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Die eigene Familie ist nichts für Feiglinge
Lisa schwor sich einst, nie in die hässliche Kleinstadt zurückzukehren, in der ihre spießige Zwillingsschwester freiwillig blieb. Doch als Lisas Mann sich eine Jüngere schnappt, kommt sie mit ihrer 17-jährigen Tochter am Steuer im zweiten Gang buchstäblich wieder angekrochen. Sie findet eine überarbeitete Schwester und eine verwirrte Mutter vor. Hannah braucht Urlaub, und Lisa behauptet, sie komme schon klar. Doch Ursula hat Alzheimer, und Lisa versteht nicht, was sie ihr mitteilen will. Erst ein altes Tagebuch offenbart ein gut gehütetes Geheimnis der Mutter, und so kommt Lisa auf die Idee, dem Schicksal auf die Sprünge zu helfen ...
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Seitenzahl: 494
Veröffentlichungsjahr: 2014
HERA
LIND
Verwandt in
alle Ewigkeit
ROMAN
Dieses Buch erhebt keinen Faktizitätsanspruch. Es basiert zwar zum Teil auf wahren Begebenheiten und behandelt typisierte Personen, die es so oder so ähnlich gegeben haben könnte. Diese Urbilder wurden jedoch durch künstlerische Gestaltung des Stoffs und dessen Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus dieses Kunstwerks gegenüber den im Text beschriebenen Abbildern so stark verselbstständigt, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der Figuren objektiviert ist.
Für alle Leser erkennbar erschöpft sich der Text nicht in einer reportagehaften Schilderung von realen Personen und Ereignissen, sondern besitzt eine zweite Ebene hinter der realistischen Ebene. Es findet ein Spiel der Autorin mit der Verschränkung von Wahrheit und Fiktion statt. Sie lässt bewusst Grenzen verschwimmen.
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Copyright © 2014 by Diana Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: t.mutzenbach design, München
Covermotiv: Shutterstock.com (Louisanne, Peratek, Guz Anna)
Autorenfoto: © Gabo
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-12278-2V005
www.diana-verlag.de
Für meine Mutter
mit Dank für ihr Erbe:
Lebensfreude und Fantasie
Salzburg, Juni 2013
Nebenan flog die Tür ins Schloss.
»Eh, Mama, heulst du etwa?«
Ronja warf ihre Schultasche auf die Bank im Flur, drehte sich vor dem großen Spiegel, kontrollierte kritisch ihre Wimperntusche und den Sitz ihrer steifen Dreadlocks und ließ sich dann zu mir aufs weiße Wohnzimmersofa herabsinken: »Was ist los? Ist jemand gestorben?«
»Dein Vater hat uns verlassen.« Schluchzend umklammerte ich das Sofakissen.
Ronja richtete sich auf. »Hat er’s dir also endlich gesagt.«
»Was? Du hast gewusst, dass …?!« Das war ja wohl der Gipfel! Rotfleckig, verheult und verquollen, am absoluten Nullpunkt meines weiblichen Selbstbewusstseins starrte ich es an – mein eigen Fleisch und Blut.
»Ach, Mamilein …« Ronja wischte mir zärtlich die Tränen von den Wangen. »Du bist wirklich blind wie ein Maulwurf und taub wie Beethoven! Dass der Papa was mit Sandra hat, wusste fast schon die ganze Stadt!«
»Ich aber nicht«, begehrte ich auf. »Und keiner hat es mir gesagt!« Wütend boxte ich auf das Sofakissen ein. Nur mein angeborener Mutterinstinkt hinderte mich daran, auf meine Tochter einzuschlagen. »Schöne Freundinnen habe ich! Und du bist auch nicht besser!«
»Mamilein, ich wusste auch nicht, was ich machen sollte!« Ronja strich mir ein paar nass geweinte Haarsträhnen aus der Stirn. »Ich hab dich lieb, ich hab Papa lieb, und die Sandra hab ich auch irgendwie lieb!«
Das gab mir den Rest. »Du hast die Sandra lieb?«, schnauzte ich sie an. »Die falsche, hinterhältige Schlampe?«
»Na ja, du hast sie mir doch als Babysitterin vor die Nase gesetzt, als ich gerade mal drei war!« Da hatte Ronja leider recht. Ich hatte einfach nicht einsehen wollen, dass ich von früh bis spät bei meinem Krabbelkind sitzen, Papierblumen falten, Knetgummiwürste rollen, Laternen basteln und Dinkelplätzchen backen sollte. Da ich Tourismus und Sprachen studiert hatte, wollte ich über kurz oder lang in meinen Traumberuf zurückkehren und hatte die nette blonde Fünfzehnjährige als Babysitterin eingestellt!
Kann man doch nicht ahnen, dass sie sich irgendwann an den eigenen Ehemann heranmacht!
Ich griff nach dem letzten Blatt der Küchenrolle und schnäuzte hinein.
»Aber deshalb kann sie doch nicht einfach so – ihre Kompetenzen überschreiten!«
Ronja nahm meinen Arm. »Also von ›einfach so‹ kann keine Rede sein. Du wolltest mit Papa viel verreisen – hast du gemacht. Du wolltest dir keine Sorgen um mich machen – musstest du auch nicht. Du hattest einen Riesenspaß – klasse für dich. Du hast super Kohle verdient in eurem Reisebüro – habe ich dir immer gegönnt.«
»Ich weiß, Süße!« Gebeugt vor Gram und Scham tätschelte ich ihre Hand.
»Ich war eine Rabenmutter, und das ist jetzt die Strafe!«
»Ach Quatsch, Mama. Hör auf mit dem Selbstmitleid.«
»Ist es etwa kein Schicksal?«, fragte ich theatralisch. »Du kriegst vom Leben immer zurück, was du dem Geringsten dei ner Mitmenschen angetan hast! Das steht schon in der Bibel!«
»Also bin ich das Geringste?«
»Nein«, ruderte ich eifrig zurück. »Du bist das Kostbarste, was ich habe!«
»Ich geh dir ja nicht verloren! Aber jetzt, wo Papa sich in Sandra verliebt hat, da … Na ja, ich würde sagen, dumm gelaufen.« Sie nahm mich mitfühlend in die Arme und schmiegte sich an mich.
Ich schluchzte wie eine Fünfjährige: Man muss sich das mal vorstellen: Frank und ich hatten das exklusivste, trendigste Reisebüro weit und breit! Frank, mein zukünftiger Exmann, hatte meinen Mädchennamen »Klüger« angenommen, weil sich das so toll machte auf unseren Werbeplakaten: »Klüger Reisen!« Das Logo war so gestaltet, dass die Pünktchen auf dem »ü« wie zwei kleine weiße Wölkchen aussahen, die aus den Schornsteinen eines Luxusschiffes herauskamen und sich im strahlend blauen Himmel verloren. Wir versprachen den Menschen, die es sich leisten konnten, den Super-Mega- Traumurlaub mit Rundum-sorglos-Paket. An Südseestränden, in Afrika, in den aufregendsten Metropolen dieser Welt. Die Konkurrenz konnte da nicht mithalten. Jetzt wurde ich für meinen Hochmut bestraft: »Klüger Reisen.« Wie zynisch für alle, die sich »Klüger Reisen« nicht leisten konnten! Die kamen sich dann ja automatisch dümmer vor! Die ganze Stadt musste ständig auf meine Werbeplakate starren und sich grün und blau ärgern vor Neid. Jetzt würde man sich die Hände reiben vor Schadenfreude!
Frau Klüger von »Klüger Reisen« ist eine gehörnte dumme Ziege!
Ronja streute zusätzlich Salz in meine Wunden.
»Weißt du, die Sandra ist wirklich total nett! Das findet eben auch der Papa! Das darf man ihm noch nicht mal übel nehmen!«
Ja, ich selten dumme Nuss hatte Sandra sogar noch geraten, ebenfalls ins Tourismusgeschäft einzusteigen! Ich hatte sie mit den vielen tollen Reisen gelockt, die man in unserer Branche macht.
Um mein schlechtes Gewissen Ronja gegenüber zu beruhigen, hatte ich beschlossen, eine Weile zu Hause zu bleiben, um meinem Kind ein Einser-Abitur zu ermöglichen. Ihm etwas auf die Finger zu schauen. »Wer Dreadlocks hat, kifft auch«, hatte Frank gemeint. Und dass es meine Aufgabe sei, das Kind auf den rechten Weg zu bringen. Ich fand das in Ordnung, und seit einem halben Jahr spielte ich wieder die Hausfrau. Seit einem halben Jahr saß nun die kesse blonde Sandra in Franks Reisebüro und machte meinen Job. Und dass sie jetzt von Frank ein Kind bekam, das war … Das war einfach der Gipfel der Geschmacklosigkeit! Die ganze Stadt würde sich über mich kaputtlachen! Über mich, die ich immer getönt hatte, Karriere und Kind seien doch spielend unter einen Hut zu bringen, man müsse nur delegieren können und sich nicht einbilden, unersetzlich zu sein! Ja. Schnauf. Das hatte ich jetzt gründlich bewiesen. Toll delegiert, Lisa! Wieder mal hatte ich mir selbst ein Bein gestellt. Und ersetzlich war ich leider doch. Wie entsetzlich!
Ich würde es nicht ertragen, Frank und Sandra mit Kinderwagen in der Stadt zu treffen! Ich kam mir vor wie Scarlett O’Hara in »Vom Winde verweht«. Erst beneidet, dann geächtet. Die totale Selbstüberschätzung. Wie das mit den riesigen Schaukästen von »Klüger Reisen«, in denen ich dem Betrachter als Repräsentantin unseres Reisebüros vor blauem Himmel entgegenstrahlte. Meine verdammte Eitelkeit hatte auch nicht verhindern können, dass ich Fotos von meiner braun gebrannten Wenigkeit auf Facebook postete und die ohnehin schon neidischen Besucher aufforderte, das Ganze auch noch mit »Gefällt mir!« zu kommentieren.
O Gott, warum hatte ich das getan!
»Tja, Kind«, hörte ich meine Mutter sagen. »Wer Neid schürt, kriegt den grünen Sack der Missgunst eines Tages mit voller Wucht ins Gesicht.«
Ich hatte mich deswegen schon lange von Mutter abgewandt. Selbst sie gönnte es mir doch nicht. Und meine spießige Zwillingsschwester Hannah auch nicht. Alle waren sie neidisch – alle, alle, alle!! Doch jetzt bestimmt nicht mehr. Jetzt würden sie mich noch nicht mal trösten!
In mir krampfte sich alles zusammen. Warum hatte ich das nur getan, warum?! Mich von meiner Familie in Schierchstadt abgewandt, weil ich ihnen zeigen wollte, dass mir die ganze Welt gehört. Dass ich auf Hausfrauenpflichten und Elternabende scheiße! Ich heulte schon wieder.
Ronja ging in die Küche und holte eine neue Rolle Küchenpapier. »Bis du heiratest, ist es wieder gut.«
Hallo? Das war mein Spruch gewesen, als Ronja damals ohne Stützräder in den Ententeich geradelt war! Ich erinnerte mich noch genau an diese Situation. »Klüger Reisen« hatte im Schlosspark ein Champagnerfrühstück für die zahlungsfreudigste Kundschaft gegeben, und ich war im weißen Outfit wie in der Werbung für die Praline ohne Schokolade von betuchtem Gast zu betuchtem Gast geflattert, als das damals fünfjährige Ronjalein mit Schmackes in den Seerosenteich gefahren war. Sie hatte vor Schreck und Scham geheult, weil alle sie auslachten. »Bis du heiratest, ist es wieder gut!«
Jetzt wurde mir zum ersten Mal klar, wie herablassend das in den Ohren des gedemütigten Opfers klingen musste.
»Ich werde NIE WIEDER heiraten«, schluchzte ich trotzig. »Männer sind Schweine!«
Irgendwann richtete ich mich auf. »Und was machen wir jetzt?«
»Gut, dass du fragst«, sagte Ronja und zielte mit den zerknüllten Küchenpapierbällchen auf den Papierkorb unterm Schreibtisch. Etwa zwei Dutzend vollgeheulte Rotzbomben lagen schon auf dem Teppich. Es war ein trauriges Bild.
»Ich werde doch bald achtzehn.«
»Ja und? Willst du mich etwa auch verlassen?«
Schon wieder bahnten sich Sturzbäche voller Selbstmitleid einen Weg. »Dann nehme ich mir das Leben!«
»Nee, Mama, lass mal. Aber weißt du, was ich mir wünsche?«
»Dass du Patentante bei Papas und Sandras Kind werden darfst?« Ich starrte Ronja mit angstgeweiteten Augen an.
»Quatsch, Mama. Ich bin ja schon Halbschwester, das reicht.«
»Jetzt sag aber nicht, dass ICH Patentante von dem Balg werden soll!« Dem Kind war alles zuzutrauen.
Ronja lachte, dass ihre Rastalocken flogen. »Du bist ja voll auf dem Maso-Trip!«
Ja, war ich. Keiner hatte mich mehr lieb. Am liebsten hätte ich mich mit einer Handgranate aus meinem Leben katapultiert. Am besten so, dass Franks Reisebüro dabei kaputtging.
»Mama, ich wünsche mir, dass du mit mir den Führerschein machst.«
»Wieso? Ich hab ihn doch schon!«
»Nein, du sollst mir das Fahren beibringen! Hm? Lenk, lenk, brems, kuppel, Gas geb, hup!«
»Wie? Ich bin doch keine Fahrlehrerin?«
»Nee, aber es gibt die Möglichkeit, schon mit siebzehn den Führerschein zu machen. Da muss man vorher nur dreitausend Kilometer fahren. Aber mit einem Elternteil auf dem Beifahrersitz. Das nennt man L17. Danach muss man nur noch die Prüfung ablegen.«
»Frag Papa«, röchelte ich kraftlos.
»Hab ich schon«, gab das Kind zurück. »Der kann nicht. Er sagt, er hätte keine Zeit und müsste sich um das Reisebüro, Sandra und den Eumel kümmern.«
Ich schluckte. Eumel. Mir wurde schlecht. Hoffentlich musste Sandra dauernd würgen. Ich wünschte ihr, dass ihr der Eumel sauer aufstieß und ihr die Speiseröhre verätzte.
»Kind, ich bin am Boden zerstört, und du verlangst solche Dinge von mir!«
»Ach komm, Mama! Das bringt dich auf andere Gedanken!«
»Ja. Auf Suizidgedanken.«
»Och bitte, Mama! Sei doch nicht so uncool!«
»Nur über meine Leiche! – Vielleicht mag Sandra mit dir dreitausend Kilometer zurücklegen«, ätzte ich. »Dann kannst du sie gleich an einen Baum fahren, mitsamt ihrem kleinen Wurm!«
Frankfurt an der Oder, April 1945
»Mitsamt dem kleinen Wurm liege ich hier, sein Kopf ist stecken geblieben. Hallo, warum hilft mir denn niemand?!«
Ingeborg kämpfte mit den Wehen und stöhnte verzweifelt. Nach ihrer Flucht aus Schlesien war sie am Ende ihrer Kräfte. Tagelang war sie mit Kathrin, ihrer dreijährigen Tochter, im Bombenhagel unterwegs gewesen. Und jetzt kam auch noch das Baby, um Wochen zu früh!
»Aaaaaarggh!«
Wieder wurde sie von Wehen überrollt, während die Kleine neben ihr laut wimmerte. Das war wirklich kein Anblick für eine Dreijährige. Aber wo hätte sie ihre Tochter sonst lassen sollen? Sie war ganz auf sich gestellt, ihr Mann war im Krieg geblieben und … Ingeborg schrie gellend auf, hatte das Gefühl, innerlich zerrissen zu werden. Wenn ihr jetzt niemand half, dann …
»Herr Doktor, bitte kommen Sie!«, hörte sie Marianne, die junge Schwesternschülerin nebenan rufen. »Die Flüchtlingsfrau kriegt ihr Kind!«
»Um Gottes willen, ich kann jetzt nicht!«, schrie der Arzt. »Mädel, das musst du allein hinkriegen!«
»Aber Herr Doktor Kriegerer, ich hab doch noch nie …«
Lautes Dröhnen herannahender Panzer übertönte das hilflose Gestammel. Kathrins Wimmern wurde lauter.
Endlich kam die Schwesternschülerin mit dem Arzt ins Zimmer. »Wie heißen Sie?«
»Ingeborg Gärtner!«
»Wie alt?«
»Zweiundzwanzig! Bitte hel…«
In diesem Moment ertönten Schüsse. Fenster zerbarsten, Scherben klirrten.
»Jesus, Mutter Maria, jetzt ist alles aus!«, entfuhr es Marianne. »Die Russen kommen!«
»Halten Sie den Mund und packen Sie hier mit an!«
Routiniert griff der Arzt zu. »Gleich haben wir’s. Pressen, los! Pressen, ja – jetzt kommt es! Es ist ein Mädchen«, sagte er.
»Clara«, flüsterte Ingeborg. »Sie heißt Clara.«
»Aber viel zu klein, es atmet kaum.« Hastig blies er dem winzigen Wesen seinen Atem ein.
Ingeborg schloss die Augen. »Wo ist Kathrin?«, fragte sie, als die Erde erneut erbebte. Weitere Panzer fuhren vor, und Geschützdonner wurde laut. Die Glühbirne flackerte, um dann endgültig zu erlöschen. Im Krankenhaus herrschte finsterste Nacht. Auch um Ingeborg wurde es schwarz.
»Laufen Sie, Frau Gärtner! Los, beeilen Sie sich!«
Die junge Mutter kam langsam wieder zu sich, war völlig orientierungslos. Erschöpft hob sie den Kopf. Durch die offene Tür sah sie, wie die Schwestern an ihrem Zimmer vorbeirannten, in panischer Angst dem Ausgang zustrebten. Was wollte man denn noch von ihr? Hatte sie nicht gerade ihr Kind zur Welt gebracht? Wie durch eine Nebelwand hörte sie grölende Männerstimmen, gefolgt von lautem Kreischen.
»Ich kann nicht, lassen Sie mich …« Ingeborg wollte schlafen, nichts als schlafen. Jemand zog an ihrem Arm. War das Kathrin?
»Los, aufstehen! Sie müssen schleunigst von hier verschwinden.«
Ungläubig starrte Ingeborg den Arzt an, der ihr die Decke wegriss. Wie sollte sie in diesem Zustand laufen? Ihre frischen Wunden bluteten noch.
»Ich kann Sie nicht länger beschützen. Die Russen wüten hier, was das Zeug hält. Sie sind betrunken und machen auch vor den Wöchnerinnen nicht halt. Glauben Sie mir, ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie …«
»Bitte nicht, nein! Neeeeein!« Die gellenden Schreie von Patientinnen hallten durch das Krankenhaus.
»Hier, kriechen Sie da rein!« Doktor Kriegerer riss eine Tür auf, drückte der jungen Frau die kleine Kathrin in die Arme. »Fliehen Sie durch den Wäscheschacht, Sie schaffen das!«
»Aber mein Baby, was ist mit meinem Baby?«, fragte Ingeborg, während sie die Hand ihrer Tochter verzweifelt umklammerte.
»Das Baby würde die Flucht niemals überleben. Wir kümmern uns darum, aber jetzt sehen Sie zu, dass Sie verschwinden …«
Schon kamen schwere Stiefel um die Ecke. »Springen Sie, los!« Geistesgegenwärtig versetzte der Arzt beiden einen Stoß und machte die Tür wieder zu. Die Dreijährige begann verstört zu schreien. Instinktiv hielt Ingeborg ihrer Tochter den Mund zu.
»Psssst, du musst jetzt ganz leise sein. Niemand darf uns finden. Komm, schnell!«
Nur gut, dass ich so abgemagert bin!, dachte die junge Frau zynisch. So bleibe ich in dem engen Versorgungsschacht wenigstens nicht stecken. Auf allen vieren robbte sie in der Dunkelheit vorwärts. Nach endlosen Windungen ertastete sie die Tür zum Waschkeller. Sie lauschte, nichts war zu hören. Mit angehaltenem Atem wagte sie sich aus dem Schacht. Doch wohin jetzt? Ihr Blick irrte durch den Raum und erfasste einen Berg blutiger Leintücher. »Komm, wir müssen uns verstecken!« Sie hatte sich und die Kleine gerade damit bedeckt, als Stimmen laut wurden. Russische Stimmen.
Ingeborg hielt die Luft an, doch die Plünderer und Vergewaltiger gingen weiter. Sie wusste nicht, wie lange sie unter den Lumpen liegen blieb. Als sie sich endlich mit Kathrin zitternd aus ihrem Schlupfwinkel hervorwagte, war eine gefühlte Ewigkeit vergangen.
Salzburg, Juni 2013
Eine gefühlte Ewigkeit war vergangen, als ich mich endlich aus meinem Schlupfwinkel Sofaecke hervorwagte. Ronja, die im Nebenzimmer telefonierte, riss mich aus meiner Lethargie.
»Der geht es wirklich schlecht, ich glaube, die kann jetzt nicht mit dir sprechen. – Nein, die liegt seit Tagen rum und heult. – Ich versuche es ja! Meine Nudeln von gestern stehen immer noch da. – Nee, tut sie auch nicht mehr. Sie stinkt schon nach totem Biber. – Professionelle Hilfe? Klapse, oder was? Weiß nicht. – Würde ich mich so verhalten, würde Mama sagen, ich soll mich zusammenreißen. Aber für sie selbst gilt das wohl nicht. – Ja, dann verbringe ich meine Sommerferien eben bei euch. Kann ich bei euch ein Praktikum machen?«
Tief gedemütigt, spitzte ich nun doch die Ohren. Sprach sie etwa mit ihrem Vater? Sie wollte bei Frank, Sandra und dem EUMEL die Sommerferien verbringen? Und bei denen ein Praktikum machen? Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Und mich wollten sie einweisen lassen? In eine geschlossene Anstalt? Und mich so aus dem Weg schaffen?
Auf einmal hatte ich die Kraft, mich aufzurichten.
»Ronja«, krächzte ich. »Mit wem redest du?«
»Mit Hannah.« Ronja erschien mit fliegenden Rastalocken im Türrahmen. »Willst du sie sprechen?«
O Gott! Mit geschlossenen Augen sank ich in mein Sofakissen zurück. Meine Zwillingsschwester Hannah war meine beste Feindin. Sie die Brave, die immer schön zu Hause in der heimatlichen Reihenhaussiedlung geblieben war und einen ausgesprochen erdverbundenen Beruf hatte. Und ich die Wilde, die freche Ausreißerin, die es mit der Businessclass bis in den Himmel geschafft hatte wie Goldmarie.
Doch jetzt würde Pechmarie triumphieren.
Nicht auch noch diese Katastrophe. Die nächste Baustelle meines Lebens.
Hannah trug den schönen Doppelnamen Klüger-Wasserthal und besaß mit ihrem todlangweiligen Mann Klaus ein florierendes Bestattungsinstitut. Und zwar in Schierchstadt, unserer Heimatgemeinde an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Da tat sich nicht viel. Ihre blassen Söhne hießen Benedikt und Johannes Paul. Man bedenke: Ich hatte mein Kind nach einer Räubertochter benannt, während Hannah ihren Söhnen Papstnamen gab! Unterschiedlicher können Zwillingsschwestern gar nicht sein! Ich rockte auf Kreuzfahrtschiffen und sang nachts in Bars. Hannah sang im Kirchenchor und backte Kuchen für das Gemeindefest. Sie hatte noch keinen Elternabend in ihrem Leben geschwänzt und erschien jeden Sonntag bei unserer Mutter zum Kaffee. Sie war so was von durch und durch gut, dass wir seit gefühlten zwanzig Jahren nicht mehr miteinander sprachen.
»Hast du sie angerufen oder sie dich?«, zischte ich entsetzt. Ronja würde mir doch nicht so sehr in den Rücken fallen, dass sie meine verhasste Mischpoke in mein persönliches Elend einweihte?
»Sie DICH!« Ronja reichte mir das Telefon. Ich starrte es an wie einen widerlichen Mistkäfer.
»Hallo?!«, sagte ich ganz sachlich und geschäftsmäßig, nachdem ich mich geräuspert hatte.
»Klüger Reisen, wir erfüllen Urlaubsträume – was kann ich für Sie tun?«
»Hier ist Hannah.«
»Ach. Das ist ja eine Überraschung.«
»Wie ich höre, geht es dir nicht gut?!«
»Mir geht es blendend«, log ich dreist.
»Dann hat Ronja also unrecht, wenn sie sagt, du liegst mit Depressionen auf dem Sofa?«
»Völlig unrecht. Ich hatte nur ein bisschen Migräne. Ist schon wieder vorbei.«
Ich schwang meine Beine vom Sofa und schüttelte meine Haare in Form.
Ronja staunte mich an. Ein ungläubiges Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht.
»Ronja sagt, es gibt Stress mit Frank?«
»Ach, du kennst doch Frank!« Ich rang mir ein quirliges Lachen ab. »Der ist nie um eine Überraschung verlegen. Mit dem habe ich mich noch nie gelangweilt!« Ganz im Gegensatz zu deinem Mann, der zum Lachen in den Keller geht, wo er immer ein paar Leichen liegen hat.
»Also stimmt es nicht, dass er eine Freundin hat?!«
»EINE?« Ich kicherte künstlich. »Hunderte! Du weißt doch, wie der Funken sprüht! Hast du doch selbst gesagt, damals! Frank ist wie eine Wunderkerze, weißt du noch?«
»Ja. Weil ich dich vor ihm warnen wollte. Eine Wunderkerze macht erst mal Eindruck, verglüht aber auch schnell.«
»Im Gegensatz zu deiner Grabfunzel«, erwiderte ich. »Der brennt nur auf Sparflamme.«
»Mag sein, aber dafür dauerhaft.«
»Können wir bitte das Thema wechseln?«, stöhnte ich.
»Natürlich. Ich muss mir um dich also keine Sorgen machen?«
»Bei uns ist alles bestens, so wie immer. Und wie geht’s euch?«
Ich suchte erst mal das Bad auf, um meine Körperfunktionen wieder in Gang zu setzen. Das Telefon legte ich auf den Badewannenrand und stellte auf »Laut«.
Hannahs Redestrom plätscherte parallel zu meinem Strom dahin. Erst erzählte sie von ihren tollen vorbildlichen Strebersöhnen, die immer alles richtig machten und schon ganz heiß darauf waren, das Bestattungsinstitut zu übernehmen. Dann kam sie auf unsere Mutter zu sprechen. Die sei in letzter Zeit ganz merkwürdig.
Ich betätigte die Klospülung und griff wieder zum Telefon.
»Merkwürdig? Wie meinst du das?« Ich fing an, mir die Zähne zu putzen.
»Sie wird immer vergesslicher, ist verwirrt und verwechselt uns.«
»Ach komm!«, lachte ich das Ganze mit Zahnpastaschaum im Mund weg. »Unsch hat schie schon immer verwechschelt.«
»Nein, wirklich, Lisa! Die Ärzte haben Alzheimer im Anfangsstadium bei ihr diagnostiziert.«
Ich hielt mitten im Zähneschrubben inne. »Alschheimer?«
»Ja. Zuerst war es harmlos, und wir haben das alles nicht so ernst genommen, genau wie du.«
Ich spuckte aus und griff zum Glas. »Aber …?«
»Aber dann wurde es immer schlimmer, so schlimm, dass man sie nicht mehr alleine lassen kann. Sie verlegt und verliert wichtige Dokumente, kann nicht mehr mit Geld umgehen, vergisst unsere Namen und erinnert sich nicht mehr an die letzten zwei Sätze, die man mit ihr gewechselt hat. Gestern wollte sie mit dem Telefonhörer den Fernseher umschalten und ihre beste Freundin mit der Fernbedienung anrufen, aber sie hatte den Namen ihrer Freundin vergessen.«
Nachdenklich betrachtete ich mein Gesicht im Spiegel. Nicht dass ich gewusst hätte, wer die beste Freundin meiner Mutter war, aber ich war doch negativ überrascht.
Ronja lehnte abwartend im Türrahmen und spielte mit ihren verfilzten Haaren.
»Meine Güte«, entfuhr es mir schließlich. »Was machen wir denn da?«
»Schön, dass du WIR sagst«, kam es zurück. »Daraus schließe ich, dass du dich auch mal wieder einbringen willst?«
»Ähm … Klar.« Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und griff zum Handtuch. »Jederzeit. Ich meine, wenn du jetzt mal ne Auszeit brauchst?!«
Ich werde sie wieder öfter anrufen, nahm ich mir vor.
»Du kannst also kommen!«, sagte Hannah, und in ihrer Stimme schwang Erleichterung mit. »Ich bin nämlich jetzt auch mal dran mit Urlaub. Während du deinen Arsch in den Pazifik getunkt hast, hatte ich nämlich immer nur die Arschkarte.«
»Ähm … Wohin soll ich kommen?«
»Nach HAUSE!«, sagte Hannah scharf. »Was dachtest du denn?«
»Nach Schierchstadt?« Hilflos sah ich meine Tochter an. »Aber das sind mehr als tausend Kilometer!« Ich hatte gar nicht weit genug wegkommen können, als ich damals mit Frank das Reisebüro im wunderschönen Salzburg eröffnete.
Im Türrahmen begann Ronja mit fliegenden Rastalocken auf und ab zu hüpfen. Sie klatschte dabei leise in die Hände und machte Lenkbewegungen mit einem imaginären Lenkrad.
»Du musst selbst wissen, wie wichtig dir unsere Mutter ist.« Hannah klang schon wieder eingeschnappt. »Aber wenn du dich überhaupt nicht kümmerst, sehe ich auch nicht ein, dass du am Erbe beteiligt wirst.«
»Wie … ähm … Wie meinst du das?«
»In ihrer Patientenvollmacht hat sie nur Klaus und mich eingetragen. Du kommst gar nicht mehr vor. Ich sage das nur aus – Fairness. Noch kannst du das ändern.«
Mir blieb das Herz stehen. Mann weg, Job weg, Familie weg, Erbe weg? Ich sah mich schon als Obdachlose unter der Brücke.
»Also, Hannah, jetzt lass mal die Kirche im Dorf!«
»Hahaha«, sagte Hannah trocken. »Sehr witzig. Wenn hier einer mitsamt Kirche im Dorf geblieben ist, dann doch wohl ich. DU bist vor zwanzig Jahren mit deinem Frank abgehauen und wolltest was ganz Besonderes sein.«
»Wie meinst du das?«
Sie räusperte sich spöttisch. »Ronja, zum Beispiel. Frag mal dein Kind, ob es als Erwachsene auch noch so heißen möchte.«
»Frag mal deine Söhne, ob sie als gestandene Männer so heißen wollen wie schwächliche alte Päpste, die beim Predigen vom Hocker fallen!«
»Ich bin nur vernünftig und reif.«
»Du bist altbacken wie Brot von gestern.«
»Aber dafür zuverlässig und nachhaltig verheiratet.«
Bumm, das hatte gesessen! Sie wusste immer, wie sie mich treffen konnte.
»Gratuliere«, ätzte ich. »Und du hast einen Bausparvertrag geheiratet!«
»Und du eine Champagnerflasche, die nichts als Schaum enthält.«
»Meinst du, ein Bestattungsinstitut ist prickelnder? Ihr prostet euch wohl mit Weihwasser zu!«
»Mama, ihr streitet ja schon wieder!« Ronja hob warnend die Hand. »Los, entschuldige dich!«
Bevor mir auch noch mein Kind die Freundschaft kündigte, war ich zu allem bereit.
»’tschuldigung!«, sagte ich zerknirscht. »Ich bin im Moment etwas angeschlagen.«
»Schon gut«, kam es gnädig von Hannah. »Ich will auch mal in Urlaub fahren. Also, was ist? Kommst du?«
Frankfurt an der Oder, 1946
»Also was ist, kommst du?«
In der Morgendämmerung hastete Ingeborg über Straßenbahnschienen, ihre kleine Tochter zog sie hinter sich her. Es hatte wieder begonnen zu schneien. Dichter Winternebel stand über der Stadt. Soldaten vertraten sich frierend die Beine, hie und da glomm ein Zigarettenstummel auf.
»Komm, Kathrin! Hier ist es schon.«
»Ich will nicht wieder da rein, Mama!«
Die Umrisse des Krankenhauses ragten düster vor ihnen auf.
»Wir suchen Clara, dein Schwesterchen!«
»Ich habe Angst! Da sind die bösen Männer drin!«
»Jetzt nicht mehr, Kathrin! Ich habe dir doch schon gesagt, dass die weitergezogen sind!«
»Überall stehen böse Männer!« Kathrin verkroch sich noch mehr in ihr Kapuzenmäntelchen und ballte die Hände zu Fäusten. Ingeborg strich ihrer Tochter übers Haar. »Das sind doch die Guten, die auf uns aufpassen!«
Ein Militärfahrzeug hupte.
Kathrin verkrampfte sich. »Lass uns weglaufen, Mama! Ich hab Angst!«
»Kathrin!« Ingeborg ging in die Hocke und drückte dem Mädchen einen liebevollen Kuss auf die Nase. »Dort, wo wir jetzt leben – im Westsektor – sind die netten Amerikaner, die immer Schokolade und Kaugummis für dich haben!«
»So, wie Dschonn einer ist?«
»Ja.« Ingeborg lächelte aufmunternd. »So wie John. Für den die Mama putzt und wäscht.«
»Sind die alle schwarz bei uns im Westsektor?«
»Nein. Nicht alle. Nur manche.«
»Warum ist Dschonn schwarz? Wenn du doch immer für den putzt und wäschst.«
Ingeborg verkniff sich ein Grinsen.
»Es gibt schwarze und weiße Amerikaner.«
»Waruhum?«
»Weil in Amerika immer die Sonne scheint.«
»Und wenn wir mein Schwesterchen gefunden haben, gehen wir dann mit Dschonn nach Amerika?«
Ingeborg biss sich auf die Lippen. »Das wäre zu schön, um wahr zu sein, nicht wahr, kleine Kathrin?«
»Ich finde den Dschonn sehr nett, und ich glaube, er mag dich auch, Mama!«
»Ja, ich denke, der John mag uns beide.«
»Meinst du, er hat zu Hause in Amerika keine Frau, die für ihn sorgt?«
»Nein. Er hat in Amerika keine Frau, die für ihn sorgt.« Ingeborg machte eine kleine Kunstpause. »Ich habe ihn schon gefragt.« Auf ihr Gesicht stahl sich ein verschmitztes Lächeln.
»Dann können wir das ja unser ganzes Leben lang machen.«
»Das wäre ein guter Plan.«
»Und unser eigener weißer Papa kommt wirklich nicht wieder?«
Ingeborg schluckte. »Nein. Unser weißer Papa ist in Russland geblieben.« Sie dachte an den Brief mit der Todesnachricht zurück: Im Kampf für den Führer als Held für Deutschland in Sibirien gefallen – Franz Gärtner.
Die kleine Kathrin erinnerte sich gar nicht mehr an ihren Vater, der nur ein einziges Mal auf Kurzurlaub aus dem Krieg gekommen war. Sie dachte pragmatischer.
»Werde ich auch so braun, wenn ich in Amerika lebe?«
»Nein, mein Schatz. Wir sind weiß, und John ist braun.«
»Ich finde, der Dschonn würde blöd aussehen, wenn er weiß wäre.«
Ingeborg lächelte zärtlich. »Ich mag ihn so, wie er ist.«
»Ich mag ihn auch so, wie er ist. Sind alle schwarzen Soldaten so nett zu den weißen Frauen?«
»Nicht alle. Aber John. Da haben wir Glück gehabt, was?«
»Und wird er die kleine Clara auch lieb haben, Mama?«
»Ganz bestimmt.«
Die beiden gingen Hand in Hand weiter. Kathrins Angst vor dem schwarzen Gebäude war verflogen. Ihre kleine, helle Stimme klang zutraulich wie das erste Zwitschern eines kleinen Vogels.
Es war die Stimme der Hoffnung. Auf ein warmes Amerika, wo alle Menschen gutmütig waren und mit sanften Stimmen dieses weiche Kauderwelsch sprachen.
»So. Hier wären wir.« Ingeborg schluckte und presste die kleine Hand ihrer Tochter an die Brust. Als könnte das ihr rasendes Herzklopfen stoppen.
»Lieber Gott, mach, dass sie noch lebt!«
Mit zittrigen Beinen ging sie die steinernen Stufen hinauf.
Überall lagen Kriegsheimkehrer. Krankenschwestern verteilten erste Morgenmedizin, maßen Fieber oder den Puls.
»Die Wöchnerinnenstation?«, fragte Ingeborg. Ihre Finger umklammerten nervös Kathrins kleinen Arm.
»Die gibt es hier nicht mehr.«
»Aber – ich habe mein Baby hiergelassen, als die Russen kamen …«
Eine ältere Nonne, die hier offensichtlich das Sagen hatte, kam mit wehendem Gewand herbeigeeilt.
»Was gibt’s?«
»Die Frau hat ihr Baby hiergelassen, als die Russen kamen.«
»Vor neun Monaten also?«
»Ja. Es war gerade erst geboren«, mischte Ingeborg sich hastig ein. »Der Arzt, Doktor Kriegerer, meinte, es würde die Flucht nicht überleben, deshalb …«
»Doktor Kriegerer arbeitet hier nicht mehr.«
»Nein? Wo ist er … Ich meine – wer ist denn jetzt zuständig?«
»Die Wöchnerinnenstation wurde zu Jahresbeginn aufgelöst. Wir behandeln hier nur noch verwundete Soldaten.«
»Aber mein Baby! Es muss doch eine Spur geben … Es ist ein Mädchen, sie heißt Clara! Clara Gärtner!«
»Kommen Sie mit.« Die Nonne drehte sich um und rauschte vor Ingeborg durch lange, schwach beleuchtete Gänge. Schließlich öffnete sie eine Nebentür und bat sie in ein notdürftig eingerichtetes Büro. Eine trostlose Glühbirne baumelte von der Decke und spendete einem Schreibtisch, auf dem sich staubige Akten stapelten, trübes Licht.
»Hier können Sie stöbern.«
»Aber es muss doch jemanden geben, der …«
»Das Personal hat komplett gewechselt. Wir tun, was wir können. Aber nehmen Sie sich alle Zeit der Welt. Es gibt auch Kinderheime und Waisenhäuser.« Sie zeigte auf den Aktenberg. »Wenn sie irgendwo ist, dann ist es hier vermerkt.«
»Clara. Sie ist jetzt neun Monate alt. Sie müsste schon lächeln können und sitzen!« Ingeborgs Stimme klang verzweifelt. »Sie muss doch bei irgendjemandem zu finden sein!«
»So Gott will …«, sagte die Nonne. »Ich bringe Ihnen Kaffee.« Sie strich Kathrin freundlich über den Kopf. »Und für dich haben wir sicher einen schönen Muckefuck.«
Unterwegs nach Schierchstadt, Juni 2013
»Und für mich einen schönen Muckefuck? Was hast du dir nur dabei gedacht, mir heute Morgen so eine Brühe zu bringen?«, sagte ich vorwurfsvoll. »Der Schatten einer Kaffeebohne auf eine Badewanne voll Wasser oder wie?«
Missmutig startete ich den Wagen. Jetzt trat ich sie doch tatsächlich an, die gefürchtete Fahrt in meine verhasste Heimat. »Wir haben tausend Kilometer vor uns – wie soll ich bei so einer Plörre bitte schön wach bleiben?«
»Das musst du doch auch gar nicht!«, sagte Ronja fröhlich. »Schließlich wechseln wir uns ab, Mama! Und damit du nicht gleich auf hundertachtzig bist, wenn ich fahre, dachte ich, ich mach den Kaffee heute mal nicht ganz so stark.«
»Damit ich seelenruhig zuschaue, wie du den Wagen auf hundertachtzig bringst? Das kannst du dir abschminken, meine Liebe.« Energisch setzte ich den Blinker und nahm die Ausfahrt. »Wir lassen es erst mal ganz langsam angehen. Und zwar auf dem Feldweg.«
Betont lässig stieg ich aus und umrundete dann mit schnellen Schritten die Kühlerhaube, um nicht gleich bei der ersten Fahrstunde von meinem Kind überfahren zu werden. Immerhin hatten wir die deutsch-österreichische Grenze bereits passiert und befanden uns in neutralem Niemandsland. Rechts und links Kornfelder, Kühe und bayrische Gemütlichkeit. Hier konnten wir in Ruhe üben.
»Wir müssen erst das L17-Schild anbringen.« Ronja pappte die blauen Schilder energisch an Windschutz- und Heckscheibe. »Und dann hab ich hier noch was entworfen …« Sie beugte sich nach hinten und griff nach einem selbst gemalten Plakat.
»Kannst du das noch an das hintere Seitenfenster kleben?«
Ich erstarrte. Unter einem riesigen Totenkopf stand in dicken roten Lettern: »Weiblich, 17, blond. Hupen zwecklos«.
»Willst du das ernsthaft …?«
»Mama! Sei doch cool! Ist doch lustig!«
»Na, wenn du meinst …« Ich befestigte ihr originelles Plakat mit Tesafilm. Besonders der Totenkopf war imposant.
»Na, dann wollen wir mal!« Ich klatschte in die Hände und ließ mich auf den Beifahrersitz fallen. Wir befanden uns auf einem asphaltierten Weg, der parallel zur Autobahn verlief. Die Sonne stand senkrecht am Himmel und brannte gnadenlos auf uns herab. Es war der erste Tag der Sommerferien. Unser Ziel hieß Schierchstadt. Aber wir hatten Zeit. Viel Zeit. Wenn wir kamen, waren wir da. Vorher nicht.
Ronja saß hinter dem Lenkrad und schaute mich auffordernd an.
»Gut«, sagte ich tapfer. »Hast du dir schon den Sitz richtig eingestellt?«
»Der passt. Ich bin so groß wie du.«
»Und die Spiegel?«
»Mama, Schierchstadt ist nur noch neunhundertachtundneunzig Kilometer entfernt!«
»Weißt du, wo das Gaspedal ist?«
»Natürlich!«
»Hast du etwa Flipflops an?«
»Soll ich Skistiefel anziehen bei der Hitze?«
»Und die Haare musst du dir auch zusammenbinden. Die hängen dir sonst in die Augen.«
Ich kam mir genauso spießig vor wie Hannah. Die hätte das auch gesagt. Die hätte vorher noch den Ölstand geprüft, das Reifenprofil gemessen, die orangefarbene Notfallweste angelegt und eine Vollkaskoversicherung abgeschlossen. Mir schauderte. Hannah – warum tat ich mir das an! Warum fuhren wir jetzt tatsächlich dorthin!
»Los, Pferdeschwanz, oder ich steig aus!«, ließ ich meinen Frust ab.
»Boh, Mama, du bist ja schon hysterisch, bevor wir überhaupt losgefahren sind!«
»Nee, mein Kind.« Ich schüttelte energisch den Kopf. »So geht das nicht.«
»Wie – so geht das nicht?!« Ronjas Stimme klang gefährlich aggressiv.
Ich schaute auf die Strohballen rechts und links und fürchtete, die knisternde Spannung hier bei uns im überhitzten Auto könnte sie jeden Moment Feuer fangen lassen.
Ich ließ das Fenster herunter und fächelte mir Luft zu. »Hör zu. Du willst fahren lernen. Ich kann es dir beibringen. Aber es gelten meine Regeln. Solange du deine Füße auf meine Pedale stellst, bestimme ich, wo es langgeht.«
»Und DU sagst, Hannah sei spießig?«
Ronja drehte sich die Haare zu einem verfilzten Knoten und schlüpfte in ihre Sneakers. »So. Zufrieden?«
»Wo sind die Schnürsenkel?«
»Habe ich mir in die Haare getan! Das wolltest du doch!«
»Nein, das wollte ich NICHT! Du brauchst Schnürsenkel in den Schuhen.«
»Okeeeeeh!« Ronja riss sich mit genervtem Blick die Schnürsenkel aus den Haaren und fädelte sie wutentbrannt in die Schuhe. In unserem Auto herrschten inzwischen Temperaturen wie in einer finnischen Sauna. Ronjas Haare fielen ihr zottelig ins Gesicht.
»Zufrieden?!«
»Lass den gereizten Ton.« Meine Stimme klang schrill.
»He? Du solltest mal DEINEN gereizten Ton hören!«
Meine Mutter Ursula hätte mir längst eine gescheuert. Nein, falsch. Die hätte mich nie im Leben in ihrem heiligen Kleinwagen fahren lassen. Die hätte mir mit siebzehn nie im Leben was anderes erlaubt als Kirchenchor, Klavier üben, Geschirr spülen und Rasen mähen.
»Ronja? Noch ein Wort, und du steigst aus.«
»Ja? Bitte schön! Dann kannst du aber alleine nach Schierch stadt fahren! Was soll ich in dem Scheißkaff! Ich trampe zurück und verbringe meine Ferien bei Papa und Sandra!«
»Gut«, sagte ich und staunte über meine gut gespielte Gelassenheit. »Das ist doch eine prima Idee.« Dabei traktierten tausend glühende Dolche mein Herz.
»Okay, Mama, wie du willst. Viel Spaß mit Hannah und deiner Mutter! Ich wünsch dir schöne Sommerferien!«
Verdammt. Das Kind saß eindeutig am längeren Schalthebel. Das konnte es mir doch nicht antun.
Doch. Es konnte.
Beleidigt schälte Ronja sich aus dem Auto, holte ihre Tasche aus dem Kofferraum und schwang sie sich über die Schulter. »Gute Fahrt und schöne Grüße!« Kaltherzig latschte sie in der glühenden Hitze davon. Ihre Rastalocken wippten.
Sie würde Ernst machen. Ich kannte mein Kind. Ronja war so kompromissbereit wie ein Sack Kartoffeln. Von wem hatte sie das nur?
Ich würde das allein nicht durchstehen. Nicht Schierch stadt im ehemaligen Zonenrandgebiet. Nicht die tausend Kilo meter. Nicht bei der Hitze. Nicht in meiner momentanen Ver fassung.
»Ronja!«, schnauzte ich und riss die Beifahrertür auf. »Komm sofort zurück!«
Ein Rennradfahrer konnte gerade noch ausweichen, sonst hätte ich ihn böse zu Fall gebracht. Er zeigte auf ein Schild und schrie, sich an den Helm tippend: »Das ist ein Radweg! Bist du bescheuert?!« Dann drehte er sich nach Ronja um, wahrscheinlich um abzuchecken, ob wenigstens sie weiblich, blond und siebzehn war. Und raste weiter, nicht ohne mir noch einen rüden urbayrischen Fluch hinterherzubrüllen. Irgendwas mit »Luada, damisches!«.
Zitternd setzte ich mich ans Steuer, legte den Rückwärtsgang ein und preschte mit aufheulendem Motor hinter Ronja her. So gekonnt wie möglich schnitt ich ihr den Weg ab. Sie sprang et was zu übertrieben in die Strohballen und ließ sich dort fallen.
»Willst du mich jetzt auch noch überfahren oder was?«
»Ronja. Los, steig wieder ein.«
»Wieso denn!?«
»Weil ich nicht will, dass du trampst.«
Sie lachte schnippisch und pflückte sich ein paar Strohhalme aus den Haaren. »Ich bin schon so oft getrampt, Mama! Du weißt es bloß nicht!«
Ich spürte, dass sie mir wehtun wollte. Sie fühlte sich in die Enge getrieben. Ich hatte sie in den letzten Tagen überfordert mit meinen Heulkrämpfen und Selbstvorwürfen, meinen Flüchen auf Frank, Sandra und deren Embryo namens Eumel. Schließlich handelte es sich um Ronjas Vater. Und ihr Halbgeschwisterchen.
»Komm, Ronja. Lass uns in Ruhe reden.« Meine Stimme zitterte. Ich half ihr auf und legte den Arm um ihre Schultern. Ihre Augen standen voller Tränen. Als ich das sah, stieg auch bei mir der Wasserpegel wieder an. Jetzt heulten wir beide. Wir saßen völlig erschöpft auf dem heißen Strohballen neben unserem heißen Auto und heulten heiße Tränen.
Ronja schmiegte ihre Wange an meine: »Sorry, Mami. Ich will dich doch nicht im Stich lassen! Aber ich bin halt auch so aufgeregt mit dem Fahren, und wenn wir beide solche Nervenbündel sind …«
»… schreiben wir an die Scheibe: ›Vorsicht, zwei hysterische Weiber!‹«
Ronja lachte unter Tränen. »Wir kommen nie in Schierchstadt an, oder?«
»Jedenfalls nicht heute.« Ich schob sie auf den Fahrersitz und setzte mich daneben.
»Heute versuchen wir es mal bis zum Waginger See.«
»Zum Vagina-See? Was kennst du denn für versaute Seen?!«
Wir schwankten beide zwischen Lachen und Weinen.
»Der Weg ist das Ziel«, sagte ich. »Kupplung drücken und gedrückt halten. Ersten Gang einlegen. Ich lasse jetzt den Motor an.«
Als wir abends auf dem Balkon unseres Hotels saßen, waren wir fix und fertig. Für die zwanzig Kilometer hatten wir zwei Stunden gebraucht. Ich hatte geschrien und ins Lenkrad gegriffen, sie hatte nach mir geschlagen. Ich hatte Schweißausbrüche wie im kubanischen Regenwald bekommen, der Wagen hatte gebockt und geschlingert, und als wir beinahe eine Kuh gerammt hätten, war mir das Adrenalin bis in die Haarwurzeln geschossen. Die Kuh hatte uns entrüstet angeblökt, und wir hatten uns zitternd vor Angst im wahrsten Sinne des Wortes vom Acker gemacht.
Einmal war uns ein Trecker entgegengekommen, und wir hatten die Augen zugekniffen, weil wir uns schon platt gewalzt wähnten. Nachdem ich entnervt das Warnblinklicht eingeschaltet hatte, kam der Jungbauer vom Trecker gesprungen und bot uns seine Hilfe an.
»Nein, danke. Wir brauchen keine Hilfe!«
»Aber Sie blinken doch.«
»Meine Mutter ist einfach nur hysterisch!«
»Meine Tochter hat noch keinen Führerschein.«
Es war zermürbend und anstrengend gewesen, aber schließlich hatte es geklappt. Ronja war schon im dritten Gang gefahren, hatte den Blinker gefunden (wenn sie auch gleichzeitig die Scheibenwischer angestellt hatte) und war schließlich mit fast blutig gebissenen Lippen auf den Hotelparkplatz gerollt. Ich quälte mich aus dem Auto wie aus einer Weltraumkapsel und hätte am liebsten den Boden geküsst. Wir waren angekommen! Am Waginger See!
Wir warfen uns hinein und spülten erst mal den Angstschweiß ab. Wir spritzten uns gegenseitig nass, tauchten uns unter und tobten herum wie die Kinder. Auf einmal wichen Anspannung und Aggression einer übermütigen Vertrautheit.
»Wer hat diese bescheuerte L17-Regelung eigentlich erfunden?«, fragte ich, als wir schließlich bei einem gespritzten Weißwein auf dem Balkon unseres kleinen Seehotels saßen.
»Keine Ahnung, Mama.« Ronja hatte frisch geduscht und war in ein Handtuch gewickelt. Mit ihrem Turban sah sie aus wie eine indische Prinzessin. In diesem Moment liebte ich dieses Kind so sehr, dass sich mein Herz schmerzhaft zusammenzog. Nicht auszudenken, wenn es zu Frank und Sandra abgehauen wäre! Ronjas Wangen waren gerötet vor Freude und Aufregung. »Ich find’s cool.«
»Was denken sich die Führerscheinleute eigentlich dabei, die armen unschuldigen Eltern auf den Beifahrersitz zu verbannen, wo sie kein eigenes Bremspedal haben wie die Fahrlehrer, und sie Todesängsten auszuliefern?«
»Vertrauen Sie Ihren Kindern«, hatte der Pimpf in der Fahrschule gesagt, als wir Eltern dort zu einer Infostunde aufschlu gen und unsere Unterschrift abgaben, damit wir das L17-Schild überhaupt bekamen. »Sie können mehr, als Sie glauben!«
Und auf meine bange Frage an die anderen Eltern, ob sie denn gar keine Angst hätten, ihrem Nachwuchs Leib, Leben und nicht unerhebliche Sachwerte anzuvertrauen, hatte ein völlig erleuchteter Vater behauptet, die Zeit mit dem Kind am Steuer sei für ihn die wertvollste Zeit überhaupt gewesen. Er habe dadurch eine tiefe Beziehung zu seinem Sohn aufgebaut, der vorher jahrelang nicht mehr mit ihm gesprochen habe.
»Macht doch Spaß!« Ronja nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas. »Und du bist cool, Mama! Danke, dass du das mit mir machst!«
»Aber wir können noch lange nicht auf die Autobahn.«
»Nee, will ich auch gar nicht.«
»Wir haben ja Zeit«, behauptete ich lässig.
Je später wir in Schierchstadt ankamen, desto besser. An meine dortige Kindheit erinnerte ich mich nur mit Grausen. In den letzten Jahrzehnten hatte ich immer weniger Ge danken an Schierchstadt und die dort freiwillig Lebenden verschwendet. Nur aus schlechtem Gewissen und mangels einer Alternative hatte ich diese Reise angetreten. Eigent lich bloß, um Frank, Sandra, Eumel und der schadenfrohen Restgemeinde zu entgehen. So nach dem Motto: »Duld ich schon hier Spott und Hohn, kann ich auch in Schierchstadt wohn’.«
»Also, wir fahren so langsam wie möglich. Wegen mir erst mal nur im zweiten Gang!«
Ronja lachte. »Ach mein kleines verängstigtes Mamilein! Ich habe doch auch Fahrrad fahren gelernt!«
»Ja. Und bist dabei in den Ententeich gefallen, Darling!«
Berlin, 1946
»Darling, wie war dein Tag heute?« John Bancroft sah Ingeborg Gärtner aus seinen dunkelbraunen Augen gutmütig an. »Immer noch keine Spur von Clara?«
Das »Clara« klang mit seinem amerikanischen R so weich und zärtlich, dass Ingeborg die Tränen in die Augen traten.
»Nein.« Sie schüttelte traurig den Kopf und starrte auf ihre Schuhspitzen. Kathrin versuchte, mit einem Stöckchen Figuren in den Dreck zu zeichnen. In ihrem knapp vierjährigen Leben hatte sich bisher alles um die Suche nach Familienmitgliedern gedreht, die sie gar nicht kannte. Erst ihr verschollener Vater Franz, der irgendwo bei den Russen geblieben war, und dann dieses Baby Clara, an das sie keinerlei Erinnerung hatte. Denn an die grässliche Nacht in diesem Krankenhaus wollte die Kleine nie wieder denken. Sie wusste nur, dass ihre Mutter dort etwas Blutiges hinterlassen hatte, dass sie schließlich durch einen gruselig-dunklen Schacht gekrochen waren und sich in einem Haufen ungewaschener Lumpen versteckt hatten, um diesen lauten, betrunkenen Soldaten zu entgehen, die hinter allen Frauen her waren, um ihnen wehzutun. Von einer Clara, die diese Katastrophe ja wohl ausgelöst hatte, wollte sie folglich nichts wissen.
»Well, Käthrrin«, tröstete John die Kleine. »Dein Schwesterchen spielt wohl gern Verstecken!«
»Die soll einfach wegbleiben«, murmelte Kathrin, den Blick zu Boden gerichtet.
John lachte sein melodiöses Lachen. »Wir drei haben es doch auch ganz gut, willst du damit sagen?!«
Sie standen vor der Kantine der Kaserne, in der John mit seinen Kameraden untergebracht war. Die Fenster waren geöffnet, und laue Frühlingsluft spielte mit den bunten Gardinen, die Ingeborg eigenhändig aus Stoffresten genäht hatte.
»Die ganze Kompanie hat schon großen Hunger«, plauderte John freundlich weiter. »Ohne Ingeborrrg gibt’s nix zu frrrressen.«
Kathrin richtete sich auf und staunte den baumlangen Schwarzen an. Sachen konnte der sagen!
»John, bitte!« Ingeborg räusperte sich und schaute vielsagend auf ihre Tochter. »Wie soll sie denn gutes Deutsch lernen?«
»Hauptsache, sie lernt gutes Englisch!« John lachte und nahm die Kleine auf den Arm. »Sobald die Army grünes Licht gibt, nehm ich euch mit nach California!« Er warf sie ein paar Mal in die Luft, und Kathrin jauchzte vor Vergnügen. »In California ist es immer warm, dort scheint immer die Sonne! Und es gibt icecream und Coca-Cola! Das schmeckt wie der Himmel!« Ja, der große schwarze Mann mit den weißen Zähnen und den lustigen Sprüchen war seit Langem das Beste, was ihr und ihrer Mama passiert war. Wie gut, dass sie sich in den Westsektor von Berlin gerettet hatten.
»Komm, Kathrin, wir müssen Kartoffeln schälen!« Ingeborg streckte die Arme nach ihrem Mädchen aus.
»Spiel noch mit mir, bitte, Dschonn!«, rief es verzückt.
Ingeborg schüttelte den Kopf, ging aber pflichtbewusst in die Kantinenküche und band sich eine Schürze um.
»Und?«, fragte Mechthild, die dralle Bauerntochter, die ebenfalls aus Schlesien geflüchtet war und gegen Hausarbeit Unterkunft und die schützenden, wärmenden Hände eines amerikanischen Soldaten erhalten hatte. »Gehst du mit, wenn es so weit ist?«
Ingeborg ließ das Messer und die Kartoffel sinken. Ihr Mund wurde schmal.
»Nicht, bevor ich Clara gefunden habe.«
»Und wenn sie tot ist?« Mechthild wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Sie sah Ingeborg prüfend an. »Ich meine, du musst den Tatsachen ins Auge sehen …«
»Wenn ich sicher weiß, dass sie tot ist …« Ingeborg starrte auf die schmutzige Knolle in ihrer Hand, und eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel. Entschlossen zog sie die Nase hoch, wischte sich mit dem Schürzenzipfel die Augen und verkündete: »Ich werde es so machen wie bei Franz. Wenn man es sicher weiß …« Sie sah Mechthild traurig an. »Wenn man weiß, dass es nichts mehr zu hoffen gibt, dann … Dann kann man irgendwann auch damit abschließen. Das Leben muss ja weitergehen. Schon wegen Kathrin.«
»John ist echt ein Volltreffer«, munterte Mechthild sie auf. »Einen besseren Vater für Kathrin kannst du gar nicht finden.« Sie schaute durch das Küchenfenster nach draußen, wo das übermütige Lachen der Kleinen sich mit dem Vogelgezwitscher eines Mainachmittags mischte: »Fangt doch einfach drüben ein neues Leben an!«
»Wie gesagt: Nicht solange ich nicht weiß, was mit Clara ist.« Ingeborg blickte ebenfalls aus dem Küchenfenster, und vor ihrem inneren Auge stand plötzlich ein Kinderwagen unter den Zweigen der Birke. »Sie ist jetzt genau ein Jahr.«
Mechthild strich ihr sanft über die Schulter. »Sie wäre jetzt genau ein Jahr. Finde dich damit ab, Ingeborg! Sie hat es nicht überlebt.«
Ingeborg wirbelte herum. »Woher weißt du das? Ist – Post gekommen?«
»Nein. Aber denk doch mal logisch! Wie hätte sie das schaffen sollen? Ein Frühchen! Nicht in dieser Kälte. In diesen grauenvollen Nächten, als die Russen kamen. Keine einzige Wöchnerin hat da drin überlebt. Geschweige denn ein mutterloser Wurm.«
Ingeborg zog unbewusst die Schultern hoch, als wollte sie die Hand ihrer Kollegin Mechthild abstreifen. Dabei wollte sie nur diese entsetzliche Vorstellung abstreifen. Doch Mechthild sagte einfach unverblümt die Wahrheit. Das war zwar grausam, aber hilfreich. Noch immer konnte Ingeborg sich nicht mit dem Gedanken abfinden. Obwohl ihre Vernunft dasselbe sagte. Der unterernährte Wurm war in den letzten Tagen des Krieges ganz einfach verreckt. Niemand hatte es bemerkt. Es gab keine Aktennotiz über seinen Tod. Und erst recht nicht über seinen Verbleib. Ihr Kind hatte einfach keine Spuren hinterlassen. Es existierte nicht mehr.
»Mädels, wo bleibt das Essen?«, rief John von draußen. »Plaudert ihr noch, oder kocht ihr schon?«
»Ja, Mädels, wo bleibt das Essen?«, quietschte Kathrin über mütig, die er wie ein Flugzeug zum Fenster hineingleiten ließ. Ihr blonder Zopf hing fast in den Riesenbottich mit dampfendem Salzwasser.
»Geh mit ihm mit!«, raunte Mechthild, die plötzlich geschäftig tat. »Und denk dran, Ingeborg: Mit John kannst du noch eine Menge Kinder kriegen. Geh nach Amerika! Bald wirst du es als Heimat bezeichnen.«
Unterwegs nach Schierchstadt, Juni 2013
Als Heimat konnte ich Schierchstadt weiß Gott nicht bezeichnen. Dabei hätte mich doch alles dorthin ziehen müssen: Wie in den amerikanischen Filmen, wo alle zu Thanksgiving Tausende von Meilen in die Heimat fliegen, nur um zusammen mit der Familie Unmengen von Truthahn zu verspeisen. Dabei wird immer gelacht, geplaudert und mit alten Cousins geflirtet. Der Vater ist ein gemütlicher Alter mit Strickjoppe und Stirnglatze, die Mutter total gutmütig. Und in der Küche beim Abwasch führen die weiblichen Familienmitglieder innige Gespräche, berichten von ihren Erfolgen im Berufsleben und ihren Problemen in der Ehe – halten auf jeden Fall total zusammen.
Warum hatte ich nur null Sehnsucht nach »zu Hause«? Warum schüttelte es mich regelrecht, wenn ich bloß daran dachte? Weil Schierchstadt nicht mein »Zuhause« war. Nie gewesen war. Für mich war Schierchstadt eine Ansammlung zweckmäßiger Reihenhäuser, ohne Stadtkern, ohne Geschichte, ohne Kultur und ohne Vergangenheit. Daran konnten die putzigen Früchtenamen der Straßen auch nichts ändern.
Trostloser kann man seine Kindheit nicht verbringen als in einem der vierzigtausend auf dem Reißbrett entstandenen Zweckbauten. Jede Straße in einer anderen Farbe: Im Brombeerenweg konnte man Pech haben und in blauschwarz angestrichenen Häusern wohnen, während man im Pfirsichweg in rosafarbenen und im Zitronenweg in grüngelben Behausungen sein Dasein fristete.
»Wir wohnten im Ananasweg 1 a«, berichtete ich Ronja. »Das war die allerfeinste Adresse, und unser Haus war sonnengelb. Wir wohnten im Südfrüchteviertel.«
»Ist doch süß.«
»Ja, aber Hannah wohnt jetzt im Dörrpflaumenweg, und ihr Haus hat die Farbe eines Hundehaufens.«
Ronja lachte sich kaputt.
»Ich bin gespannt, wie abgeblättert inzwischen die Rathausfassade auf dem Bananenplatz ist«, orakelte ich vor mich hin. »Und wie saftlos die Wassermelonenallee.«
Wir gingen alle Straßennamen durch, die uns einfielen, und hatten einen Riesenspaß. Unsere Reise nach Schierchstadt dauerte über eine Woche. Ronja und ich trauten uns anfangs nämlich noch nicht auf die Autobahn und gurkten planlos auf kurvigen Nebenstraßen herum. Aber die Zweisamkeit tat uns gut. Sie tat mir gut in ihrer frechen Unbekümmertheit, und ich tat ihr gut, weil sie so Kilometer für den Führerschein sammeln konnte. Und weil ich endlich mal nur für sie da war. Keine konnte vor der anderen weglaufen. Keine konnte türenknallend im Nebenzimmer verschwinden, sich hinter Laptop oder Handy verschanzen und sich Kopfhörer oder die Bettdecke über die Ohren ziehen.
Wir waren einander ausgeliefert. Auf Gedeih und Verderb. Und das war gut so. Wir würden noch früh genug nach Schierchstadt kommen. Statt elterlichem Trost entgegenzufahren, wie in besagten amerikanischen Truthahnfilmen, wartete eine Mutter, von der ich mich seit Langem entfremdet hatte. In einer Stadt, die ich schon lange verlassen hatte. Ich hätte auch eine Mondlandung planen können. Es graute mir davor. Wenn wir nach ein paar Kilometern wieder irgendwo Pause machten, auf einer Bank saßen oder im Gras lagen, wenn wir durch ein gemütliches altes Städtchen bummelten, Eis essend auf einem Mäuerchen saßen oder in einem Freibad auf der Wolldecke lagen, forderte Ronja mich schon nach kurzer Zeit auf, mehr von Schierchstadt zu erzählen. Und von Dunkelweiher, dem Ortsteil hinter der Grenze. Von uns Schierchstädtern gern auch das »Tal der Ahnungslosen« genannt. Wir belächelten es, wähnten uns auf der sicheren, besseren Seite. Schierchstadt war der moderne Westen, allerdings mit dem Charme eines Schuhkartons. In Dunkelweiher herrschte zwar seit 1961 die Politik des Ostens, und Westfernsehen war verboten, aber immerhin befand sich dort der malerische alte Ortskern: zwei romanische Kirchen, backsteinerne Schulen, das altmodische Theater, der Park mit dem verwitterten Schloss, das früher ein Musikinternat samt Konservatorium gewesen war, und das Rathaus, an dem ein bronzener Pferdekopf hing. Die Altstadt mit ihren Fachwerkhäusern aus dem Mittelalter verfiel zwar langsam, aber es gab sie noch. Das alles kannte ich als Kind nur aus Erzählungen meiner Mutter Ursula und aus ihrem grünen Fotoalbum mit den spärlichen Schwarz-Weiß-Fotos aus ihrer eigenen Jugend.
Dunkelweiher wurde von ihr immer geschildert wie das Paradies. Ach, wie glücklich sie damals alle waren, in der Nach kriegszeit, in ihren Lastexhosen und Faltenröcken. Immer wenn sie von ihren Freunden aus dem Chor erzählte, war sie wieder in einer anderen Welt.
Na ja, wer verklärt seine Jugend nicht? Mutter hatte am Dunkelweiher Konservatorium Musik studieren wollen, war aber vom Mauerbau insofern überrascht worden, als sie ausgesperrt wurde! Die anderen durften alle bleiben, nur sie nicht. Ihr Elternhaus mit der Bäckerei stand auf dem Zipfel Westen, aus dem später Schierchstadt werden sollte.
Der Mauerbau vollzog sich innerhalb weniger Tage. »Kein Mensch hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!« Viele Anwohner glaubten diesen Worten und trafen keine Vorkehrungen. Dunkelweiher duckte sich in jenem Sommer 1961 im Schatten seiner alten Bäume und stellte sich tot, so als würde man es dann nicht bemerken. Aber der Stacheldraht wurde gezogen. In den Sommerferien, als niemand rüber zur Schule ging. Erst hielten das alle für einen Scherz, aber als sie den Ernst der Lage erkannten, war es schon zu spät. Wo der schwarz rauschende Bach, die wild wachsenden Büsche und Bäume eine natürliche Grenze gebildet hatten, stand bald eine dicke Betonmauer. Sie sollte die beiden Welten für achtundzwanzig Jahre trennen wie die Dornenhecke das Dornröschenschloss vom Prinzen. Heute war Dunkelweiher längst wieder wach geküsst. Liebevoll restauriert mit florierender Kultur in Kirchen und Theatern. Dunkelweiher war heute ein schmuckes Vorzeigestädtchen. Und Schierchstadt, unsere »Heimat«, eine verfallende Trabantenstadt.
Der Tag des Mauerbaus war für meine Mutter und ihre Freunde ein schrecklicher Schock. Lange verwahrte man sich gegen die Trennung der beiden Stadthälften. Freunde wurden auseinandergerissen, aber auch Liebespaare, ganze Familien. Uschi konnte nicht auf ihr geliebtes Konservatorium gehen.
Mutter erzählte immer von dem sagenumwobenen Grenzkonzert, das sie mit ihren Schulkollegen noch am letzten Abend vor den Sommerferien 1961 gegeben hatte. Man versammelte sich damals jeden Abend im wildromantischen Schattenbachtal, »lungerte« dort herum, wie Bäckermeisterin Lina, meine Großmutter, damals schimpfte, und probte trotz des bereits hochgezogenen Maschendrahtzauns für das Sommerkonzert im Freien – so wie jedes Jahr. Das müssen unvergessliche Szenen gewesen sein. Meine Mutter hatte die Dunkelweiher Einheitshymne selbst komponiert und dirigiert, und die ganze Stadt sprach noch lange davon. Der Zeitungsausschnitt mit dem Grenzchorbild war mir noch deutlich vor Augen, so oft hatte sie ihn uns gezeigt: Mutter steht rechts, und ihre beste Freundin Renate steht links vom Zaun, jeder in einem Teil des Schulchores, und sie singen gemeinsam und halten sich sogar durch den Maschendraht an den Händen.
Die Grenzsoldaten hüben wie drüben duldeten offenbar die romantischen Eskapaden. Sie »guckten weg«, aber weghören konnten sie nicht. Den meisten standen dabei Tränen in den Augen, und der Legende nach sangen sogar einige mit. Es war ein bisschen wie bei Asterix und Obelix, mit dem einzigen Dorf, das sich gegen die römische Belagerung wehrt und sie schlichtweg ignoriert, indem es sein eigenes Leben stur weiterführt.
Nur dass sich die Mauer mit Selbstschussanlage irgendwann nicht mehr ignorieren ließ. Sie wurde so hoch und breit gebaut, dass keine Chorproben mehr möglich waren, noch nicht mal mit Fernglas und Megafon. Da zerbrach der Traum vom Grenzchor.
Um diese Zeit lernte Mutter unseren Vater Ewald kennen, der mit dem Aufbau der Neustadt im Westen betraut war. Und weil ihm die temperamentvolle Uschi mit ihren ausgefallenen Ideen so gefiel, ließ er sie die Straßennamen aussuchen. Bald suchten sie die Namen für ihre gemeinsamen Kinder aus. Und Ursula Klüger, wie meine Mutter nun seriöserweise hieß, wurde in Schierchstadt zu einer angesehenen Persönlichkeit. Sie war nicht nur die Frau des Städteplaners, sondern auch Musiklehrerin und Organistin, hatte die Stadt also voll im Griff. Aber sie wurde nie wieder die Legende, die sie in Dunkelweiher gewesen war. Als die Mauer achtundzwanzig Jahre später fiel, versuchte Mutter, sofort wieder einen vereinigten »Chor ohne Grenze« zu gründen, und kramte die selbst komponierte Dunkelweiher Einheitshymne hervor. Aber wie bei den Comedian Harmonists ist es nie wieder richtig was geworden. Es lagen ja mittlerweile ganze Generationen dazwischen, die Leute hatten hüben und drüben das Weite gesucht, und auch der Musikgeschmack hatte sich deutlich geändert. »In einem kleinen Apfel« war nicht mehr unbedingt jedermanns Lieblingslied und »die bunten Fahnen« wehten auch nicht mehr so doll.
Das alles erzählte ich Ronja unterwegs. Wir übernachteten in lauschigen kleinen Pensionen und kuschelten uns abends im Bett zusammen, flüsterten und kicherten stundenlang. Tagsüber übten wir gewissenhaft. Jeder kleine Weg wurde genutzt, um hineinzufahren und zu wenden. Erster Gang, zweiter Gang, Rückwärtsgang, unermüdlich. Ronjas Eifer färbte auf mich ab. Wir ließen nichts aus. Auf einem abgelegenen Waldparkplatz trainierten wir das Rückwärts-Einparken. Ich steckte ihr mit Stöcken Parklücken ab, zuerst riesengroße, in die bequem ein ganzer Reisebus gepasst hätte, dann immer engere. Sie rangierte tausendmal hin und her, und ich saß im lauen Sommerwind auf einem Baumstamm, genoss das Rascheln der Blätter, den Tannenduft und das Spiel von Sonne und Schatten auf meiner Haut. Immer kleiner wurde der Schmerz um Frank und Sandra. Mir wurde klar, dass unsere Liebe schon lange dem Reisebüro zum Opfer gefallen war. Nur um der Leute willen hatten wir den Schein des intakten Ehepaares aufrechterhalten. Was uns immer miteinander verbinden würde, war Ronja. Ich betrachtete ihr Profil und spürte, wie unendlich lieb ich dieses Kind hatte. Ihre Zungenspitze schaute heraus, so konzentriert war sie. Immer wieder fuhr sie krachend die Äste um, sodass ich fast Mitleid mit der Karosserie und den armen Reifen bekam. Das Auto starrte nur so vor Dreck. Manchmal kamen Waldarbeiter oder Trecker fahrende Bauernburschen vorbei. Sie lachten über das »Weiblich-17-blond-Hupen-zwecklos«-Schild mit dem Totenkopf, blieben stehen und gaben Ratschläge. Ronja flirtete und kokettierte ein bisschen, und ich flirtete und kokettierte auch ein bisschen, um mein angeknackstes Ego zu trösten. Am Abend saßen wir auf einer sommerlichen Wirtshausterrasse und taten so, als wären wir Schwestern. Wie schnell mein Küken doch groß geworden war, wie selbstbewusst und stark! Ich erzählte geradezu manisch von meiner trostlosen Jugend in Schierchstadt. Ich hatte eine Menge verdrängt, und das sprudelte jetzt aus mir heraus wie aus einer kaputten Wasserleitung:
»Von wegen mit siebzehn durch die Kneipen ziehen und mit Barkeepern Spaß haben! Wir durften in den Kirchenchor, und wenn eine von uns sich eine kleine Verfehlung geleistet hatte, war dieser Spaß auch vorbei!«
»Boah eh, ich glaub es nicht! Kirchenchor und Spaß!«
»Ja, das war das Einzige, was uns abends nach neunzehn Uhr außer Haus gestattet war. Ich erinnere mich noch gut an meine Vier in Latein, die mir dann die Teilnahme an der Kantate ›Du aber, Daniel, gehe hin‹ verwehrt hat. Während Hannah, die eine Drei geschrieben hatte, das Solo singen durfte!«
»Du aber, Daniel, geh scheißen!«, sagte Ronja trocken.
Ich belehrte meine Tochter, dass es sich um eine Kantate von Telemann handele, aber sie meinte unbeeindruckt, dass Telemann bestimmt genauso ein Langweiler sei wie Tilmann aus ihrer Klasse.
»Nee, das hat meinem Ego einen tiefen Knacks gegeben: Dass Hannah und ich immer miteinander verglichen wurden. Sie das Solo und ich auf der Zuhörerbank – eine schlimmere Schmach konnte meine Mutter mir nicht antun.«
Ronja seufzte. »Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit.«
»Wer sagt das?«
»Sören Kierkegaard.«
»Wow. Mein gebildetes Mädchen.«
Ronja sah mich mit halb zusammengekniffenen Augen an. »Habt ihr euch schon immer gehasst?«
Ich schluckte. »Wir hassen uns doch nicht.«
»Natürlich nicht«, sagte Ronja mit spöttischem Unterton. »Ihr liebt euch heiß und innig.« Sie riss ihre Serviette in Fetzen. »Nur dass ihr seit zwanzig Jahren fast nicht mehr miteinander redet.«
»Wir haben uns halt total auseinandergelebt«, verteidigte ich mich. »Unterschiedlicher kann man gar nicht sein.«
»Singt sie immer noch im Kirchenchor das Solo in dem Lied, wo Daniel sich vertschüssen soll?«
»Er soll hingehen«, sagte ich. »Bis das Ende komme.«
»Sicher so ne Art ›Hit the Road Jack‹ für Arme.«
Ich musste grinsen. »Für Fromme.«
»Krass, dabei seid ihr doch Zwillingsschwestern! Sie so voll das Landei und du die Jetsetterin!«
Ich zuckte die Achseln. »Sie hat es nicht anders gewollt. Ich will deswegen kein schlechtes Gewissen haben. Es war ihre Entscheidung.«
»Sie hätte Sprachen studieren können«, stellte Ronja fest. »Und reisen. So wie du!«
»Hat sie aber nicht gemacht.« Ich atmete scharf aus. »Sie hat Klaus Wasserthal geheiratet und mit ihm sein florierendes Beerdigungsinstitut.«
»Und als du damals mit Frank das Reisebüro aufgemacht hast?«
»Haben sich alle entsetzlich aufgeregt.« Ich nahm einen Schluck Wasser. »Klüger Reisen.« Ich machte eine weit ausholende Geste. »Sie haben mir schon übel genommen, dass ich den Namen Klüger missbraucht habe.«
»Aber so heißt du doch? Wieso missbraucht?!«
»Klüger stand in Schierchstadt für klassische Klaviermusik und braves Beamtentum – nicht für Luxushotel und Highlife!«
»Die Schierchstädter waren ganz schön neidisch auf dich, stimmt’s?«
»Hm«, machte ich dumpf. »Sie haben immer gesagt, eines Tages komme ich reumütig wieder angekrochen.«
»Verdammt, dann hatten sie ja recht!« Ronja schlug mir gönnerhaft auf die Schulter. »Du kommst wieder angekrochen. Im zweiten Gang.«
Endlich wagten wir uns mit klopfenden Herzen zum ersten Mal auf die Autobahn.