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Kannst du wirklich denen trauen, die du liebst? Der neue Thriller von Sandra Brown - Platz 3 der NYT-Bestsellerliste!
»Schlafende Hunde sollte man ruhen lassen.« Nach Meinung von Arden Wallace ist diese Lebensweisheit in ihrer Familie viel zu lange befolgt worden: Sie will endlich wissen, was in jener Nacht geschah, als ihr Vater nach einem Raubüberfall spurlos verschwand, und beginnt selbst zu ermitteln. Hat vielleicht Ledge Burnet etwas mit der Sache zu tun, der Ex-Soldat mit den stahlblauen Augen und dem Unendlichkeitstattoo? Immer wieder versucht er, ihre Nachforschungen zu sabotieren, trotz der explosiven Anziehungskraft zwischen ihnen. Dass sie der Wahrheit schon gefährlich nahegekommen ist, sie niemanden vertrauen kann, wird ihr erst viel zu spät klar ...
Spannung, Leidenschaft und unvergessliche Charaktere - lesen Sie auch die anderen Romane von Sandra Brown (Auswahl):
Verhängnisvolle Nähe
Sein eisiges Herz
Stachel im Herzen
Tödliche Sehnsucht
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Seitenzahl: 495
Veröffentlichungsjahr: 2022
Buch
»Schlafende Hunde soll man nicht wecken.« Nach Meinung von Arden Wallace ist diese Lebensweisheit in ihrer Familie viel zu lange befolgt worden: Sie will endlich wissen, was in jener Nacht geschah, als ihr Vater nach einem Raubüberfall spurlos verschwand, und beginnt selbst zu ermitteln. Hat vielleicht Ledge Burnet etwas mit der Sache zu tun, der Ex-Soldat mit den stahlblauen Augen und dem Unendlichkeitstattoo? Immer wieder versucht er, ihre Nachforschungen zu sabotieren, trotz der explosiven Anziehungskraft zwischen ihnen. Dass sie der Wahrheit schon gefährlich nahegekommen ist, sie niemanden vertrauen kann, wird ihr erst viel zu spät klar …
Autorin
Sandra Brown arbeitete als Schauspielerin und TV-Journalistin, bevor sie mit ihrem Roman »Trügerischer Spiegel« auf Anhieb einen großen Erfolg landete. Inzwischen ist sie eine der erfolgreichsten internationalen Autorinnen, die mit jedem ihrer Bücher die Spitzenplätze der »New York Times«-Bestsellerliste erreicht! Ihr endgültiger Durchbruch als Thrillerautorin gelang Sandra Brown mit dem Roman »Die Zeugin«, der auch in Deutschland zum Bestseller wurde. Seither konnte die Autorin mit vielen weiteren Romanen ihre Leser und Leserinnen weltweit begeistern. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.
Weitere Informationen unter: www.sandra-brown.de
Von Sandra Brown bereits erschienen (Auswahl)
Dein Tod ist nah
Sein eisiges Herz
Verhängnisvolle Nähe
Stachel im Herzen
Tödliche Sehnsucht
Sanfte Rache
Eisige Glut
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Sandra Brown
Vertrau ihm nicht
Thriller
Deutsch von Christoph Göhler
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Thick As Thieves« bei Grand Central Publishing, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright der Originalausgabe © 2020 by Sandra Brown Management, Ltd.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: René Stein
Umschlaggestaltung: © bürosüd
Umschlagmotiv: © Westend61/Getty Images, www.buerosued.de
BSt · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-29669-8V001
www.blanvalet.de
»Quatschen ist die sicherste Methode, geschnappt zu werden.«
Er ließ die Worte sacken und sah den drei anderen nacheinander in die Augen, denn ein bedeutungsschwangeres Schweigen war eine eindringlichere Warnung als jede weitere Erklärung.
Das Quartett, das hier die Köpfe zusammensteckte, hatte gerade einen Adrenalin-Höhenflug hinter sich, der jedoch nicht mit einem Absturz, sondern eher im Sinkflug geendet hatte. Inzwischen waren sie nicht mehr in unmittelbarer Gefahr, auf frischer Tat gefasst zu werden, darum klopften ihre Herzen zwar immer noch heftiger als sonst, aber der Rhythmus hatte sich auf ein erträgliches Tempo verlangsamt. Der in der feuchtwarmen Luft aufsteigende Atem war zwar noch genauso heiß, aber kam nicht mehr so hektisch wie zuvor.
Eines allerdings hatte bisher nicht nachgelassen, absolut nicht, und das war die Spannung innerhalb der kleinen Gruppe.
Man durfte sie heute Abend nicht zusammen sehen, doch bevor sich ihre Wege trennten, musste noch ein Pakt geschmiedet werden. Falls eine unterschwellige Drohung das Band zusätzlich verstärkte, war das umso besser. Das würde jeden Einzelnen davon abhalten, den Schwur zu brechen und den Mund aufzumachen. Wehe, jemand brach sein Schweigegelübde.
»Keiner macht das Maul auf.« Der das sagte, hatte paprikarotes Haar, das aus seinem Schädel spross wie Unkraut aus einer Gartenmauer. Sommersprossen leuchteten durch die Stoppeln. »Niemand sagt auch nur ein verdammtes Wort.« Dabei stach er zur Bekräftigung mehrmals mit dem Finger in Richtung Boden.
Leicht ungeduldig erklärte das älteste Mitglied der Gruppe: »Ist doch klar.«
Der andere, der hektisch an seinen Fingernägeln kaute, spuckte einen Span aus und nickte heftig.
Das vierte und jüngste Mitglied der Gruppe hatte während des gesamten Unterfangens seine kühle, scheinbar ungerührte Aura bewahrt und bemerkenswerte Ruhe ausgestrahlt. Mit seinem lakonischen Schulterzucken teilte er den anderen unausgesprochen mit: Versteht sich von selbst.
»Wenn irgendwer prahlt oder auch nur eine Andeutung fallen lässt, selbst als Witz, dann hätte das einen Dominoeffekt, der uns …«
»Spar dir das Gelaber«, fiel ihm das älteste Mitglied ins Wort. »Wir haben dich schon beim ersten Mal verstanden und hätten deine Ansprache sowieso nicht gebraucht.«
Der Graben, in dem sie kauerten, war mit Unkraut zugewachsen, das teils wild die Böschung überwucherte, teils während des letzten schweren Regens überschwemmt worden war und jetzt abgestorben im Schlamm lag. Der Einschnitt war gut einen Meter tief und trennte wie eine hässliche Narbe die schmale Landstraße von dem durchhängenden Stacheldrahtzaun, hinter dem eine nach Dung riechende Kuhweide lag. Kein Luftzug vertrieb den in der schwülen Atmosphäre hängenden Gestank.
Inmitten des Kreises, den die vier bildeten, befand sich der Anlass für die unerwünschte Ansprache: eine Leinentasche mit gestohlenem Bargeld.
Die Beute war viel größer, als sie alle vorausgesehen hatten, und dieser unerwartete Gewinn wirkte ebenso berauschend wie ernüchternd. Auf einmal stand erheblich mehr auf dem Spiel als gedacht, und die Anspannung war entsprechend größer.
Nach dem Protest gegen die überflüssige Lektion sprach und bewegte sich keiner mehr, bis schließlich der Jüngste im Quartett mit einem schnellen Schlag einen Moskito an seinem Hals zerquetschte, wobei ein blutiger Streifen zurückblieb. »Von mir erfährt keiner was. Ich steh nicht so auf Knast. Da war ich schon.«
»Du warst im Jugendarrest«, korrigierte ihn der Rotschopf.
»Zählt trotzdem.«
Das älteste Mitglied ihrer Runde sagte: »Nur ein Idiot würde quatschen. Und ich bin kein Idiot.«
Der Rotschopf dachte kurz nach und nickte dann, als würde ihn das beruhigen. »Na gut. Noch was. Wenn wir uns auf der Straße begegnen, verhalten wir uns wie immer. Wir gehen uns nicht absichtlich aus dem Weg, aber wir fallen uns auch nicht um den Hals. Wir grüßen uns, vielleicht kennen wir uns sogar so gut, dass wir ein paar Worte wechseln, aber das ist alles. Darum wird das klappen. Wir haben nichts gemeinsam außer dem hier.« Er stupste mit der stahlkappenbewehrten Spitze seines Cowboystiefels gegen die Leinentasche.
Das zweite Paar Cowboystiefel in der Runde hatte keine silbernen Spitzen. Diese Stiefel wurden nicht zum Protzen getragen, sondern hatten schon so manches mitgemacht. Sie waren heute nicht zum ersten Mal mit Schlamm bespritzt worden.
Die zwei braunen Budapester hatten frisch poliert geglänzt, bis sie in den Graben geschlittert waren.
Die dunkelblauen Joggingschuhe hatten schon einige Meilen hinter sich.
»Sechs Monate, bevor wir das Geld verteilen, sind verflucht lang«, sagte das älteste Mitglied mit Blick auf den Karottenkopf. »Warum willst ausgerechnet du bis dahin darauf aufpassen? Das war so nicht ausgemacht.«
»Vertraust du mir nicht?«
»Was glaubst du denn?«
Falls sich der Rothaarige an der Gegenfrage störte, ließ er es sich nicht anmerken. »Also, sieh es mal so. Ich trage das ganze Risiko. Falls einer von euch was durchsickern lässt, jemand mit einer Polizeimarke Wind davon bekommt und rumzuschnüffeln beginnt, dann wird er die Tasche bei mir finden.«
Den anderen drei war nicht entgangen, wie er das Wort Polizeimarke betont hatte. Sie fixierten den selbst ernannten Hüter des Geldes mit zutiefst misstrauischen Blicken, aber keiner widersprach. Der Jüngste zog wieder eine Schulter hoch, was der Rothaarige als Zustimmung nahm.
»Auch nachdem ihr euren Anteil bekommen habt«, fuhr er fort, »dürft ihr auf keinen Fall mit Geld um euch werfen. Keine neuen Autos, nichts Auffälliges, nichts …«
Wieder wurde ihm das Wort abgeschnitten, diesmal hörbar gehässig. »Glaub mir, wir können gut auf deine Belehrungen verzichten.«
»Kein Grund, gleich biestig zu werden. Was ich euch sage, gilt genauso für mich selbst.« Das besänftigende Lächeln, das der Rothaarige dazu aufsetzte, spiegelte sich nicht in seinen Augen, die das fahle Mondlicht reflektierten wie zwei geschliffene Rasierklingen. Dann wandte er sich an den Nagelkauer, dem allmählich die noch nicht angenagten Finger ausgingen. »Was ist mit dir?«
»Nichts.«
»Dann hör auf, so herumzuzappeln. Du ziehst die Blicke auf dich wie mit eine Neonpfeil-Reklame.«
Das älteste Mitglied ihrer Bande pflichtete ihm bei. »Er hat recht. Wenn du weiterhin so hibbelig bist, kannst du gleich zur Polizei rennen.«
Der Nagelkauer nahm die Hand vom Mund. »Ich schaffe das schon.« Sein Adamsapfel hüpfte unter einem schweren Schlucken. »Es ist nur … ihr wisst schon.« Er sah auf die Tasche. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir das wirklich getan haben.«
»Haben wir aber«, sagte der Rothaarige. »Und wenn du am Montagmorgen zur Arbeit erscheinst und erzählt bekommst, dass übers Wochenende der Safe ausgeräumt wurde, wirst du genauso schockiert reagieren wie alle andere. Aber ohne ein Drama daraus zu machen«, mahnte er und hob dabei bekräftigend den Zeigefinger. »Ein ehrfürchtiges ›heilige Scheiße‹ reicht schon. Irgendwas in der Art, um zu zeigen, dass du das kaum glauben kannst, und danach hältst du die Klappe. Du tust nichts, womit du Aufmerksamkeit auf dich ziehen könntest, und schon gar nicht, wenn die Detectives die Angestellten befragen, was sie mit Sicherheit tun werden. Wenn du an der Reihe bist, bist du ahnungslos und harmlos. Kapiert?«
»Klar.«
»Kapiert?«,bohrte eine zweite Stimme nach.
»Sicher. Ich weiß, was ich zu tun habe.« Aber noch während er seine Rolle gut zu spielen versprach, wischte er beide Handflächen an den Hosenbeinen ab, eine Geste, die auf die anderen drei nicht eben vertrauenerweckend wirkte.
Der Rothaarige seufzte. »Jesus.«
Der Nervöse versicherte den anderen eilig: »Macht euch meinetwegen keine Sorgen. Ich habe meinen Teil getan und tue das auch weiterhin. Ich bin nur ein bisschen flatterig. Hier so im Freien zu hocken.« Er schwenkte den Arm über die Weide und die verlassene Landstraße. »Warum haben wir überhaupt hier angehalten?«
»Weil ich der Meinung war, wir sollten eine Übereinkunft schließen«, sagte der Rothaarige.
»Und das haben wir.« Das älteste Mitglied kletterte die Böschung hinauf und warf dem Nervösen einen warnenden Blick zu. »Bau bloß keinen Mist.«
»Tue ich nicht. Bis Montag bin ich wieder ganz der Alte.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und lächelte zittrig. »Und in sechs Monaten haben wir für alle Zeiten ausgesorgt.«
Gemeinsam kletterten sie aus dem Graben, doch die optimistische Vorhersage sollte nicht eintreffen.
Schon am nächsten Morgen war ihr Plan Makulatur.
Einer von ihnen war im Krankenhaus.
Einer im Gefängnis.
Einer im Leichenschauhaus.
Und einer mit der Beute durchgebrannt.
»Mein Gott, Arden. Ich hatte ja erwartet, dass es heruntergekommen ist, aber …«
Lisa schauderte entsetzt, als sie durch die Hintertür in die Küche trat und sah, wie Arden in den letzten fünf Monaten gelebt hatte.
Arden folgte ihrer Schwester ins Haus und zog einen Stuhl unter dem Esstisch hervor. Der Tischplatte war nicht anzusehen, dass sie erst vor Kurzem poliert worden war, stellte Arden fest, während sie sich setzte. Vor dem gestrigen Tag hatte sie sich über die vielen Kratzer und Kerben geärgert. Heute konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie irgendwie von Bedeutung sein könnten.
Lisa redete immer noch, und Arden hörte wieder zu.
»Hast du den Ofen auf Gaslecks prüfen lassen? Das könnte sonst gefährlich werden. Gibt es einen funktionierenden Rauch- oder Feuermelder?«
»So etwas nennt man Vorwehen. Als wollte Ihr Körper schon zu üben beginnen. Aber die werden Sie erst in etwa einem Monat spüren. Und auch dann ist das kein Grund zur Aufregung.«
Das hatte ihr die Frauenärztin bei der letzten Vorsorgeuntersuchung erklärt.
Aber das gestern waren keine Vorwehen gewesen. Es war keineswegs nur eine Übung ihres Körpers gewesen, und in der Obstabteilung des Supermarkts hatte helle Aufregung geherrscht.
Angestrengt lenkte sie ihre Gedanken davon weg und auf Lisa, die in der Küchenmitte stand, mit angezogenen Ellbogen, als hätte sie Angst, sie könnte eine kontaminierte Oberfläche berühren.
»Du hast mir erzählt, dass du nur ein paar Zimmer im Erdgeschoss bewohnst. Was ist dadrin?«
Lisa trat an die offene Tür und schaute durch das Speisezimmer in das Wohnzimmer dahinter. Zwei Jahrzehnte zuvor waren alle Möbel daraus entfernt worden, abgesehen von dem Klavier, das immer noch an seinem angestammten Platz stand. Arden war überrascht gewesen, als sie es hier entdeckt hatte, aber wahrscheinlich stand es aus genau dem Grund noch hier, aus dem Lisa es nicht mitgenommen hatte, als sie ausgezogen waren. Wie soll man ein solch klobiges Musikinstrument auch fortschaffen?
»Die Zimmer oben sind genauso leer, nehme ich an«, bemerkte Lisa. »Sieht nicht so aus, als wärst du auch nur einmal hier drin gewesen.« Sie schaute kurz die Treppe hinauf und drehte sich dann wieder der Küche zu. »Und wo schläfst du?«
Arden nickte zu dem kleinen Zimmer hin, das von der Küche abging. Lisa stieß mit dem Fingerknöchel die halb offene Tür auf.
Es war ein rechteckiger, nichtssagender Raum mit einem rechteckigen, nichtssagenden Fenster. Ihre Mutter Marjory hatte ihn damals als Lagerraum genutzt, für Weihnachtsdekorationen, Sachen für die Altkleidersammlung, die selten gebrauchten Golfschläger ihres Mannes, eine tragbare Nähmaschine und Ähnliches.
Bei ihrem Einzug hatte Arden beschlossen, ihr provisorisches Schlafzimmer lieber dort einzurichten, als in ihrem alten Zimmer im Obergeschoss zu schlafen, denn auf diese Weise musste sie während der fortschreitenden Schwangerschaft nicht ständig die Treppe hinauf und hinunter.
Dieses Thema hatte sich erledigt.
Als der erste Schmerz sie durchschoss, ließ Arden den Apfel fallen, den sie gerade in die Hand genommen hatte, und breitete die Hände über den gedehnten Bauch. Die scharfe, unerwartete Kontraktion verschlug ihr kurz den Atem, doch dann stieß sie einen Angstschrei aus.
»Was ist denn, Liebes?«
Sie wandte sich der besorgten Stimme zu. Sie registrierte ein nettes, von grauen Haaren eingerahmtes Gesicht, eine weiß-blau gestreifte Bluse und gütige Augen. Dann durchschoss sie der nächste Schmerz, noch schlimmer als der erste. Ihre Knie knickten ein.
»Ach du meine Güte. Ihre Fruchtblase ist geplatzt. Sie haben Wehen.«
»Nein! Das ist unmöglich. Es ist noch zu früh!«
»Wie weit sind Sie?«
»Es ist noch zu früh!« Ihre Stimme wurde schrill. »Rufen Sie einen Rettungswagen. Bitte!«
Lisa kommentierte währenddessen ihr freudloses Schlafzimmer. »Ich verstehe beim besten Willen nicht, warum du unbedingt zurückkommen wolltest und so leben willst.«
Arden hatte das Zimmer mit einem Doppelbett, einem Nachttisch mit Lampe und einer Kommode ausgestattet, die sie während der letzten zwei Tage aufgebaut hatte. Sie musste daran denken, wie stolz sie sich danach gefühlt hatte und wie sie sich ausgemalt hatte, bald auch eine Wiege zusammenzuschrauben.
Im Spiegel, den Arden über der Kommode aufgehängt hatte, zeigte sich Lisas fassungslose Miene; dann drehte sich ihre Schwester um, schüttelte langsam den Kopf und studierte Arden wie ein nicht zu entzifferndes uraltes Manuskript.
»Hast du irgendwas zu trinken hier?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, kehrte Lisa in die Küche zurück und schaute in den Kühlschrank. »Gut. Cola light. Oder hättest du lieber was anderes? Funktioniert die Eiswürfelmaschine?«
Arden versuchte, mit Lisas forschem Gedankengang Schritt zu halten, aber die lebhaften Erinnerungen hielten ihren Geist gefangen.
»Sie schaffen das schon. Legen Sie sich hin. Atmen Sie tief durch.«
Eine junge Frau im Yoga-Outfit hatte auf den Hilferuf der alten Dame reagiert. Sie half Arden, sich auf den Boden zu setzen, und bettete sie in die ausgebreiteten Arme eines weiteren Fremden, der hinter ihr Position bezogen hatte. Die junge Frau ging neben ihr in die Hocke und sprach beruhigend und besänftigend auf sie ein. Aber nichts, was sie sagte, konnte etwas ausrichten – weder gegen die Schmerzen, die Arden peinigten, noch gegen die genauso peinigende Verzweiflung.
Verzweifelt schob Arden die Hände zwischen ihre Schenkel, um das Leben festzuhalten, das ihr Körper auszutreiben versuchte.
Lisa fand die Gläser in dem Küchenschrank, in dem sie schon immer gestanden hatten, und schenkte zwei davon voll. Sie brachte sie an den Tisch und setzte sich Arden gegenüber.
Sie nahm einen Schluck, beugte sich dann vor und deckte Ardens Hand mit ihrer zu. »Schwesterherz.«
Lisa flüsterte den Kosenamen voller Zuneigung, Fürsorge und Besorgnis. Alles davon empfand sie wirklich, das wusste Arden. Lisa ärgerte sich zwar über Ardens Lebensführung, vor allem aber war sie einfach nur fassungslos.
»Seit du mich gestern angerufen hast, hatte ich keine ruhige Sekunde mehr. Ich weiß nicht, wie viel dir vom gestrigen Abend im Gedächtnis geblieben ist, aber als ich ins Krankenhaus kam, warst du abwechselnd hysterisch und im nächsten Moment halb im Koma. Ich war völlig überfordert. Und als ich dich heute Morgen abholen wollte …«
»Wie heißen Sie?«
Der Notarzt hatte den Platz der Frau im Yoga-Outfit eingenommen und beugte sich jetzt über sie. Er war jung und hatte ein freundliches Gesicht.
»Arden Maxwell.«
»Arden, wir kümmern uns um Sie, okay? Wie weit sind Sie?«
»In der dreiundzwanzigsten Woche.«
Sein Partner, der wie ein Profi-Bodybuilder aussah, maß ihren Puls und Blutdruck. Die beiden baten die Umstehenden zurückzutreten, dann hoben sie Arden auf die Trage und rollten sie aus dem Supermarkt.
Die Mittagssonne stand direkt über ihnen. Arden war praktisch blind. Ihr Blickfeld verschwamm.
Jetzt tupfte sie sich die Tränen aus den Augen.
Offenbar hatte Lisa es gemerkt, denn sie hörte auf, all die Hürden aufzuzählen, die sich vor Ardens Entlassung aus dem Krankenhaus aufgetürmt hatten. »Eigentlich will ich nur sagen, dass ich bis jetzt gar keine Gelegenheit hatte, dir zu versichern, wie leid mir das alles tut. Wie schrecklich leid, Arden.« Sie streichelte Ardens Hand.
Erneut schossen Arden Tränen in die Augen. Sie schaute in ihr noch unberührtes Glas, in dem die Bläschen der Oberfläche entgegeneilten, nur um dort zu zerplatzen. So vital und lebendig und im nächsten Moment ausgelöscht.
Im Rettungswagen wurde ihr die Jeans vom Leib geschnitten. Sie wurde zugedeckt. Als der jung aussehende Notarzt sie untersuchte, legte sich seine glatte Stirn in Falten.
Sie wollte sich aufrichten, wollte sehen, warum er so konsterniert blickte, aber der Bodybuilder drückte sie an den Schultern freundlich, aber energisch auf die Trage zurück.
»Meine Tochter kommt doch durch, oder?« Arden schluchzte. »Bitte. Sagen Sie mir, dass sie durchkommt.«
Doch wenn sie sich jetzt daran erinnerte, meinte sie schon in diesem Moment instinktiv und tief im Herzen gespürt zu haben, dass ihr Baby nie einen Atemzug tun würde.
»Wahrscheinlich wirst du es nicht glauben«, fuhr Lisa fort und massierte mit dem Daumen Ardens Fingerknöchel. »Aber ich habe dich dafür bewundert, dass du dich entschieden hattest, das Baby zu bekommen. Versteh mich nicht falsch. Ich war entsetzt, als du mir von dem Kind und von deinen Plänen erzählt hast. Hierher zurückzukehren und es allein großzuziehen? Ausgerechnet hier?«
Sie sah sich um, als hoffte sie, auf der ausgeblichenen Tapete eine Erklärung für das Unerklärliche zu finden. »Das ist purer Masochismus. Hat diese Art von Selbstbestrafung etwas mit dem Vater des Babys zu tun?«
Arden griff nach ihrem Glas und versuchte, es ruhig zu halten, während sie einen Schluck Cola nahm. Das Glas klickerte gegen ihre unteren Schneidezähne. Sie stellte es wieder ab.
»Ist er verheiratet?«, fragte Lisa leise.
Arden senkte den Blick.
Lisa seufzte. »Dachte ich mir. Wusste er überhaupt, dass du schwanger warst?«
Sie nahm Ardens Schweigen als Nein.
»Auch gut«, sagte Lisa. »Dann brauchst du es ihm auch nicht zu erzählen. Wenn er nichts von dem Kind wusste, braucht er auch nicht zu wissen, was daraus wurde. Diese Episode liegt hinter dir. Du kannst von vorn anfangen. Völlig unbelastet.« Wieder legte sie ihre Hand auf Ardens und drückte sie liebevoll. »Zuallererst müssen wir dich von hier wegbringen. Ich möchte, dass du bei mir einziehst, bis du dir überlegt hast, was du mit deinem Leben anstellen willst.« Sie wartete stumm auf Ardens Antwort und erklärte, als keine kam: »Seit Wallaces Tod fühlt sich das Haus so leer an.«
Lisas Mann war deutlich älter gewesen als sie und vor zwei Jahren gestorben. Zweifellos fühlte sich das riesige, weitläufige Haus in einem Nobelviertel von Dallas leer an.
»Ich lasse dir natürlich so viel Privatsphäre, wie du dir wünschst, aber Helena wird sich schrecklich freuen, wenn sie dich umsorgen kann. Sie und ich werden dich verwöhnen, bis du dich vollkommen erholt hast.« Sie lächelte und tätschelte noch einmal Ardens Hand, dann sah sie auf ihre Uhr.
»Du hast bestimmt nicht viel zu packen. Wenn wir bald losfahren, sind wir gegen Abend zu Hause. Helena wird das Essen schon fertig haben.« Sie wollte aus ihrem Stuhl aufstehen, hielt aber noch einmal inne. »Und du stehst nicht unter Zeitdruck, Arden. Denk alles in Ruhe durch. Und wenn du einen Plan gefasst hast, dann überdenke ihn gründlich, bevor du handelst. Überstürz nichts. Ganz ehrlich, ich hatte schon kein gutes Gefühl, als du damals nach Houston gezogen bist, und bis eben wusste ich noch nicht mal, dass du eine Beziehung mit einem verheirateten Mann hattest. Gut, der Job klang vielversprechend, aber dass du alle Zelte abbrichst und umziehst, erschien mir von Anfang an überstürzt und wie eine Totgeburt.«
Die Ärztin in der Notaufnahme drückte ihre Hand. »Es tut mir so leid, Miss Maxwell.«
»Nein!«
»Ihre Tochter hat es nicht geschafft.«
»Nein!«
»Geben Sie sich nicht selbst die Schuld. Sie können absolut nichts dafür. Die Natur wollte es so.«
Von Anfang an eine Totgeburt.
Arden hatte das Gefühl, ihre Brust würde gleich platzen. Sie schob ihren Stuhl zurück und trat ans Spülbecken. Dann öffnete sie die Jalousie vor dem Fenster darüber und blickte in den Garten, in dem Lisa und sie gespielt hatten.
Im Zaun fehlten Latten. Der Rasen war von Unkraut überwuchert. Das Rosenbeet, das ihre Mutter so liebevoll gehegt und gepflegt hatte, war nur noch ein unfruchtbarer Fleck Erde.
Sie spürte, dass Lisa hinter sie trat, noch ehe ihre Schwester die Arme um ihre Taille schlang und das Kinn auf Ardens Schulter legte, um mit ihr den Blick aus dem Fenster zu teilen. »Ich weiß noch, wie Dad damals die Schaukel für dich nach Hause gebracht hat.«
Sie war immer noch mit Betonfundamenten im Boden verankert, aber inzwischen war sie verrostet, und an einer der Schaukeln war die Kette gerissen.
»Ich war damals zwölf, also musst du zwei gewesen sein. Du hattest deinen eigenen Schaukelsitz mit einer Stange vor dem Bauch.« Lisa drückte mit dem Kinn gegen Ardens Schultergelenk. »Du warst zu jung, um dich daran zu erinnern, aber dafür weißt du bestimmt noch, wie ich dir den Felgaufschwung beigebracht habe.«
Lisa war damals schon fast zu groß für die Schaukel gewesen, aber athletisch genug, um Arden zu demonstrieren, wie leicht ein Felgaufschwung war. Sie hatte Arden bei ihren ersten ängstlichen Versuchen unterstützt und sie dann ermuntert, es allein zu probieren.
Mit schwitzigen Händen hatte Arden sich an der Stange abgestützt, tief durchgeatmet und sich dann nach vorn abrollen lassen. Aber sie hatte keine ganze Umdrehung geschafft. Ihre Hände waren abgerutscht, und sie war unsanft auf dem Hintern gelandet.
Sie hatte gegen ihre Tränen ankämpfen müssen, denn der verletzte Stolz hatte mindestens so geschmerzt wie ihr Gesäß. Doch Lisa hatte sie gedrängt, es noch mal zu probieren.
»Morgen«, hatte Arden gejammert.
»Nein. Jetzt.«
Beim zweiten Versuch hatte sie es geschafft. Lisa hatte sie in ihrer Umarmung fast erdrückt. Jetzt musste sie daran denken, wie viel ihr Lisas Lob und ihre Umarmung damals bedeutet hatten.
Die Familie hatte Ardens Großtat mit einem Besuch in einem Restaurant ihrer Wahl gefeiert: natürlich McDonald’s.
Es war ein glücklicher Tag gewesen, eines der letzten glücklichen Familienerlebnisse, an die sich Arden erinnerte. Nur wenige Monate danach war ihre Mutter tödlich verunglückt.
Aber dieser Verlust war nicht so plötzlich und unerwartet gekommen wie das Verschwinden ihres Vaters.
Seit vergangenen März war es zwanzig Jahre her, dass Joe Maxwell seine beiden Töchter verlassen hatte und nie wieder gesehen ward – doppelt so viele, wie Arden damals alt gewesen war. Sein unerklärtes Verschwinden war der Wende- und Angelpunkt, um den sich ihr Leben seither drehte.
Es nutzte nichts, darüber zu spekulieren, was aus Lisa und ihr geworden wäre und welche Zukunft ihnen offengestanden hätte, wenn er sie nicht im Stich gelassen hätte. Er hatte es getan.
Leise und mitfühlend sagte Lisa: »Du hast Schreckliches durchgemacht, und ich will dich nicht unter Druck setzen, weil du gerade so verletzlich bist. Aber hier wirst du dich bestimmt nicht erholen, Arden. Glaub mir, hier nicht. Du warst damals noch klein. Du kannst nicht wirklich erfassen, wie schlimm es nach Mutters Tod war. Oder vielleicht kannst du es und hast es nur aus deiner Erinnerung gestrichen. Ich nicht. Ich weiß es noch wie heute. Als Dad verschwand und ich mit dir aus dieser Stadt wegzog, schwor ich, dass wir nie zurückkehren würden. Die Menschen, die damals schon hier lebten, erinnern sich bestimmt noch an uns. Willst du, dass alle über dich reden und herziehen? Ganz zu schweigen davon, dass dieses Haus im wahrsten Sinn des Wortes über dir zusammenbricht.« Sie fuhr mit dem Finger über eine Macke im Kunststofffurnier der Küchentheke.
»Ich habe oft mit dem Gedanken gespielt, alles hier zu verkaufen, doch jedes Mal wurde ich sentimental, weil ich dann vor mir sah, wie Mutter in dieser Küche kochte oder summend die Wäsche zusammenlegte, und jedes Mal brach mir dabei das Herz. Das hätte die endgültige Trennung von ihr bedeutet, dabei hätten wir das Geld weiß Gott brauchen können. Außerdem gehört das Haus auch dir. Es zu verkaufen wollte ich ungern für uns beide entscheiden.«
Sie holte tief Luft. »Aber jetzt wünschte ich, ich hätte es abgestoßen, denn das hätte dich vor dem schrecklichen Fehler bewahrt, hierher zurückzuziehen. Du gaukelst dir vor, dieses Haus wäre dein Heim. Das ist es nicht. Das ist es seit zwanzig Jahren nicht mehr, und ohne dein Kind wird es auch nie dein Heim werden. Du hast niemanden mehr außer mir. Ich werde für dich sorgen, bis du entschieden hast, was du aus deinem Leben machen willst.«
Sie schloss Arden schnell und fest in die Arme und drückte sie kurz, bevor sie sich wieder löste.
Arden drehte sich zu ihr um. Sie gab ihrer Schwester einen Kuss auf die Wange, krümmte den kleinen Finger, und Lisa hakte ihren ein. Nachdem ihr Vater sie verlassen hatte, war das zu ihrem Ritual geworden. Das symbolisierte, dass sie nur einander hatten und dass ihr Band niemals reißen würde.
Die Finger ineinander gehakt, lächelten sie sich wehmütig an, dann zog Arden ihre Hand zurück. »Bist du jetzt fertig, Lisa?«
»Fertig?«
»Fertig damit, mir zu erzählen, wo ich wohnen und was ich mit meinem Leben anstellen soll? Wenn du damit durch bist, dann geh bitte.« Sie holte Luft, um sich Mut zu machen. »Und wenn nicht, dann geh trotzdem.«
Arden lag immer noch wach, als sie den Wagen auf der Straße hörte.
Sie schaute auf die Nachttischuhr. Es war kurz nach ein Uhr morgens. Heute Nacht war er später dran als sonst.
Als sie erfahren hatte, dass sie schwanger war, hatte sie auf der Stelle Pläne geschmiedet, Houston zu verlassen. Innerhalb einer Woche hatte sie ihren Job aufgegeben, ihre Wohnung gekündigt, ihr Apartment ausgeräumt und den Umzug in ihre Heimatstadt in Angriff genommen.
Penton war zwar Verwaltungssitz eines Countys, aber das County war ländlich, und so war der Hauptort klein und die Gerüchteküche aktiv. Jeder, der mit der Familiengeschichte der Maxwells vertraut war, wollte natürlich wissen, wer in das Haus gezogen war, das so lange leer gestanden hatte, und schon nach kurzer Zeit hatte sich herumgesprochen, wer die neue Bewohnerin war.
Sie hatte sich inzwischen daran gewöhnt, dass Autos abbremsten und langsam am Haus vorbeirollten.
Tagsüber waren ihr die Gaffer egal.
Aber ein Wagen kam nachts. Jede Nacht. Inzwischen erkannte sie ihn am Motorengeräusch. Sie merkte, dass sie schon darauf wartete. Allzu oft schlief sie erst ein, nachdem der oder die Unbekannte vorbeigefahren war. Es war nicht die Art von Einschlafritual, die sie sich gewünscht hatte. Es fühlte sich nicht nach einem Gutenachtgruß an.
Natürlich hatte sie kein Wort darüber zu Lisa gesagt, die von Anfang an prophezeit hatte, dass all die Gerüchte, Verdächtigungen und Spekulationen rund um ihren Vater und die angeblich von ihm begangenen Verbrechen wieder aufleben würden, falls Arden nach Penton zog.
Wie üblich hatte Lisa recht behalten, aber Arden hatte das starke Gefühl, dass dieser spezielle Zaungast nicht nur von Neugier und der Hoffnung auf einen Blick auf die jüngste Tochter des verrufenen Joe Maxwell getrieben wurde. Diese nächtlichen Runden hatten etwas Raubtierhaftes, bei dem ihr mulmig wurde.
Doch hatte sie nicht erst heute beschlossen, dass sie sich nicht mehr einschüchtern lassen würde?
Sie warf die Decke zurück, stand auf und ging zum Fenster, blieb aber hinter der Wand stehen, sodass sie nicht gesehen werden konnte. Es erschien nur vernünftig, den Menschen im Wagen nicht wissen zu lassen, dass sie ihn bemerkt hatte.
Das Haus stand zu weit von der Straße weg, sodass sie nicht mehr als nur die Scheinwerfer ausmachen konnte. Als der Wagen auf einer Höhe mit dem Haus war, bremste er auf Schritttempo ab, rollte wie jeden Abend vorüber und beschleunigte, sobald er am Haus vorbei war.
Während sie den Heckleuchten nachsah, bis sie hinter der nächsten Kurve aus ihrem Blickfeld verschwanden, sagte sie sich, dass ihre Fantasie womöglich etwas ganz Harmloses zu etwas Unheilvollem aufbauschte. Dieser schnurrende Motor konnte auch jemandem gehören, der nach der Spätschicht auf dem Heimweg war.
Aber sie wusste von keinem Betrieb hier draußen, und in welchem Job musste man sieben Tage die Woche arbeiten? Der Wagen fuhr auch am Wochenende vorbei. Seit Monaten hatte er nicht eine Nacht ausgesetzt.
Dieser feste Rhythmus hatte etwas Zwanghaftes und Unheimliches.
Sie versuchte, ihr Unbehagen abzuschütteln, sagte sich, dass sie albern reagierte, und legte sich wieder ins Bett. Aber die in ihrem Kopf kreisenden Gedanken hielten sie wach.
Lisa war nicht still und leise abgezogen.
Nachdem Arden ihre »Unabhängigkeitserklärung« ausgesprochen hatte, hatte ihre Schwester eine halbe Stunde auf sie eingeredet. »Wenn Wallace noch am Leben wäre, wäre er meiner Meinung.«
Arden bezweifelte das nicht. Sie hatte ihren Schwager gemocht, der ihr ein guter Ersatzvater – oder eher Ersatzgroßvater – gewesen war. Als erfolgreicher Immobilienunternehmer hatte der ausgeglichene Wallace regelmäßig Deals ausgehandelt, bei denen beide Seiten das Gefühl hatten, gut abgeschlossen zu haben. Er hatte bei zahlreichen Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden Schwestern vermittelt, aber um den ehelichen Frieden zu wahren, hatte er dabei meist für Lisa Partei ergriffen.
Doch selbst nachdem Lisa seinen Namen heraufbeschworen hatte, hatte Arden ihren Entschluss verteidigt, bis Lisa schließlich nichts anderes übriggeblieben war, als nachzugeben. Im Gehen hatte sie noch gesagt: »Ich will nur, dass du glücklich wirst, Arden.«
»Das will ich auch.«
Als sie jetzt im Dunkeln lag und an die Decke starrte, musste sie ihrer Schwester in einem Punkt recht geben: Seit sie erwachsen war, hatte sie sich die meiste Zeit abgestrampelt, ohne wirklich vom Fleck zu kommen. Sie hatte ihren Weg noch nicht gefunden. Sie war orientierungslos und ziellos gewesen.
In einem Reflex strich sie über ihren Bauch und sehnte sich nach dem kleinen Hügel zurück, der so wunderbar neu gewesen war und doch so schnell unglaublich vertraut geworden war.
Das Baby hatte ihrem Leben Sinn gegeben.
»Und jetzt …«, flüsterte sie.
Traurigkeit überschwemmte sie, aber sie ließ sie nicht einsickern. Sie durfte nicht zulassen, dass sich ihr Geist, ihr Herz auf das verlorene Kind konzentrierte. Sonst würde die Trauer sie lähmen.
Sie musste an ihrem ursprünglichen Plan festhalten. Und genau wie damals beim Felgaufschwung musste sie ihn sofort und aus eigener Kraft angehen.
Ihr Körper mochte erschöpft sein, doch ihr Geist arbeitete unermüdlich weiter daran, einen Plan für das zwanzig Jahre vernachlässigte Haus zu entwerfen.
Bis zu ihrem Todestag würde sie die Tochter betrauern, die sie verloren hatte, aber gleichzeitig hatte sie das dringende Gefühl, handeln, zur Tat schreiten, leben zu müssen, bevor es zu spät war.
Der letzte Gedanke ließ sie stutzen.
Zu spät wofür?
Der Name L. Burnet stand in Schablonenbuchstaben auf dem Blechbriefkasten am Anfang einer geschotterten Zufahrt. Die Straße hierher war schmal, kurvig und voller Schlaglöcher gewesen, doch endlich hatte Arden ihr Ziel erreicht.
Bis zu diesem Punkt waren die zwei Monate seit ihrer Fehlgeburt sowohl anstrengend als auch entmutigend unproduktiv gewesen. Sie hoffte, dass dieser Besuch bei L. Burnet das ändern würde.
Sie bog in die Zufahrt, hielt hinter einem Pick-up mit Zwillingshinterreifen und betrachtete bei laufendem Motor das Haus. Der Bayou-Baustil war naheliegend, da die Staatsgrenze zu Louisiana quer durch den Caddo Lake verlief und der See in Rufweite lag.
Das einstöckige weiße Holzhaus hatte dunkelgrüne Fensterläden und trug ein dazu passendes Blechdach. Es wirkte sehr gepflegt und ästhetisch ansprechend. Über die gesamte Front zog sich eine Veranda mit tiefem Dach. Auf der Veranda stand nichts als ein verwitterter Schaukelstuhl mit hohem Rücken und breiten Armlehnen. Die Bepflanzung beschränkte sich auf mehrere Blumentöpfe mit kleinen immergrünen Büschen, die am Rand der Veranda links und rechts neben einer Treppe aus recycelten Backsteinen standen.
Sie schaltete den Motor aus. Als sie ausstieg, bohrte sich von der Rückseite des Hauses her ein hohes Jaulen in ihr Ohr. Sie ging um den riesigen Pick-up herum und folgte einem Trampelpfad durchs Gras. Er führte sie links am Haus vorbei in den Hof, in dem hohe Kiefern standen.
Dort gab es ein ziemlich großes Nebengebäude mit weißem Anstrich und grünem Blechdach, passend zum Haus. Das Doppelgaragentor war hochgefahren. Sie ging an die Öffnung und schaute hinein. Das Kreischen kam von einer Handkreissäge. Der Mann stand mit dem Rücken zu ihr. Der Lärm schnitt ihr in die Gehörgänge.
»Verzeihung?«
Er ließ nicht erkennen, dass er sie gehört hatte, sondern blieb über die Werkbank gebeugt, auf der er geschickt eine Holzbohle in zwei Bretter zersägte.
Sie versuchte es lauter: »Mr. Burnet?«
Als er immer noch nicht reagierte, beschloss sie zu warten, bis er fertig war. Danach richtete er sich auf, begutachtete sein Werk und schaltete zu Ardens großer Erleichterung die Säge ab.
»Mr. Burnet?«
Er drehte sich um und schob seine Schutzbrille in die Stirn. Er reagierte zwar auf ihren Anblick, aber wie, war schwer einzuordnen, außerdem war seine Reaktion so flüchtig gewesen, dass sie ihr entgangen wäre, wenn sie auch nur geblinzelt hätte.
»Ich habe Sie hoffentlich nicht erschreckt. Ich habe gerufen, aber Sie haben mich über dem Lärm nicht gehört.«
Er sah ihr erst in die Augen, musterte sie dann nachdenklich und wandte sich wieder ab, um die Säge auf der Werkbank abzulegen. Schließlich zog er die Schutzbrille und seine Wildlederhandschuhe ab und legte alles neben die Säge, ehe er sich wieder umdrehte. »Ich habe Sie gehört.«
Sie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Warum hatte er nicht reagiert, wenn er sie gehört hatte?
»Ich heiße Arden Maxwell.« Sie ging auf ihn zu und streckte ihm die Hand hin.
Er schaute auf ihre Finger, als wäre ein Handschlag eine völlig neue Erfahrung für ihn, dann griff er nach einem ausgeblichenen roten Werkstattlumpen und wischte damit das Sägemehl von seinen Unterarmen, bevor er ihre Hand ergriff. Er schüttelte sie kurz, fast kühl. »Was kann ich für Sie tun?«
Sie lachte nervös. »Eine Menge, hoffe ich.«
Er erwiderte ihr Lächeln nicht, sondern zog stumm eine Braue hoch.
Und irgendwie verlieh das ihrer unschuldigen Bemerkung einen unbeabsichtigten Unterton. Sie beeilte sich zu erklären: »Ich habe Ihre Anzeige gesehen. Im Internet. Ich habe nach Bauunternehmern gegoogelt, und dabei bin ich auf Ihren Namen gestoßen.«
»M-hm.«
Mehr sagte er nicht, so als hätte er kein besonderes Interesse daran, sie als Kundin zu gewinnen. Sie ließ sich davon nicht beirren. »Ich habe gestern angerufen und eine Nachricht hinterlassen, dass Sie mich bitte zurückrufen sollen. Wahrscheinlich haben Sie die nicht abgehört.«
»Ich habe sie abgehört. Ich hatte zu tun.«
Sie sah an ihm vorbei auf das frisch gesägte Brett. »Ja, das sehe ich. Also, da ich sowieso etwas in der Stadt zu erledigen hatte, dachte ich, ich schaue auf gut Glück bei Ihnen vorbei, wo Ihr Haus praktisch auf dem Weg liegt.«
»Auf dem Weg?«
Sie lachte wieder nervös. »Einem sehrgewundenen Weg. Zugegeben, Sie wohnen ziemlich abgelegen, und fast hätte ich die Abzweigung verfehlt. Aber ich habe Sie gefunden.«
»Sie hatten Glück, dass ich hier war, sonst wären Sie umsonst so weit gefahren.«
»Ich halte das auch für einen Glücksfall, ja.«
»Also, jetzt sind Sie hier. Was brauchen Sie?«
»Ich plane einen Umbau, und zwar einen ziemlich umfangreichen. Das Projekt wird viel Zeit und sehr viel Arbeit erfordern.«
Er brauchte den Lumpen nicht mehr und warf ihn auf die Werkbank. »Wie viele Baufirmen haben Sie vor mir angerufen?«
Ertappt senkte sie den Blick. Dann begriff sie, dass sie ihm keine Erklärung schuldig war, und sah ihm wieder in die kobaltblauen Augen, die sie, ohne zu blinzeln, unter den abweisend zusammengezogenen Brauen fixierten. Er war jünger als das Bild, das sie sich im Geist von ihm gemacht hatte, aber sie schätzte, dass ihn die grauen Strähnen in den dunklen Haaren, die Augenfalten und der ernste Mund älter aussehen ließen, als er tatsächlich war.
Sein Körperbau war jedenfalls nicht der eines Mannes, der sich in seinen besten Jahren eingerichtet hatte. Sie sah keine Wampe über den Bund seiner Jeans hängen. Muskulöse Oberarme dehnten die kurzen Ärmel seines schwarzen T-Shirts. Er war groß und schlank und wirkte alles in allem zäh wie Stiefelleder und so verschmust wie eine Klapperschlange.
»Er war Soldat, wussten Sie das?«
»Nein, wusste ich nicht.«
»In Afghanistan. Und davor im Irak.«
»Er war im Kampfeinsatz?«
»O ja. Er hat einiges zu sehen bekommen. War vielleicht ein bisschen zu lang im Krieg, verstehen Sie? Aber er ist in Ordnung. Nicht gefährlich oder verrückt oder so.«
In der Anzeige hatte ein ehemaliger Kunde von Mr. Burnet seinen Namen und seine Telefonnummer als Referenz angegeben. Arden hatte ihn angerufen. Er hatte nicht nur Burnets handwerkliche Fähigkeiten und seine Zuverlässigkeit hervorgehoben, sondern auch ausgeplaudert, dass er beim Militär gewesen war.
Tatsächlich hatte sie nicht verstanden, was er mit seinem Kommentar gemeint hatte, dass Burnet zu lang im Krieg gewesen sei. Jetzt wünschte sie, sie hätte sich das ausführlicher erklären lassen.
Vielleicht hatte der Krieg L. Burnet so schweigsam und barsch werden lassen. Oder vielleicht war er schon immer so reserviert gewesen. Aber solange er den Auftrag übernahm, war es ihr egal, ob er ein einnehmendes Wesen hatte oder nicht. Sie stellte ihn nicht ein, damit er nett mit ihr plauderte.
Sein Blick war bohrend, aber sie entdeckte nichts Wahnsinniges darin. Ganz im Gegenteil. Sie erahnte Intelligenz, extreme Wachsamkeit und ein ausgeprägt scharfes Auge. Ihm würde kaum etwas entgehen, und dieser Gedanke verunsicherte sie kurz. Sie würde dennoch das Risiko eingehen und darauf setzen, dass er halbwegs berechenbar war.
Doch – und das war das entscheidende Argument – sprach vor allem für ihn, dass sie in den vergangenen beiden Monaten mit vielen Bauunternehmern gesprochen hatte und er der letzte Name auf ihrer Kandidatenliste war.
Dank des Treuhandfonds, den ihr verstorbener Schwager für sie eingerichtet hatte, konnte sie es sich leisten, jeden zu beauftragen. Doch aus Prinzip wollte sie dieses Projekt nur mit ihrem selbst verdienten Geld finanzieren, und damit war der Betrag, den sie ausgeben konnte, überschaubar.
Sie beantwortete seine Frage: »Ehrlich gesagt habe ich mit einigen gesprochen, die qualifiziert waren, Mr. Burnet.«
»Doch der Termin hat keinem gepasst?«
»Mein Budget hat keinem gepasst.«
»Also haben Sie bei mir angerufen.«
»Bitte nehmen Sie das nicht persönlich. In den Kommentaren im Netz stand, dass Sie gute Arbeit leisten, dass Sie zuverlässig sind und alleine arbeiten. Anfangs hielt ich das nicht für einen Vorteil.«
»Aber jetzt schon?«
»Ja. Ich dachte, vielleicht sind Sie der Richtige, gerade weil Sie keinen ganzen Bautrupp bezahlen müssen.«
Er lehnte sich mit dem Hintern an die Werkbank und hakte die Finger in die Taschen seiner Jeans. »Sie dachten, ich würde Sie billiger kommen.«
Diplomatisch war er definitiv nicht. Seine Körperhaltung war provokant, wenn nicht sogar streitlustig. Die Haltung seiner Hände war eine nicht allzu subtile Männlichkeitsgeste. Er schien es darauf anzulegen, Klartext zu reden. Na schön, zu allen genannten Punkten. »Also gut, es stimmt, Mr. Burnet. Ich dachte, Sie würden mich billiger kommen.«
»Das würde ich mit Sicherheit. Aber ich bin nicht der Mann für diesen Job.«
Sie lachte kurz. »Könnten Sie mich nicht wenigstens ausreden lassen, bevor Sie zu diesem Urteil kommen?«
»Zeitverschwendung.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ein ziemlich umfangreicher Umbau, der viel Zeit erfordern wird? Und sehr viel Arbeit? Für mich klingt das, als wollten Sie Ihr Haus komplett sanieren.«
»Mehr oder weniger.«
»Ich mache keine Komplettsanierungen.«
»Würden Sie wenigstens vorbeikommen und sich ein Bild machen …«
»Ich habe mir schon ein Bild gemacht.«
Ihr Herz setzte erschrocken einen Schlag aus. Sie hatte auf seiner Mailbox ihren Namen genannt, aber nicht die Adresse des Hauses. Sie dachte an das Fahrzeug, das jede Nacht an ihrem Haus vorbeifuhr. »Sie wissen, wo ich wohne?«
Sein kantiges Kinn nickte knapp.
Sie studierte ihn kurz und sagte dann langsam: »Als Sie sich umgedreht und mich hier stehen sahen, haben Sie mich wiedererkannt, nicht wahr?«
Ein weiteres barsches Nicken.
»Woher?«
»Jemand hat mich auf Sie aufmerksam gemacht.«
»Wo?«
»Ich glaube, im Fried Pie Shop.«
»Ich wusste nicht mal, dass es hier einen Fried Pie Shop gibt.«
»Hm. Mögen Sie keine gebackenen Obsttaschen? Dann muss es wohl woanders gewesen sein.«
»Warum hat man Sie auf mich aufmerksam gemacht?«
Er zog die Daumen aus den Taschen, löste sich von der Werkbank und schaute sekundenlang an ihr vorbei, ehe er sie wieder ansah. »Sie sind die Lady, die den … Notfall … im Supermarkt hatte.«
Ihr Atem stockte, und sie trat instinktiv einen Schritt zurück. »Oh.«
Augenblicklich umschwärmten sie die dunklen Erinnerungen, machten sie blind und taub gegenüber ihrer Umgebung. Ihr Geist spulte die Bilder in rasender Geschwindigkeit ab und gleichzeitig in solcher Klarheit, als wäre alles gestern und nicht vor zwei Monaten passiert.
Sie erinnerte sich an die rumpelnde Fahrt im Krankenwagen zur Notaufnahme, an die maschinengewehrschnellen Fragen während der medizinischen Aufnahme, an den alles durchdringenden antiseptischen Geruch, die beißende Kälte der eisernen Fußhalterungen unter ihren nackten Waden, die freundliche Stimme der Krankenschwester, die sie fragte, ob sie ihre Tochter in den Arm nehmen wollte. Ihre leblose Tochter.
Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie dort stand und sich in ihren Erinnerungen verlor, aber als das Kaleidoskop sich langsam wieder auflöste, merkte sie, dass sie in sich zusammengesunken war und sich an ihren Ellbogen festhielt. Ihre Haut war klamm. Unsicher richtete sie sich auf und wischte mit dem Handrücken eine Strähne aus ihrer schwitzigen Stirn.
Sie spürte unangenehm seine Nähe, reglos und stumm stand er vor ihr und beobachtete sie. Um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen, schaute sie sich um und inspizierte die Werkstatt. Neonleuchten verstärkten das natürliche Licht, das durch vier Dachluken hereinfiel. Zwei Deckenventilatoren, groß wie Flugzeugpropeller, kreisten am Ende langer Befestigungsstangen. Sie konnte ein paar typische Werkzeuge identifizieren, andere Geräte und Maschinen hingegen waren ihr völlig unbekannt.
In der hinteren Ecke stand ein großer Zeichentisch. Darüber hing eine Lampe mit perforiertem Metallschirm. Direkt daneben stand ein Schreibtisch mit Computer. Bis auf das Sägemehl unter der Werkbank, an der er gearbeitet hatte, war die Werkstatt aufgeräumt und gepflegt.
Schließlich blickte sie ihn wieder an.
Er verlagerte dezent das Gewicht, wobei die Stiefelsohlen über den Boden scharrten und Sägemehl aufwirbelten. »Tut mir leid wegen …«
Er deutete vage und unauffällig in Richtung ihres Bauches.
»Danke.« Sie wollte das Thema wechseln. »Darum haben Sie meinen Namen wiedererkannt, als Sie gestern die Mailbox abhörten.«
»Genau. Seit Monaten gingen Gerüchte um, dass die jüngste Maxwell-Tochter wieder im Ort sei. Dass sie ganz allein da draußen wohnen würde. Und dass sie ein Baby erwarte.«
Seit sie zurückgekehrt war, hatte sie sich bisher noch nie dem Gerede über ihre Rückkehr stellen müssen. »Wissen Sie auch alles andere?«
»Wer oder wo der Vater des Kindes ist, weiß ich nicht.«
Sie ignorierte die implizierte Frage. »Sind Sie vertraut mit der Geschichte meiner Familie?«
»Ich bin hier groß geworden.« Er sagte das so, als würde das alles erklären, und das tat es auch. Jeder kannte ihre Familiengeschichte.
»Haben Sie je erfahren, wo Ihr Dad hin ist, was aus ihm wurde?«, fragte er. »Ist das Geld je aufgetaucht?«
Sie beantwortete diese Fragen genauso wenig. »Wären Sie bereit, mit mir über mein Projekt zu sprechen, Mr. Burnet?«
»Sie kennen meine Antwort. Reine Zeitverschwendung.«
»Sie ziehen es nicht einmal in Erwägung?«
»Ich weiß nicht, wie ich es noch deutlicher ausdrücken soll.«
»Haben Sie Angst, dass Ihr Ruf Schaden nehmen könnte, wenn Sie für die jüngste Maxwell-Tochter arbeiten?«
Der strenge Mundwinkel zuckte kurz hoch, doch als Lächeln konnte man das nicht zählen. »Mein Ruf ist schon beschädigt. Aber Ihr Projekt bedeutet mehr Arbeit, als ich annehmen kann. Ich habe mich auf Kleinaufträge spezialisiert. Kurzfristige Arbeiten. Auf diese Weise bin ich nicht zu fest und zu lang gebunden. Ich mag es nicht, wenn ich gebunden bin. Ich bleibe lieber flexibel.«
Sie verschränkte die Arme und betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. »Das hört sich nach Bullshit an.«
»Ist es auch.«
Als das Baseballspiel im zehnten Inning durch einen Tiebreak entschieden wurde, hatte sich das Gedränge in Burnet’s Bar and Billiards bereits gelichtet. Es waren nur noch wenige Gäste in der beliebten Tränke am Seeufer, die scheinbar jeden Augenblick in die dunklen Wasser des Caddo Lake abzukippen drohte. Doch nachdem sie in den vierzig Jahren, die sie mittlerweile hier stand, noch nicht von ihren Pfählen gerutscht war, machte sich diesbezüglich niemand mehr große Sorgen.
Von den acht Pooltischen war im Augenblick nur einer besetzt. Eine heiß umkämpfte Partie unter einer Gruppe lautstarker Jugendlicher neigte sich dem Ende zu.
An einem schummrigen, abgeschiedenen Tisch saßen ein Mann und eine Frau, die sich in der vergangenen Stunde leise, aber hitzig gestritten hatten. Nachdem sie sich offenbar auf eine brüchige Waffenruhe geeinigt hatten, verließen sie ihren Tisch und gingen zum Ausgang. Die Frau stolzierte vor dem Mann her, der ihr folgte und beim Hinausgehen wütend mit dem Handballen gegen die Ausgangstür boxte.
»Punktsieg für sie, würde ich tippen, und er hat eine harte Nacht vor sich«, bemerkte der Barkeeper zu dem letzten Gast an der Bar.
Ohne großes Interesse kommentierte Ledge: »Sieht so aus.« Er blieb über sein fast leeres Bourbonglas gebeugt. Die Farbe des Whiskys erinnerte ihn an etwas, an das er lieber nicht erinnert werden wollte.
Arden Maxwells Augen hatten dieselbe Farbe.
»Du bekommst einen Nachschlag umsonst, weißt du das?«
Ledge sah von seinem Glas auf und den Barkeeper an. »Wieso das?«
»Der letzte Gast an der Theke bekommt ein Getränk aufs Haus.«
»Ach ja?«
»Neue Regel.«
»Seit wann?«
»Willst du jetzt einen oder nicht?«
Ledge deutete auf sein Glas. »Aber nur einen Kurzen.«
Der Barkeeper schenkte Whisky nach, ohne Eis oder Wasser. Er stellte die Flasche ab, drapierte das Handtuch über seine Schulter, stützte die Ellbogen auf die Theke und beugte sich vor, bis sein Gesicht auf einer Höhe mit dem von Ledge war. »Sonst bleibst du nie so lang. Übler Tag?«
»War schon okay.«
»Wer’s glaubt.«
Ledge nippte an seinem aufgefüllten Glas. Der Whisky hatte gerade die richtige Schärfe und wärmte angenehm die Kehle. Richtig angenehm. Viel zu angenehm. Darum zahlte er immer für seine Drinks, obwohl der Burnet, dem das Lokal gehörte, sein Onkel Henry war, bei dem er aufgewachsen war.
Solange er seine Drinks bezahlte, wusste er genau, wie viel er trank. Er hatte sich diesen Kontrollmechanismus selbst auferlegt und wollte ihn keinesfalls aufgeben. Und er nahm nie eine Flasche mit nach Hause.
»Warst du heute bei Henry?«
Ledge schüttelte den Kopf.
»Ich weiß, dass es beim letzten Mal übel war.«
»Genau wie beim vorletzten Mal.«
Die Billardkugeln klackerten. Die eine Hälfte der jungen Männer am Pooltisch reagierte mit verzweifeltem Stöhnen und derben Flüchen, die andere Hälfte mit Jubelschreien und derben Flüchen.
Nachdem sie sich beruhigt hatten, fuhr der Barkeeper fort: »Es mag nicht so aussehen, Ledge, aber irgendwo dadrin steckt immer noch der alte Henry. Eines Tages könnte er dich überraschen und dich wiedererkennen.«
Ledge war anderer Meinung, aber er nickte trotzdem. Er wollte Don nicht die Hoffnung nehmen.
Seit Ledge denken konnte, hatte Don White zusammen mit seinem Onkel in der Bar gearbeitet. Aber Don war weit mehr als nur der Bartender, er hatte die Bücher geführt und andere Bereiche des Geschäfts geleitet.
Als Henrys Alzheimer so weit fortgeschritten war, dass er nicht einmal mehr die einfachsten Aufgaben erledigen konnte, hatte Ledge Don angeboten, er könne seinem Onkel die Bar abkaufen. Don wollte davon nichts hören.
Jetzt fragte Ledge: »Hast du es dir inzwischen anders überlegt?«
»Seit gestern?«
»Und?«
»Nein. Hör auf zu fragen.«
»Du kannst ihn über vier Jahre auszahlen. Fünf, wenn du mehr Zeit brauchst.«
»Ich werde die Bar weiter so führen, als wäre es meine eigene, das weißt du. Aber das Burnet’s wird Henry Burnet bis zu seinem letzten Atemzug gehören. Wenn er irgendwann nicht mehr unter uns ist …«
»Er ist nicht mehr unter uns, Don.«
»Dann frag mich noch mal. Dann werden wir ja sehen.«
Don war um die sechzig. Jeder wusste, dass seine Freundin aus der Highschool wenige Tage vor ihrer Hochzeit auf einem Bahnübergang ums Leben gekommen war.
Ledge kannte keine Einzelheiten, denn er kannte Don zwar sein ganzes Leben, doch Don hatte nie von ihr oder von der Tragödie gesprochen, durch die er sie verloren hatte. Trotzdem war die Lady offenbar etwas ganz Besonderes und Dons große Liebe gewesen. Er war immer freundlich zu den Kundinnen, und im Lauf der Jahre war ihm oft mehr als nur Freundschaft angeboten worden. Aber falls Don je ein Date oder sogar eine Affäre gehabt hatte, dann wusste Ledge nichts davon. Dons Leben war die Bar. Er hatte Henry und Ledge als seine Familie adoptiert.
In den Augen eines unbeteiligten Beobachters wirkten sie bestimmt wie ein trauriges, mitleiderregendes Trio.
So wirkten sie sogar in Ledges Augen.
»Mir fehlt der alte Knacker«, sagte Don über Henry. »Mit seinen unterirdischen Witzen.«
»Mir auch.«
Don drehte sich um und blickte auf ein gerahmtes Foto an der Rückwand. »Ich weiß noch, wie er das Bild aufgehängt hat. Er war so verflucht stolz auf dich.«
Henry hatte das Foto zwar an prominenter Stelle aufgehängt, doch Ledge hasste das verdammte Bild. Ein Kamerad hatte es mit seinem Handy geschossen, während sie sich auf einen Einsatz vorbereitet hatten. Ledge war darauf in voller Montur zu sehen, mit Tarnfarbe im Gesicht, bis an die Zähne bewaffnet. In der Aufmachung glich er fast einem postapokalyptischen Krieger.
Sein Kamerad hatte ihm das Bild per E-Mail geschickt und gesagt, er solle es an seinen Onkel weiterleiten. Vielleicht hängt er es in seiner Bar auf. Und prahlt dann vor seinen Gästen mit seinem Neffen, dem Schrecken der Taliban.
Ledge setzte das Glas an und murmelte in seinen Drink: »Er hat es nicht nach Hause geschafft.«
Don drehte sich wieder um. »Verzeihung?«
»Der Typ, der das Bild gemacht hat. Er hat es nicht nach Hause geschafft.« Ledge kippte den Rest seines Bourbons hinunter.
Damit war das Thema erledigt, und beide verloren sich in ihren Gedanken, bis Don murmelte: »Ach du Scheiße. Sieh mal, wer da anspaziert kommt.«
Ehe Ledge sich umdrehen und nachsehen konnte, wer in die Bar gekommen war, rutschte der neue Gast schon auf den Hocker neben seinem. »Hallo, Don. Ledge. Alles fit im Schritt?«
Ledges Miene blieb ausdruckslos, aber im Geist stieß er eine Litanei von Flüchen aus. Heute war definitiv nicht sein Tag. Erst tauchte diese Arden Maxwell unangekündigt bei ihm auf. Und jetzt musste er noch diesen Hurensohn ertragen.
Dass Rusty Dyle ihn derart überrumpelte, erinnerte grotesk an einen Samstagvormittag vor zwanzig Jahren.
Am Freitagabend war es in Burnet’s Bar and Billiards hoch hergegangen. Bis nach drei Uhr hatten Ledge und sein Onkel Henry den Laden geputzt und waren dann ins Bett gefallen.
Es war ein regnerischer Vormittag, wie geschaffen, um im Bett zu bleiben, aber Ledges siebzehnjähriger Magen hatte ihn wach geknurrt. Statt in der Küche herumzuhantieren und dabei seinen Onkel aufzuwecken, der seinen Schlaf dringend brauchte, fuhr Ledge in die Stadt, um im Diner an der Main Street zu frühstücken.
Er genoss sein Essen und die Einsamkeit, bis Rusty Dyle uneingeladen auf die Bank ihm gegenüber rutschte, einen Speckstreifen von seinem Teller zupfte, hineinbiss und ihn geräuschvoll zermalmte.
Am liebsten wäre Ledge sofort auf ihn losgegangen, verbal und mit Fäusten. Aber im Jugendarrest lernte man, nicht zu reagieren, ganz gleich, was sich um einen herum abspielte. Man ergriff keine Partei in einem Streit, der einen nichts anging. Man provozierte keinen Schließer, der nur auf einen Vorwand lauerte, dich niederzumachen. Man reagierte nicht, wenn der Psychodoktor wissen wollte, ob du deiner Meinung nach ein gutes Blatt ausgeteilt bekommen hattest oder über den Tisch gezogen worden warst.
Als ihn der Psychologe das erste Mal gefragt hatte, hatte Ledge ihm erklärt, dass ihn nichts an seiner unorthodoxen Kindheit gestört hatte. Eltern, an die er sich nicht einmal erinnerte, konnte er schwerlich vermissen. Er liebte seinen Onkel, der ihn aufgenommen und ihn als seinen eigenen Sohn großgezogen hatte. Er hatte höchsten Respekt vor Henry Burnet.
Der Psychologe hatte ihn stirnrunzelnd angesehen, als würde er ihm kein Wort glauben. Ledge hatte nicht eingesehen, warum er ihn überzeugen sollte, dass es die reine Wahrheit war, und so hatte er den Mund gehalten und von da an auf keine einzige Frage mehr geantwortet, was die folgenden Sitzungen extrem frustrierend für den Psychologen gemacht hatte. Ledge hatte mit diesem Idioten rein gar nichts mehr »geteilt«.
Er war von Natur aus schweigsam und seit dem Aufenthalt im Jugendarrest noch weniger geneigt, anderen Einblick in seine Gedankenwelt zu gewähren. Das traf ganz besonders auf Rusty Dyle zu. Nichts hätte diesem Trottel besser gefallen, als zu erfahren, wie sehr Ledge ihn und sein gegeltes, hochstehendes rotes Haar tatsächlich verabscheute.
»Du haust mächtig rein, Ledge! Dein Katerfrühstück?«
»Ich bin nicht verkatert.« Ledge starrte stur auf seine zwei Pfannkuchen und die Spiegeleier.
»Na sicher. Wäre auch blöd, wenn sie dich auch noch beim Trinken erwischen würden, bevor du volljährig bist.« Er lachte blökend und schluckte den letzten Speck hinunter. »Trotzdem siehst du heute Morgen ein bisschen abgefrühstückt aus. Muss wohl wegen Crystal sein. Hat sie dich gestern Nacht so hart rangenommen?«
In seiner Fantasie rammte Ledge die Gabel in Rustys Hals, direkt in die Schlagader.
»Die Kleine geht höllisch ran«, raunte Rusty vertraulich. »Die kann dich richtig aussaugen, wenn sie in Fahrt kommt, stimmt’s?«
Ledge wusste mit Sicherheit, dass Crystal Ivers noch nie etwas mit Rusty Dyle gehabt hatte, und das würde Rusty nie verwinden. Er wollte Ledge provozieren und ihn dazu bringen, Crystals Ehre zu verteidigen. Da konnte er lang warten. Ihre Ehre war unangreifbar.
»Verpiss dich, Rusty.«
»Das wirst du nicht mehr sagen, wenn ich dir erst verraten habe, warum ich hier bin.«
»Interessiert mich doch nicht, warum du hier bist.«
»Das wird es aber. Iss auf.«
Ledge war zwar der Appetit vergangen, aber er würde Rusty nicht die Befriedigung gönnen, ihm das Frühstück vermiest zu haben. Also aß er weiter. Rusty plapperte vor sich hin. Als Ledge den leeren Teller zur Seite schob, stellte Rusty eine scheinbar zusammenhanglose Frage.
»Was meinst du, wie viel Bargeld sie bei Welch’s jede Woche machen?«
Ledge schaute durch das Fenster nach draußen in den stetigen Regen. »Keine Ahnung.«
»Eine Viertelmillion.«
»Schön für Welch’s.«
»Weißt du, wie viel sie in einer Woche vor einem Feiertag einnehmen?« Er beugte sich vor und flüsterte Ledge zu: »Mindestens das Doppelte.«
Welch’s war ein großes Kaufhaus in Familienbesitz, das dank seiner treuen Kunden der Invasion der riesigen Supermarktketten getrotzt hatte. Außerdem versorgte es die Touristen auf dem Weg zum See mit allem, was sie dort brauchten. Der Markt führte alles, von Zeltheringen bis zu Dosenheringen, von der Nugatcreme bis zur Sonnencreme.
»Und das werde ich abgreifen.«
Ledge hatte gerade überlegt, wie nass er wohl werden würde, wenn er jetzt zu seinem Auto rannte, und darum nicht zugehört. »Was denn?«
»Die Einnahmen von Welch’s.«
Er drehte sich gerade rechtzeitig zu Rusty um, um ihn zwinkern zu sehen. »Du hast richtig gehört. Und dabei könnte ich jemanden wie dich brauchen.«
Ledge hörte sich den Rest von Rustys haarsträubendem Plan nur an, weil er überzeugt war, dass ihm ein ausgefeilter Streich gespielt werden sollte. Er sah sich sogar im Diner um und hielt Ausschau nach einem von Rustys Kumpeln, der in den Streich eingeweiht war und nur auf Rustys Signal wartete, um die Falle zuschnappen zu lassen.
Aber er konnte nirgendwo ein bekanntes Gesicht entdecken, und als Rusty schließlich eine kurze Pause machte und fragte: »Was hältst du davon? Bist du dabei?«, begriff Ledge, dass der Vorschlag tatsächlich ernst gemeint war.
»Bist du übergeschnappt?«
»Hör zu.« Rusty rutschte an die Sitzkante. »Die Woche vor Ostern ist immer ein Riesengeschäft für Welch’s. Mega. Die ganze Woche gibt’s Sonderangebote und Schlussverkäufe. Mal abgesehen von den Kreditkartenumsätzen und Schecks scheffeln sie säckeweise Bargeld.«
»Das von einem gepanzerten Geldtransporter abgeholt wird.«
»Am Montag. Frag deinen Onkel Henry. Ich wette, sein Laden liegt auf derselben Route.«
Ledge brauchte nicht zu fragen. Er wusste das.
»Und somit liegt alles, was der Laden in dieser Woche eingenommen hat, über den Ostersonntag im Safe. Gelobt sei der Herr!« Rusty lachte leise. »Und du brauchst gar nicht zu fragen – sie markieren die Scheine nicht und stecken sie auch nicht in Beutel mit explodierenden Farbpatronen. Sie werden nur gebündelt, sonst nichts.«
»Woher weißt du das alles?«
»Von meinem Informanten. Brian Foster.« Rusty beschrieb ihm den Mann.
Ledge schnaubte. »Dem Erbsenzähler bei Welch’s? Der Mann ist ein Totalausfall.«
»Ist er auch. Er macht nur mit, weil ihm sein fieser Boss ständig im Genick sitzt und er es ihm heimzahlen will. Und um zu beweisen, dass er eben doch Eier hat.«
Ledge schnaubte wieder skeptisch, aber Rusty ließ sich nicht abbringen. »Ohne Foster läuft die Sache nicht. Er wird uns in den Laden lassen und den Safe öffnen.«
»Es gibt kein uns, Rusty. Vergiss es.«
»Sag das nicht, bevor du alles angehört hast.«
»Ich habe schon Nein gesagt.«
»Okay.« Rusty tätschelte besänftigend die Luft. »Du machst dir Gedanken, ob wir uns auf Foster verlassen können. Verständlich. Stimmt schon, der Typ hat Schiss vor seinem eigenen Schatten. Aber verstehst du? Deshalb lässt er sich umso leichter einschüchtern. Kontrollieren. Dazu bringen, nach unserer Pfeife zu tanzen.«
»Und deshalb wird die ganze Sache auch auffliegen.«
»Er kann den Tresor öffnen.«
»Während du vor den Überwachungskameras posierst.«
»Die Kameras im Laden sind nur Attrappen.« Er grinste. »Foster hat mir erzählt, dass der alte Welch zu geizig ist, um echte installieren zu lassen.«
»Ich würde mich nicht auf Fosters Wort verlassen.«
Rusty zielte mit einer imaginären Pistole auf ihn. »Ich auch nicht. Darum habe ich mir alles von einer anderen Quelle bestätigen lassen.«
»Von wem?«
»Jemandem, der sich dort auskennt. Du kennst doch die Maxwells? Lisa war immer und überall Klassenbeste. Sie hat die Schule vor ein paar Jahren abgeschlossen. Dann ist da noch ihre Schwester. Viel jünger. Die Mutter starb bei einem Autounfall.«
»Ich kenne die Familie.«
»Also, ihr Daddy, der arme alte Joe, verliert aus heiterem Himmel seine Frau«, er schnippte mit den Fingern, »und sitzt allein mit zwei Töchtern da. Was jeden in den Suff treiben würde. Joe hat es jedenfalls dort hingetrieben, und inzwischen ist er ein unverbesserlicher Säufer. Ein wohlgehütetes Geheimnis, das die ganze Stadt kennt.«
»Ich nicht.« Ledge hatte in der Bar seines Onkels Billardkugeln aufgebaut, seit er groß genug war, über den Pooltisch zu schauen. Soweit er wusste, hatte sich Joe Maxwells Silhouette kein einziges Mal in der Tür abgezeichnet.
»Er trinkt heimlich«, fuhr Rusty fort, als hätte er Ledges Gedanken gelesen. »In der Öffentlichkeit trinkt er nie, um seine Töchter zu schonen. Seine Versicherungsagentur ist dabei den Bach runtergegangen. Seither wechselt er von einem Job zum nächsten. Rate mal, wo er zuletzt gearbeitet hat.«
Ledge brauchte nicht zu raten. Es war offensichtlich. Bei Welch’s.
»Regale einräumen. Toiletten putzen. Lauter Drecksarbeiten«, sagte Rusty. »Vor ein paar Monaten wurde er wieder gefeuert, weil er sich mit einem Kunden angelegt und ihn beschimpft hatte. Also, man sollte doch meinen, dass Joe auf Rache aus ist, oder?«
»Ich kenne den Mann nicht, und ich kann nicht in seinen Kopf hineinschauen.«
»Also, ich schon«, prahlte Rusty und ließ sein durchtriebenes Lächeln erstrahlen. »Joe hat sich in einen streitsüchtigen Säufer verwandelt, aber er hat durchaus noch Skrupel. Ich hatte Angst, dass es gegen seine Moral gehen könnte, seinen ehemaligen Arbeitgeber zu beklauen.«