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Ihren Kunden versprechen sie Sorglosigkeit, doch ihre eigenen Finanzrisiken haben sie nicht im Griff. Eine hinterlistige Verkaufsmaschine und untaugliche Finanzprodukte haben die Versicherungskonzerne groß gemacht, jetzt stecken sie in der Krise: zu geringe Kapitalpuffer, Riesenlöcher in den Bilanzen, Schwindler-Investments, Halunken an der Verkaufsfront und gefangen in der Zinsfalle. Für Millionen Bürger ist Gefahr in Verzug: Viele Lebensversicherer werden sich nur noch auf Kosten ihrer Kunden sanieren können.
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Das Buch
Sie grasen alle ab, die noch nicht unterschrieben haben. Manchen schwatzen sie einen zweiten oder dritten Vertrag auf – dynamisch, flexibel, mit Kapitalschutz und Sorglos-Garantie. Andere animieren sie, ihre alten Verträge zu kündigen und sogleich wieder neue abzuschließen. Es ist eine atemberaubende Geschichte: Leo Müller erzählt, wie die Versicherungskonzerne es geschafft haben, 80 Millionen Deutschen mehr als 90 Millionen Lebensversicherungspolicen zu verkaufen und dabei mehr als 800 Milliarden Euro einzusammeln.
Doch viele haben inzwischen ein ungutes Gefühl, wenn sie eine Police abschließen. Denn die Versicherungen, die eigentlich Garanten für ein sorgloses Leben sein sollen, stehen selbst unter finanziellem Druck und werden sich bald nur noch auf Kosten ihrer Kunden sanieren können. Dazu offenbaren die unzähligen Skandale der Versicherungskonzerne ein hemmungsloses Halunkensystem: Bordellreisen und Renditelügen, Schurken und Kleingangster an der Verkaufsfront, korrupte Deals mit Firmenkunden, Bestechung, Adressenhehlerei und Fondsgeschäfte mit Anlagebetrügern.
Exklusive Enthüllungen, brillant recherchierte Fälle, spannend wie ein Krimi: Leo Müller zeichnet das schockierende Porträt einer Branche im Sinkflug.
Der Autor
Leo Müller ist Autor des Schweizer Wirtschaftsmagazins Bilanz und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Zürich. Bereits beim Stern, bei Cash, bei Capital und bei der Financial Times Deutschland konnte er zahlreiche Wirtschaftsskandale enthüllen. Als Experte für Finanzkriminalität lehrt Leo Müller an der Hochschule Luzern Economic Crime Investigation. Bei Econ sind von ihm die beiden Bücher Tatort Zürich und Bankräuber erschienen.
Leo Müller
VERSICHERT, VERRATEN, VERKAUFT
Wie Versicherungen mit Ihrem Geld umgehen
Econ
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ISBN 978-3-8437-1046-6
© der deutschsprachigen AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015Redaktion: Michael Schickerling, schickerling.cc, MünchenUmschlaggestaltung: FHCM GRAPHICS – Florian Caspers
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E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Für Stella
Über das Buch und den Autor
Titelseite
Impressum
Widmung
EINLEITUNG
DIE ERFINDER: DIE GESCHICHTE DER IOS
Die Geburtsstunde des Strukturvertriebs
Der Zusammenbruch der IOS
Hallo, Herr Kaiser
DIE SCHÜLER: WIE DIE VERMITTLERBRANCHE AUFGEBAUT WURDE
Cornfelds Jünger
Verwirrung als Geschäftsprinzip
Der Kampf um Provisionen
Drücker unterwegs
Das Perpetuum Mobile
Drücken um jeden Preis
Zeitbomben in der Schublade
DAS DOLCE VITA: DIE SPASS PROGRAMME FÜR DIE VERMITTLER
Ein bisschen Spass muss sein
Mit Gehirnwäsche zum Incentive
BETRUG IM GLASPALAST: DAS SPIELFELD DER HASARDEURE
Die Riester-Rürup-Täuschung
Von Geldjongleuren und Finanzbetrügern
Alle verdienen mit
POLITISCHE SCHUBKRAFT: MIT TRICKS GEGEN KAUFWIDERSTÄNDE
Ein krasses Leben
Ein Verhaltenskodex für ehrbare Kaufleute
Neuer Wein in alten Schläuchen
FULL SERVICE IN BUDAPEST: WIE DIE ERGO-MANAGER IHREN VERTRIEB MOTIVIERTEN
Die große Sause
Die Drücker machen Druck
Ein Mediator spricht Tacheles
Gegenwehr zwecklos
DAS DESASTER: WIE SICH DIE ERGO-MANAGER VERHEDDERTEN
Viele Einzelfälle
Ein unsinniges Gefecht
Erste Konsequenzen
Ein unfreiwilliger und ein freiwilliger Rausschmiss
Die Reise ins Phantasialand
VERKAUFSMASCHINE AWD: WIE VERTRIEBSKÖNIG CARSTEN MASCHMEYER SEINE KUNDEN VERKAUFTE
Totalverlust inklusive
Die Swiss Life greift zu
Die Altlasen
IM DUNKELFELD: VERSORGUNGS WERKE OHNE DURCHBLICK
Gewollte Intransparenz
Lukrative Pöstchen und andere Verlockungen
Genaue Zahlen fehlen
Die Folgen der Finanzkrise
Die Schweiz als Vorbild
Konkurs ausgeschlossen?
SCHWARZES GELD: WIE DIE UPPERCLASS-VERSICHERUNG SCHEITERTE
Die Geschäfte mit den Kleinen
Die Geschäfte mit den Großen
Die US-Justiz schlägt zu
Probleme überall
Verstecken gilt nicht
DER OVERKILL: VOM RIESTER-UNFUG ZUM INTERNET-SCHWINDEL
Trotz Kritik gut?
Hilfe zur Selbsthilfe
Siegel ohne Wert
Das Geschäft mit den Vergleichsportalen
NEUE FINANZPRODUKTE UND NEUE MARKETINGTRICKS: WIE DAS PROVISIONSSYSTEM KOLLABIERTE
Urteile im Namen des Volkes
Haftung ausgeschlossen
Provisionsverbote für mehr Beratungsqualität
Eine effektive Kontrolle fehlt
DIE MILLIARDENRECHNUNG: KOSTEN FÜR DIE KUNDEN, GEWINNE FÜR DIE AKTIONÄRE
Die Zinsfalle
Neues aus der Trickkiste
Der Ausblick ist negativ
DER GROSSE STRESSTEST: WENN VERSICHERUNGEN PLEITEGEHEN
Die Regelung des Undenkbaren
Die Kunden haften immer
Die Risiken werden immer unkalkulierbarer
GEGEN DEN FINANZIELLEN ANALPHABETISMUS: DIE KUNDEN MÜSSEN SELBST LERNEN
Das allgemeine Unwissen
Jeder Kunde bekommt den Berater, den er verdient
WIDERSTEHEN: 20 REGELN ZUM SCHUTZ DES EIGENEN VERMÖGENS
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Dieses Buch handelt von einer atemberaubenden Geschichte. Es erzählt, wie die Versicherungskonzerne es schafften, 824 Milliarden Euro an Kundengeldern einzusammeln, wie sie damit ihre Glaspaläste erbauten und wie sie schließlich erfolgstrunken einen Overkill produzierten, aus dem ein Großrisiko für ihre Unternehmen, aber auch für ihre Kunden erwächst.
Es ist eine Geschichte des Aufstiegs und eine Geschichte des Abstiegs. Der Weg nach oben wurde in den Bürotürmen der Konzerne sichtbar. 29 Stockwerke und 108 Meter hoch ist das Victoria-Haus in Düsseldorf. Im Berliner Treptower residiert die Allianz: 32 Stockwerke, 125 Meter. Die Nürnberger Versicherungsgruppe im Business Tower Nürnberg: 34 Etagen und 135 Meter. Der Düsseldorfer ARAG-Tower misst 125 Meter und 32 Stockwerke. Der Vertriebskonzern AWD, heute als Swiss Life Select firmierend, hat ein Domizil im KölnTurm, einem modernen Skyscraper mit 43 Stockwerken auf 143 Metern. Und der Ergo-Konzern nutzt in Mannheim den gläsernen Victoria-Turm: 98 Meter und 27 Etagen.
Hoch oben schweben die Manager der Versicherungskonzerne über dem gewöhnlichen Leben der Wirtschaftsmetropolen. Sie können hinunterschauen auf die Wohn- und Arbeitsquartiere ihrer Kundschaft. Dort unten ziehen ihre Verkäufer von Haus zu Haus, von Betrieb zu Betrieb, mit schönen Prospekten im Koffer und immer neuen »Finanzprodukten« im Angebot. Vermittler, Vertreter, Makler, Finanzberater – sie haben unterschiedliche Visitenkarten, und auf den Deckblättern ihrer Prospekte stehen unterschiedliche Firmensignets und Markenlogos. Sie grasen alle ab, die noch nicht unterschrieben haben. Manchen schwatzen sie sogar einen zweiten oder dritten Vertrag auf, andere animieren sie dazu, alte Verträge zu kündigen und sogleich wieder neue zu unterzeichnen. Den Ahnungslosen verkaufen sie Einstiegsprodukte, und den bereits Frustrierten versprechen sie das neue, viel bessere Produkt: dynamisch, flexibel, mit Kapitalschutz und Sorglos-Garantie. Fast jeden Erwachsenen haben sie erfasst, mit einer Sachversicherung, einer Krankenversicherung, vor allem aber mit ihren Altersvorsorgeprodukten: Lebensversicherungspolicen, Riester-Verträge, Vorsorgefonds. Ihr einziges Ziel, wie es ein Ex-Vermittler offenbarte: »Den Kunden volldröhnen, bis er unterschreibt oder bis man rausgeworfen wird.«1
Viele Kunden hatten ein ungutes Gefühl dabei, als sie eine Police unterschrieben. Aber warum haben sie es dennoch getan? Wie haben es die Assekuranzkonzerne geschafft, 80 Millionen Deutschen mehr als 90 Millionen Lebensversicherungspolicen zu verkaufen, allein mit Lebensversicherungen 824 Milliarden Euro an Kundengeldern anzuhäufen und mit fondsgebunden Policen nochmals 78 Milliarden Euro? Warum zahlen die Kunden trotzdem fleißig ihre Beiträge, die sich in den Kassen der Versicherungskonzerne, Pensionsfonds und Pensionskassen im Jahr 2013 auf über 90 Milliarden Euro steigerten?2
Bei nüchterner Analyse der Verträge ist dies im Nachhinein oftmals kaum noch zu verstehen. So mies, so lausig sind die finanziellen Resultate, und schon allein die Zahl der Kündigungen spricht Bände: 50 bis 80 Prozent aller Langfristanlagen wurden vorzeitig mit Verlust aufgelöst. In der Regel mussten die Kunden dabei beachtliche Schäden in Kauf nehmen.3 Dieses Finanzmysterium ist nicht zu verstehen ohne einen Blick in die illustre Geschichte der Vermittlerindustrie, die das Geld der Kunden in die Depots der Versicherungskonzerne geschaufelt hat – eben jene 824 Milliarden Euro, an deren Vermögensverwaltung sich die Unternehmen fortwährend nähren.
Diese Story begann in der Nachkriegszeit des vergangenen Jahrhunderts mit einem Betrugssystem von gewaltiger Dimension. Es war der Amerikaner Bernie Cornfeld, ein begnadeter Verkäufer, der das System erfunden hatte und mit dem Versprechen eines »Volkskapitalismus« unters Volk brachte: Jedermann, so die Botschaft, sollte künftig reich werden können. Er hatte mit seiner Investors Overseas Services (IOS) die bis heute übliche und marktbeherrschende Verkaufspraxis entwickelt, die unter dem Namen Strukturvertrieb berühmt und berüchtigt wurde. Das System wuchs schwindelerregend rasch und brach mit einem grandiosen Crash zusammen. Er hinterließ Massen an gebeutelten Kunden und arbeitslosen Verkäufern. Es war »das perfekteste Sklavenhaltersystem, das je geschaffen worden war«, urteilte ein Versicherungsmanager nach dem Zusammenbruch des Systems über die IOS. »Ein gewaltiges Schwindelunternehmen«, resümierte ein Autorenteam damals.
Cornfelds IOS endete in einer betrügerischen Pleite, doch seine Idee der Massenverführung lebte weiter. Wie ein Virus infizierte sie das Geschäft der Versicherungsindustrie. Es waren seine besten Verkäufer, die fortan für deutsche Versicherungskonzerne neue Vertriebsstrukturen nach dem IOS-Modell aufbauten. Es waren die Schüler dieser IOS-Haudegen, die dieses Werk fortsetzten und die schließlich bis in die Chefetagen der Konzerne aufstiegen. Und noch heute landen Kundengelder in den Händen von IOS-Veteranen und deren Lehrlingen.
Sie erfanden das Wort »Finanzprodukt«, das seitdem aus dem Geschäft der Assekuranz nicht mehr wegzudenken ist. Damit wurde aus dem mal weitsichtigen, mal spekulativen Investor der Käufer einer Produktkreation, die in den Ideenschmieden der Konzerne entwickelt, gefertigt und mit wohlklingenden Parolen verkauft wurde. Und damit wurde aus dem Investment in verständliche, nachvollziehbare Anlagen eine Hingabe des Ersparten für ein vollmundiges Versprechen künftiger Erträge, wobei eigentlich weder Verkäufer noch Investor verstehen, was mit dem Kundengeld passiert.
Cornfelds Verkaufsparole des »Volkskapitalismus« lebte weiter, in immer neuen Verpackungen wurde das populäre Sorglos-Versprechen als Verkaufsargument eingesetzt, von der Kapitallebensversicherung über die fondsgebundene Lebensversicherung bis hin zu den Riester-Produkten. Sein Konzept funktionierte über Jahrzehnte hinweg und füllte die Kassen mit den verwalteten Vermögen der Versicherungsunternehmen unermesslich – eben mit jenen 824 Milliarden Euro.
Seit dem Crash von Cornfelds IOS kamen die Verkaufsmaschinen der Versicherungskonzerne immer wieder einmal ins Stottern. Die Krisen traten in nahezu jeder Dekade ein, mal wegen einer Marktsättigung, mal wegen eines zunehmenden Misstrauens auf der Käuferseite. Das politische Geschehen förderte einmal unverhofft die Öffnung eines neuen Marktes: die deutsche Wiedervereinigung. Doch immer wieder half die Assekuranzindustrie auch etwas nach. Sie vermochte es regelmäßig, die Politik für ihre Zwecke einzuspannen. So begann ihr Aufstieg mit der Rentenreform Konrad Adenauers im Jahr 1957, so half ihr 1994 die Europäische Kommission mit der Deregulierung der Versicherungsmärkte, und so brachte ihr die Riester-Reform neue Wachstumsimpulse, die in einem modischen Hype endeten. Das Wort »investieren« wurde nun durch »riestern« ersetzt4 – bis die Verkaufskurve mit den Riester-Produkten deutlich nach unten zeigte, die Vertriebsmaschine wieder ins Stottern geriet und viele Kunden ihre Riester-Verträge schließlich auflösten. Viele Kunden waren einfach nur noch verärgert. Nachdem erste kritische Analysen über die Riester-Verträge erschienen waren, fühlten sie sich mit den hochtrabenden Performance-Versprechen veräppelt.
Die Verkaufsroutine wurde immer wieder gestört durch atemberaubende Skandale: Betrugsfälle mit astronomischen Schadenssummen, Fehlinvestments in abstrusen Schwindleranlagen und immer wieder Sexreisen von Verkäufertruppen, die zum Geschäft gehörten wie die Unterschrift unter die Police. Die Skandale erregten die Gemüter und gerieten bald wieder in Vergessenheit. Das Geschäft ging weiter, und auch die Geschichten über die Party-Praktiken besinnungslos enthemmter Versicherungsverkäufer verschwanden wieder in den Zeitungsarchiven.
Im Frühjahr 2011 platzte jedoch der Skandal der Skandale, der so schnell nicht mehr aus den Gedächtnissen zu tilgen war. Unter den Suchwörtern Ergo und Sex liefert die Google-Suchmaschine mehr als 5 Millionen Treffer. Diesmal ging es um die Lustreisen der Vertriebsleute des Ergo-Konzerns. Berichte über Abenteuerreisen der Herren mit steuerlich korrekt abgerechneten »Prostituierten-Dienstleistungen« zeichneten das Bild einer Verkäufertruppe, die alle Hemmungen verloren hatte und jenseits der minimalen Anstandsregeln operierte, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. Heute erzählen einstige Starverkäufer freimütig von ihren rauschhaften Gemeinschaftserlebnissen und wilden Partys, über platte Gehirnwäsche und geistlose Schulungen bis hin zum Burn-out.
Reflexartig versuchten Ergo-Manager zunächst die Berichterstattung mit Klagen gegen Zeitungsredaktionen und vertuschenden Erklärungen einzudämmen. Als dies nicht mehr gelang, reagierten sie mit einer sogenannten Transparenzoffensive: Es sollte nun so aussehen, als ob der Versicherungskonzern alles schonungslos aufklärte und offenlegte. Auch diese Operation endete in einem atemberaubenden Imagedesaster, dessen Ausmaß die Versicherungsindustrie noch nie erlebt hatte. Der Gipfel der Geschmacklosigkeiten schien erreicht. Doch als das Scheinwerferlicht der Massenmedien einmal auf die Branche geworfen war, erschienen neue Skandalfälle wie die unfassbaren Geschichten vom »Vorsorge-Spezialisten Mehmet Göker«, der sich in einem Dokumentarfilm ungeniert und selbstverliebt mit unglaublichem Protz präsentierte, bevor er nach einer Großrazzia der Staatsanwaltschaft das Land verließ. Seine Klappe war riesig, seine Bilanzen aber waren mies. Dabei war Göker ein vielfach geschätzter Starverkäufer, der Allianz-Konzern hatte ihn sogar als »Premium-Partner« geführt. »Wir sind froh, dass es Sie gibt!«, hatte ihm ein Versicherungsmanager auf einer Firmenparty gehuldigt.5
Bordellreisen und Renditelügen, Schurken und Kleingangster an der Verkaufsfront, korrupte Deals mit Firmenkunden, Bestechung, Adressenhehlerei und Fondsgeschäfte mit Anlagebetrügern – die Skandale der Versicherungskonzerne zeichneten das Bild einer seltsamen Milieus. Einerseits sind sie für alle Bürger lebenswichtig, denn schließlich hängt ihr Wohl von den Versicherungen ab: ein zufriedenes Dasein im Alter, der Schutz ihrer Autos und Häuser, ja sogar die Gesundheit – Garanten für ein sorgloses Leben. Andererseits wähnten sich die Bürger von einem Halunkensystem betreut. Das Ansehen der Branche erschien nun auf dem Nullpunkt. Ein Ergo-Manager sprach etwas gewunden von »hohen Kaufwiderständen«.6 Mit anderen Worten: Die Kunden streikten, sie wollten die Schwindelprodukte nicht mehr kaufen. Selbst den Lobbyisten der Branche fehlten die Worte, mit denen sie sonst alles schönreden. Das Ansehen der Branche erreichte akzeptable Werte nur noch in Studien, die sie selbst finanziert hatte. Und scheinbar unabhängige Umfragen über die Kundenzufriedenheit entpuppten sich als billige Marketingtricks, unseriös erstellt und wissenschaftlich wertlos, fabriziert in abhängigen PR-Werkstätten, deren Geschäftszweck das Schönreden ist. Die Manager in ihren Glaspalästen waren plötzlich mit dem Bild einer Branche konfrontiert, deren Frontleute sich im Untergrundmilieu bewegten. Risiken waren eigentlich ihr Geschäft, aber ihr eigenes Reputationsrisiko hatten sie nicht im Griff.
Diese Ereignisse signalisieren nicht nur einen Wendepunkt in der Belustigungspraxis für Versicherungsverkäufer. Sie sind das äußere Zeichen einer tiefen Krise, die den Weg nach unten einläutet, wenn die Branche nicht die Kraft aufbringt, ihre Verkaufspraxis radikal zu reformieren und ehrliche Policen zu entwickeln. Es trifft die Versicherungen in einer denkbar ungünstigen Lage: Sie sind fett und träge geworden, ihr Management agiert weitgehend phantasielos und oftmals unbekümmert. Es ist der Punkt des Overkills der Vertriebsmaschine nach dem IOS-Modell von Verkäuferstar Bernie Cornfeld.
Kunden lernen zu verstehen, welche immensen Provisionen ihnen mit diesem pervertierten System von ihrem investierten Geld abgezweigt werden. Sie erfahren, wie viel Geld sie mit lausigen oder sogar betrügerischen Finanzprodukten verloren haben oder wie sie manchmal sogar zusammen mit ihren Vermittlern von Trittbrettfahrern aus der Dunkelzone der Finanzwelt hereingelegt wurden. Sie versuchen, ihre Schäden durch Gerichtsklagen erstattet zu bekommen. Sie lernen durch das bittere Erlebnis des Nachrechnens: dass zum Beispiel ein treuer Lebensversicherungskunde der Allianz, der erwartungsvoll während des Berufslebens seine Monatsbeiträge einzahlt, am Ende nur die Hälfte des Vermögens erreicht, das er im gleichen Zeitraum mit einem Investment in die Aktien aus dem Deutschen Aktienindex erzielt hätte.7 Solche Rechnungen lesen die Kunden nun häufiger, wenn sie sich informieren. Sie wenden sich ab, kündigen Policen.
Und sie verstehen dabei, dass die Versicherungsbranche wegen der derzeitigen Niedrigzinsphase in einem schweren Dilemma steckt: Sie hat Garantiezinsen versprochen, die viel höher sind als die Zinsen, die sie mit ihrer bisherigen Anlagepolitik an den Kapitalmärkten erzielen können. Sie müssten mehr riskieren, was ihnen gesetzlich nur bis zu einem gewissen Rahmen überhaupt erlaubt ist. Oder sie müssten ihre Versprechen reduzieren, was wiederum ihre Verkaufserfolge einbrechen lässt. Daher hat die Versicherungsindustrie nun große Mühe, den Menschen weiterhin Vorsorgeprodukte so zu verkaufen, wie sie es sechzig Jahre lang getan hat. Das Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr so, wie es die Manager in den Glaspalästen gelernt haben. Dieser Krisenprozess kann schlimme Folgen haben. Denn die Investition in eine Lebensversicherung ist ganz gewöhnlichen Marktrisiken ausgesetzt. Ein kritischer Blick auf die Zielinvestments der Versicherungsunternehmen lässt die Risiken erahnen.
Versicherungen sollten ihren Kunden Sicherheit geben, sie sollten die Kundengelder sorgsam und sinnvoll erhalten und mehren. Doch die Wirklichkeit der Vermögensverwaltung sieht anders aus. Wenn sich die Bürger zum Beispiel fragen, wer für all die Bankenverluste geradesteht, dann können sie gewiss sein: Sie sind dabei! Mit ihren Vermögenswerten, die sie sich mühsam vom Salär absparen und den Versicherungen in treuem Glauben anvertraut haben, werden die Pleitekandidaten, ob marode Finanzkonzerne oder kränkelnde Staaten, gestützt. Im Sommer 2008, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, hatten Versicherungen fast 30 Prozent der Kundengelder in Bankanleihen gesteckt.
Die Versicherer sind offenbar immer dabei, wenn es etwas zu verlieren gibt. Als die Krisenbank Hypo Real Estate schon in einen hoffnungslosen Zustand geraten war, da steckten Lebens- und Krankenversicherungen 1,4 Milliarden Euro in das Geldinstitut – 1,4 Milliarden Kundengelder wohlgemerkt. Das war eigentlich ein Fall von großangelegter Gläubigerschädigung, aber Politiker und Manager waren sich dabei wieder einmal einig. Als dann Griechenland in die Staatspleite abzugleiten drohte, da griffen die Konzernlenker wieder einmal in die Kassen und investierten die Kundenvermögen in griechische Staatsanleihen.
Auch Versicherungen können pleitegehen. Das Wort ist in der Branche eigentlich tabu und kam in den Verkaufssprüchen der Vermittler nicht vor. Doch für den Notfall gibt es gesetzliche Regeln, von denen die meisten Versicherungsverkäufer und ihre Kunden wohl noch nie gehört haben. Es sind mitunter drastische Regeln. Wer sie einmal genau gelesen hat, wird sein Sorglos-Gefühl wohl endgültig verlieren.
Dieses Buch erzählt nicht nur vom Aufstieg und vom beginnenden Abstieg, es klärt auch über dieses Notfallszenario auf. Es ist die faszinierende Geschichte, wie das Kundendepot mit 824 Milliarden Euro gefüllt wurde. Eine Geschichte über das Kundenvermögen, dessen Zukunft nun auf dem Spiel steht.
1. »Die nie endende Geschichte der HMI«, Erfahrungsbericht auf www.ciao.de, 9. 9. 2004, aktualisiert Februar 2008 und Juni 2010, Datensicherung 6. 8. 2014.
2. Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV): Die deutsche Lebensversicherung in Zahlen 2014, Berlin, 2014, S. 6.
3. Leo Müller, Dirk Ruschmann: »Alte Fälle, neuer Ärger«, Bilanz, 25. 2. 2011. Michael Fröhlingsdorf, Markus Grill, Christoph Schwennicke: »Mitten im größten Geldklumpen«, Spiegel, 5. 3. 2011.
4. Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV): Deutsche Versicherungswirtschaft 2013.
5. Klaus Stern: Versicherungsvertreter. Die erstaunliche Karriere des Mehmet Göker, Dokumentarfilm (DVD), 30. 11. 2012.
6. Holger Balodis, Dagmar Hühne: Die Vorsorge-Lüge. Wie Politik und private Rentenversicherungen uns in die Altersarmut treiben, Berlin, 2012, S. 28.
7. »Legaler Betrug?«, Spiegel, 2. 3. 1998.
»Das perfekteste Sklavenhaltersystem, das je geschaffen worden war.«
(Hamburger Versicherungsmanager über den IOS-Vertrieb, 1971)1
»Intellektuell und finanziell unehrlich, ein gewaltiges und gewagtes Schwindelunternehmen.«
(Autorenteam der Sunday Times über die IOS, 1971)2
Aus Deutschland war ein Wirtschaftswunderland geworden. Es war die Zeit Ludwig Erhards, des liberalen Bundeskanzlers und Wirtschaftspolitikers mit Zigarre. Neudeutsches Biedermeier machte Not und Elend der Nachkriegsjahre vergessen. Man war um bürgerliche Wohlanständigkeit und korrekte Kleidung bemüht, man träumte vom eigenen Auto, und allem Amerikanischen wurde gehuldigt. Im Interview mit dem Nachrichtenmagazin Spiegel musste sich der stattlich beleibte Bundesernährungsminister Hermann Höcherl im November 1965 dafür verteidigen, dass die Bierpreise um sieben Pfennig je Flasche stiegen.3 Im gleichen Heft wurden neben einem Inserat für Cognac Martell die Leser mit einer Mischung aus Staunen, Bewunderung und Skepsis über neue Praktiken bei Finanzgeschäften aufgeklärt.
»In der Bundesrepublik ist eine neue Vertreter-Spezies am Werke, die Anteilscheine auf Wertpapiere nicht nach altehrwürdiger Sitte über den Bankschalter, sondern an der Haustür verkauft«, schrieb das Magazin. Die Verkäufer würden in der guten Stube vorrechnen, wie man es binnen zehn Jahren »zu einem Vermögen von 96000 Mark bringen« könne, wenn man monatlich 400 Mark einzahle. Ein 38-jähriger Kunde würde nach 48000 eingezahlten Mark mit 60 Jahren nahezu 400000 Mark besitzen und sich einen fröhlichen Lebensabend machen können. Der Spiegel berichtete über eine erstaunliche Performance: »Das Vermögen des Cornfeld-Fonds, der 1962 mit zehn Millionen Dollar ausgestattet wurde, hatte 1964 bereits 100 Millionen Dollar erreicht und ist in diesem Jahr förmlich explodiert: Januar 120, Mai 170, August 210 und Ende Oktober 275 Millionen Dollar.«4
Die Rede war von der damals weltweit größten Vertriebsorganisation für Finanzprodukte, der Investors Overseas Services (IOS) mit Büro in Genf, eingetragen in Panama. Die IOS war damals gerade erst achtzehn Monate auf dem deutschen Markt aktiv, rund vierhundert Vermittler hatte sie im Einsatz. Deutsche Banken waren beunruhigt, denn die Leute von der IOS nahmen ihnen Geschäft weg. Die Organisation erlebte unter ihrem Gründer Bernard Cornfeld, den alle liebevoll Bernie nannten, einen kometenhaften Aufstieg. In den fünfziger Jahren hatte der Sozialarbeiter, der unter einfachen Verhältnissen in Brooklyn aufgewachsen war, in einem Vergnügungspark auf Coney Island an der Südspitze New Yorks eine Bude für Alters- und Gewichtsschätzung aufgemacht und dabei sein Verkäufertalent entdeckt. Er stotterte zwar, aber er konnte den Menschen Unnötiges aufschwatzen.
Cornfeld, der im Zweiten Weltkrieg als Marinesoldat gedient hatte, kam bald auf die Idee, die Ersparnisse der zahlreichen in Europa stationierten US-Soldaten anzuzapfen. Viele der GIs waren in US-Kasernen und Housings einquartiert, waren dort mit Kinos und Shopping-Malls versorgt und verfügten über einen stattlichen Sold in damals noch harten Dollars. 3,5 Millionen Amerikaner lebten in Übersee, es war ein riesiger Markt. Cornfeld verkaufte ihnen zunächst sehr erfolgreich Anteile von amerikanischen Investmentfonds. Doch rasch entdeckte er, dass er das Geschäft selbst aufziehen könnte, und gründete eine Fondsgesellschaft, und zwar »offshore«, das heißt mit einem juristischen Domizil in einer Steueroase. Konsequent nutzte er Gesetzeslücken im grenzüberschreitenden Geschäft. Der Clou dabei: Die -Soldaten konnten ihre Gelder steuerfrei anlegen.
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