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**Du wirst dich verwandeln, ob du das willst oder nicht.** Als Effie ihrem neuen Nachbarn Eden zum ersten Mal begegnet, spürt sie sofort, dass sie sich lieber von ihm fernhalten sollte. Aber ihre Neugier und die Gefühle, die der mysteriöse junge Mann in ihr auslösen, sind stärker. Denn Eden ist kein gewöhnlicher Mensch, er ist ein Elementar und auf magische Weise mit seinem Seelentier verbunden. Schnell gerät Effie in einen Strudel aus Geheimnissen und Gefahren, in dem sie schon bald nicht mehr weiß, wer ihr Freund und wer ihr Feind ist… Lass dich von der Erfolgsautorin Anna-Sophie Caspar verzaubern und tauch ein in die fantastische Welt der Elementare! //Die E-Box zur Verzaubert-Reihe enthält folgende Romane: -- Verzaubert 1: Geheimnisvolle Nachbarn -- Verzaubert 2: Gefährliche Freunde -- Verzaubert 3: Gefürchtete Feinde// Diese Reihe ist abgeschlossen.
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Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
In diesem E-Book befinden sich eventuell Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Carlsen Verlag GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Im.press Ein Imprint der CARLSEN Verlag GmbH © der Originalausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2017 Text © Anna-Sophie Caspar, 2016, 2017 Coverbild: © PhilippKunze Covergestaltung: Philipp Kunze k-arts.info, formlabor Gestaltung E-Book-Template: Gunta Lauck Satz und E-Book-Umsetzung: readbox publishing, Dortmund ISBN 978-3-646-60368-2 www.carlsen.de
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Im.press Ein Imprint der CARLSEN Verlag GmbH © der Originalausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2016 Text © Anna-Sophie Caspar, 2016 Redaktion: Christin Ullman Umschlagbild: © PhilippKunze Umschlaggestaltung: Philipp Kunze k-arts.info, formlabor Gestaltung E-Book-Template: Gunta Lauck Schrift: Alegreya, gestaltet von Juan Pablo del Peral
Vom Fluss stieg ein modriger Geruch auf. Mit ihrer freien Hand hielt sie sich an der feuchten Mauer der Brücke fest, die ihr gerade mal bis zum Bauchnabel reichte. Kleine Kieselsteine drückten sich in die Haut ihrer Handfläche.
Effie spähte hinunter in die Elbe. Der Fluss plätscherte nicht ruhig vor sich hin, wie sie es von ihm kannte. Heute wühlte und schäumte er, mit einer Kraft, die sie ihm nicht zugetraut hätte. Immer wieder schlugen Wellen gegen die Steine am Ufer und zogen sich wütend wieder zurück. Als würde er erst in der Nacht zum Leben erwachen.
Die Mauer stellte den einzigen Schutz zwischen ihr und dem strömenden Fluss dar. Nur ein sehr dummer oder depressiver Mensch würde mit dem Gedanken spielen, über diese Hürde zu springen. Oder ein Verzweifelter, wie Effie.
Wussten eigentlich alle, was sie nach der Schule machen wollten, nur Effie nicht? Während ihrer Fahrt zum Bäcker kreisten ihre Gedanken immer wieder um dieses Thema. Ihr wurde schon ganz schwindelig davon. Erst diese Woche hatte sie ihre letzte Abiturprüfung geschrieben. Jetzt hieß es: abwarten. Hoffentlich musste sie nicht nachschreiben, sie hatte in den vergangenen Monaten genug gebüffelt. Das Einzige, was sie sich wünschte, war ihr Zeugnis, und zwar mit guten Noten. Wofür hatte sie sonst das Schuljahr wiederholt?
Aber das Gute war: Sie hatte bis zur Zeugnisvergabe keinen Unterricht mehr. So konnte sie sich wenigstens von den vielen Monaten des Lernstresses erholen.
Mit aller Kraft trat sie in die Pedale ihres grün lackierten Hollandrades. Die Kette knirschte, knackte und Effie schaltete schnell einen Gang runter, bevor sie sich noch verhakte. Ihr Vater musste die Kette dringend ölen. Sie atmete tief ein. Für Anfang Mai war es sehr warm. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel, der Geruch des Nachttaus lag noch in der Luft und die Apfelbäume des Obsthains, an dem die Straße vorbeiführte, bekamen bereits kleine weiße Blüten. Ganz eindeutig ein Morgen, an dem man sich nicht zu viele Gedanken über die Zukunft machen sollte.
Effie freute sich ja auch, dass ihr bald die Welt offenstand. Sie konnte eine Weltreise machen wie ihr Freund Leon. Vielleicht sogar mit ihm zusammen, das wäre romantisch. Aber im Gegensatz zu ihr hatte Leon sein Abitur schon im vergangen Jahr bestanden. In einem Monat kehrte er bereits zurück von seiner Reise, da lohnte es sich nicht mehr, zu ihm zu fliegen. Bestimmt dachte er das Gleiche und fragte sie deswegen nicht, ob sie nachkommen wollte. Leon war eben sehr rücksichtsvoll. Und er war ganz bestimmt nicht auf einem ›Ego-Trip‹, wie ihre große Schwester Kathy es sagte.
Wie auch immer, hier in Jork war es doch auch sehr schön. Schließlich kamen nicht ohne Grund jedes Jahr eine Menge Touristen in die kleine Vorstadt von Hamburg. Und Effie war hier alles vertraut, sie kannte jeden Winkel des Städtchens, weil sie hier geboren und aufgewachsen war. Das war wirklich toll. Wirklich, wirklich toll. Was wollte man denn mehr?
Ein lautes Hupen riss sie aus ihren Gedanken und im nächsten Moment überholte sie ein großer schwarzer Geländewagen. Er fuhr so dicht an ihr vorbei, dass sie ins Schwanken geriet. Nur in letzter Sekunde gewann sie die Kontrolle über ihr Fahrrad zurück.
Sie bremste, stieg ab und atmete ein paarmal tief ein und aus, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Ihre Knie waren ganz weich vor Schreck. Dieser hirnlose Autofahrer!
Den restlichen Weg bis zur Bäckerei schob sie ihr Fahrrad.
***
Die Hitze in der Bäckerei übertraf die milde Maiwärme. Es duftete nach frisch gebackenen Brötchen. Hinter der Theke hetzten zwei Verkäuferinnen gestresst hin und her. Eine von ihnen bediente die Kunden, die andere beeilte sich, die fertigen Brötchen aus dem Ofen zu holen und neue Teiglinge hineinzuschieben. Während Effie wartete, blickte sie auf ihr Smartphone. Keine neuen Nachrichten. Weder bei Facebook noch bei WhatsApp. Dabei hatte sie Leon schon mehrere Texte geschrieben. Und er lud andauernd neue Urlaubsfotos bei Facebook hoch. Da! Jetzt hatte er auch sein WhatsApp-Profilfoto geändert. Er stand mit Surfbrett und Sonnenbrille am Strand vor einem türkisfarbenen Meer. Wie immer sah er einfach gut aus. Sie seufzte. Wo war er noch mal gerade? Auf Bali? Allmählich verlor sie den Überblick, so häufig, wie er die Orte wechselte.
»Der Nächste, bitte.« Die monotone Stimme der Verkäuferin lenkte Effie ab. Sie bestellte Brötchen und Croissants für das sonntägliche Familienfrühstück und für sich einen Cappuccino zum Mitnehmen. Man musste sich schließlich auch was gönnen.
Während sie auf ihre Bestellung wartete, betrachtete sie wieder die neuen Urlaubsfotos ihres Freundes. Vielleicht sollte sie ihm noch einmal schreiben. Es konnte ja sein, dass er sich, bei all den Eindrücken seiner Reise, nicht mehr an ihre Nachrichten erinnerte. Aber vielleicht reichte es auch erst einmal, wenn sie seine Fotos mit einem Gefällt mir kommentierte. Sie klickte auf ein Bild und entdeckte darunter den Kommentar eines Mädchens. Fay. Sie kannte keine Fay.
Skeptisch begutachtete sie ihr Profilfoto. Sie war hübsch, aber ganz und gar nicht Leons Typ. Ihre Haare waren lang und blond. Effie trug ihre dunkelbraunen Haare fast immer zu einem Zopf nach oben gebunden.
Zugegeben, der sonnige Teint des Mädchens sah besser aus als ihre blasse Haut. Nur die Sommersprossen auf Effies Nase konnten den Eindruck erwecken, dass sie die letzten Monate mal die Sonne gesehen hatte. Aber das war eine Täuschung. Ihre Sommersprossen hatte sie das ganze Jahr über. Doch jetzt hatte sie endlich mal wieder ein bisschen Zeit, das schöne Wetter zu genießen. Wenn sie viel Zeit in der Sonne verbrachte, bekamen ihre Haare immer einen leichten roten Schimmer. Und gegen ihre blauen Augen kam Fay mit ihren braunen Rehaugen auch nicht an. Oder vielleicht doch?
Die Verkäuferin legte Effies Bestellung auf den Tresen. Sie zahlte, nahm die Brötchen und den Cappuccino und blickte wieder auf das Display. Es war ja okay, dass er neue Leute kennenlernte, aber warum schickte diese Fremde ihm ein Herzchen? Da musste sie erst einmal Klarheit schaffen. Vielleicht wusste Fay ja nicht, dass Leon in einer Beziehung war. Könnte ja sein, dass er vergessen hatte, dies zu erwähnen. Und Herzchen und Küsschen schicken konnte Effie auch. Obwohl … Er mochte das eigentlich nicht. Egal, Fay hatte es schließlich auch gemacht. Effie musste sich nur etwas Schönes überlegen, das sie unter das Foto schreiben konnte. Hastig begann, sie mit der freien Hand auf das Display zu tippen, während sie sich von der Theke abwandte.
Wie sch…
… schrieb sie. Weiter kam sie nicht, denn sie lief direkt gegen den Kunden, der hinter ihr stand. Der Deckel des Cappuccino-Bechers rutschte herunter und bevor sie es verhindern konnte, schwappte der Kaffee auf das hellblaue T-Shirt des jungen Mannes und verteilte sich darauf.
Langsam sah sie auf und blickte in grüne, verärgerte Augen. Wenn sie mit so einer Ladung heißen Kaffees überschüttet worden wäre, hätte sie vermutlich laut aufgeschrien. Aber er wirkte, als könne ihm der heiße Kaffee überhaupt nichts anhaben. Sein Gesichtsausdruck ließ sie nur darauf schließen, dass er genervt war.
»D-das tut mir wirklich leid«, stotterte Effie. Sie griff sich eine Handvoll Servietten von der Theke und versuchte damit, sein Hemd abzutrocknen. Getuschel ging durch die Schlange der Wartenden. Ihr Gesicht begann zu glühen. Warum konnte man sich in solchen Momenten nicht einfach in Luft auflösen?
»Tut mir wirklich leid«, wiederholte sie, »ich bezahle Ihnen natürlich die Reinigung.«
»Ist schon in Ordnung.« Sanft, aber bestimmt zog er ihre Hand von seinem Oberkörper. »Darf ich?« Er nickte mit dem Kopf in Richtung Theke.
Irritiert folgte sie seinem Blick. Dann verstand sie. Klar durfte er. So schnell sie konnte, wich sie zur Seite. Ohne ihr weitere Beachtung zu schenken, wandte er sich an die Verkäuferin.
***
Draußen vor der Bäckerei atmete sie tief durch. Es gab diese Tage, da sollte man besser im Bett liegenbleiben. Und heute war eindeutig einer davon.
Sie merkte, dass sie immer noch den Stapel Servietten in der Hand hielt, und warf ihn in den Mülleimer neben der Eingangstür. Von ihrem Cappuccino war nur noch ein winziger Schluck übrig. Sie trank ihn aus und schmiss auch den Pappbecher weg. In diesem Moment schwang die Eingangstür der Bäckerei auf. Der Mann mit ihrem Cappuccino auf dem Hemd kam mit einer Brötchentüte und mehreren Kaffeebechern bepackt heraus. Er lief, Effie ignorierend, direkt auf einen schwarzen Geländewagen zu und stieg auf der Fahrerseite ein. Aber das war doch … Das war der schwarze Geländewagen, der sie geschnitten hatte.
Er fuhr aus der Parklücke und brauste davon.
Vor dem Gartentor zu Effies Haus lungerten drei Mädchen im Alter ihres 14-jährigen Bruders Josh herum. Vielleicht waren sie auch etwas jünger. Als die Mädchen sie erblickten, begannen sie zu kichern.
»Ist Josh da?«, fragte eine von ihnen. Effie lächelte, zuckte die Schultern, huschte eilig durchs Gartentor und ließ die schwärmenden Mädchen auf der Straße zurück. Die Pubertät war doch ein elendiger Lebensabschnitt. Schwärmerei, Herzschmerz, unerwiderte Liebe, Pickel … Also 14 wollte sie nicht noch mal sein. Damals hatte sie, genau wie diese Mädchen, sehnsüchtig vor dem Haus von Hendrik Müller gestanden. Er war zwei Klassen über ihr gewesen und Sänger in der Schulband. Vermutlich wusste er bis heute nicht einmal, dass sie existierte.
Als sie ihr Fahrrad an die Garagentür lehnte und die Brötchentüte aus dem Fahrradkorb nahm, hörte sie Valentina hinter sich »Eva!« rufen. Eva war ihr richtiger Name, aber sie mochte es nicht, wenn man sie so nannte. Das wusste Valentina. Ihre Cousine wohnte nur zwei Häuser weiter. Allerdings waren ihre Eltern häufig auf Geschäftsreise. Effie hatte sie in diesem Jahr erst zweimal gesehen, wenn sie sich richtig erinnerte. Waren Valentinas Eltern mal wieder unterwegs, kochte Effies Mutter für sie mit. Sie gehörte sozusagen schon fast zur Familie. Valentina öffnete das Gartentor, ignorierte die schmachtenden Mädchen und stöckelte hinüber zu Effie. Mit debilem Blick lugte Valentinas Chihuahua Rosalinde aus ihrer Handtasche.
»Hast du's schon gesehen?« Valentina reckte ihren Kopf und spähte hinüber zur ehemaligen Villa der Familie Kaiser. »Wie es aussieht, bekommen wir neue Nachbarn.«
Effie folgte ihrem Blick. Tatsächlich: Vor der Kaiser-Villa parkte ein Umzugswagen. Seit Jahren stand die Villa leer. Efeu kletterte bereits die Hausfassaden hoch und ein paar Kinder, sie vermutete darunter auch ihren Bruder Josh, hatten Fensterscheiben mit Steinen eingeworfen.
Zwei Frauen und zwei Männer, keiner von ihnen älter als dreißig, standen vor der Villa und begutachteten die Siedlung. Sie machten alle einen sehr sportlichen Eindruck. Eine der Frauen war dunkelhäutig, hatte ihre langen, lockigen Haare zu einem hohen Zopf gebunden und trug Jeans und ein einfaches, graues T-Shirt. Die andere Frau war komplett in Schwarz gekleidet. Vielleicht lag es an ihrem schwarzen Bobhaarschnitt, aber ihre Haut wirkte geradezu bleich. Neben ihr stand ein mindestens zwei Meter großer Mann und betrachtete grimmig die Siedlung. Seine Haare hatte er kurz geschoren und sein Sweatshirt schaffte es nicht, seine kräftigen Armmuskeln zu bedecken. Im Kontrast dazu lächelte der andere Mann ein Zahnpasta-Lächeln, das sehr gut zu seinem braunen Teint, seinen blonden Locken und seiner athletischen Erscheinung passte.
Und dann stockte Effie der Atem. Ein schwarzer Geländewagen fuhr die Straße hinunter und parkte direkt neben dem Umzugswagen. Die Beifahrertür wurde geöffnet und ein Japaner in Lederjacke stieg aus. Grinsend sprang er auf die dunkelhäutige Frau zu und wuschelte mit der Hand durch ihre Haare, dass sich ihr Zopf löste. So lange, bis diese es schaffte, ihn lachend von sich zu schieben und ihre Haare wieder zusammenzubinden. Dann ging die Fahrertür auf und der Mann mit dem riesigen Cappuccinofleck auf dem T-Shirt stieg aus.
»Oh, là, là, wer ist das denn?« Valentina zog ihre Sonnenbrille zur Nasenspitze herunter, um ihn genauer zu betrachten. »Aber was hat er mit seinem Hemd gemacht?«
Effie starrte ihn einfach nur an. Erst, als Valentina mit der Hand vor Effies Gesicht herumfuchtelte, schaffte sie es, ihren Blick von ihm zu lösen.
***
In der Küche duftete es nach frisch gebrühtem Kaffee. Ihre Mutter goss sich gerade eine Tasse ein. Valentina setzte sich neben Effies Vater an den Frühstückstisch, der sein Gesicht hinter der Tageszeitung vergraben hatte. Nur seine zotteligen schwarzen Haare lugten hervor.
Effie kippte die Brötchen und Croissants in ein Körbchen in der Mitte des Tisches und setzte sich auf einen Platz mit Blick aus dem Fenster.
»Hmm, lecker!« Ihr Vater legte die Zeitung beiseite und griff sich ein Brötchen. Sie fand, dass er Albert Einstein verdammt ähnlich sah, mit weißen Haaren hätte man ihn glatt für einen Doppelgänger gehalten.
Auf der anderen Straßenseite parkte die Frau mit dem schwarzen Bob gerade den Umzugswagen rückwärts zur Eingangstür der Villa um. Der Mann mit den Locken öffnete die Hintertür und gemeinsam mit den anderen begannen sie, die Möbel auszuladen. Nur den Mann mit ihrem Cappuccino auf dem Hemd konnte Effie nirgends sehen.
»Mensch, Effie! Warum hat das so lange gedauert?« Josh ließ sich auf einen Stuhl zwischen Effie und Valentina plumpsen und griff sich gleich zwei Brötchen. »Ich bin am Verhungern!«
Ohne zu grüßen schlurfte auch Kathy in die Küche. Ihre Haare standen zerzaust in alle Richtungen. Verschlafen nahm sie sich einen Joghurt aus dem Kühlschrank, setzte sich auf den noch freien Platz, zog den Deckel ab und bespritzte dabei ihr T-Shirt mit Joghurt. Genervt wischte sie die kleinen Tropfen weg. Seitdem sie ihr Jura-Examen machte, war sie kaum noch ansprechbar.
»Hört euch das an.« Die Tageszeitung lag aufgeschlagen neben ihrem Vater auf dem Tisch, er biss von seinem Marmeladenbrötchen ab und las mit vollem Mund vor: »Wanderer im Feerner Moor vermisst. – Vor zwei Wochen verschwanden in einem Naturschutzgebiet im Landkreis Stade zwei Touristen. Von einer Wanderung im Feerner Moor kehrten sie nicht mehr zurück. Ihr grüner Peugeot 206 wurde am Waldrand gefunden, wo er nach Zeugenaussage bereits seit zwei Wochen parkte. Die Männer, beide um die vierzig Jahre alt, hatten nach Aussage der Vermieterin des Ferienappartements nur einen Tagesausflug geplant. Die Polizei bittet um sachdienliche Hinweise.«Er räusperte sich. »Das Feerner Moor ist höchstens 20 Kilometer von Jork entfernt. Bitte geht nicht dahin, bis sich alles aufgeklärt hat.«
Alle nickten gehorsam. Ihr Vater schielte über seine Lesebrille zu Effie herüber. »Eva, du auch nicht, okay?«
Sie nickte nochmals.
Das war wirklich nicht fair. Nur weil sie einmal im Ferienlager mit ein paar anderen Kindern heimlich eine Nachtwanderung gemacht hatte, bei der sie sich leider verlaufen hatten und erst am nächsten Tag von den Betreuern gefunden wurden, glaubte ihr Vater, sie sei lebensmüde.
Außerdem fielen ihr bei Weitem schönere Dinge ein, als wandern zu gehen. Sie konnte mal wieder an den See fahren und sich sonnen, Eis essen gehen, einen Cocktail schlürfen und sie war schon Ewigkeiten kein Tretboot mehr gefahren. Durch den Abiturstress hatte sie alle Dinge vernachlässigt, die ihr Spaß machten, und sie musste sie dringend nachholen. Gleich morgen würde sie damit anfangen. Ablenkung tat ihr sowieso gut, jetzt wo sie nach Monaten mal wieder Zeit hatte und Leon nicht da war.
Wieder blickte sie aus dem Fenster. Der große bullige Typ klappte die Hintertüren des Möbeltransporters zu, fuhr ihn dann aus der Einfahrt und parkte ihn am Straßenrand. Auch der Mann mit ihrem Cappuccino auf dem Hemd hatte sich wieder zu den anderen gesellt. Jetzt trug er allerdings ein schwarzes Kapuzenshirt.
Herr von Steinhausen, der drei Häuser weiter wohnte, lief gerade an der Villa vorbei, blieb stehen und grüßte. Nur knapp erwiderten zwei von den neuen Nachbarn den Gruß und wandten Herrn von Steinhausen den Rücken zu. Er blieb noch eine Weile stehen. So wie Effie ihn kannte, versuchte er wahrscheinlich, ein Gespräch zu beginnen. Doch er wurde von den Neuankömmlingen völlig ignoriert. Wie gemein. Wie konnte man nur so unhöflich sein?
»Wo guckst du denn die ganze Zeit hin?« Josh folgte ihrem Blick.
»Oh, neue Nachbarn«, stellte er dann fest.
Jetzt sahen auch die anderen hinüber zur Kaiser-Villa.
In Effies Zimmer herrschte Chaos. Während der letzten Monate hatte sie viele Dinge vernachlässigt. Aber wie das im Leben so war, musste man manchmal einfach Prioritäten setzen. Mit dem Fuß stieß sie eine Jeans zur Seite, die auf dem Boden lag, und stieg über einen Stapel Bücher hinüber zu ihrer Couch.
Ihr Smartphone piepte. Unwillkürlich machte ihr Herz einen fröhlichen Hüpfer. Es war eine WhatsApp-Nachricht von Leon. Endlich antwortete er ihr. Endlich hatte er etwas Zeit.
Leon Was sollte dein Kommentar unter meinem Foto auf Facebook?
Ihr Kommentar auf Facebook? Wann hatte sie denn eines seiner Fotos kommentiert? In der Bäckerei hatte sie es vorgehabt, aber dann kam ja ihr kleiner Cappuccino-Fauxpas dazwischen. Und danach hatte sie Leon erst mal vergessen.
Eine weitere Nachricht traf ein.
Leon Willst du mich blamieren? Meine ganzen Freunde lesen das.
Sie rief sein Facebook-Profil auf. Er hatte ihren Kommentar bereits gelöscht. Aber dank der Facebook-Datenspeicherung konnte sie selbst ihn noch lesen.
Effie Wie scheiß bgfwrr
Verdammte Worterkennung. Bei dem Zusammenstoß mit dem Mann musste sich ihr Handy selbstständig gemacht haben.
Aber trotzdem: Der Kommentar war zwar blöd, aber bestimmt nicht gewollt. Und Leon übertrieb schon ein bisschen, dass er sich so darüber ärgerte, oder? Die nächste Nachricht traf ein.
Leon Du bist meine Freundin! Du solltest mich unterstützen!
Ja, aber das machte sie doch auch! Sie hatte doch eigentlich etwas ganz anderes schreiben wollen. Und zwar: Wie schön es da aussieht. Genieß deine Zeit. Ich liebe dich.
Und dann ganz viele Herzchen und Küsschen. Ihr war eben nur etwas dazwischengekommen und ein klitzekleiner Fehler unterlaufen. Nur, wie sollte sie ihm das nun erklären? Er schien wirklich wütend zu sein. Aber ihr fiel nichts Gutes ein. Also schrieb sie gleich mehrere Nachrichten:
Effie Das wollte ich gar nicht schreiben.
Effie Sorry!
Effie Mein Handy hat sich selbstständig gemacht.
Effie Ich hoffe, es hat niemand gelesen!
Effie Schön von dir zu hören. Geht es dir gut?
Und dann setzte sie noch ein paar Smileys und Küsschen hinterher. Aber er antwortete nicht mehr. War er wirklich so sauer wegen dieser Kleinigkeit? Wie konnte man nur so übertreiben?
Genervt legte sie ihr Handy weg. Da wartete sie tagelang auf eine neue Nachricht von ihm und dann so was. Dabei hatte sie es doch nur nett gemeint. Sie wollte doch nur mal wieder mit ihm reden. Allerdings hatte sie sich den ersten Kontakt nach einigen Tagen Funkstille irgendwie anders vorgestellt.
***
Vielleicht war es keine so gute Idee gewesen, das Handy zu Hause zu lassen. Effie hatte es auf ihren Schreibtisch gelegt und sich in den Bus in Richtung Altstadt gesetzt, damit sie auf andere Gedanken kam. Was sie jetzt allerdings bereute.
Erstens war es ganz schön langweilig, wenn man allein unterwegs war und kein Handy dabeihatte, mit dem man sich beschäftigen konnte, und zweitens hätte sie gern sofort reagiert, wenn Leon ihr doch noch schrieb. Ansonsten musste sie bestimmt wieder Tage warten, bis sie etwas Neues von ihm hörte. Aber wahrscheinlich musste sie das sowieso.
Jetzt saß sie im klimatisierten Bus und starrte aus dem Fenster. Sie musste sich einfach ablenken. Zu Hause hatte sie nur noch auf ihr Smartphone geschaut, in der Hoffnung, dass er ihr doch noch antwortete.
Bevor sie losgefahren war, hatte sie noch einmal versucht, die Wogen zu glätten. Also hatte sie unter sein aktuell hochgeladenes Facebook-Foto einen ganz süßen Kommentar hinterlassen. Selbstverständlich hatte sie auch nicht vergessen, Ich liebe dichdazuzuschreiben und ganz viele Küsschen anzufügen. So fand diese Fay hoffentlich von selbst heraus, dass er schon eine Freundin hatte.
Der Bus hielt an der Endstation und die Türen gingen auf.
Als sie ausstieg, fühlte es sich an, als beträte sie eine Sauna. Drückende Hitze, die Sonne stand bereits hoch am Himmel und nicht mal ein bisschen Wind blies zur Erfrischung. Und das im Mai.
Ziellos schlenderte sie über die mit Kopfstein gepflasterten Straßen, vorbei an hübschen Fachwerkhäuschen. Obwohl die Geschäfte geschlossen waren, trieb es viele Leute in die Einkaufspassage. Eine Gruppe Touristinnen mit einem Stadtplan in den Händen lief an ihr vorbei. Sie steuerten auf die Jorker Kirchengemeinde zu, die heute das Café zum Garten Eden betrieb. Nur an einem Wochenende im Jahr öffnete das Café als Vorgeschmack auf das Altländer Blütenfest, das am nächsten Wochenende stattfand.
Jork war bekannt für seine Obstplantagen und jedes Jahr, wenn die Kirsch- und Apfelbäume zu blühen begannen, wurde ein großes Fest veranstaltet. Und die Vorfreude auf das Blütenfest lag schon in der Luft.
In ihrer Lieblingseisdiele kaufte sie sich ein Eis. Sie hatte schon lange kein Eis mehr gegessen. Das letzte Mal war sie mit Leon hier gewesen.
Leon … Plötzlich schmeckte es nur noch halb so gut.
Sie seufzte und ging wieder zurück zur Bushaltestelle; das mit dem Ablenken funktionierte nicht so gut.
Ein Blick auf den Fahrplan verriet ihr, dass sie noch eine Viertelstunde warten musste, bis der nächste Bus kam.
Sie setzte sich auf einen der Plastiksitze an der Bushaltestelle, hielt ihr Gesicht in die Sonne und schloss für ein paar Minuten die Augen. Warum war Leon so gemein? Er hatte sich nicht mal erkundigt, wie ihre Abschlussprüfungen verlaufen waren. Allmählich bekam sie das Gefühl, dass Kathy vielleicht doch Recht hatte und Leon sich nur noch für sich selbst interessierte. Und das war wirklich ein schlechter Zeitpunkt. In ein paar Wochen stand der Abschlussball an, da wollten sie zusammen hingehen. Und darauf freute Effie sich jetzt schon seit einem Jahr! Leon hatte versprochen, bis dahin von seiner Weltreise zurück zu sein. Hoffentlich hielt er sein Versprechen auch und verlängerte seine Reise nicht.
Und wenn er nicht rechtzeitig zurückkam? Dann musste sie allein zum Abschlussball gehen! Das würde sie nicht ertragen. Die Leute redeten jetzt schon viel zu viel.
»Weißt du, wie spät es ist?«, fragte eine klare Frauenstimme.
Effie öffnete ihre Augen. Eine Frau mit langen blonden Haaren, die sie zu einem Zopf geflochten hatte, stand vor ihr. Sie schätzte sie auf um die dreißig.
Dann hörte Effie ein Summen, als wäre eine Biene oder Wespe in der Nähe. Sie blickte sich um, konnte aber nichts sehen.
»Hören Sie das auch?«
Die Frau fasste sich an ihren Oberarm. »Was meinst du?«
»Dieses Summen.«
Sofort schüttelte die Frau den Kopf. »Lebst du hier?«, fragte sie stattdessen.
»Warum?« Es ging sie nun wirklich nichts an, wo sie lebte. Stellte man einem wildfremden Menschen so eine Frage?
»Ich bin neu hier. Ich dachte, du hast vielleicht Zeit, mir die Stadt zu zeigen.«
Misstrauisch sah sie die Frau an. Dann schüttelte sie den Kopf. Vielleicht war die Frau eine Touristin. Aber dann sollte sie sich an eines dieser Touristenbüros wenden, die Stadtrundführungen anboten.
Der Bus bog um die Ecke und hielt vor ihnen. Endlich. Effie sprang auf und hastete auf die sich öffnende Tür zu. In dem Moment, als sie in der Tür stand, packte die Frau Effies Arm.
»Es dauert nicht lange«, sagte sie leise, so dass nur sie es hören konnte. Effie drehte sich um und versuchte, sich aus dem Griff zu befreien. Aber die Frau fasste noch fester zu. Bis es wehtat.
»Lassen Sie mich los!« Woher nahm so eine kleine Frau diese Kraft?
Anstatt sie loszulassen, fixierte sie Effie mit ihren Augen. Und so etwas hatte sie noch nie gesehen. Zumindest nicht bei einem Menschen. Nur Katzen oder Schlangen hatten solch eine Augenfarbe. Die Farbe der Iris der Frau war Gelb.
»Komm mit mir«, sagte die Frau mit eindringlicher Stimme.
»Lassen Sie mich sofort los!« Effie schrie jetzt. Die Augen der Frau formten sich zu Schlitzen und gleichzeitig wirkte sie erstaunt.
»Werden Sie von dieser Frau belästigt?«, mischte sich ein Fahrgast ein und auch ein weiterer Mann stand auf, um ihr zur Hilfe zu kommen. Selbst der Busfahrer erhob sich.
Die Frau blickte von Effie zu den anderen Fahrgästen. Dann ließ sie ihren Arm los.
»Schon gut.« Sie trat einen Schritt nach hinten.
Effie wich zurück und die Bustüren schlossen sich vor ihr.
Erst, als der Bus losfuhr und sie um die nächste Ecke bogen, entspannte sie sich etwas.
»Danke.« Sie schenkte den Männern, die ihr helfen wollten, ein Lächeln und setzte sich auf einen freien Platz. Dann betrachtete sie ihren Unterarm. Er schmerzte und sie hatte Abdrücke von Fingern auf ihrer Haut. Was für eine irre Frau!
Die ganze Busfahrt über klopfte ihr Herz. Selbst noch, als sie das restliche Stück nach Hause lief.
***
Ihr Smartphone lag immer noch auf ihrem Schreibtisch. Mit angehaltenem Atem schaltete sie es ein. Sie hatte eine neue Nachricht. Sie war von Leon. Er hatte ihr doch noch geantwortet.
Leon Tut mir leid, Effie, ich hab überreagiert. Wollen wir die Tage mal telefonieren?
Und ob sie das wollte. So schnell sie konnte, tippte sie eine Antwort.
Effie Ja, gern. Wann hast du denn Zeit?
Wie hatte sie ihr Handy nur zu Hause lassen können, als sie in die Stadt gefahren war? Wie hatte sie überhaupt fahren können? Und warum war sie nicht sofort nach oben gegangen, um nachzusehen, ob Leon geantwortet hatte, sondern erst nachdem sie noch mit ihren Eltern den Sonntagabend-Blockbuster geschaut hatte?
Draußen war es längst dunkel. Durch ihr halb geöffnetes Fenster zog von der Straße der Geruch des abkühlenden Asphalts hoch in ihr Zimmer. Sie starrte hinaus. Mal abwarten, wann Leon sich wieder meldete. Während sie vor sich hin grübelte, sah sie, wie die Eingangstür der Kaiser-Villa geöffnet wurde. Zwei der neuen Nachbarn traten heraus. Der Japaner und der Cappuccino-Mann.
Ohne Worte miteinander zu wechseln gingen sie zu ihrem direkten Nachbarhaus, dem der Grüners, und klingelten. Nach und nach gingen im Haus die Lichter an und als die Tür geöffnet wurde, stand dort die gesamte Familie Grüner. Sogar die gerade mal zwei Jahre alte Ina lag im Halbschlaf in Frau Grüners Armen. Sie tauschten ein paar Sätze aus und gingen dann alle gemeinsam in den Hausflur. Die Tür schloss sich hinter ihnen.
Nach etwa fünf Minuten verließen die beiden Männer das Haus wieder, gingen zum nächsten und im Haus der Grüners erloschen die Lichter wieder.
Wie es aussah, statteten sie jeder Familie in dieser Siedlung einen Besuch ab. Um elf Uhr abends. War das nicht etwas spät, um sich der Nachbarschaft vorzustellen?
Als sie auf Effies Haus zukamen, begann ihr Herz schneller zu schlagen, dabei gab es doch überhaupt keinen Grund dafür. Sie sprang von der Fensterbank, unschlüssig, ob sie hinunterlaufen sollte. Sie betrachtete ihre geschlossene Zimmertür. Es schellte. Ihr Herz raste noch schneller.
»Wer klingelt denn so spät noch?« Ihr Vater stampfte durch den Flur.
Jemand öffnete die Haustür.
Die Fußtritte der anderen hallten durch das Haus. Sie hörte die Stimme von einem der Männer, aber verstand nicht, was er sagte. Das Ganze dauerte ungefähr fünf Minuten. Und dann wurde die Haustür wieder geschlossen.
Effie entspannte sich. Sie öffnete ihre Zimmertür einen Spalt und sah, dass Josh gerade die Treppe hochgerannt kam.
»Hey!« Sie winkte ihn zu sich. »Was wollten die neuen Nachbarn?«
Josh runzelte die Stirn. »Was willst du von mir?«
»Na, die neuen Nachbarn. Was haben sie erzählt? Haben sie wenigstens einen guten Grund, so spät abends durch die ganze Siedlung zu ziehen?« Sie versuchte, geduldig zu bleiben.
Er schüttelte den Kopf. »Mann, Effie, du bist echt komisch.«
Und ohne nur eine Frage zu beantworten ging er ins Bad und schloss die Tür hinter sich. Seitdem er in der Pubertät war, konnte man wirklich nichts mehr mit ihm anfangen.
Leise schlich sie aus ihrem Zimmer und lief die Treppe hinunter. In der Küche rauschte der Wasserkocher und ihre Eltern unterhielten sich. Als sie zu ihnen trat, blickte ihre Mutter auf und lächelte ihr zu.
»Möchtest du auch noch einen Tee, Schätzchen?«, fragte sie und schüttete ihr eine Tasse ein, bevor sie antworten konnte.
Sie nahm die Tasse Tee entgegen.
»Was wollten die neuen Nachbarn?«, fragte Effie so beiläufig wie möglich.
Ihr Vater kratze sich fragend am Kopf.
»Wer?« Ihre Mutter wirkte irritiert. »Geht's dir nicht gut, mein Schatz?«
Sie blickte von ihrer Mutter zu ihrem Vater. Langsam reichte es. Erst wollte Josh sie nicht einweihen und jetzt taten ihre Eltern auch, als wüssten sie von nichts.
»Die neuen Nachbarn, mit denen ihr vor ein paar Minuten noch geredet habt. Die dort drüben in der Kaiser-Villa einziehen! Wieso waren sie hier?«
Beide starrten sie an. Niemand sagte etwas. Bis ihre Mutter vorsichtig fragte: »Ist wirklich alles in Ordnung, Effie?«
Ungläubig starrte sie ihre Eltern an. Gut, offenbar wollten sie sie nicht einweihen.
»Wisst ihr was?«, sagte sie lauter als gewollt, »dann behaltet es doch für euch!«
Immer noch mit der Tasse Tee in ihrer Hand, drehte sie sich um und während sie aus der Küche stampfte, hörte sie ihre Mutter noch fragen: »Was hat sie bloß?«
Lautes Dröhnen, das klang, als würde ein Flugzeug landen, riss Effie aus dem Schlaf. Verschreckt suchte sie nach einem Lichtschalter, bis sie merkte, dass dies nicht nötig war. Durch ihr Fenster strahlte es, als wäre am Horizont ein Stern explodiert. Doch als sie hinausblickte, sah sie, dass es immer noch Nacht war. Das Licht kam von der Kaiser-Villa. Es leuchtete nicht nur aus allen Fenstern, sie hatten auch im Vorgarten Strahler aufgestellt, die die gesamte Siedlung erhellten.
Effie kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder, um sicherzugehen, dass wirklich geschah, was sie dort sah und sie es sich nicht nur einbildete oder etwa träumte.
Die neuen Nachbarn renovierten doch tatsächlich mitten in der Nacht die Villa. Nicht nur ein weiterer Umzugswagen parkte in der Einfahrt, sondern im Vorgarten stand zudem ein riesiger Baumüllcontainer.
Der Mann mit den blonden Locken hockte auf dem Dach und entfernte sämtliche mit der Zeit spröde gewordenen Dachziegel. Nur geschah dies in einem Tempo, dass Effie seinen Bewegungen kaum folgen konnte. Eine nach der anderen warf er hinunter in den Container. Am laufenden Band kamen die zwei Frauen mit großen Beuteln, bis oben hin gefüllt mit abgekratzter Tapete, aus dem Haus und warfen sie ebenfalls in den Container.
Und die drei übrigen Männer bauten einen Zaun rund um die Villa herum.
Dass dieses Gebäude renoviert werden musste, stand außer Frage. Aber doch nicht um diese Uhrzeit!
Am meisten wunderte es Effie allerdings, dass sich niemand sonst über diese Lärmbelästigung beklagte. Nicht einmal Herr von Steinhausen, der sogar meckerte, wenn die Kinder tagsüber beim Spielen zu laut schrien.
Womöglich war dies die Angelegenheit, die die zwei Männer am späten Abend mit der ganzen Nachbarschaft besprochen hatten. Wäre Effie mal dazugekommen und hätte sich nicht feige in ihrem Zimmer versteckt. Dann hätte wenigstens sie die Courage besessen, den neuen Nachbarn mitzuteilen, dass sie sich in keinster Weise damit einverstanden erklärte, sich den Schlaf durch eine nächtliche Baustelle rauben zu lassen.
Sie stampfte zum Schlafzimmer ihrer Eltern. Das Schnarchen ihres Vaters drang über den gesamten Korridor. Das … Wie konnte er bei dem Lärm bitte schlafen?
»Mama!«, rief sie und stieß ohne Klopfen die Schlafzimmertür ihrer Eltern auf.
»Hörst du das denn nicht?«
Ihre Mutter gab ein Grunzen von sich und knipste einen Augenblick später die Nachttischlampe an.
»Was ist los?« Verschlafen schob sie ihre Augenmaske auf die Stirn.
»Hörst du das denn nicht?«, wiederholte Effie und zeigte aus dem Fenster.
»Was soll ich denn hören?«, fragte ihre Mutter müde.
»Den Lärm!«
»Effie«, ihre Mutter nahm ihre Armbanduhr vom Nachttisch, »es ist drei Uhr nachts.«
»Ja«, Effie stemmte empört ihre Arme in die Hüften, »unfassbar, oder?«
»Ich weiß nicht, was du meinst.« Ihre Mutter setzte sich auf. »Das Einzige, was ich höre, ist das Schnarchen deines Vaters.« Dann seufzte sie. »Hattest du einen Albtraum, Mäuschen? Soll ich dir einen Tee machen?«
»Nein.« Fassungslos sah sie ihre Mutter an. Also, dass konnte nicht wahr sein. »Ich brauche keinen Tee.«
Dieser Krach war doch nicht zu überhören? Auch wenn ihre Mutter wirklich wirkte, als hätte sie geschlafen. Nur war dieser Gedanke einfach zu abwegig. Nein, es war nahezu unmöglich. Ob sie vielleicht Schlafmittel genommen hatten? Die ganze Siedlung? Denn in den umliegenden Häusern schien es auch niemanden zu stören. Ganz offensichtlich störte es niemanden außer Effie.
Sie brummte ihrer Mutter noch »Gute Nacht« zu und ging in ihr Zimmer. Bevor sie sich wieder in ihr Bett legte, rollte sie die Jalousien an ihrem Fenster herunter. Doch selbst mit Ohrstöpseln in den Ohren und dem über ihren Kopf gezogenen Kissen bekam sie kein Auge zu.
Erst am frühen Morgen, als der Krach verstummte, schlief sie endlich ein.
***
Als Effie aufwachte, dröhnte ihr Kopf, als hätte sie die Nacht zuvor eine Menge Alkohol getrunken. Stechende Schmerzen an der Schläfe zwangen sie, erst einmal liegenzubleiben.
Es war ruhig im Haus. Und auch in der Siedlung. Nur das Rufen einiger Kinder, die draußen spielten, drang durch die Luft. Aber im Vergleich zu dem Lärm in der Nacht war dies geradezu eine Wonne für die Ohren.
Sie starrte eine Weile an die Decke. Dann quälte sie sich aus dem Bett. Ein Blick auf den Radiowecker verriet ihr, dass es bereits zwei Uhr am Nachmittag war.
Leon hatte ihr immer noch nicht geantwortet.
Effie zog die Jalousien hoch, kniff kurz ihre Augen vor dem grellen Sonnenlicht zusammen und sah hinüber zur Villa.
Die Villa strahlte geradezu. Man hätte meinen können, sie wäre neu gebaut worden. Die zerschlagenen Fenster waren ausgetauscht, die Ziegel auf dem Dach neu gelegt und an der Fassade war keine Spur von Efeu mehr zu sehen. Aber das Auffälligste war der Zaun aus Holzlatten und Eisenstangen, der nun das gesamte Anwesen umgab.
Und das war alles in einer Nacht geschehen. Irgendetwas stimmte hier doch nicht.
Ganz davon abgesehen, kam es nie gut an, Zäune zu bauen. Wenn die Nachbarschaft sich schon nicht über die nächtliche Lärmbelästigung beschwerte, dann doch zumindest darüber.
Möglicherweise hatten sie es deshalb in der Nacht getan. Effie schüttelte den Kopf über diese absurde Idee; als ob diese Leute sich Gedanken darüber machten, was andere über sie dachten. Sie taten doch sowieso, was sie wollten. Und wie es aussah, wollten sie besonders eines: Ihre Ruhe haben. Eine deutlichere Botschaft konnte so ein Zaun nicht ausdrücken.
Jetzt war es still dort drüben in der Villa. Kein Wunder, sie konnten bestimmt gut schlafen, nachdem sie die ganze Nacht gearbeitet hatten.
Sie schleppte sich ins Badezimmer, streifte ihre Schlafsachen ab, stieg in die Dusche und drehte das Wasser auf. Als die dicken Tropfen auf sie herunterprasselten, schaffte sie es für einige Minuten, ihre Gedanken auszuschalten und zu entspannen.
Nach der Dusche fühlte sie sich frischer. Sie stieg aus der Kabine, trocknete sich ab, zog ihren Bademantel an und wischte dann mit einem Handtuch den vom Wasserdampf beschlagenen Spiegel frei. Prüfend blickte sie hinein.
Dunkle Ringe zeichneten sich unter ihren Augen ab. Mit etwas Concealer ihrer Mutter versuchte sie, diese abzudecken. Aber das half nicht wirklich.
Seufzend drehte sie ihren Rücken zum Spiegel und zog den Bademantel so weit herunter, bis ihr linkes Schulterblatt frei lag. Jedes Mal nach dem Duschen betrachtete sie diese Stelle; es war eine Art Ritual, das sie sich mit der Zeit angewöhnt hatte.
Seit Effie denken konnte, zeichnete sich ein etwa zwei Euro großer Fleck auf ihrer Schulter ab. Anfangs dachten ihre Eltern, es wäre ein bösartiges Muttermal und liefen mit ihr von einem Hautarzt zum anderen. Aber immer wieder bekamen sie dieselbe Antwort. Es war einfach eine Hautvernarbung. Zwar hatte kein Arzt so etwas zuvor gesehen, aber es schadete auch nicht.
Wenn sie gewollt hätte, wäre es mit einer Lasertechnik möglich gewesen, die Vernarbung zu reduzieren. Aber irgendwie mochte sie die Narbe. Es war, als wäre sie ein wichtiger Teil von ihr. Manchmal glaubte sie, dass die Form sich änderte; doch dann war es wieder, als hätte sie es sich nur eingebildet. Dies behielt sie allerdings für sich, weil sie wenig Lust hatte, wieder unzählige Ärzte aufsuchen zu müssen.
Sie zog sich T-Shirt und Jeanshose an, rubbelte sich ihre Haare trocken und ging hinunter in die Küche.
Eigentlich war es völlig normal, dass sie an diesem Montag allein zu Hause war. Schließlich mussten die anderen arbeiten, studieren oder zur Schule gehen. Und Effie hatte jetzt frei. Dennoch wunderte sie es. Diese Nacht hatte sie so erschöpft, dass sie es weder geschafft hätte, zur Schule zu gehen noch zu arbeiten. Sie fragte sich, wie ihre Eltern, Kathy und vor allem Josh es fertiggebracht hatten, am Morgen aufzustehen.
Aus dem Obstkorb in der Küche griff sie sich einen Apfel und ging hinaus, um das Werk der neuen Nachbarn näher zu betrachten.
Auf der Straßenseite gegenüber der Villa blieb sie stehen. Bis auf den drei Meter hohen Zaun konnte sie kaum etwas sehen. Von ihrem Zimmer aus hatte sie eine bessere Sicht.
Sie ging hinüber und berührte den Zaun. Holzlatte reihte sich an Metallstange. Man konnte nicht hindurchschauen.
Effie lief ein paar Meter den Zaun entlang. Vielleicht war ja irgendwo eine Öffnung, durch die sie einen Blick erhaschen konnte.
Vor einem großen Schild, das an den Holzlatten befestigt war, blieb sie stehen. Sie biss in ihren Apfel, während sie die Aufschrift las.
VORSICHTTreibsandgefahrBetreten des Geländes strengstens verboten.
Treibsand? Hier in Jork? Effie prustete los. Das war wirklich ein schlechter Scherz. Wie erklärten sie dann bitte, dass mitten im ›Treibsand‹ eine Villa stand? Eine die gerade erst frisch renoviert wurde? Also bitte, wer sollte denn diesen Schwachsinn glauben? Kopfschüttelnd ging sie weiter. Hier musste der Garten sein. Den konnte sie von ihrem Zimmer leider nicht sehen. Sie blickte den Zaun hinauf. Warum kletterte sie nicht einfach hoch? Effie blickte sich um, biss noch ein paarmal von ihrem Apfel ab, kaute schnell und warf den Apfelgriebs hinter sich ins Gras. Sie brauchte irgendetwas, worauf sie sich abstützen konnte. Wenn sie nur oben an das Ende des Zaunes gelangte, konnte sie sich daran hochziehen wie bei einem Klimmzug. Nur, um ganz kurz hinüberzuschauen. Effie ging ein paar Schritte weiter und stieß wieder auf ein Schild, das vor Treibsand warnte.
Hier konnte sie es versuchen. Mit einem Blick über die Schulter versicherte sie sich, dass niemand sie beobachtete. Dann fasste sie mit beiden Händen oben an das Schild und zog es fest nach vorn. Das Blech bog sich ein wenig. Jetzt musste sie es nur schaffen, sich so weit hochzuziehen, dass sie sich wenigstens mit einem Fuß daraufstellen konnte.
Gerade als sie genau dies versuchte, was sich als schwieriger herausstellte, als sie sich vorgestellt hatte, räusperte sich jemand hinter ihr.
Sie hielt inne.
»Was machst du da?«, fragte eine männliche Stimme.
Zugegeben, sie kam sich etwas blöd vor, jetzt wo sie hier hing wie ein Äffchen in seinem Klettergerüst. Vorsichtig sah sie zur Seite.
Mit vor der Brust verschränkten Armen blickte der Cappuccino-Mann sie an und durchbohrte sie mit seinem Blick.
Langsam kletterte sie wieder hinunter, stellte sich vor ihn und glättete ihr T-Shirt.
»Nichts«, sagte sie und versuchte einen unschuldigen Blick aufzusetzen. Dieser Blick hatte ihr auch geholfen, als sie in der Schule beinahe beim Schummeln erwischt wurde oder vorgestern, als ihr Vater wissen wollte, wer denn die ganze Tafel Schokolade gegessen hatte, die er gerade erst gekauft hatte.
Misstrauisch zogen sich die Augenbrauen des Mannes zusammen. »Kennen wir uns irgendwoher?«
Und dann schien er sich zu erinnern. »Warte mal … Bist du nicht das Mädchen, das mich mit ihrem Kaffee übergossen hat?«
Effie räusperte sich und wurde rot.
»Was machst du hier? Wolltest du über den Zaun klettern? Ist dir nicht klar, dass Treibsand etwas sehr Gefährliches ist?«
So wie er mit ihr redete, kam sie sich vor wie ein kleines Kind, dem man erklärte, warum es nicht bei einer roten Ampel über die Straße laufen durfte.
»Dieses Schild wurde nicht ohne Grund angebracht.« Er wies auf das Schild, das nun etwas verbogen war.
»Ja, aber bestimmt nicht, weil sich hinter dem Zaun Treibsand befindet.« Sie murmelte es mehr zu sich selbst.
»Was willst du damit sagen?« Seine Miene verfinsterte sich.
»Ich will damit sagen, dass ich es ganz schön unverschämt finde, dass ihr mitten in der Nacht diese Villa renoviert und einen Zaun baut. Es kann ja sein, dass ihr mit der restlichen Nachbarschaft etwas anderes vereinbart habt, aber ich hätte gern geschlafen.«
Oh Mann, klang das spießig. Aber es war doch wahr.
Monki, die Katze der Familie Grüner streifte an ihrem Bein vorbei und miaute. Aber sie ließ sich davon nicht ablenken.
Einen Moment schwiegen sie beide.
Dann fragte er: »Wohnst du hier in der Gegend?«
Hier in der Gegend? Er war wirklich unglaublich. »Ich wohne direkt dort drüben.«
Sie zeigte auf ihr Zimmer, damit ihm klar wurde, dass sie die nächtlichen Baumaßnahmen überhaupt nicht hatte überhören können.
Mit Daumen und Zeigefinger rieb er sich über die Stirn, sah zu dem Haus und dann wieder zu Effie. Und sie glaubte, ihn so etwas wie »merkwürdig« murmeln zu hören.
»Aber deine Eltern haben nichts gehört?« Er wartete auf eine Antwort.
»Nein«, sagte sie langsam, »zumindest tun sie so.«
Wieder brummte er etwas Unverständliches vor sich her. »Wie war dein Name noch mal?«, fragte er dann.
Misstrauisch sah sie ihn an. Sie konnte sich nicht erinnern, ihm ihren Namen verraten zu haben. Aber nun gut, sie hatte nichts zu verbergen. Es durfte ruhig jeder wissen, dass sie sich über ihn und seine Freunde ärgerte.
»Effie Berger. Und wie heißt du?«
Er zögerte kurz. »Eden«, sagte er dann.
»Eden?«, wiederholte sie. »So wie der Garten Eden?«
Er nickte.
»Und weiter?«, hakte sie nach.
Kleine Fältchen bildeten sich zwischen seinen Augenbrauen und er wirkte, als wüsste er nicht, was sie von ihm wollte.
»Wie ist dein Nachname?«, fragte sie daher noch einmal etwas deutlicher.
Er schnaubte, verdrehte die Augen und ließ einige Sekunden verstreichen.
»Kaiser«, sagte er dann schroff und sah sich um, als prüfte er die Umgebung.
»Kaiser?«, wiederholte Effie. Das war schon ein merkwürdiger Zufall, dass er genau den gleichen Nachnamen trug wie die Familie, die zuvor in der Villa gewohnt hatte. Oder … vielleicht waren sie verwandt. Aber sie hatte ihn oder einen seiner Freunde noch nie zuvor gesehen. Und keiner von ihnen sah der Kaiser-Familie nur annähernd ähnlich. Diese waren alle recht klein und etwas pummelig gewesen. Aber besonders hatten alle, wirklich alle Familienmitglieder ein rundes Mondgesicht gehabt und eine Brille getragen.
»In Ordnung.« Sie glaubte ihm nicht. Aber offenbar wollte er ihr seinen richtigen Namen nicht verraten. Damit konnte sie leben. Es ging sie ja auch nichts an.
Und dann, ohne Vorwarnung, beugte er sich zu Effie herunter. So nah, dass seine Haare ihre Stirn berührten. Ihr stockte der Atem und sie erstarrte wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Mit beiden Händen fasste er ihren Kopf und zwang sie, ihm in seine grünen Augen zu schauen.
»All deine Erinnerungen an die Villa der Familie Kaiser«, begann er mit salbungsvoller Stimme zu sprechen, »verschwimmen, bis du nur noch …«
Endlich gewann sie ihre Fassung wieder. Mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, stieß sie ihn von sich weg. »Was machst du da?«
Er ließ von ihr ab und betrachtete sie irritiert, als wäre ihm noch nie etwas so Seltsames vor die Augen gekommen.
Dann setzte er plötzlich eine gleichgültige Miene auf. Einige Sekunden verstrichen, in denen keiner etwas sagte, bis er das Schweigen brach.
»Meine Leute und ich, sind nur für wenige Wochen in Jork. Wir müssen hier etwas erledigen.«
Etwas benommen von ihrer Begegnung mit Eden ging sie wieder nach Hause. Was hatte er ihr gerade versucht einzureden? Dass ihre Erinnerungen an die Villa verschwimmen?
»Hi.« Abwesend grüßte sie Pamela Lindner, die gerade an ihr vorbeilief. Er hatte Effie sogar vor dem Treibsand gewarnt. Hielt er sie wirklich für so naiv? Nur weil sie einen großen Zaun um das Gelände bauten und ein paar Schilder daran befestigten, glaubten die Leute das doch nicht sofort. Plötzlich kam ihr eine Idee.
»Pamela!« Pamela, die schon 20 Meter weitergelaufen war, drehte sich um und Effie winkte sie zu sich.
Einen Moment stutzte Pamela. Dann kam sie auf sie zu. Wie immer war Pamela eine bunte Erscheinung. Gekleidet wie ein Paradiesvogel. Effie fragte sich, ob sie selbst insgesamt so viele farbige Kleidungsstücke besaß, wie Pamela bereits in diesem einen Outfit kombinierte. Sie trug einen froschgrünen Cordrock, ein rosafarbenes T-Shirt, mit einem Manga-Aufdruck, gelbe Schuhe, blaue Socken und ihren Biene-Maja-Rucksack. Ganz abgesehen von dem Haargummi, das in verschiedenen Neonfarben leuchtete, und einer bunten Perlenkette.
Zwar waren Pamela und Effie zusammen zur Schule gegangen, aber sie hatten nie viel miteinander zu tun gehabt. Die einzige Gemeinsamkeit, die sie verband, war derselbe Schulweg. Pamela lebte auch hier in der Siedlung, allein mit ihrer Mutter. Ihre Eltern waren geschieden und soweit Effie wusste, sah sie ihren Vater nur alle paar Jahre einmal, weil er in Thailand lebte. Oder so ähnlich. Jedenfalls verdiente die Mutter ihr Geld mit irgendeinem Esoterikkram und beide, Pamela und ihre Mutter, rochen immer ein bisschen nach Weihrauch.
Mit erwartungsvollen Augen sie nun Pamela vor ihr stehen. Gut, wie stellte Effie es nun richtig an, ohne dabei verrückt zu klingen? Sie räusperte sich.
»Konntest du die letzte Nacht gut schlafen?«
Pamela legte ihre Stirn in Falten. »Ja, eigentlich schon«, sagte sie nach kurzer Überlegung. »Bis auf meinen merkwürdigen Traum. Weißt du, ich habe von einem weißen Werwolf geträumt, der mich in mein Hosenbein gebissen hat und versuchte, mich daran aus dem Haus zu ziehen.«
»Okay.« Effie überlegte kurz. »Aber irgendwelche Geräusche, zum Beispiel laute Baumaßnahmen hier in der Siedlung, hast du nicht gehört?«
Pamela überlegte erneut. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Also wurdest du nicht von schrecklichem Lärm geweckt.« Effie sagte es mehr zu sich selbst. Wieder schüttelte Pamela ihren Kopf.
»Gut.« Effie wandte sich dem mächtigen Zaun zu, hinter dem sich die Kaiser-Villa verbarg. »Bist du nicht etwas erstaunt, dass dieser Zaun hier plötzlich steht?«, fragte sie dann.
Pamela betrachtete ihn gemeinsam mit ihr. Dann zuckte sie die Schultern. »Na ja, was soll man machen, wenn da Treibsand liegt?«
»Ja«, sie betrachtete Pamela wissend, »aber wieso sollte dort von einem Tag auf den anderen Treibsand liegen? Ich meine, gestern war doch noch alles in Ordnung. Und wäre es nicht sinnvoller, die Kaiser-Villa dann abzureißen, anstatt sie zu renovieren?« Sie beugte sich etwas näher an Pamela heran. »Wenn du mich fragst, hat das etwas mit den neuen Nachbarn zu tun, die gestern eingezogen sind. Die führen irgendetwas im Schilde. Warum guckst du denn so?«
»Na ja«, Pamela wirkte verlegen. »Ich weiß nichts von neuen Nachbarn und die Kaiser-Villa wurde schon vor Jahren abgerissen.«
Es dauerte etwas, bis Pamelas Worte sie erreichten. Dann schüttelte Effie vehement den Kopf.
»Die Villa steht doch da, direkt vor deiner Nase!« Sie starrte auf den Zaun. Nun gut, von hier aus war sie nicht zu sehen. Aber von Effies Zimmer schon.
»Komm mit.« Effie nahm Pamela am Arm und zog sie hinter sich her, hoch in ihr Zimmer, bis zum Fenster und zeigte auf die frisch renovierte Villa. Sie stand dort. Unübersehbar.
Irritiert sah Pamela aus dem Fenster, dann blickte sie vorsichtig zu Effie. »Na ja, vielleicht steht da ja noch die Aura der Villa. Manche Menschen können so etwas sehen. Also in der Esoterik gibt es dazu verschiedene Theorien …«
»Die Aura?«, unterbrach Effie sie, »nein, nein ich spreche nicht von einer Aura. Ich meine ein Haus, ein sehr großes Haus, aus festem Stein. Ein ganz auffälliges Haus! Was siehst du denn bitte dort?«
»Sandigen Boden«, antwortete Pamela. »Da hinten wächst auch etwas Gras.«
Effie kniff die Augen zusammen. »Ist das dein Ernst?«
»Wie gesagt«, lenkte Pamela schnell ein, »wenn du sagst, dass du dort eine Villa siehst, dann glaube ich dir. Es gibt viele Realitäten und Dimensionen. Manche Menschen können einfach mehr sehen als andere. Das ist ein großes Talent«, nun begannen Pamelas Augen zu glänzen. »Du solltest es mal meiner Mutter erzählen. Sie wird begeistert sein.«
»Kann deine Mutter die Villa denn auch nicht sehen?«
Pamela ließ ihren Kopf etwas hängen.
»Nein, diese Fähigkeit hat sie leider nicht. Aber sie hat andere hellsichtige Begabungen«, sagte sie schnell.
Hellsichtige Begabungen? Das Gespräch nahm gerade eine Wendung an, die ihr nicht gefiel. Pamela war ein herzensguter Mensch, das wusste Effie. Aber vielleicht war sie nicht die richtige Person gewesen für Effies Frage.
»Danke für deine Hilfe, Pamela.« Sie legte ihr die Hand auf den Rücken und schob sie mit Bedacht aus ihrem Zimmer.
Als sie den Flur erreichten, schloss Effies Mutter gerade die Haustür auf und stellte ein paar Einkaufstüten auf den Boden.
»Pamela.« Ihre Mutter wirkte erstaunt sie zu sehen. »Was macht ihr denn Schönes?«
»Effie hat mir gerade erklärt, dass sie die Aura der Kaiser-Villa noch sehen kann.« Pamelas Stimme überschlug sich beinahe vor Begeisterung. Was Effie alarmierte, Pamela möglichst schnell dazu zu bewegen, zu gehen. Aber ihre Mutter hörte gar nicht richtig hin. Sie gab nur ein kurzes »Aha« von sich und trug die Einkaufstüten in die Küche.
Auf der Türschwelle drehte Pamela sich noch einmal zu ihr um und sagte leise und verschwörerisch: »Man sollte nicht jedem erzählen, dass man hellsichtige Fähigkeiten hat. Das macht den Leuten oft Angst, weißt du. Aber ich glaube dir. Also falls ich dir irgendwie behilflich sein kann, sag mir einfach Bescheid.«
»Ja, danke Pamela. Das ist wirklich nett von dir.«
Hoffentlich war es nicht zu unhöflich, die Tür einfach vor ihrer Nase zu schließen.
»Pamela war ja schon Ewigkeiten nicht mehr zu Besuch«, sagte ihre Mutter, als Effie zu ihr in die Küche kam. »Sie ist wirklich ein liebes Mädchen.«
»Das ist sie«, stimmte sie zu. »Mama, darf ich dir eine Frage stellen?«
Ihre Mutter sah sie an. »Natürlich, Schätzchen.«
»Findest du es nicht merkwürdig, dass plötzlich dieser riesige Zaun dort drüben steht?«
Ein großes Fragezeichen bildete sich im Gesichtsausdruck ihrer Mutter. Das konnte doch nicht so schwer sein. Effie zeigte nach draußen. »Gestern haben wir beim Frühstück noch beobachtet, wie neue Nachbarn eingezogen sind, und in der Nacht haben sie diesen Zaun gebaut. Offenbar hat das niemand mitbekommen, außer mir. Aber die Tatsache, dass er von einem Tag auf den anderen steht, müsste euch doch auch wundern.«
»Effie«, ihre Mutter sah aus, als suchte sie nach den richtigen Worten. »Wir finden es alle nicht schön, dass hier Treibsand entdeckt wurde. Und dein Vater und ich sind einer Meinung, dass die Stadt sich wirklich etwas beeilen könnte, um das Problem zu beheben. Wir finden es auch nicht toll, dass dieser Zaun schon seit vier Jahren dort steht. Aber die Kaisers mussten ja nicht ohne Grund wegziehen. Diese riesige Villa … einfach abgerissen.« Ihre Mutter schüttelte verständnislos den Kopf.
Effie versuchte, eine neutrale Miene aufzusetzen, obwohl sie am liebsten geschrien hätte:
Aber die Villa steht doch noch! Direkt vor unserer Nase!
Auch Josh, ihr Vater und Kathy erzählten die Geschichte, dass die Villa schon vor Jahren abgerissen wurde. Genauso wenig erinnerten sie sich an die neuen Nachbarn, die noch am Tag zuvor eingezogen waren. Sogar Valentina blickte Effie an, als wäre sie gerade aus dem Irrenhaus entflohen. Fakt war: Keiner erinnerte sich an die neuen Nachbarn und keiner konnte die Villa sehen. Keiner außer Effie.
Obwohl der Wetterbericht für die kommenden Tage Sonnenschein und eine Temperatur von 29 Grad vorhergesagt hatte, zogen sich am Himmel dunkle Wolken zusammen und verdeckten die Sonne. Am Mittwochmorgen weckten Effie dicke Regentropfen, die gegen die Fensterscheibe prasselten.
Leon hatte noch immer nicht geantwortet und ihre aktuelle Ablenkungsmethode bestand darin, Eden und seine Freunde von ihrem Zimmer aus zu beobachten. Allerdings hatte sie sich so eine Observierung etwas spannender vorgestellt. Denn im Grunde passierte nicht viel. Mal verließ einer das Haus und fuhr weg. Dann kam er ein paar Stunden später wieder zurück. Ein anderes Mal öffnete einer das Fenster. Dann wurde es wieder geschlossen. Und so ging es weiter. Also, wenn jemand begabt darin war, sich unauffällig zu verhalten, dann waren das diese Leute.
Mit einer Tasse Pfirsichtee, ihrer Kuscheldecke und ihrem Smartphone machte Effie es sich auf der Fensterbank gemütlich. Sie blickte zu der im dichten Regen liegenden Villa. Was machten sie nur den ganzen Tag über? Irgendwann musste doch mal etwas passieren? Baute man nicht so einen Zaun, um vor der Umgebung etwas zu verheimlichen?
Eine Erklärung dafür, dass keiner außer Effie die Villa sehen konnte und alle davon überzeugt waren, sie sei schon vor Jahren abgerissen worden, hatte sie noch nicht gefunden. Aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass es etwas mit dem nächtlichen Besuch von Eden und seinem Kollegen zu tun hatte. Außerdem nahm sie sich Pamelas Rat zu Herzen. Es war kein gutes Zeichen, Dinge zu sehen und zu hören, die andere nicht sahen und hörten. Und wenn sie nicht zutiefst davon überzeugt gewesen wäre, dass diese ganze Geschichte etwas mit den neuen Nachbarn zu tun hatte, dann hätte Effie sich selbst für verrückt erklärt.
Es klopfte an ihrer Zimmertür und ohne auf ein Wort von ihr zu warten, öffnete Josh die Tür. Dort blieb er allerdings stehen.
»Mann, wie sieht's hier aus?« Angewidert rümpfte er die Nase. »Effie, du bist ein Mädchen. Das ist voll peinlich!«
Vielleicht hatte Josh Recht. In ihrem Zimmer herrschte ein noch größeres Chaos als während ihrer Abiturphase. Sie hatte sich ja auch fest vorgenommen aufzuräumen. Aber dann kamen ihr die neuen Nachbarn dazwischen. Die Observierung nahm ihre gesamte Zeit in Anspruch. Was, wenn gerade dann etwas Verdächtiges passierte, wenn sie die Bücherstapel wieder ins Regal einsortierte? Wie sollte sie das denn bitte vor sich selbst rechtfertigen?
»Du musst mich zu Gina fahren«, sagte Josh, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, dass sie ihn zu seinen Verabredungen kutschierte.
»Wer ist Gina?«, fragte sie. Er verlagerte sein Gewicht ungeduldig von einem Bein aufs andere. »Meine Freundin.«
Sie sah ihn an. Schon wieder ein neues Mädchen. Ohne Zweifel kam Josh gut bei den Mädchen seines Alters an und ganz offensichtlich konnte er mit dieser Beliebtheit nicht vernünftig umgehen. »Was ist mit Ricki?«
Josh schabte mit den Füßen. »Fährst du mich jetzt?«
»Nimm doch das Fahrrad.« Effie hatte gerade eine wichtige Mission zu erfüllen. Sie konnte ihren Platz auf der Fensterbank nicht verlassen. Nur konnte sie das ihrem Bruder schlecht erklären.
»Hast du mal nach draußen geguckt?« Er zeigte auf ihr Fenster, wo der Regen nun dicht wie eine Wand gegen die Scheibe hämmerte und kaum einen Meter Sicht gewährte.
»Effie-Schätzchen«, ihre Mutter erschien hinter Josh und steckte den Kopf durch die Tür. Ihre Augen weiteten sich beim Anblick des Zimmers. Aber immerhin sagte sie nichts. Dann sah ihre Mutter zu Effie mit einem Blick, der zeigte, dass sie das ganze Gespräch mit angehört hatte. »Tu deinem Bruder doch den Gefallen. Außerdem würde dir ein bisschen Bewegung bestimmt guttun.«
Bewegung? Von der Haustür bis zum Auto oder was? Mit erwartungsvollen Gesichtern standen Josh und ihre Mutter in der Zimmertür. Seit Effies Gerede von der Kaiser-Villa suchte ihre Mutter andauernd nach Beschäftigungen für sie. Noch gestern hatte sie gesagt, dass Effies merkwürdiges Verhalten sicherlich damit zusammenhing, dass sie momentan zu viel Zeit hatte. Ihrer Meinung nach brauchte sie dringend ein Hobby. Am Abend lagen dann, ganz zufällig, Zeitschriften von Tennis- oder Leichtathletikvereinen und sogar einmal ein Flyer eines Ruderclubs auf dem Küchentisch. Vermutlich wollte ihre Mutter dadurch bezwecken, dass Effie von ganz allein auf die Idee kam, einem Verein beizutreten. Es musste ein Tipp aus den unzähligen Erziehungsratgebern sein, die im Bücherregal standen.
Mit 15 Jahren war Effie in Gegenwart ihrer Mutter eine Zigarettenschachtel aus der Handtasche gefallen. Am nächsten Tag lag auf ihrem Bett ein Buch mit dem Titel: Endlich Nichtraucher. Dabei waren es nicht einmal ihre Zigaretten gewesen, sondern Kathys. Kathy hatte sie gefragt, ob sie die Zigaretten für sie verstecken könnte, weil sie selbst keine Tasche dabeihatte.
Sie hatte das Buch dann an Kathy weitergereicht, die es wiederum zurück ins Bücherregal gestellt hatte. Jedenfalls glaubte ihre Mutter seitdem, dass Effie rauchen würde, und versuchte immer mal wieder darüber zu reden, wie ungesund das Rauchen doch sei. Natürlich nur ganz nebenbei. Nun war ihre Mutter offenbar auch noch davon überzeugt, sie könnte den Verstand verlieren, sobald sie Langeweile verspürte. Also konnte Effie schlecht argumentieren, dass sie ihren Platz auf der Fensterbank nicht verlassen wollte, um die Nachbarn zu beobachten, die niemand außer ihr sehen konnte. Wohl oder übel musste sie ihre Observierung unterbrechen. Hoffentlich verpasste sie nichts.
Effie seufzte, rutschte von der Fensterbank und setzte die halb ausgetrunkene Tasse Tee auf ihrem überfüllten Schreibtisch ab. »Aber ich hol dich bestimmt nicht wieder ab.«
»Ist gut.« Josh grinste und lief hinunter in den Flur. Sie folgte ihm, zog sich ihre schwarze Regenjacke an und kramte den Autoschlüssel aus dem kleinen Kistchen auf der Kommode, in das alle ihre Schlüssel warfen, wenn sie nach Hause kamen.
»Fahr vorsichtig, Schatz«, ihre Mutter knuffte ihr in die Wange und wandte sich dann an Josh. »Und du komm nicht zu spät zurück.« Bevor ihre Mutter Josh durchs Haar wuscheln konnte, setzte er schnell seine Mütze auf.
Das Wetter war noch schlimmer, als es von drinnen ausgesehen hatte. Dicht wie ein Wasserfall klatschte der Regen auf die Erde hinunter. Mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze rannte Effie die kurze Strecke von der Haustür zur Einfahrt, wo der Skoda ihrer Eltern parkte. Dabei unterschätzte sie die Tiefe einer Pfütze. Augenblicklich zog sich der Stoff ihrer Schuhe mit Wasser voll. Josh wartete bereits am Wagen.
»Mach auf!«, rief er.
Eilig drückte sie den Knopf am Autoschlüssel und die Zentralverriegelung sprang auf. Als sie sich vor dem Regen auf den Fahrersitz rettete, saß Josh bereits im Auto. Er brummte etwas Unverständliches und wischte sich den Regen aus dem Gesicht. Josh sollte sich mal nicht beschweren, schließlich war er derjenige, der bei diesem Wetter das Haus verlassen wollte. Sie schob ihre Kapuze nach hinten und drehte die Heizung auf.
Das Autofahren bei diesem Wetter erwies sich als große Herausforderung. Der Scheibenwischer flog, so schnell er konnte, hin und her, aber er schaffte es kaum, die Regenmassen zu bewältigen. Als sie die Siedlung verließen und auf die Landstraße fuhren, stiegen von den Feldern Nebelschwaden empor. Trotz Nebelscheinwerfer konnte sie nicht weiter als zehn Meter sehen. Sie verringerte das Tempo von 70 auf 50 Stundenkilometer und beugte ihren Kopf weit nach vorn über das Lenkrad.
Josh drehte das Radio auf und begann, durch die Programme zu zappen. Musik, das Gerede eines Moderators, Rauschen.
»Kannst du dich mal für einen Sender entscheiden?« Mit einer flüchtigen Handbewegung versuchte sie, ihn von den Radioknöpfen zu verscheuchen, ohne dabei die Straße aus den Augen zu verlieren.
»Würde ich ja, aber es läuft nur Mist.« Er ließ sich nicht abhalten und suchte weiter.
Allmählich verlor sie die Geduld. »Dann leg eine CD ein!«
Dies schien ihn zu überzeugen, denn er ließ vom Radio ab, aus dem nun ein Schlager drang, und öffnete die Klappe des Handschuhfaches. Beim Durchwühlen zog er eine CD nach der anderen heraus. »Ich hör mir doch nicht ABBA an!«, schimpfte er und ließ die CD zurück ins Fach fallen. »Ist meine 2Pac-CD nicht mehr hier?«
Effie verdrehte die Augen. Wenn er so weitermachte, trieb er sie noch in den Wahnsinn. Sie griff hinüber in das Fach und suchte selbst danach. Mensch, was ihre Eltern hier alles reinstopften. Schokolade, Taschentücher, Akkuladegeräte, eine Triangel. Und was suchte bitte eine Fernsehfernbedienung im Auto? Die Hälfte von dem Zeug konnte man bestimmt wegwerfen.
»Hier«, sagte sie, als sie die Mappe mit der CD-Sammlung griff, und hielt sie triumphierend hoch. In dem Moment sah Effie nur noch aus dem Augenwinkel, wie etwas über die Straße lief, und in der nächsten Sekunde knallten sie dagegen.
Sie trat auf die Bremse, der Wagen drehte sich um seine eigene Achse und schleuderte über die Landstraße. Effie versuchte, das Auto wieder unter Kontrolle zu bekommen.
***
Sie standen.
Unaufhörlich prasselte der Regen auf das Autodach.
Es dauerte einen Moment, bis sie realisierte, was geschehen war. Aber dann traf es sie wie ein Schlag. Sie beugte sich zu Josh. Wenn ihm was passiert war, dann …
Mit verstörten Augen, wie sie es noch nie bei ihm gesehen hatte, blickte er sie an. Doch ansonsten schien es ihm gut zu gehen. Er wirkte unverletzt. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Sie hätte es sich nicht verzeihen können, wenn ihm etwas zugestoßen wäre.
»Tut mir leid«, flüsterte sie.
»Effie«, sagte Josh immer noch mit Schrecken in den Augen, »du blutest.«
Reflexartig fasste sie sich an die Stirn und wischte die warme Flüssigkeit weg, die ihre Schläfe hinunterfloss. Sie blickte in den Rückspiegel. Ihre Augenbraue war aufgeplatzt. Effie unterdrückte ein Würgen beim Anblick des verschmierten Blutes und kramte in ihrer Jackentasche nach einem Taschentuch. Josh kam ihr zuvor und hielt ihr ein Päckchen Tempos entgegen. Er wusste genau, dass ihr beim Anblick von Blut schlecht wurde. Sie nahm gleich mehrere und presste sie auf die Wunde, um das heraussickernde Blut zu stoppen.
»Effie?« Joshs Stimme bebte. Er starrte nach draußen. »Was ist das?«
Sie folgte seinem Blick. Etwa zehn Meter vom Auto entfernt am Straßenrand lag etwas, bewegungslos im Regen. Ein großer dunkler Haufen.
Sie schluckte und sah wieder zu Josh. »Hast du dein Handy dabei?«
Er nickte.
Mit zittrigen Händen öffnete sie die Fahrertür.
»Ruf einen Krankenwagen«, sagte sie, atmete tief ein und stieg aus.
Der Wind peitschte ihr den Regen ins Gesicht. In der Front des Skodas war eine große Beule. Weit und breit war kein anderes Auto zu sehen. Sie waren allein. Effie, Josh und der dunkle Haufen.
Vorsichtig ging sie darauf zu. Vielleicht war es ja nur ein Baumstamm. Doch als sie näherkam, nahm der Haufen immer mehr die Gestalt eines Menschen an. Sie rannte los. Er lag mit dem Rücken zu ihr und bewegte sich nicht. Als sie bei ihm ankam, beugte sie sich zu ihm herunter. Es war ein Mann. Das war alles ihre Schuld!
Er trug schwarze Trainingssachen. Wie kam man denn auf die Idee, bei diesem Wetter hier draußen herumzulaufen? Verzweifelt drehte sie ihn zur Seite, so dass der Arm, der über seinem Kopf lag, herunterrutschte und sein Gesicht freigab. Es war ein junger Mann. Ein ihr bekannter junger Mann. Es war Eden.
Sie rang nach Luft und kniete sich neben ihn. »Atme, bitte atme!«, flüsterte sie und hielt ihre Hand über seinen Mund. Ganz sachte spürte sie in regelmäßigen Abständen einen warmen Luftstoß. Er lebte.
Der Regen hatte seine Kleidung vollkommen durchnässt, klebte seine Haare an Stirn und Kopfhaut und perlte in Tropfen von seinem Gesicht.
Sie blickte hinüber zu Josh, um sich zu versichern, dass er den Krankenwagen rief. Mit ausgestrecktem Daumen gab er ihr ein Zeichen, dass der Krankenwagen unterwegs war.
Den Erste-Hilfe-Kurs hatte sie gerade mal vor einem Jahr zu ihrer Führerscheinprüfung gemacht. Trotzdem hatte sie das Gefühl, die Hälfte schon wieder vergessen zu haben. Sie betrachtete Edens Körper. Weder seine Beine noch seine Arme wirkten gebrochen oder verletzt. Für einen Autoaufprall sah er überraschend gut aus. Zumindest äußerlich. Nicht mal ein Kratzer war zu sehen.
Sie fasste seinen Arm, um ihn in die stabile Seitenlage zu bringen. Dabei berührte sie ein dickes Lederarmband an seinem Handgelenk. Es knackte und sie zuckte zurück. Oben auf dem Armband war ein rundes Drachensymbol abgebildet. Offenbar war es eine Art Medaillon, denn dort, wo sich das Symbol befand, klappte das Armband auf.
Sie betrachtete es näher. In dem Armband bewahrte Eden einen winzigen Flakon auf. Nicht größer als ein Fingernagel. In dem Flakon befand sich eine bronzefarbene Flüssigkeit. Kaum vorstellbar, dass er ihn öffnen konnte. Womit war das Fläschchen wohl gefüllt?
Mit dem Zeigefinger fuhr sie darüber. Das Fläschchen rutschte aus seiner Halterung und rollte heraus. Es ging so schnell, dass sie nicht mal auf die Idee kam, danach zu greifen, um es davor zu bewahren, auf den Boden zu prallen. Aber bevor es aufschlug, schob sich blitzartig eine Hand darunter und fing es auf.
Überrascht wich sie zurück. Eden setzte sich auf und wandte sich zur Seite. Behutsam steckte er das Fläschchen zurück in das Armband und schloss die Drachenklappe wieder. Dann drehte er sich zu ihr.
Einen Augenblick sah er sie nur an, dann schien er sie zu erkennen und ein »Nein!« entwich seinen Lippen. Von einer Sekunde auf die andere wich das Blut aus seinem Gesicht. »Nicht du schon wieder.«
Leicht pikiert über Edens augenscheinliche Ablehnung straffte sie die Schultern.
»Der Krankenwagen ist unterwegs«, erklärte sie und wischte sich eine vom Regen nasse Strähne von der Stirn, die ihr die Sicht versperrte.
Als hätte er Röntgenaugen, musterte er sie, bis sein Blick an ihrer Augenbraue haften blieb. Plötzlich änderte sich sein Gesichtsausdruck. Er wurde etwas weicher.