich sieht er gar nicht so besonders gut aus, also zumindest nicht im herkömmlichen Sinne. Nein, ich kann gar nicht beschreiben, was ich so anziehend an ihm finde. Seine Haare haben ein tiefes dunkelbraun, ähnlich wie Zartbitterschokolade und sehen so herrlich wuschelig aus. Am liebsten würde ich meine Hände darin vergraben. Sein Körper wirkt schlank, aber ohne Muskeln, trotzdem sieht er nicht schlaksig aus. Jeden Morgen fallen mir immer neue Details an ihm auf. Heute scheint die Sonne und teilweise leuchten seine braunen Strähnen auf einmal rot auf!
„Äh, hallo? Wieso starrst du mich so an? Hängt mir etwas aus der Nase?“ Ich zucke zusammen, als mich diese angenehm sanfte, aber ziemlich irritiert klingende Stimme anspricht.
Schuldbewusst blicke ich in ein Paar warme dunkelbraune Augen, die mich fragend mustern. Sofort spüre ich die Hitze in meinen Wangen aufsteigen. Anscheinend habe ich ihn wieder angestarrt und es noch nicht einmal bemerkt. Wie peinlich!
„Hallo!“, versuche ich locker zu wirken und lächle ihn zaghaft an. Sofort werden seine Augen weicher. Wahnsinn! Ich habe sofort das Bedürfnis, in seinen schokoladenbrunnenfarbigen Augen dahin zu schmelzen.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht anstarren“, sage ich zerknirscht. „Hast du aber“, sagt er vergnügt und grinst mich an.
„Eigentlich wollte ich dich nur fragen, ob du Lust hast, morgen zu mir zu kommen“, improvisiere ich schnell. Schließlich wollte ich ihn ohnehin einladen. Besser, ich mache das sofort, bevor ich es mir wieder anders überlege.
„Zu dir?“ Erstaunt hebt er eine dunkle Augenbraue. Oh, oh! Wie diese Frage wohl bei ihm angekommen ist? Wahrscheinlich nicht ganz so, wie ich es gemeint habe. Oder vielleicht habe ich die Frage genau so gemeint?
„Zu meiner Lerngruppe“, füge ich schnell hinzu und habe das Gefühl, zu stottern.
„Ach so.“ Klingt er erleichtert oder enttäuscht? Was wäre mir lieber?
„Ja. Magst du auch kommen?“, wiederhole ich und komme mir etwas penetrant dabei vor.
„Ok. Ich habe allerdings keine Erfahrung mit Lerngruppen“, erwidert er stirnrunzelnd.
„Hast du in der Schule denn nie mit anderen gelernt?“, frage ich erstaunt.
„Ich habe immer allein gelernt“, sagt er knapp.
Damit scheint das Thema auch schon für ihn beendet zu sein und wir schweigen uns an. Irgendwie bin ich enttäuscht, wobei ich gar nicht weiß, welche Reaktion ich mir erhofft habe. Aber zumindest hat er gesagt, dass er morgen kommt!
„Ich glaube, die Vorlesung fängt an“, murmele ich irgendwann in die Stille, nenne ihm noch kurz meine Adresse und flitze dann den anderen hinterher.
„Warte mal!“, ruft er mir hinterher. Ich bleibe stehen, alle anderen glotzen natürlich sofort in unsere Richtung.
„Wie heißt du eigentlich?“ Sein schiefes Lächeln lässt meine Knie weich werden.
„Laura. Und du?“
„Matthias“, antwortet er.
„Dann hätten wir das ja geklärt!“, rufe ich zurück.
Irgendwie schaffen wir es noch pünktlich in den Hörsaal.
Rasch setze ich mich zu den anderen, die mir einen Platz freigehalten haben. Matthias läuft an uns vorbei und setzt sich nach vorne.
Am Samstagmorgen wache ich schon sehr früh auf. Mein Herz klopft. Endlich ist es so weit. Meine Lerngruppe kommt heute zum ersten Mal zu mir. Und damit auch Matthias!
Nach dem Frühstück gehe ich sofort einkaufen. Zum Glück habe ich mich selbst daran erinnert, meinen Kühlschrank für das Wochenende aufzufüllen.
Als ich wiederkomme, winke ich erstmal den alten Damen zu, die am Fenster stehen. Schuldbewusst schauen sie mich an, bewegen sich aber trotzdem keinen Zentimeter weg. Ich muss schmunzeln. Sollen sie doch rausschauen, wenn es ihnen Spaß macht.
Ich freue mich schon darauf, heute nicht alleine lernen zu müssen. Natürlich habe ich mich jeden Tag in dieser Woche sofort hingesetzt und alles aus der Vorlesung nachgearbeitet. Die Praktika starten glücklicherweise erst nächste Woche. Ich bin gespannt, was ich dann noch alles machen muss. Irgendwie scheint mich mein Abitur nicht im Mindesten auf ein Medizinstudium vorbereitet zu haben. Vielleicht sind die Lehrer an meiner katholischen Mädchenschule zu gutmütig gewesen, aber speziell in Physik habe ich riesige Lücken. Hoffentlich kann mir heute jemand damit helfen. Mein Leistungskurs in Chemie lässt mich ganz gut mitkommen, noch, denn bereits in der ersten Woche haben wir den Stoff von mehreren hundert Seiten durchgenommen! Nicht zu vergessen Anatomie und Psychologie!
Hoffentlich klappt es mit der Lerngruppe, hoffentlich blicke ich dann wieder mehr durch, denke ich nervös, als ich meine Wohnung rasch etwas durchputze. Auch in der Schule habe ich viel mit meiner Freundin, die, die nach Berlin gegangen ist, gelernt. Ich behalte die Sachen viel besser, wenn ich sie mit jemandem diskutieren kann. Ich fand es sehr schade, dass Susanne nach Berlin gegangen ist, aber wir studieren ohnehin etwas völlig Unterschiedliches und könnten nicht zusammen lernen. Seit dem Abi haben wir nicht mehr geredet, wahrscheinlich weil wir beide einen neuen Lebensabschnitt begonnen haben.
Ich bin sehr froh darüber, heute etwas Gesellschaft zu bekommen. So richtig toll finde ich es nicht, jeden Tag in eine einsame Wohnung zu kommen. In einem Wohnheim wären wenigstens immer Leute um einen herum. Nina hat bereits von zwei Partys erzählt, die spontan in der Küche stattgefunden haben. Abends ganz alleine eine Schnitte zu essen, ohne dass sich jemand mit mir unterhält, ist eine Erfahrung, auf die ich mittlerweile gut verzichten könnte. Irgendwie habe ich mir das alles netter vorgestellt. Vor allem kann ich mit niemandem über mein Studium oder Matthias reden. Mit wem auch?
Mit meinen Eltern rede ich nur über das Studium und dass ich meine Wäsche wasche und ausreichend gesund esse, wobei ich das Mensaessen nicht wirklich dazu zählen würde. Meiner Mutter von Matthias zu erzählen, würde wahrscheinlich nur dazu führen, dass sie das Aufgebot bestellt.
Meine Tage verlaufen recht eintönig. Meistens mache ich mir irgendwann ein Brot, lerne, schaue etwas fern und gehe spät schlafen. Ich freue mich wahnsinnig auf die Abwechslung heute!
Endlich ist es zwei Uhr. Für das leibliche Wohl stelle ich ein paar Chips und Getränke hin. Das Geld meiner Eltern ist zum Glück großzügig bemessen, ich wüsste auch gar nicht, wann ich neben den ganzen Vorlesungen und Praktika einen Job unterbringen könnte. Niemand, den ich bis jetzt kennengelernt habe, arbeitet, sondern wird finanziell von seinen Eltern unterstützt.
Beinah bin ich ein bisschen nervös. Schließlich werden es die ersten Besucher in meiner Wohnung sein! Plötzlich klingelt es und ich schrecke auf. Dann rase ich zur Tür.
„Hallo Nina!“, rufe ich ihr bereits die Treppen runter, die sie gerade hörbar hochstapft.
„Hallo Laura! Ich habe ein bisschen was zu Futtern mitgebracht.“ Dabei schwenkt sie zwei Tüten Chips in meine Richtung.
„Danke schön!“ Lächelnd stelle ich sie zu den anderen drei Tüten, die ich gekauft habe.
Nur kurze Zeit später trudeln auch die anderen ein. Johannes bringt noch jemanden mit; ein kleiner, schmächtiger Typ mit fettigen blonden Haaren und einem stechenden Blick aus blassblauen Augen, wie die einer Forelle. Auf meinem Küchentisch häufen sich mittlerweile zehn Tüten Chips und fünf Flaschen Cola. An Nervennahrung herrscht schonmal kein Mangel!
„Das ist Lorenz, er möchte sich uns gerne anschließen“, stellt uns Johannes den Fremden vor.
„Hallo zusammen“, grüßt Lorenz.
„Hi Lorenz, kein Problem. Ich hoffe, du bist gut in Physik?“ Erwartungsfroh schaue ich ihn an und er grinst zurück.
„Nee, aber Johannes zum Glück, deshalb wollte ich ja mit euch lernen. Der Typ ist ein absolutes Naturwissenschaftsass!“ Das besagte Naturwissenschaftsass räuspert sich verlegen.
„Great! Physics have been always my problem since kindergarten!“, ruft Mary und wir stimmen ihr alle sofort zu.
Dann starten wir durch, weil einfach noch ein riesiger Batzen Arbeit vor uns liegt. Lorenz hat nicht zu viel versprochen, was Johannes Fähigkeiten in den Naturwissenschaften betrifft. Obwohl ich den Übungszettel gar nicht so schwer fand, verstehe ich jetzt den Inhalt gleich viel besser.
Nach zwei Stunden frage ich mich, wo Matthias wohl bleibt. Wahrscheinlich kommt er gar nicht, denke ich enttäuscht. Als ich bereits das zehnte Mal auf die Uhr schaue, fragt Lorenz genervt:
„Wartest du noch auf jemanden oder kommt dein Freund gleich vorbei?“ Natürlich werden meine Wangen sofort warm vor Verlegenheit, weil mich alle angrinsen. Na toll.
„Nee, ich hatte nur noch jemandem Bescheid gesagt, aber anscheinend konnte er es doch nicht einrichten.“ Damit versuche ich, das Ganze abzutun, doch leider erfolglos.
Wir haben bereits seit mehreren Stunden gelernt und brauchen eine Pause und alle nutzen ausgerechnet dieses Thema als Pausenfüller.
„Wen hast du denn noch eingeladen?“, fragt Nina neugierig.
„Yes, and how does he look like?”, fragt auch Mary direkt.
Mary, habe ich im Laufe der Woche von ihr erfahren, kommt übrigens aus Kalifornien. Eigentlich hätte sie lieber dort studiert, doch das war unerschwinglich. Sie hat uns erzählt, dass die Kosten für eine sogenannte Medical School im dreihunderttausend Dollar Bereich liegen können oder auch mehr, je nach Uni. Unglaublich! Ob meine Eltern wohl so viel Geld für meine Ausbildung bezahlen würden? Wahrscheinlich schon. Wenn alle das so machen, hat man ja keine andere Wahl. Mary hat erzählt, dass viele Eltern Studienfonds für ihre Kinder anlegen, aber leider ist ihr Vater vor ein paar Jahren mit seiner Firma pleite gegangen und damit war alles Geld weg. Auch ein Stipendium hat sie trotz super Noten nicht bekommen, weil sie kein As in Sport oder anderweitig begabt ist, wie sie meinte. Also hat sie einen Kredit für Deutschland aufgenommen, der sehr viel niedriger war als für irgendeine Medical School, wie sie meinte. Später wird sie in den USA als Ärztin sehr viel Geld verdienen und damit alles zurückzahlen können.
„Ich habe keine Ahnung“, stöhne ich genervt auf.
„Na, hör mal“, mischt sich Nina ein. „Du musst doch wissen, wie er aussieht. Wer ist denn das überhaupt?“
„Er heißt Matthias“, gebe ich mich geschlagen. Wieso muss ich denn jetzt als Pausenunterhaltung dienen?
„Soll ich die Chips aufmachen?“, versuche ich wieder vom Thema abzulenken.
„Oh please, no distraction. My boyfriend is staying in Chicago. I need some erotic details!”, schnaubt Mary.
„Da gibt es keine erotischen Details!”, sage ich empört.
„Vielleicht wurde er ja aufgehalten oder ihm ist etwas dazwischengekommen“, wirft Johannes dazwischen. Dabei futtert er in Sekundenschnelle eine ganze Chipstüte leer.
„Und du hast doch uns“, sagt Lorenz plötzlich und rückt ein Stück näher an mich ran. Er riecht ungewaschen.
„Hey? Willst du mich etwa anbaggern, Lorenz?“ Unschuldig schaut er mich an.
„Vielleicht?“
„Soll ich das deiner Freundin erzählen, die nebenan Bio studiert?“, bietet Nina mit grimmigem Gesicht an.
„An der Uni werden die Karten doch neu gemischt“, behauptet er.
„Was meinst du denn damit?“, fragt Nina schneidend.
„Dass man ja nicht bei seinen Schulfreunden zu bleiben braucht. Schließlich sind wir alle hier, um neue Erfahrungen zu machen“, erklärt er.
„And does your girlfriend also know that?“, fragt Mary interessiert. Alle Mädels, einschließlich mir, schauen jetzt Lorenz streng an und selbst Johannes ist sich anscheinend unsicher, ob er ihn wirklich unterstützen soll. Lorenz schweigt, bis er wenige Minuten später sagt:
„Matthias also. Wer ist denn das eigentlich? Ich habe da gar kein Gesicht zu im Kopf.“
„Ach!“, ruft Nina plötzlich. „Der mit den rotbraunen Locken!“ Ich muss mich bremsen, nicht sofort zu sagen: Das ist ein Wuschelkopf! Aber ich reiße mich zusammen und antworte nur:
„Ja, der.“ Dabei hoffe ich, dass man mein lautes Herzklopfen nicht hört.
„Oh. He is so cute!”, quietscht Mary plötzlich los.
„Er hat so etwas melancholisches“, meint Nina skeptisch.
„Und versetzt hat er dich auch“, sagt Johannes sachlich.
„Also vielleicht doch nicht so toll“, meint Lorenz schnippisch.
Was für Vollidioten! Aber leider haben sie recht. Matthias hat mich offensichtlich versetzt. Leider hat er auch keine Handynummer von mir, er hätte mir also gar nicht absagen können. In meiner Aufregung habe ich ihm nur meine Adresse genannt, aber er hat auch nicht weiter nachgefragt.
Wir machen weiter und ich versuche, nicht mehr an Matthias zu denken. Um ein Uhr früh verabschiedet sich auch Mary und ich falle todmüde ins Bett und schlafe bis zwölf Uhr mittags.
Wieso haben wir keine Handynummern ausgetauscht, denke ich frustriert, als ich versuche, mit einer riesigen Tasse Kaffee endlich wach zu werden. Dann könnte ich ihn anrufen und fragen, ob er jetzt Zeit hat. Mensch Laura, schelte ich mich direkt. Dich hat`s ja ganz schön erwischt. Dabei hat er dich doch versetzt!
Irgendwann gehe ich joggen, schon um nicht ständig an diese schokopuddingfarbigen Augen zu denken.
Seit drei Wochen bin ich bereits an der Ruhr-Uni Bochum und immer noch ist alles aufregend und neu! Im Gegensatz zum Oktober ist der November allerdings furchtbar kalt und es regnet andauernd. Ständig komme ich völlig durchweicht an der Uni an.
Matthias wegen Samstag anzusprechen, habe ich mich allerdings bisher nicht getraut. Und er scheint mich zu meiden oder vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Schließlich haben wir nur einmal miteinander gesprochen. Ist doch seine Sache, wenn er nichts von Lerngruppen hält. Oder vielleicht auch nichts von mir?
„Wer hat Lust, nächsten Samstag auf die Erstifete bei den Chemikern zu gehen!“, reißt mich Ninas Gebrüll aus meinen Gedanken. Wir sitzen in der Cafete und warten auf den ersten Tag unseres Praktikums in Anatomie.
„Wieso bei den Chemikern?“, fragt Johannes verblüfft.
„Don`t we have something on our own?“ Dieser empörte Satz kommt natürlich von Mary.
„Ach, die sind furchtbar öde“, stöhnt Lorenz.
Tja dann. Ich muss bei diesen Worten schmunzeln, auch wenn sie von Lorenz kommen.
„Wollt ihr vorher wieder zum Lernen bei mir vorbeikommen?“, biete ich an.
Jede Woche frage ich die anderen und jeden Samstag treffen wir uns bei mir zum Lernen. Trotzdem mache ich das jede Woche, damit sich jeder eingeladen fühlt. Matthias habe ich natürlich nicht wieder gefragt.
„Ja gerne. Ich bringe meinen Schminkkram mit“, strahlt Nina. „In deinem Badezimmer sind wir wenigstens ungestört.“
Und damit verabreden wir uns alle für den nächsten Samstag bei mir, wie eben jeden Samstag. Den Gedanken an Matthias schiebe ich beiseite. Die Praktika, Protokolle, Antestate und Übungszettel halten mich jeden Tag gehörig auf Trapp. Schon deshalb bin ich sehr davon angetan, es nächsten Samstag mal ordentlich krachen zu lassen.
Endlich ist es Samstag! Wobei ich das eigentlich jeden Samstagmorgen denke. Ich genieße die Gesellschaft in meiner sonst so leeren Wohnung. Und heute kann ich mich sogar noch auf eine Party freuen!
Diesmal lernen wir auch nur vier Stunden. Irgendwie haben wir alle keinen Nerv mehr und fangen an, uns aufzubrezeln. Also natürlich nur wir Mädchen, die Jungs glühen schonmal mit Bier vor, das Lorenz mitgebracht hat.
Um acht Uhr fahren wir mit der U-Bahn zur Uni, dann führt uns Nina in Richtung des Chemie Gebäudes, das ich bereits gesehen habe, als ich mit meinen Eltern im Botanischen Garten spazieren war.
Die Musik dröhnt uns bereits von Weitem entgegen. Als wir reingehen, fällt mein Blick direkt auf die Bar und auf Matthias. Er mixt Cocktails, teilweise wirft er den Shaker in die Luft, dreht sich und fängt ihn wieder auf. Die Menge johlt ihm zu.
„Anbetungswürdig“, haucht Nina ehrfurchtsvoll neben mir. Du sagst es, würde ich ihr am liebsten zustimmen, traue mich aber nicht.
Dann stehen wir alle blöd rum, weil wir sonst hier niemanden kennen. Die Jungs spendieren uns einen Cocktail, damit tauen wir alle langsam auf und wagen uns auf die Tanzfläche. Nachdem ich einen großen Schuck genommen habe, stelle ich ihn jedoch erstmal irgendwo ab, weil ich außer Chips heute noch nichts gegessen habe und die sind keine gute Grundlage für den Alkohol. Lachend geselle ich mich zu den anderen auf die Tanzfläche. Es tut so gut, endlich etwas anderes zu tun als zu Lernen. Die Musik wird lauter und wir werden immer ausgelassener. Ich habe keine Ahnung, wie spät es mittlerweile ist.
Irgendwann verabschieden sich alle, aber ich will noch nicht nach Hause. Vielleicht schaffe ich es ja, mit Matthias ins Gespräch zu kommen, wenn es ruhiger wird. Gedankenverloren stürze ich die Reste meines mittlerweile warmgewordenen Cocktails runter. Der Geschmack ist anders als Stunden zuvor, viel bitterer, aber das liegt bestimmt an der Wärme.
„Hey Matthias. Noch einen!“, versuche ich ihm rüber zurufen, aber irgendwie gehorcht mir meine Zunge nicht mehr. Merkwürdig, auf der Tanzfläche ging es mir doch noch ganz gut.
„…genug“, grinst mich Matthias an.
Sein Gesicht wirkt verschwommen und sieht aus wie eine Fratze. Seine Worte klingen völlig unverständlich. Wieso spricht er denn so abgehackt?
„Wer bist du? Die Cocktailpolizei!“, kichere ich, weiß aber gar nicht, was so lustig daran sein soll.
Um mich herum ist es merklich ruhiger geworden, alles wirkt auf einmal so gespenstisch. Plötzlich fühle ich Übelkeit in mir aufsteigen. Auch das noch, denke ich entsetzt. Alles beginnt, sich zu drehen und ich falle. Doch statt des Bodens lande ich an einer harten Brust. Ich liege in Matthias Armen! Sofort bekomme ich Atembeschwerden und versuche, mich aufzurichten. Besorgt mustern mich seine dunklen Augen.
„Wieviel hast du getrunken?“ Seine Stimme klingt kilometerweit weg.
„Einen C…tail“, sage ich mühsam.
„Du bist wohl nichts Gutes gewohnt.“ Sein Lachen macht mich sauer.
„Nein, gar nicht!“ Wieder versuche ich, mich loszumachen und nach unten zu schauen, damit dieses furchtbare Drehen nachlässt. Und dann kotze ich auf seine Schuhe.
„Besser?“, grinst er mich an. Er versucht noch nicht einmal, sein Lachen zu unterdrücken. Das macht mich wütend. Ich will etwas antworten, doch meine Zunge klebt am Gaumen fest.
„Wohnst du weit von hier?“ Dabei hält er mich wie eine Puppe fest, was sich dooferweise gut anfühlt.
„Zehn M…uten.“ Mein Mund fühlt sich trocken an und meine Zunge ist viel zu groß.
„Sag mal. Hast du was genommen?“, schnauzt er mich an. Die plötzliche Strenge in seiner Stimme lässt mich aufhorchen.
„Was?“ Das ist zumindest mal deutlich rausgekommen. Was denkt er denn von mir!
Plötzlich spüre ich eine bleierne Müdigkeit in mir aufsteigen. Der Fußboden sieht auf einmal sehr gemütlich aus. Bestimmt würde es niemandem auffallen, wenn ich darauf ein Nickerchen mache.
„Hey! Nicht einschlafen!“, brüllt mich Matthias an. „Was hast du genommen, Laura!“ Er kann sich an meinen Namen erinnern!
„Nichts“, stammele ich. Und jetzt lass mich schlafen, denke ich verzweifelt, aber nach wie vor hält mich Matthias fest, wie in einem Schraubstock.
„Aber auf nur einen Cocktail reagiert man nicht so. Wir fahren besser ins Krankenhaus!“, sagt er barsch.