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»Hat mir je das Theater einen reinen Genuß, eine hohe und zweifellose Schönheitserfahrung vermittelt? Nein.« Thomas Manns kritische Äußerungen zu diesem Thema von 1908 müssen in den Kontext seiner Auseinandersetzung mit Richard Wagners kunsttheoretischen Schriften gestellt werden. Inwieweit der Misserfolg seines einzigen Dramas Fiorenza seine negative Haltung mitbestimmte, mag dahin gestellt bleiben. Unpolemisch sind seine gattungstheoretischen Darlegungen gewiss nicht. Deutlich erkennbar ist seine Absicht, die Überlegenheit der epischen Form herauszustellen. Das abschließende Plädoyer, das Theater der Volkskunst zurückzugeben, ist unter diesem Aspekt vielleicht nicht ohne subtile Ironie.
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Seitenzahl: 68
Thomas Mann
Versuch über das Theater
Essay/s
Fischer e-books
In der Textfassung derGroßen kommentierten Frankfurter Ausgabe(GKFA)Mit Daten zu Leben und Werk
Wovon ist die Rede? Vom Drama oder vom Theater? Wir wollen die Begriffe scheiden und jedem das Seine geben.
Das Drama ist schließlich eine Dichtungsform (die höchste, – sagen die Dramatiker). Aber das Theater ist nicht die Literatur (obwohl ein großer Teil des Publikums und der Kritiker das glaubt).
Das Theater macht Zugeständnisse an die Literatur, es hat den Ehrgeiz, sich ihrer bisweilen anzunehmen. Aber das Theater hat die Literatur nicht nötig, es könnte offenbar ohne sie bestehen. Das ist mein Eindruck. Man muß dem Theater eine gewisse absolute Daseinsfähigkeit und Daseinsberechtigung zuerkennen. Es ist ein Gebiet für sich, eine Welt für sich, eine fremde Welt: die Dichtung ist dort nicht eigentlich zu Hause, auch die dramatische nicht, wie wir sie verstehen, – das ist mein Eindruck.
Ich vergesse nie den Ruck, den mir vor Jahr und Tag eine Zeitungsnachricht versetzte. Es war eine Theaternotiz, eines jener Telegramme, welche die Theaterreferenten um Mitternacht in alle Winde senden. In einer großen Stadt hatte man das dramatische Gedicht: »Die Kronprätendenten« einer Theateraufführung zugrunde gelegt. »Die Aufführung war ansprechend«, hieß es. »Das Stück vermochte nicht zu interessieren.« – »Das Stück«, »vermochte nicht«, »zu interessieren«. Und zwar die »Kronprätendenten«. Eine Nachricht aus der Welt des Theaters. Eine wildfremde, unheimliche Nachricht.
Die Fremdheit, die Befremdung ist gegenseitig. Wenn Nietzsche über das Theater bittere und tief geringschätzige Dinge sagte, wenn Maupassant erklärte: »Le théâtre m’ennuye«, wenn Flaubert schrieb, er kehre von der Beschäftigung mit seinem {124}Theaterstück »zu ernsten Dingen«, »à des choses sérieuses« zurück, (die erstbesten Beispiele) – man gibt uns von drüben die Geringschätzung, die Langeweile zurück. Ich sprach einmal mit einem Hoftheater-Regisseur, einem Mann im Ruf literarischen Feinsinns. Es war von dem Dänen Hermann Bang die Rede. Irgendwo war ein Theaterstück dieses Romanciers aufgeführt worden. Es sei recht gut, seine erste brauchbare Leistung, sagte der Regisseur; was er früher gemacht habe, sei nichts. Ich war verletzt und betrübt. »Oh«, sagte ich, »er hat wundervolle Sachen geschrieben, – »Tine« zum Beispiel, »Am Wege« …« »Ja, ja, Romane und Aufsätze, das mag sein«, – sagte der Regisseur.
Das Theater, das Theaterstück ist die Kunst dort drüben. Der Roman, die Novelle sogar ist Geschreibsel. Ein Theaterkritiker hat drucken lassen, in dem erzählenden Satze »Rosalie erhob sich, strich ihr Kleid glatt und sagte ›Adieu!‹« sei Kunst doch streng genommen nur das Wort »Adieu«. Er wiederholte: »Streng genommen.«
Man weiß nichts von uns auf der anderen Seite. Man kennt uns dort nur insofern wir dem Theater unseren Tribut gezollt haben. Herr M. hatte seinem Namen durch eine Reihe distinguierter Romane und Novellen literarischen Ruf verschafft. Dieser Ruf genügte ihm nicht; das Rampenlicht, die plumpe Öffentlichkeit, der sinnfällige Ruhm des Theaters verlockte ihn, und er schrieb ein Stück, in welchem er allen sich darbietenden dichterischen Wirkungsmöglichkeiten fast heldenmütig entsagte, sich mit zusammengebissenen Zähnen den Bedürfnissen der Kulisse bequemte. Nehmen wir an, daß das Stück »Kaspar Hauser« hieß. Es ward aufgeführt, hatte Erfolg und verschwand wieder. Es vergeht Jahr und Tag, aber der Romancier hat Blut geleckt, er beißt die Zähne zusammen und schreibt ein zweites Stück. Und nun notiert die Tagespresse: »Herr M., der Verfasser des »Kaspar Hauser«, hat soeben eine {125}Verskomödie beendet …« Herrn M. als »Verfasser des Kaspar Hauser« zu bezeichnen, ist eine boshafte Ungerechtigkeit. Aber in der Welt des Theaters kommt er ausschließlich als solcher in Betracht.
Um in das seltsam zweideutige Verhältnis zwischen Literatur und Bühne Einblick zu gewinnen, genügt es, unsere Theaterkritik am Werke zu sehen. Der Typus des Oncle Sarcey kommt bei uns ja nicht vor. Dieser joviale Cyniker, der auf die Bretter schwor, dem Publikum immer recht gab, mit dem Kulissen-Routinier durch dick und dünn ging und dem zarten Dichter ins Gesicht sagte, daß er absolut gar nichts vom Theater verstehe, – hat unter unseren Dramaturgen nicht seinesgleichen. Dennoch war er zum mindesten eine reinliche Existenz. Er gehörte mit Leib und Seele zur Welt jenseits der Rampe, zum Schauspieler, zum Stückeschreiber, er stand mit behäbiger Entschlossenheit auf seiten des Theaters, gegen die Literatur, er liebte das Theater, und wenn er ihm seine ganze Aufmerksamkeit, die Arbeit seines Lebens widmete, so war das eine klare und einleuchtende Handlungsweise. Aber wer erklärt mir die Folgerichtigkeit in dem Verhältnis unserer Kritiker zum Theater? Das Theater ist in weit handgreiflicherem Sinne als die übrigen Kunstarten eine gesellschaftliche Angelegenheit, und eine prompte journalistische Berichterstattung über die theatralischen Ereignisse der Saison ist in der Ordnung. Klage ist laut geworden, daß diese Berichterstattung neuerdings meist in einem überaus verdrossenen, höhnischen und spielverderberischen Tone ausgeübt werde, – aber hier ist nicht die Rede von der großen Menge der Zeitungsschreiber, die mit Ächzen und Ekel ihre Freiplätze im Theater einnehmen, in Telegrammen und spaltenlangen Artikeln die Dramatiker verhöhnen, das Theater verfluchen und dennoch durch die Eilfertigkeit und den Umfang eben dieser Berichter{126}stattung dem Publikum von der Wichtigkeit des Theaters eine Meinung suggerieren, die ihnen selbst offenbar ein Gelächter ist. Es handelt sich um die kleine Anzahl wirklicher Schriftsteller unter den Theaterkritikern, jener Vier bis Sechs (oder sind es so viele nicht?), die den Namen von Autoren verdienen und für ihre Produktion mit Recht den Wert selbständiger Kunstgebilde in Anspruch nehmen. Wie steht dieser Typ zum Theater? Er hat keinerlei praktische Beziehungen zur Schaubühne, er empfindet literarisch durch und durch, und stellt an das Drama rein dichterische Ansprüche. Sarceys Urteilsweise widert ihn an, er verabscheut den Schauspielerstandpunkt und würde nie den traurigen Mut besitzen, ein Publikum zu rechtfertigen und zu loben, das einen Dichter ausgepfiffen hat. Er ist literarischer Künstler genug, um jeden Augenblick das Theater zu verachten. Er spricht gelegentlich mit nervösem Widerwillen von der üblen Atmosphäre »euerer« Schauspielhäuser, erklärt beiläufig, ein Drama weit lieber im stillen Arbeitszimmer zu lesen, als es vor gemalter Leinwand dargemimt zu sehen, und ist, vor allem, sofort bereit, gegenüber dem Schaffen irgend eines Theatermannes für seine eigene Kunstleistung – eine kritische, redende Kunstleistung – mit leidenschaftlichem Stolz den höheren Rang in Anspruch zu nehmen. Aber wenn er das Theater nicht liebt, wenn er nicht daran glaubt, wenn er es verachtet: warum opfert er ihm seine Zeit, seine Kunst? Warum macht er nicht lieber die lyrische, novellistische Produktion zum Gegenstand seiner Analyse? Weil er das Drama für vorzüglich betrachtenswert, es stillschweigend für die höchste Gattung der Dichtkunst hält? Unmöglich! Kann jemand, der, wahrscheinlich mit Recht, bei jeder Gelegenheit darauf besteht, einen Wesensunterschied zwischen Kritiker und Dichter nicht anzuerkennen, logischerweise an einen dichterischen Vorrang des Dramas glauben? Die Ahnen und Meister eines {127}solchen Schriftstellers sind selbstverständlich nicht unter den Dramatikern zu finden. Er glüht vielleicht für Flaubert, bekennt sich als Schüler irgend eines großen Prosaisten wie Jean Paul, – und wenn die Tatsache, daß er mit diesem Geschmack, dieser Herkunft ausschließlich über das Drama und zwar über das aufgeführte Drama, also über das Theater schreibt, sich erklären läßt, – er selbst hat niemals eine Erklärung dafür gegeben.
Er geht über diese Frage mit Humor hinweg, er redet von seinem Beruf gelegentlich im drolligsten Ton, und in den besten, geistigsten Fällen macht der Widerspruch seines Daseins ihn zum Selbstpersifleur. Sein Stil selbst ist es, der auf die erheiterndste Weise das im Grunde süffisante Verhältnis eines überlegenen Kopfes zum Theater beleuchtet, – ein Verhältnis, das jederlei Spaß und Kapriole nötig hat, um nicht in Bitterkeit und Selbstverachtung überzugehen. Ohne Zweifel gehört viel ironische Laune dazu, sich mit einer Tätigkeit abzufinden, die darin besteht, aufzupassen, daß in der Welt nicht direkte Charakteristik getrieben werde.
Ich habe mich hier, ungelehrt, anspruchslos und für meine Person, mit der Anschauung auseinanderzusetzen, als ob dem Drama im Reiche der Dichtkunst der Vorrang gebühre. Ich überlege im voraus, daß heute, zur Zeit der Zwischengattungen, der Mischungen und Verwischungen, des autonomen Künstlertums, – daß es heute, wo kaum Grenzen festzuhalten sind, eine Narrheit ist, auch noch von Rangordnung zu reden. Aber selbst davon abgesehen, ist der Vorrang des Dramas eine Anmaßung, um es herauszusagen, und die ästhetischen Gründe, mit denen er verteidigt wird, sind akademisches Gerümpel.
»Das Drama«, sagte der Oberlehrer, »ist das Höchste, denn es {128}