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Der etwas andere Krimi aus den Alpen: Kommissar Clemens Noska hat die Schnauze voll vom Ruhrgebiet und lässt sich ins beschauliche Bad Reichenhall versetzen. Da er noch keine Wohnung hat, mietet er sich zunächst in einer Pension ein. Prompt verschwindet von dort ein Pensionsgast spurlos. Kurz darauf wird die Leiche eines Mannes gefunden, der keines natürlichen Todes gestorben ist. Die Identität ist schnell geklärt. Noska fahndet mit seinem neuen kuriosen Team nach dem Täter. Dem Kommissar präsentiert sich eine Vielzahl von Verdächtigen, von denen jede(r) für sich ein mehr oder minder starkes Motiv zu haben scheint. Alle Beteiligten nehmen es mit der Wahrheit nicht so genau, und deren Alibis sind allesamt löchrig. Aber auch das Opfer scheint kein Unschuldslamm gewesen zu sein. Noska ermittelt in alle Richtungen, findet aber zunächst nirgendwo den richtigen Ansatz. Mit Berufserfahrung und Kombinationsgabe kommt er schließlich der Wahrheit auf die Spur, während er sich privat im Kurort mehr und mehr einlebt und dabei das eine oder andere amouröse Abenteuer hinter sich bringt. Der spannende Ermittlungsweg des Kommissars in seinem ersten Fall wird dabei durchgehend mit Humor, viel Lokalkolorit und einer ordentlichen Prise Erotik geschildert. Nebenbei erfährt der Leser, was es mit dem Fuchs auf sich hat. "Verzockt in Bad Reichenhall" ist der Auftaktkrimi zur geplanten Reihe "Fuchs fahndet".
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Seitenzahl: 317
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Ludger Fleischer, geboren 1963 in Bottrop, seit fast 60 Jahren Kind des Ruhrgebiets und glühender Verehrer von Oberbayern, insbesondere dem Berchtesgadener Land, speziell Bad Reichenhall, ist in seiner Heimatstadt als Rechtsanwalt tätig. Die Liebe zum Schreiben besteht seit langer Zeit.
Mit seiner fiktiven Romanfigur führt er beide Gegenden zusammen und versucht, sowohl mit der folgenden Geschichte als auch seinem Stil etwas andere Wege abseits der eingetretenen Pfade zu gehen.
Sein erster Kriminalroman mit viel Lokalkolorit verspricht dreierlei: Spannung, Humor und Erotik.
Handlung und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit verstorbenen oder lebenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Ludger Fleischer hat bislang ein Buch mit 36 Kurzgeschichten unter dem Titel „Hin und zurück … oder weg – Erlebtes zwischen Bottrop und Bad Reichenhall -“ veröffentlicht.
Mehr unter www.ludger-fleischer.de
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Quellen
Ein Letztes
Ein schriller, nicht zu überhörender Pfiff, kündigte schon wieder einen unbeschrankten Bahnübergang an. Der wievielte war es jetzt, seit die S4 in Freilassing losgefahren war, die Hauptstrecke in einer weit gezogenen Linkskurve verlassen hatte und nun einspurig unterwegs war? Der nächste Halt folgte auf dem Fuße. Auf die Zugansage der freundlichen Lautsprecherstimme hatte er zwar gerade nicht geachtet, aber er konnte noch nicht am Ziel sein, war die Fahrzeit doch mit achtzehn Minuten angegeben. Er saß erst etwa fünf Minuten auf der blau gepolsterten ›Zweiercouch‹ und lauschte zwangsläufig den lichtvollen Ausführungen zweier ihm gegenübersitzender weiblicher Twens über bescheuerte Chefs, übervorsichtige Heli-Mütter – gemeint waren wohl die eigenen - und total unzuverlässige Jungs. ›Ainring‹ stand auf dem Schild, welches der Kommissar beim Anfahren der Bahn aus dem Zugfenster gerade so erkennen konnte. »Mein Gott«, dachte er, »der Zug hält hier an jeder Milchkanne.« Clemens Noska schaute aus dem Fenster der ›BRB‹, der Bayerischen Regiobahn, und freute sich, dass er die letzte Etappe auf dem Weg zu seinem neuen beruflichen Lebensabschnitt erreicht hatte.
Vor mehr als zehn Stunden war er im Ruhrgebiet im Dunkeln aufgebrochen, in einer versifften und beschmierten S-Bahn der Linie 9, von Bottrop nach Essen, der Kulturhauptstadt 2010. Dann war er in den ICE nach München gewechselt, von dort in die hoffnungslos überfüllte und verspätete Regionalbahn, dem früheren ›Meridian‹, bis Freilassing. Und jetzt fuhr er endlich die letzten Kilometer zu seinem neuen Wirkungskreis.
Noska saß gedankenverloren in seinem Sitz des recht gepflegt wirkenden Großraumwagens, in dem kein Müll herumlag wie in den S-Bahnen des Ruhrgebiets. Die beiden jungen Damen ihm gegenüber waren jetzt bei den hippsten Schminktipps der ›angesagtesten‹ YouTuber angekommen.
Mitten in diese Beobachtungen vertieft stand plötzlich der Zugbegleiter neben ihm und fragte ihn freundlich nuschelnd nach seinem ›Bileddl‹. Noska verstand nicht sofort, was der Bahnbedienstete von ihm wollte, und schaute wohl etwas irritiert, so dass der Unifomierte gnädig halbwegs ins Hochdeutsche wechselte: »Ihre Fahrkarte bittschee!« Lachend zückte Noska sein Handy mit dem elektronisch gespeicherten ›Bileddl‹, was im ICE am Mittag noch schlicht ›Ticket‹ geheißen hatte. Da war es: Das erste bairische Wort, welches ihm begegnete. Er würde es nie mehr vergessen. Der gut gelaunte Schaffner nickte und wünschte eine angenehme Weiterfahrt.
In diesem Moment musste er daran denken, wie er vor einigen Wochen seinem Chef mitgeteilt hatte, dass er die Schnauze endgültig voll habe vom Ruhrgebiet. Wie der Chef erst völlig ungläubig geschaut hatte und es für einen Scherz gehalten hatte! Aber Noska hatte es verdammt ernst gemeint mit dem Versetzungsgesuch nach Oberbayern.
Er, der inzwischen zweiundfünfzig Jahre alt war und dem Staat bereits mehr als dreißig Jahre gedient hatte. Vom einfachen Streifenbeamten bis zum Hauptkommissar hatte er es gebracht. Seine Ehe war gescheitert, seine Tochter und sein Sohn waren längst erwachsen und standen auf eigenen Beinen. Was hielt ihn im strukturschwachen Land zwischen Rhein und Ruhr? Die Gewohnheit? Nein, er hatte vor, sein Leben noch einmal zu drehen. Er war glücklicher Single mit einer ausgeprägten Schwäche für schöne Frauen, wobei er Schönheit jeweils für sich punktuell neu definierte. Hier und da hatte er ein Techtelmechtel gehabt, nichts Ernstes, aber er war frei und ortsungebunden, wie man so schön sagt. In dieser Hinsicht ließ er wenig bis gar nichts anbrennen. Einem One-Night-Stand war er selten abgeneigt, um es einmal verharmlost zu formulieren. Trozdem hätte er sich nicht gerade als Womanizer bezeichnet.
Die öde Großstadt erdrückte ihn allmählich, insbesondere die Enge, der Verkehr, die Luft, manchmal auch die Menschen. Es durfte ab jetzt gern ein bis zwei Nummern kleiner zugehen.
Als er immer weiter darauf beharrt hatte, versetzt zu werden, war schließlich auch sein Vorgesetzter weich geworden und hatte ihm missmutig eine Stelle in Bad Reichenhall im südöstlichsten Zipfel Deutschlands vermittelt, 800 Kilometer weit weg von der Heimat. Man konnte mutmaßen, dass es ein Racheakt seines Chefs sein sollte. Ab in den entlegensten Winkel der Republik! Auf der Deutschlandkarte erschien Noska das Berchtesgadener Land als eine Art Appendix, als ein Tropfensack der Republik.
Nein, es war tatsächlich kein Racheakt, sondern etwas anders: Sein Boss hatte seine Beziehungen zu dessen altem Kumpel und Kommissarkollegen Peter Trenkl in Ruhpolding spielen lassen. Nebenan im Berchtesgadener Land war soeben eine Stelle frei geworden. Dann war alles sehr schnell gegangen, und so stand dem Dienstantritt in der Großen Kreisstadt Bad Reichenhall am morgigen Dienstag nichts mehr im Wege.
Gern ließ man ihn im Pott nicht gehen, da er zum einen durch seine routinierte Art und gute Arbeit eine hohe Aufklärungsquote aufzuweisen hatte, und er zum anderen unter den Kolleginnen und Kollegen menschlich sehr beliebt war.
»Bei den Bazis wirst Du Dich sowieso nicht einleben, oder die werden es gar nicht erst zulassen«, hatte sein Chef neulich beim feucht-fröhlichen Ausstand noch triumphierend gegrunzt. »Du wirst sehen, in zwei bis drei Wochen in der Einöde der Berge reicht‘s Dir, und Du wirst reumütig zurückkehren.«
»Schau‘n mer mal, dann sehn mer scho‘«, hatte Noska karg in Manier des Fußballkaisers geantwortet.
Das war jetzt ein paar Tage und etliche Kilometer her. Nun lagen die Berge, deren Namen Noska noch nicht kannte, aber bald sicherlich kennenlernen würde, vor und neben ihm. Egal. Er freute sich auf den Tapetenwechsel wie ein Kind auf den Heiligen Abend. Er konnte die ›Bescherung‹ kaum erwarten.
Nicht nur der gemächlich dahinzockelnde weiß-blau-rote Triebwagen stieß Pfiffe aus. Auch der Wind pfiff erbärmlich um die Ecken, was man beinahe bis ins Zuginnere spüren konnte. Die Baumwipfel bogen sich. Es war kalendarisch zwar schon Anfang März, aber in diesem Jahr lag die Landschaft noch unter einer fast geschlossenen Schneedecke, die von Berchtesgaden bis weit in den Rupertiwinkel hineinreichte. Hier blieb der Schnee noch weiß, und vor allem blieb er liegen. Ihm gefiel das Bild, welches die Natur gemalt hatte. Im Ruhrgebiet wäre das Weiße sofort zu ekligem dunklem Matsch geworden. Aber man war in diesem Winter vom dort eher störenden Schnee verschont worden.
Die nächsten Stationen: ›Hammerau‹, ›Piding‹; das alles hatte Noska noch nie gehört, geschweige denn, dass er hier schon mal gewesen war. So sah das also hier aus: Weite weiße Felder, durch die sich idyllisch ein Fluss schlängelte, typisch oberbayerische Häuser im Landhausstil mit Fensterläden aus Holz und üppigen Holzbalkonen und Blumenkästen, aus denen im Sommer sicherlich farbenprächtige Blumen herabfallen würden, dahinter die Silhouette der Berge. Es begann zu dämmern. Viel war von der Alpenkulisse nicht mehr zu sehen.
Die Twens von der Bank gegenüber schmiedeten dialektreich ihre Pläne für das kommende Wochenende, obwohl es erst Montag war. Pascal und André spielten dabei eine nicht zu überhörende Hautrolle. Noska fragte sich, was er wohl am kommenden Wochenende unternehmen würde.
»Nächster Halt: Bad Reichenhall. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts«, klang es aus dem Lautsprecher. Als der Zug kurz darauf in den Bahnhof einfuhr, war die Dämmerung weiter fortgeschritten. Noska wurde aus seiner Gedankenwelt gerissen und schulterte seinen Rucksack, griff die riesige Sporttasche eines namhaften Sportartikelherstellers und stieg aus dem Waggon aus. Höflich hatten die beiden Mädels, die in ihre eigene Welt vertieft gewesen zu sein schienen, ihm ein fröhliches »Servus« zugerufen, als er aufgestanden war. Die Luft fühlte sich sehr kühl und unverbraucht an. Als er sich umschaute, bemerkte er, dass der Bahnhof ähnlich wie der in Bottrop nur über zwei Bahnsteige verfügte. Der Unterschied bestand darin, dass Bottrop 117.000 Einwohner hatte, Bad Reichenhall nur circa 19.000.
Noska musste unweigerlich schmunzeln. Er war froh, an der frischen Luft zu sein nach all den muffigen Bahnwaggons und vor allem den vielen Jahren im Ruhrpott. Gierig sog er die kühle Bergluft ein und sah mit zufriedenem Blick dem Richtung Berchtesgaden ausfahrenden Zug, in dem seine beiden netten Mitreisenden verblieben waren, nach. Das Rollgeräusch des Zuges ebbte ab. Auf dem Bahnsteig kehrte sofort Stille ein. Alle Reisenden – gefühlt ohnehin nur zwei Dutzend – waren rasch in die verschiedensten Richtungen ausgeschwärmt. Er durchschritt die Empfangshalle mit der großen Buchhandlung und der Bäckerei und stand nun vor dem Bahnhofsgebäude. Musste er nach rechts oder links? Noska hatte im Internet eine kleine Pension im Nonner Unterland ohne exaktes Abreisedatum gebucht, zumindest für den Anfang. »Für höchstens vier, fünf Wochen«, hatte er im Telefongespräch mit dem Pensionswirt vorgestern etwas zögernd geantwortet, als dieser fragte, wie lange er denn zu bleiben gedenke.
Er würde in der Zwischenzeit auf Wohnungssuche gehen und sich ganz in Ruhe nach geeignetem Wohnraum umschauen. Höchstens sechzig Quadratmeter sollten es werden. »Mit Blick auf die Berge, wenn‘s möglich wär‘«, dachte er. Und mit Balkon natürlich. Größere Ansprüche hatte er nicht. Seine Wohnung in der Bottroper Innenstadt hatte er vorsorglich noch nicht gekündigt. Irgendwo mussten seine Habseligkeiten noch gebunkert bleiben. Und wer weiß? Vielleicht hatte sein Chef am Ende doch Recht. Eine Hintertür sollte erst mal offen bleiben.
Noska sah sich neugierig um. Wie auf Kommando begann es zu seinem Empfang leicht zu schneien. Ein eisiger Wind gesellte sich dazu. Noska zog seinen Kragen hoch und schloss vorsorglich den Reißverschluss seiner Daunenjacke. »Entschuldigen Sie, wo bitte geht’s hier ins Nonner Unterland«, sprach er ziemlich wahllos und dialektlos eine ältere Passantin an, die mit ihrem weißen, in einen wärmenden Hundepullover gehüllten Pudel Gassi ging und den Eindruck machte, als würde sie sich hier auskennen. Er hätte auch sein Handy befragen können, aber das war ihm im Moment zu umständlich.
»Do miassn S‘ an Stückerl rechts nunter, dann rechts in die Kurfürstenstrass bis auf d‘ Höh‘ von d‘ Therme, unter der Bundesstrass durch den Tunnel, dann nüber übern Nonner Steg, dann sehgn S‘ do des Stadion, und dann san S‘ scho beinah do.« Zu ihren Worten beschrieb sie den Weg gestenreich mit beiden Händen. Trotz des unüberhörbaren Dialekts mit perfekt gerolltem ›R‹ verstand er die wesentlichen Eckpunkte und speicherte den Laufweg im Kopf ab.
»Vielen Dank.« So unfreundlich waren die ersten Bayern, denen er bis jetzt begegnet war, schon mal nicht.
»Des klingt weiter wia des is, a guade Viertelstund nur«, fügte sie noch hinzu, was Noska aber schon nicht mehr bewusst wahrnahm.
Noska hätte ein Taxi nehmen können, aber dafür war er heute zu geizig. Oder er hatte einfach zu lange auf seinem Beamtenhintern gesessen.
Auf dem Weg kamen Kindheitserinnerungen in ihm auf. Als kleiner Junge war er mit seinen Eltern einige Male irgendwo in den Bergen gewesen. Die Namen der Orte hatte er vergessen. Das Wandern hatte er immer – wie wohl die meisten Kinder – als langweilig empfunden, aber das Drumherum hatte ihm schon damals gefallen. Es war seine erste Entdeckung der Berge gewesen. Später war er noch mehrmals mit Frau und Kindern zum Skifahren in den Alpen gewesen. Jahrelang war er nicht mehr wesentlich südlicher als das Sauerland gekommen. Und heute hatte er endlich wieder den imaginären Weißwurscht-Äquator überquert, der den Bayern bekanntlich als wichtiger Grenzwall dient, werden doch alle nördlich davon wohnenden Bürger von ihnen gern kollektiv als ›Preissen‹ bezeichnet. Dabei mochte er seit jeher die bayerische Landschaft, das Essen, das Bier, die Musik und die Lebensart dort.
Er zog seine Tasche auf Rollen hinter sich her, genoss die Ruhe, den leichten Schneefall, die kühle Luft und stand nach zwanzig Minuten vor der Tür der von ihm gebuchten Pension. Er war zwar nicht mehr der Drahtigste, aber das Stückchen hatte er bravourös geschafft, lobte er sich mit ein wenig Ironie selbst. Noska brachte mit seiner Körpergröße von einem Meter einundachtzig stolze achtundneunzig Kilo auf die Waage und atmete schwer, wenn er mehr als zwei Stockwerke hinter sich bringen musste. Früher war das anders gewesen. Sport, Sport, Sport. Aber seitdem er Single und vorrangig Schreibtischtäter war, war die Pommesbude zum regelmäßigen Zufluchtsort geworden. Die heimische Couch wurde zu seiner besten Freundin, und die täglichen Bierchen taten ihr Übriges. Mit Mühe und Not hatte er vor einigen Monaten die regelmäßig bei der Polizei vorgeschriebene sportliche Prüfung geschafft. Besser abgeschnitten hätte er im Kugelschreiberdrehen und Aktenblättern, aber diese Disziplinen wurden leider nicht abgefragt.
Er klingelte und war etwas irritiert, als die Tür geöffnet wurde. Ihm gegenüber stand kein Bayer mit Sepplhut und Lederhose, wie er ihn sich vorgestellt hätte. Stattdessen öffnete ihm ein älterer Herr mit schulterlangen Haaren, einem dünnen, grauen Bärtchen und hagerem Gesicht die Tür. Seine Wangenknochen traten signifikant hervor, die Augen lagen in tiefen Höhlen. Er trug ein verwaschenes altes T-Shirt mit einem ebenso verwaschenen Aufdruck von AC/DC und eine graue Latzhose älteren Baujahrs, die so aussah, als hätte sie längst aussortiert werden sollen. Dazu trug er auffällige grüne Clogs. Noska schätzte ihn trotz seiner Aufmachung auf weit über siebzig Jahre. Ein freundliches »Servus« machte ihn sofort sympathisch. Er hatte etwas von einem Alt-68er, oder alternativ auch etwas von einem aus der Anfangszeit der GRÜNEN. Oder auch ein bisschen was von Schauspieler Eisi Gulp.
»Ham S‘ a guade Anreise ghabt?«, fragte der Alt-68er in freundlichem Ton.
»Jooo, danke der Nachfrage«, entgegnete Noska. Der ältere Herr, der recht behände daherkam, stellte sich nun im waschechten Bairisch vor, während er Noska seine mächtige rechte Pranke hinstreckte: »Georg Siebenpeter. Also: Siebenpeter Schorsch, wia mia sagn. I bin der Wirt. Mia ham telefoniert ghabt«, schaute er Noska interessiert an, während er einen festen Händedruck ausübte.
»Angenehm, Noska.«
»Dann zoag i eahna Ihr Feriendomizil für d‘ nächsten Wocha«, fuhr der Alt-68er direkt fort, schnappte sich Noskas Reisetasche und ging voran zur Treppe. Noska wurde in den ersten Stock des Hauses geführt. Von wegen Feriendomizil! Nur hatte er heute keine Lust mehr auf Smalltalk oder Erklärungen. Die Bahnfahrt hatte ihn doch ganz schön geschlaucht.
Das ihm zugewiesene Zimmer war angemessen ausgestattet. Es war geräumig, hatte einen Balkon und ein Badezimmer, dessen Renovierung noch nicht lange zurückgelegen haben dürfte. Noska fühlte sich gleich wohl. »Dann lebn S‘ eahna amoi ein«, sagte der Wirt, bevor er verschwand. »Frühstück gibt’s von Siebene bis um Zehne. Im Etagenkühlschrank hamma koide Getränke. Do kenna S‘ eahna bedienen und den Verzehr auf des Bladl Papier schreim«, fügte er noch hinzu. Noska murmelte sowas wie »Ja, ok« und inspizierte erst einmal intuitiv sein Zimmer, als hätte er einen Tatort vor sich. Berufskrankheit.
Er riss die Balkontür auf und trat auf den Balkon. Der Wind hatte sich gelegt. Er sog die herrliche Luft ein und spürte den Unterschied zur Luft im Ruhrpott. Bereits jetzt bereute er seinen Schritt nicht, egal was morgen im Kommissariat auf ihn zukommen würde. Der Schneefall hatte aufgehört, aber die dünne Schneedecke zog sich wie Puderzucker über die Landschaft, was man selbst im Dunkeln erahnen konnte. Zudem führte der Schnee zu einer gewissen Lautlosigkeit der Umgebung. Er hörte nichts, egal in welche Richtung er horchte. Da es dunkel war, konnte er von den umliegenden Bergen nicht viel sehen. Das musste bis morgen warten.
Aus dem Kühlschrank holte er sich eine Flasche Lagerbier einer Teisendorfer Brauerei, die er auf dem Balkon auf ›ex‹ austrank. Auspacken würde er morgen. Müde fiel er ins Bett und schlief bei offener Balkontür sofort ein. Im Traum jagte er seinen ehemaligen Mathematiklehrer durch unendliche Gänge der Porzellanabteilung eines fiktiven Kaufhauses, wobei mehrere Teller und Tassen zu Bruch gingen und ganze Regale umfielen. Am Ende verhaftete er ihn und legte ihm Handschellen an. Das war wohl so etwas wie späte Genugtuung für unsägliche und unerträgliche Mathestunden, in denen er nichts kapiert hatte, aber auch für Lehrer‘s Geiz bei der Punktevergabe im Abitur.
Am Dienstagmorgen wachte Clemens Noska vom Glockenklang der nahegelegenen St. Georgs-Kirche auf. Hatte er das alles nur geträumt? Nein, es war Wirklichkeit. Wie lange hatte er darauf hingearbeitet? Endlich raus aus dem Ruhrgebiet und rein in eine heile idyllische Welt. »Ob es hier überhaupt Verbrechen gibt?«, fuhr es ihm beim Aufwachen durch den Kopf. Bestimmt nur Fahrraddiebstähle, Traktorunfälle sowie Hochstapler und Heiratsschwindler, die es auf arglose Kurgäste weiblichen Geschlechts abgesehen hatten. Noska musste unwillkürlich lachen.
Er war jetzt siebzehn Jahre bei der Mordkommission gewesen. Zeit für Veränderung. Gleich würde er erfahren, welches seine neue Aufgabe im Berchtesgadener Land werden würde. Er war schon sehr gespannt darauf - und auf sein neues Team, über das er bislang nichts hatte in Erfahrung bringen können.
Er sprang in die Dusche und bemerkte beim Blick in den gegenüberliegenden Spiegel erstens, dass er aufgrund seiner Wohlstandswampe - er benutzte gern die Beschreibung, dass diese gut und teuer war - seinen Schniedel schon länger nicht live gesehen hatte, höchstens eben im Spiegel. Er stellte zweitens fest, dass seine ›Geheimratsecken‹ langsam aber sicher größer wurden. Wie sang damals die Kölner Karnevalsband ›Die Räuber‹ so treffend? »Da wa ja ma Ha da!« Drittens konstatierte er, dass seine Stirnfalten gar nicht so schlimm ausgeprägt waren. Ob er viertens seinen neuen Dreitagebart passend fand, wusste er hingegen noch nicht so genau. Er ignorierte die Spiegelerkenntnisse vorerst und zog ein frisches weißes Hemd an, schlüpfte in seine Jeans und warf sein Sakko über. So konnte er sich wohl sehen lassen.
Als er um Punkt 7 Uhr den noch leeren Frühstücksraum im Erdgeschoss der Pension betrat, roch er den Duft von frisch gebrühtem Kaffee und knusprigen Semmeln. »Ham S‘ guad gschlaffa?«, fragte der Siebenpeter Schorsch, der ihn gestern eingecheckt hatte und jetzt gut gelaunt die Tische eindeckte.
»Der ist wohl im Einmannbetrieb für alles zuständig«, dachte Noska.
»Ja, prima. Wie ein Stein.«
»Des gfraid mi. Und bittschee denga S‘ ab etzad oiwei dro: Hier genga die Uhren ganz anderst.«
Siebenpeter zeigte ihm seinen Tisch vor der großen Fensterfront mit Blick in den üppigen Garten, der vollständig mit einer Schneeschicht überzuckert war. Siebenpeter hatte ›anderst‹ gesagt. Wie seltsam das klang?
Als der Wirt mit einer Kanne Kaffee an den reichlich gedeckten Tisch kam, fragte er beiläufig: »Zwoa Oar?« Dabei spreizte er Zeige- und Mittelfinger der linken Hand wie zu einem Victory-Zeichen in Richtung des Kommissars. Noska wunderte sich zunächst, was es mit ›2 Uhr‹ auf sich haben sollte. Siebenpeter, dem der verdutzte Blick nicht verborgen geblieben war, ergänzte: »Mit Speck?« Jetzt verstand er. Der Siebenpeter Schorsch meinte die Anzahl der zu verputzenden Eier. Noska musste lachen, nickte und bestellte Rührei aus zwei Eiern. Mit Speck natürlich. An die Sprache musste sich Noska erst noch gewöhnen. Zufrieden grinsend ob der gestifteten sprachlichen Verwirrung verschwand Siebenpeter in der Küche, von wo aus schon kurz darauf der Duft von frisch gebratenem Speck herüberwehte. Es schmeckte noch besser als es duftete. Bestimmt überraschte der Wirt des ›Bergbrunnenhofs‹ jeden neuen Gast mit dieser Frage.
Noska genoss das üppige Frühstück mit der frisch zubereiteten Eierspeise und leckerem Filterkaffee, der nicht aus dem Automaten kam, wie man ihn inzwischen überall in den Hotels ertragen musste. Zum Kaffee gab’s noch frische Milli, wahlweise sogar kalt oder warm. Er dachte daran, dass gewöhnlich der Hotelkaffeeautomat entweder in dem Moment streikt, wenn man eine Tasse Kaffee zapfen will, oder man sich beschlabbert, weil man die Bedienung des Geräts nur unzureichend beherrscht. Das konnte hier nicht passieren.
»Mia miassn dann no die Formalien regln«, wandte sich Siebenpeter beim Abräumen des Frühstückstisches an Noska, als dieser nach dem Genuss von Wurst- und Käsesemmeln, Ei und Joghurt nur noch seine dritte Tasse Kaffee vor sich stehen hatte. Siebenpeter hatte stets nachgeschenkt. »Macha S‘ ganz alloa Urlaub?«, flüsterte der Alt-68er, während er das Gästeblatt per Hand ausfüllte. Ein PC war hier Fehlanzeige. Nichts war wie in den modernen Häusern der gängigen Hotelketten. Aber egal. Es war eben urig und ganz anders als zu Hause. Und das war es, was Noska schließlich wollte.
»Blöde Frage«, dachte Noska, aber gleichzeitig entschied er sich, dem Wirt reinen Wein hinsichtlich der Intention seines Aufenthaltes einzuschenken.
»Ich bin leider nicht auf Urlaub bei Ihnen. Ich bin Hauptkommissar bei der Kripo«, sagte er so beiläufig wie möglich. Er hatte keine Lust auf Diskussionen über seinen Beruf, die regelmäßig aufflammten, wenn er seine Berufsbezeichnung preisgab. Er bemerkte, wie der Alt-68er etwas zusammenzuckte. »Keine Angst«, fügte Noska hinzu, »ich bin nicht dienstlich in Ihrem Hause. Ich trete heute meine neue Stelle in Bad Reichenhall an. Und ich habe noch keine Wohnung hier.«
»Ah sooo. Jo, dann sag i ›Herzlich willkommen‹ no amoi in Reichahoi, Herr Hauptkommissar.« Die letzten Worte betonte Siebenpeter sehr übertrieben, fast schon ehrfürchtig. Es fehlte nur noch, dass er ihn demnächst immer mit Titel anredete und ihn irgendwann mit ›Herr Inspektor‹ begrüßte. »Noska reicht bei mir vollkommen«, wies er ihn sanft zurecht.
Es schloss sich ein kurzes Schwätzchen über das Wetter sowie Dies und Das an, wobei Noska feststellte, dass hier die Uhren zwar ganz anders gingen, aber andererseits doch wunderbar tickten. Noska beendete das Gespräch unter Hinweis auf die Tatsache, dass er pünktlich in der Dienststelle sein müsse. Er ließ sich vom Siebenpeter Schorsch den Weg zur Polizeiwache erklären. Einen Bus gäbe es leider nicht mehr von Nonn in die Stadt. Als er dazu weitere Erklärungen liefern wollte, zeigte Noska auf seine Armbanduhr. »An guaden Start«, rief Siebenpeter ihm noch zu. »Und nehma S‘ no an Semmeln mit für d‘ Brotzeid.« Da war Noska schon unterwegs.
Noska machte sich zu Fuß auf in die Innenstadt. Auf dem Weg durch das Nonner Unterland in die Stadt fanden sich noch einige kleine aufgetürmte Schneehügelchen; hier und da waren die Wege mit der hauchdünnen frischen Schneeschicht bedeckt. Den Großteil des Weges war er gestern Abend bereits entgegengesetzt im Dunkeln gegangen. Jetzt bei Tagesanbruch sah alles noch schöner aus. Er drehte sich um und blickte auf die Pension, die vor einem herrlichen Bergpanorama lag. Ganz oben entdeckte er ein Haus. Ob er da jemals hinkommen würde?
Nach fünfzehn Minuten erreichte er die Innenstadt, die weitgehend schneefrei war. Die wenigen Teile der Stadt, die er auf dem Weg kennenlernte, sahen gemütlich und aufgeräumt aus. Die Stadt hatte offensichtlich Charme. Warum, konnte er noch nicht sagen.
Das Polizeirevier befand sich mitten in der Fußgängerzone in einem schönen alten Backsteingebäude. An der verglasten Pforte im Eingangsbereich meldete er sich unter Vorlage seines Dienstausweises beim dortigen Mitarbeiter. Der saß komplett vertieft in den Sportteil des Reichenhaller Tagblatts und schien den Eintretenden auf den ersten Blick gar nicht zu registrieren. Noska räusperte sich, woraufhin der Pförtner erschreckt von seiner Zeitung abließ. Nachdem er kurz aufgeschaut und den Ausweis beiläufig inspiziert hatte, stand er auf und sagte freudestrahlend: »Griaß eahna Gott, Herr Hauptkommissar. Sa wern S‘ scho dawart.« Mit beiden Armen gestikulierend beschrieb er Noska den Weg zum Dienststellenleiter in der ersten Etage. Diese war für das Kommissariat reserviert, während im Erdgeschoss die Verkehrspolizei und die Verwaltung untergebracht waren. Verlaufen konnte man sich im Gebäude nicht, war es doch nicht allzu groß. Er hätte das Ziel sicherlich auch ohne Erklärung gefunden, zumal ein übersichtlicher Wegweiser an der Wand neben der Loge angebracht war. Aber gut, die Leute waren scheinbar sehr hilfsbereit, und so richtig viel zu tun hatte der Pförtner wohl gerade ohnehin nicht. Noska bedankte sich und nahm die breite Treppe in den ersten Stock.
Höflich klopfte er an die vom Pförtner genannte Zimmertür Nummer 11 im Flur direkt hinter Treppe an, die allerdings sperrangelweit offenstand. ›Polizeioberrat Berti Hintermoser‹ stand auf dem Türschild. Noska blieb der Höflichkeitsform folgend im Türrahmen stehen.
„Jo, kemma S‘ do nei“, rief der Vorgesetzte, nachdem er von seinem riesigen Schreibtisch, der geschätzt fünf Meter von der Tür entfernt am Ende des äußerst geräumigen Büroraumes stand, aufgesehen und Noska entdeckt hatte. Noska traf auf einen untersetzten - man hätte auch ›rundlichen‹ sagen können - Herrn mit Halbglatze, einem runden rotbäckigen Gesicht und kugelrunden Augen. Der buschige Schnauzbart passte auf den ersten Blick irgendwie nicht zum Gesicht, aber zu dem kompakten Dreifachkinn. Hintermoser war geschätzt Ende fünfzig und machte auf ihn den Eindruck des typischen gemütlichen Bayern. Er trug einen edlen blauen Trachtenjanker zu einem ebenso teuer aussehenden karierten Hemd. Sein Schreibtisch war aufgeräumt. Außer den üblichen Schreibtischutensilien, ein paar kleinen, fein säuberlich sortierten Notizzetteln und einer Unterschriftenmappe lag nichts herum. Hintermoser war ebenfalls in seine Zeitung vertieft gewesen, die er mit seinen klobigen Fleischfingern festgehalten hatte und erst jetzt auf den Tisch legte. Er nahm seine Brille ab, hob beide Hände und winkte Noska hektisch zu sich. Der Eindruck des gemütlichen Bayern verflog auf der Stelle.
Später sollte Noska erfahren:
Hintermoser gab sich stets ziemlich kumpelhaft, war aber immer äußerst kurz angebunden, ruhelos und manchmal etwas fahrig. Zwar machte er immer alles superwichtig, aber nach kurzer Zeit verfolgte er den von ihm selbst zuvor noch als ›megarelevant‹ – eines seiner Lieblingswörter - deklarierten Strang nicht mehr unbedingt weiter. Er beabsichtigte, mit spätesten zweiundsechzig Jahren in den Vorruhestand zu gehen. Noch zwei Jahre blieben ihm. Wichtig war ihm eigentlich nur, dass alles irgendwie lief, er nicht übermässig behelligt wurde, und dass die Dienststelle in einem guten Licht stand. Andererseits stellte er sich gegenüber Dritten immer vor seine Mannschaft. Meistens war er außer Haus. »Erledigungen machen«, war ein weiterer stets bemühter Lieblingsspruch.
Hintermoser strich die Zeitung kurz glatt und streckte Noska seine Hand entgegen, blieb aber erstaunlicherweise sitzen. Aus der Nähe wirkte er noch korpulenter. »Sa san S‘ also der Neie aus dem Ruhrgebiet«, bemerkte er knapp und trocken nach dem gegenseitigen Vorstellen. Das ›R‹ im Wort ›Ruhrgebiet‹ rollte er unnachahmlich, fast wie einst Gerd Rubenbauer bei seinen legendären Fußball- oder Skireportagen. »Herzlich willkommen im Team.«
In diesem Moment erhob sich der so behäbig wirkende Dienststellenleiter ruckartig aus seinem Sessel, setzte seine edle Brille mit Goldrand auf und kam ungeduldig und ohne weitere Konversation um seinen Schreibtisch auf Noska zu: »Dann stell i eahna amoi unsere Mitarbeiter vor. Oiss Weitere erklär i eahna auf dem Weg. Folgn S‘ ma oafach.« Noska bemerkte, dass Hintermoser auch untenherum allerfeinst gekleidet war. Er trug eine perfekt sitzende Markenjeans und dazu schwarze Haferlschuhe mit seitlicher Schnürung. Schnellen Schrittes verließ er vor Noska das Büro, was dieser aufgrund der unförmigen Erscheinung gar nicht glauben konnte, hätte er es nicht mit eigenen Augen gesehen. Auf dem Flur vor seiner Zimmertür stoppte er genauso abrupt und bedeutete Noska mit einer wilden Handbewegung, ihm zu folgen. Er wirkte, als ob sein Terminkalender zum Bersten gefüllt wäre und er den Teufel im Nacken hätte. Der Eindruck des gemütlichen Bayern war endgültig gewichen.
Schon bald sollte sich zumindest das Gegenteil des übervollen Terminkalenders herausgestellt haben. Der geölte Blitz war nur die Fassade.
Die Begrüßungsrunde wurde nicht übermäßig lang, denn im Kommissariat gab es nur sechs Mitarbeiter, ihn selbst und den Pförtner hierbei bereits großzügig mitgerechnet. Noska hatte also Recht gehabt. Das Verbrechen war bis hierhin noch nicht durchgedrungen.
Berti Hintermoser kam, während die beiden ein kurzes Stück über den Flur gegangen waren, und er jetzt prustend wieder stehenblieb, ohne Umschweife und mit einem breiten Grinsen zum Punkt: »Sie werden sich hier um die einschlägigen Kapitalverbrechen kümmern: Diebstähle, Sachbeschädigungen, Beleidigungen und so weiter und so fort.« Na, das war ja klar. Wie schon geahnt. »Sollte im Ort allerdings amoi a Mord gschehgn, wos bisweilen äußerst selten vorkimmt«, fuhr er fort, »san S‘ natürlich aa hierfür zuständig.« Hintermoser lachte laut auf, so dass sein Dreifachkinn zu vibrieren begann.
»Aber denga S‘ oiwei dro: Hier genga d‘ Uhren ganz anderst.« Das hatte er doch heute schon einmal gehört und stellte hier also die Marschroute dar.
»Deswegen bin ich ja da«, gab Noska schlagfertig und halbernst zurück. Hintermoser prustete laut los.
»Sa gfoin ma. Ihr Vorgänger im Amt ist nach dreißig Dienstjahren hier pensioniert worden. Ich hoffe auf Kontinuität, was die Qualität, Effektivität und die Kollegialität angeht. Hinntermoser hatte den ersten und letzten Satz zur Verwunderung von Noska in akzentfreiem Hochdeutsch gesprochen, den Rest dazwischen urbairisch. Bereits jetzt gab ihm dieser Herr etliche Rätsel auf.
»Schon klar, ich werde mein Bestes geben«, erwiderte der Kommissar artig. Hintermoser gluckste etwas in sich hinein und nahm ein noch schnelleres Gehtempo auf, als sei jemand hinter ihm her. An der nächsten gegenüberliegenden Tür des Flures, die ebenfalls offenstand, verlangsamte er sein Tempo bereits wieder. Sie waren keine zehn Meter gegangen. ›14‹ stand auf dem Türschild. Die beiden darauf geschriebenen Namen konnte Noska auf die Schnelle nicht aufnehmen.
Hintermoser stellte Noska nun in aller Kürze namentlich seine künftigen engsten Mitarbeiter vor, die er erst später näher kennenlernen würde:
Zum einen Polizeihauptmeister Sebastian Assenbrunner, von allen nur ›Wastl‹ genannt, vierundfünfzig Jahre alt, verheiratet, drei Kinder; zum anderen Polizeimeister Helmut Mühleisen, von allen stets ›Mühli‹ genannt, sechsundzwanzig Jahre alt, ledig.
Der Raum war recht klein, aber beide hatten einen eigenen Schreibtisch, wobei sich die Tische gegenüberstanden. Assenbrunner hatte seine Schuhe ausgezogen, die Füße auf den ansonsten leeren Schreibtisch gelegt und blätterte in einer Zeitschrift mit dem Titel ›Heim & Hof‹, Mühleisen blickte konzentriert auf seinen PC-Monitor. Assenbrunner zog blitzschnell seine Füße vom Tisch, und beide grüßten sehr zurückhaltend, aber freundlich-lieb mit einem »Servus«, widmeten sich dann aber postwendend wieder ihrer bisherigen Beschäftigung, zumal Hintermoser bereits auf dem Absatz kehrt gemacht hatte und Noska, der im Türrahmen stehengeblieben war, den Flur entlang vor sich herschob. Die beiden ›Vögel‹ aus der ›14‹ gaben ihm die nächsten Rätsel auf.
Am Ende des Ganges stoppte er vor dem letzten Raum mit der Nummer 19. Es handelte sich um das neue Büro von Noska. Ein Namensschild war nicht angebracht. Hintermoser betrat nach Noska das Zimmer, welches auf den ersten Blick gemütlich eingerichtet erschien. Es bestach bereits dadurch, dass wegen der Flurendlage von zwei Seiten Licht einfiel. Neben einem ebenfalls auffällig aufgeräumten Schreibtisch aus hellem Holz befanden sich darin ein Hochschrank, eine Sitzecke, eine mit einigen wenigen Akten gefüllte Ablage und ein moderner High-Tech-Schreibtischstuhl, der sehr gesundheitsfördernd aussah. »In Bayern investiert man also in die wirklich wichtigen Dinge«, fuhr es Noska bei dessen Anblick durch den Kopf. Dieser Raum würde vermutlich zukünftig sein Haupteinsatzgebiet werden.
Das Zimmer war sehr geräumig, wenn auch nicht so groß wie das von Hintermoser. An den Wänden hingen gerahmte Großformatfotos vom Königssee, vom Watzmann und von der weltberühmten Kirche in Ramsau, die auch Noska als ›Flachlandbayer‹ von diversen Kalenderblättern sofort erkannte, und in der das Weihnachtslied ›Stille Nacht‹ eine gewichtige Rolle gespielt hatte. Auf der Wandseite neben der Tür entdeckte er eine deutlich kleinere Fotokollage mit der Predigtstuhlbahn, der Alten Saline und dem Gradierwerk. Die einzelnen Motive konnte er bereits zuordnen, da er zuvor im Internet ein wenig über die Stadt und ihre Sehenswürdigkeiten gestöbert hatte. Als der Dienststellenleiter bemerkte, dass Noska wegen der optisch deutlich dominierenden Fotos aus Berchtesgaden etwas stutzte, griff er sofort ein. »Des is no oiss von eahna Vorgänger. Der kimmt von drüben von Berchtsgoaden.« Mit der ironischen Betonung auf ›drüben‹ und der dazugehörigen eindeutig abschätzigen Handbewegung mit ausgestrecktem Daumen. »Aber er is a feins Mandl.« Er machte eine winzig kleine Pause. »Sa kenna des hier natürlich gstalten, wia S‘ woin. Sie kenna S‘ aa Poster von eahna Zechen, von Currywurst oder von Herbert Knebel aufhängen«, fügte er jetzt wieder mit leichtem Dialekt hinzu. Er hatte sich also offensichtlich mit der Ruhrgebietskultur und mit der Ankunft des Kommissars befasst was immer das bedeuten mochte. Und es fiel auf, dass er zwischen bayrischem Dialekt und astreinem Hochdeutsch tadellos switchen konte. Wieder lachte er laut auf, so dass Schnauzbart und Dreifachkinn in Wallung gerieten. Dabei fiel Noska jetzt die üppige Behaarung der Ohrläppchen und im Bereich des Naseneingangs an Hintermoser auf. Im Alter wuchsen die Haare halt dort, wo sie nicht wachsen sollten und umgekehrt.
Noska ging zu einem der Fenster und schaute auf das Treiben in der Fußgängerzone, während Hintermoser schon wieder unbändig Richtung Tür drängte.
In diesem Augenblick wurde Noska durch Schritte auf dem Flur abgelenkt, die eindeutig High Heels mit mindestens zehn Zentimetern Absatz zuzuordnen waren. Noska drehte sich um. Eine junge Frau betrat ohne anzuklopfen das Zimmer. Hintermoser blieb unbeeindruckt und fuhr rasant fort: »Sodala, des trifft sich fei guad, dass Du grad kimmst.« Er drehte sich zu Noska um: »Des is übrigens eahna persönliche Sekretärin, Sachbearbeiterin und unser aller Sonnenschein, die Frau Mayr, Mayr mit ›a y‹ und ohne ›e‹.« Der letzte Halbsatz kam staccatoartig. Und an die junge Frau gewandt: „Des is unser neier Hauptkommissar aus‘m Ruhrgebiet, der Herr Noska.“
»Etzad übertreibst a bisserl mit dem Sonnenschein, gel?«, bremste sie den Polizeioberrat, der darauf nicht weiter einging.
Noska musste schlucken. Vor ihm stand eine etwa ein Meter fünfundsiebzig große gertenschlanke Anfangdreißigerin mit langen blonden Haaren, hellblauen Augen und einer niedlichen kleinen Nase. Dazu war sie stark geschminkt. Der Lidschatten war nach Noskas Geschmack einen Tick zu violett. Sie trug einen quietschgelben engen Minirock, der ihm beim oberflächlichen Betrachten so kurz vorkam, als würde er gerade die Pobacken bedecken und gefühlt eher in die Kategorie Gürtel einzustufen sein. Durch die Bewegung beim Gehen war er bedenklich hochgerutscht. Dazu trug sie eine bunte Bluse mit auffällig großem Blumenmuster, die sie großzügig geknotet hatte, so dass ihr tiefgebräunter Bauch mit dem verspielten Bauchnabelpiercing, welches er sich gern näher angeschaut hätte, hervorstach. Ihre zierlichen nackten Füße steckten tatsächlich in zum Rock passend gelben ›Highest‹ Heels, die eher einer Waffe denn einem Schuh nahekamen. Das waren eindeutig mehr als zehn Zentimeter.
Damit hatte er jetzt so nicht unbedingt gerechnet. Bei ihm war das Bild der biederen Bayerin im wadenlangen Dirndl eingebrannt. Aber was er hier sah! Bereits zum zweiten Mal nach der gestrigen Begegnung mit dem Pensionswirt hatte sich das Klischee nicht ansatzweise erfüllt. Er hielt der Sekretärin seine Hand hin. »Clemens Noska«, stammelte er wie ein Schuljunge. »I bin die Rike Mayr, gfraid mi«, säuselte die hübsche Dame selbstbewusst. Dabei lächelte sie und beugte sich so weit vor, dass Noska einen Blick in ihren tiefen Ausschnitt gar nicht vermeiden konnte. Es verschlug ihm kurz den Atem. Er durfte sich natürlich nichts anmerken lassen und schüttelte sich innerlich. War es nicht erst Anfang März und arschkalt, und die Dame kam wie im Hochsommer daher? Alles merkwürdig hier. Das nächste Rätsel wartete auf eine Lösung.
»Auf gute Zusammenarbeit«, kriegte er so gerade raus. Dann wandte er sich vorsichtshalber wieder dem Dienststellenleiter zu, dem nicht verborgen geblieben war, dass Noska etwas zögerlich reagierte. Der ging aber nicht weiter darauf ein, während Frau Mayr sich laut klackernd wieder entfernte. »Jo mei, etzad kenna S‘ alle hier obm. Unserm Maxl san S‘ jo gwies scho an d‘ Pforte in die Arme glaffa.«, fuhr er stattdessen fort, bevor er eilends mit Blick auf seine Armbanduhr und dem Bemerken, er müsse einen megarelevanten Auswärtstermin wahrnehmen, verschwand. Im Laufen drehte er sich auf dem Flur noch kurz um und rief Noska, der sprachlos an der Tür zu seinem Zimmer zurückgeblieben war, gestikulierend zu, dass dieser jederzeit zu ihm kommen könne, wenn noch etwas wäre. Ansonsten wäre übrigens am Mittwoch um 11 Uhr allgemeine Dienstbesprechung. »Und denga S‘ dro, dass ma hier vui Wert auf an angenehme Arbeitsatmosphäre legn«, fügte er noch hinzu, als er schon mehrere Meter und einige Türen entfernt war. Mit erhobener Hand grüßend drehte er sich noch einmal um, während seine Schritte Richtung Treppe verhallten. Puh, das war aber viel auf einmal und in ganz kurzer Zeit. Aber immerhin benutzte Hintermoser das Wort ›Besprechung‹ und nicht ›Meeting‹. Noska war kein Freund von Anglizismen.
Er zog sein vorläufiges Fazit: Die Mitarbeiter machten allesamt einen sympathischen, wenngleich eigenartigen ersten Eindruck. Noska musste an die Miesepeter in seiner alten Dienststelle denken, an all die Egomanen, Schaumschläger, Erbsenzähler und Möchtegern-Schimanskis. Aber zur Ehrenrettung der Kolleginnen und Kollegen musste er gestehen, dass wiederum längst nicht alle so waren.
Noska stand nun allein in seinem neuen dienstlichen Domizil. Um ihn herum war es jetzt still. Er versuchte, die letzten zehn Minuten gedanklich zu sortieren. Er dachte darüber nach, ob das, was er da gerade erlebt hatte, eine Fatamorgana war: Einen introvertierten, aber zuvorkommenden Pförtner, einen wie mit einer Duracell-Batterie aufgezogenen Chef, zwei wortkarge mit sich selbst beschäftigte Wachtmeister und eine äußerst freizügige sexy Sekretärin. Wo war er hier gelandet? Das konnte ja heiter werden.
Wie zur Erlösung klingelte sein Handy. »Wer zum Teufel will jetzt was?«, entfuhr es ihm halblaut. Die alten Kollegen aus Bottrop hatten doch nicht etwa noch ernsthaft Fragen zu seinem letzten Fall?
»Toni hier«, hörte er am anderen Ende der Leitung seinen besten Freund krächzen.
»Ach, du bist es nur«, brummte Noska sichtlich erleichtert zurück.
»Wie nur? Wollte nur mal hören, wie es Dir geht. Du bist doch heute im Kurort gestartet, oder?«
»Ach wunderbar. Pension ist klasse, Arbeitsklima scheint angenehm zu sein. Du, wir haben echten Schnee. Und ich hatte Begegnungen mit merkwürdigen Wesen, die ich noch nicht verdaut habe.«
»Wieso? Bist Du mit einer Kuh zusammengestoßen?«
»Nein, das erzähle ich Dir, wenn Du mich die Tage hier besuchst. Du kommst doch am Wochenende, oder?«
»Klaro Alter, wie abgemacht, muss doch gucken, ob der gute alte Noska gut untergekommen ist und die Aufnahmeprüfung zum Bayern besteht.«
»Ja, dann bis Samstag. Muss hier mal nach den aktuellen Verbrechen gucken.«
»Hau rein. Aber hüte dich vor den Damen auf Kur. Das bringt wieder nur Unglück.«
»Ts, ts, wieso wieder? Lass das mal den Clemens machen«, zischte Noska. »Schon gut, ich melde mich, Servus«, beendet Börgl das Gespräch.