Hin und zurück ... oder weg - Ludger Fleischer - E-Book

Hin und zurück ... oder weg E-Book

Ludger Fleischer

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Beschreibung

Was man im Laufe der Zeit so alles erlebt! Banales, Außergewöhnliches, Aufregendes, Amüsantes, Nachdenkliches. Die kleinen Beobachtungen und alltäglichen Lebenssituationen sind es, die in diesem Buch zu ihrem Auftritt kommen sollen. Einige der gesammelten Eindrücke aus mehreren Jahrzehnten haben es geschafft, aufbereitet worden zu sein zu einem kleinen Panorama zwischen meiner Heimatstadt Bottrop und meinem Lieblingsort Bad Reichenhall. Sozusagen zwischen schwarzem und weißem Gold. Durchaus mit einem Augenzwinkern oder auch mal aus einem schonungslosen kritischen Blickwinkel.

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Der Autor

Ludger Fleischer, geboren 1963 in Bottrop, seit 55 Jahren Kind des Ruhrgebiets, beruflich in der Heimatstadt als Rechtsanwalt tätig, hat 2016 eine neue Liebe entdeckt: die Liebe zu Bad Reichenhall.

Dieser Umstand und die immer schon vorhandene Liebe zum Schreiben haben dazu animiert, dieses Buch mit Erlebnissen aus beiden Welten und aus dem Raum dazwischen zu schreiben.

Und da es augenscheinlich sehr wenige Bücher gibt, in denen Bad Reichenhall vorkommt, möchte er das hiermit schleunigst ändern.

Coverfoto

Links: Seilscheibe des Bergwerks Prosper I, Bottrop

Rechts: Größter Salzstreuer der Welt, Bad Reichenhall

Inhalt

„Ich habe Hunger“

„Ticken wir noch richtig?“

„Ich würde gern mal Izze fahren“

„Alles noch vorhanden“

„Und du fängs dann schnell am Singen“

„Ist das salzig!“

“Rien ne va plus“

„Da hätten’S aber auch gestern in die Notaufnahme gehen sollen“

„Geht doch ab von dieser Anstalt“

„Davon kriagts eckige Aung“

„Kamrad, hol dich den Heiermann“

„Lassen Sie die Flasche ruhig zu“

„Das Runde muss ins Eckige“

„Was, wirklich noch eins?“ oder „Magst no oans?“

„The same procedure as last year“

„Da rührt sich kein Sackhaar“

„Einmal Bulette mit Senf und ´ne Schrippe dazu

„Titten ins Tal“

„Essen, Waschen, Pipi machen, ab im Bett“

„Darf’s ein bisschen mehr sein?“

„Blau blüht der Enzian“

„Wo geht dat hier ab mit die Gapefruit?“

„Pack mer’s. Wer nicht mehr kann, geht aussi“

„Da hab ich aber vorhin gelegen“

„Die Oma kommt gleich“

„Ey, du Penner, gleich komm ich dir da mal rüber“

„Irgendwo laufen immer Männekes“

„Da muss ich ja nicht auch noch“

„Und wo kommt der her?“

„Autofahren macht keinen Spaß mehr“

„Mambo“

„Alle Köpfe runter“

„LOL“

„Abfahr’n“

„Meine gigastarken Wadln san a Wahnsinn für die Madln“

„War ich au ma“

Prolog

Die folgenden Geschichten haben sich tatsächlich so oder zumindest ganz ähnlich abgespielt. Lediglich zum besseren Verständnis und zur Detailausschmückung habe ich an einigen Stellen sinnvolle Ergänzungen vorgenommen. Es handelt sich oftmals zwar nur um geschilderte Beobachtungen und kleine Alltagsbegebenheiten; aber die sind es doch letztlich, die das Salz in der Suppe des Lebens ausmachen. An der einen oder anderen Stelle erlaube ich mir die eine oder andere kritische Auseinandersetzung und nehme die eine oder andere Abrechnung mit dem einen oder anderen vor.

Apropos Salz: Darum geht’s natürlich auch.

Zwischendurch lässt sich immer wieder spielend eine Brücke zwischen Bottrop einerseits und Bad Reichenhall andererseits schlagen.

Interessant ist dabei, dass Bad Reichenhall – abgesehen von Berchtesgaden, aber die sind ja Marktgemeinde – die Stadt in Deutschland ist, die von Bottrop aus gesehen am weitesten entfernt liegt. Man nehme einen Zirkel oder berechne eine Route. 796 Kilometer sind unschlagbar.

1. „Ich habe Hunger“

Wie eine große Liebe begann

„Ich habe Hunger“, sagte meine Beifahrerin in einem für meine Begriffe etwas zu quengeligen Ton. Ich wusste, dass es kein Pardon gab, wenn der Hunger erst einmal über sie gekommen war. Dann konnte sie, die sonst so sanft und liebevoll war, unausstehlich werden. Dann war es ihr ernst. Sie sah mich unzufrieden an, und ich verstand.

Sie, das war meine damalige Lebensabschnittsgefährtin Beate.

Bis dahin war es ein wunderschöner, sonniger und warmer Tag gewesen, unser letzter Urlaubstag im Salzburger Land. Wir waren am Vortag, nachdem wir das Auto auf einem Parkplatz im Ellmautal stehen gelassen hatten, hinauf zur jahrhundertealten Weissalm gestiegen und hatten dort übernachtet. Ohne Luxus, aber dafür mit viel kitschiger Postkartenidylle. Wir hatten einen wildromantischen Abend auf über 1700 Metern Höhe. Wir durften die Murmeltiere füttern und genossen eine ausgiebige Brotzeit – die beste unseres Lebens. Dabei hatten wir auf der Terrasse der Alm gesessen, eine Maß Bier getrunken und staunend ins Tal geschaut. Und als die Sonne über den Berggipfeln unterging, bot sich uns ein unbeschreiblicher Anblick mit einem einzigartigen Farbenspiel.

Nach der Nacht in der Einsamkeit waren wir noch ein bisschen gewandert und dann ins Urlaubshotel nach Großarl zurückgekehrt, um zu duschen und frische Sachen anzuziehen. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, wie dieser Tag mein Leben verändern würde.

Ich hatte mich auf den letzten Metern der Wanderung – das Auto stand schon in Sichtweite – noch „hingelegt“, weil ich Tollpatsch auf dem glitschigen Waldboden ausgerutscht war. Krönender Abschluss eines ansonsten perfekten Urlaubs. Gottlob waren außer ein paar Kratzern am Arm und einem defekten Uhrarmband keine weiteren Schäden zu beklagen.

Um dem unvermeidlichen Tagesstau zwischen Salzburg und München (und wer weiß wo noch) zu entgehen, entschlossen wir uns, erst am frühen Abend aufzubrechen und über Nacht zurückzufahren. Das hatte im Übrigen ja den positiven Nebeneffekt, dass wir noch ein paar Stunden länger die Bergwelt genießen konnten. Wie schlitzohrig! Da nahmen wir gern eine Fahrt durchs Dunkle in Kauf. Wir kamen überein, dass wir bald ohnehin viel zu früh und lange genug wieder Ruhrgebietsluft schnuppern würden.

Und so ging es – leider grobe Richtung Norden, irgendwann Abzweigung Ruhrgebiet, Endstation Bottrop - los. 850 lange Kilometer lagen vor uns, wohl wissend, dass die geliebten Berge irgendwann zwangsläufig hinter uns liegen und allenfalls noch im Rückspiegel sichtbar sein würden.

Beate meinte zu allem Überfluss noch, dass eine Landschaft ohne Berge irgendwie nicht vollständig sei, dass etwas Entscheidendes fehle. Zeit also, dass sich die Laune mit jedem Kilometer nordwärts rapide verschlechterte.

Und sie hatte Hunger!

„Beim nächsten Gasthof halten wir aber an. Wir haben ja noch gar nichts gegessen“, sagte Beate fast vorwurfsvoll. „Ja“, entgegnete ich, „aber lass uns erst mal ein paar Kilometer fahren“. Wir hatten auf der Hütte am Morgen lediglich ein karges Hüttenfrühstück eingenommen, wie es halt dort angeboten wurde. Es bestand aus Brot, Marmelade, Honig und einem – zugegeben – „dünnen“ Bodenseh-Kaffee.

Bis zur Autobahnauffahrt auf die Tauernautobahn fuhren wir an einigen Orten, viel Landschaft, nur nicht an Gaststätten vorbei. Entweder lagen die nicht an der Hauptstraße, oder wir haben sie nicht wahrgenommen. Oder sollte es eine Bestimmung sein?

Auf der A 10 herrschte reger Verkehr. „Bärli, wir können auch eine Raststätte anfahren“, säuselte meine Beifahrerin, während ich tatsächlich schon leise Knurrgeräusche ihres und bald auch meines Magens vernahm. Mindestens acht Stunden lagen noch vor uns. So konnten wir unmöglich durchfahren. Und wer weiß, wie viele Staus uns noch bevorstanden, auch wenn es schon auf den Abend zuging.

Bärli, das bin übrigens ich.

Beate nannte mich liebevoll Bärli, was sicherlich zum einen den Umfang meines Bauches treffend beschreibt, aber zum anderen auch auf meinen allgemeinen, gemütlichen und genussvollen sowie friedfertigen Gemütszustand hinweist.

„Das ist keine gute Idee“, bemerkte ich spitz. „Meistens ist das Essen auf Raststätten unterirdisch. Und der weitere Nachteil ist, dass man danach schnell wieder Hunger verspürt. Und dann müssen wir nachher nochmals bei McDonald’s anhalten. Und: siehst du hier eine Raststätte?“ Dieses Argument zog wohl. Es erschien mir in dieser Situation albern, zu erwähnen, dass wir uns ja auch an den Bergen sattsehen könnten, solange sie noch rechts und links der Autobahn zu erblicken waren.

Also versuchte ich es mit einem anderen Vorschlag: „Lass uns über die Grenze fahren und die nächstbeste Ausfahrt nehmen. Da wird es ja irgendetwas Gescheites zu essen geben.“

Meine Beifahrerin schien über diesen Vorschlag nachzudenken und sah mich eine kurze Zeit fragend an. „Wie lange noch?“, fragte sie schließlich. Diese Frage war ich bisweilen nur von Kindern gewohnt, die in der Regel bei einer längeren Urlaubsfahrt kurz nach dem Einsteigen diese Nerv tötende, aber obligatorische Frage stellten, meistens dann, wenn man in der Heimatstadt auf die erste Autobahnauffahrt bog, spätestens aber kurz nach dem Auffahren vom Beschleunigungsstreifen auf die Autobahn, wenn noch 8 Stunden vor einem lagen.

Mich wunderte die Frage meiner Liebsten nicht, da das Einschätzen von Entfernungen und Zeiten sowie kartografische Vorstellungen nicht zu ihren Stärken gehörten.

„In einer Dreiviertelstunde werden wir, wenn alles gut geht, die Grenze passieren“, beruhigte ich sie. Und das schien sie zunächst besänftigt zu haben. Wir erfreuten uns an der alpinen Landschaft, die an uns vorbeiflog. Die Stimmung war gerettet, obwohl wir uns unwiederbringlich auf der Rückreise befanden.

Na gut, wir waren nicht in einer Dreiviertelstunde über die Grenze. Vor Salzburg tat sich ein Stau auf, aber nach gut einer Stunde erreichten wir die Bundesrepublik Deutschland. „Servus Österreich, wir kommen sobald wie möglich wieder“.

Auf dem Hinweisschild für die nächste Ausfahrt war „Piding“ und darüber hinaus auch ein mir bis dahin nur aus der Deutschlandkarte und den Medien bekannter Ort namens „Bad Reichenhall“ zu lesen. Das hatte man doch schon mal gehört! „Du“, nuschelte ich, „da könnten wir jetzt mal runter fahren und uns Richtung Ortsmitte begeben. Wäre doch wohl gelacht, wenn wir da als Abschluss des Urlaubs nichts typisch Bayrisches zu essen bekommen.“ Die Laune meiner Beifahrerin hellte sich augenblicklich auf. „Ich hatte schon geglaubt, das wird nichts mehr, so unentschlossen, wie Du heute wieder bist. Ich dachte schon, wir landen nachher noch bei McDoof“.

„Vorsicht“, entgegnete ich entrüstet. „Wir steuern jetzt auf das erstbeste Lokal zu, und dann … geht’s leider nach Hause.“

Es war noch hell, als wir das originelle und für den Ort passende Kunstwerk des größten Salzstreuers der Welt passierten und über den Stachus, der mir bislang nur aus München bekannt war, mühelos Richtung Innenstadt fuhren. Leider erwischten wir bei der ersten Runde auf der Salinenstraße keinen freien Parkplatz, aber im zweiten Anlauf klappte es dann. Es war noch erstaunlich warm an diesem Augusttag, und wir stiegen hungrig aus und gingen auf den nahe gelegenen Rathausplatz. Die Stände für den anstehenden Weinmarkt waren bereits aufgebaut, aber noch nicht geöffnet.

Trotz der vielen Gäste umstrahlte den Platz eine unglaubliche Ruhe. Der Blick auf die umliegenden Berge beruhigte, und das Flair des Platzes mit seinen Biergärten war fantastisch. Wir steuerten auf einen der wenigen freien Tische eines der Bierlokale zu und ließen uns nieder. Es war Montagabend – und es war so viel los hier. Andererseits war es so träumerisch.

Als der Kellner kam, um uns die lang ersehnte Speisenkarte zu bringen, waren wir bereits verliebt, mal wieder ineinander – und in Bad Reichenhall.

Das Gefühl zu beschreiben ist nicht einfach, zumal der Hunger ja gerade alles übertönte. Aber es war faszinierend. Wir waren an der Alten Saline vorbei gekommen und hatten jetzt das Rathaus mit seinen Malereien sowie im Vordergrund den Wittelsbacherbrunnen vor unseren Augen. Ich hatte bislang kaum etwas Schöneres gesehen, obwohl ich schon sehr viele Orte in Deutschland und in Europa besucht hatte.

Meiner Partnerin ging es wohl genauso. Sie saß mit einem süffisanten Lächeln am Tisch und genoss das frisch gezapfte Bier, während ich gedankenverloren in mein Weißbierglas mit alkoholfreiem Gebrauten schaute.

Das Essen war hervorragend. Nachdem wir alles verputzt und gezahlt hatten, standen wir auf und schauten uns an. „Ich könnte mir vorstellen, hier zu leben“, sagte Beate hastig. „Genau das wollte ich auch gerade sagen“, erwiderte ich. Jetzt ist es nicht so, dass uns das jeden Tag passierte. Nein, es war keinem von uns - bezogen auf einen bestimmten Ort dieser Welt – schon mal so ergangen.

Später haben wir festgestellt, dass mehrere Aspekte zu dieser Erkenntnis geführt hatten. Einer davon war, dass die Berge zwar präsent sind, aber andererseits keineswegs einengen.

An vielen Stellen auf unserem Planeten ist es sicherlich schön, aber nicht so spektakulär, dass zwei Menschen am selben Ort zur selben Zeit eine solch „staatstragende“ Aussage machen. Noch dazu in einem Staatsbad. Und für uns war es eine solche „staatstragende“ Erkenntnis, die wir beide im gleichen Moment äußerten.

Es war der Beginn einer unglaublichen Liebe zu Bad Reichenhall, die uns nicht mehr los ließ.

Wir konnten uns dem Bann dieser Stadt nicht entziehen und beschlossen, noch eine Verdauungsrunde durch die Innenstadt zu drehen. So lernten wir zunächst nur die Poststraße und die Ludwigstraße nach Geschäftsschluss kennen. Dennoch stieg die Begeisterung unbewusst noch einmal, ohne dass man es in Worte fassen konnte. Nur schwer konnten wir loslassen und Richtung Heimat fahren.

Das positive Gefühl auf der Rückfahrt war eindeutig: Wir kommen schon bald wieder. Verlasst Euch drauf!

So war Montag, der 08. August 2016, für mich ein einschneidender Tag in meinem Leben, an den ich ganz oft zurück denke. Er hat vieles verändert, auch wenn Beate sich im Jahr darauf von mir trennte.

Aber ich nicht von Bad Reichenhall!

2. „Ticken wir noch richtig?“

Was es mit dem Nabel der Welt und dem Salz, mit dem unsere Suppe gesalzen wird, auf sich hat

Jetzt könnte der geneigte Leser ja an dieser Stelle meinen, das sei ja alles nur Spinnerei gewesen.

Ein damals 52-jähriger Rechtsanwalt aus dem Ruhrpott mit eigener Kanzlei, geboren in Bottrop, aufgewachsen in Bottrop, bis dahin (ausgenommen eine kurze Bundeswehrepisode im Norden) gelebt in Bottrop, und die vierfache Mutter, die immerhin schon seit 35 Jahren im Ruhrgebiet wohnt, verlieben sich in eine Alpenstadt, in der sie eine einzige Stunde Rast gemacht haben. Pah, das ist ja lächerlich.

Ist es nicht. Nicht an einem einzigen Ort der Welt war es mir, nein: war es uns, bislang so ergangen. Wir konnten uns sofort vorstellen, dort unseren Lebensabend zu verbringen.

Nachdem ich das wirklich empfehlenswerte Buch „Abenteuer Reichenhall“ von Andrea Kuritko und Marco Bolz-Maltan gelesen hatte, fiel mir auf, dass wir weiß Gott nicht die einzigen Verrückten sind. Fast alle der dort geschilderten Situationen sind ohne weiteres nachvollziehbar und von uns ebenso 1:1 empfunden worden.

Nur zwei Aussagen kann ich mit einem Augenzwinkern nicht unterschreiben:

Die Autorin spricht von der Liebe zur Stadt erst auf den

zweiten

Blick.

Die dortige Gastautorin behauptet, es gäbe bestimmt keinen Haushalt, in dem sich nicht die blauen Verpackungen mit der weißen Raute und der roten Schrift befänden.

Zu beiden Punkten später mehr.

Noch vor einiger Zeit hätte ich vehement abgewinkt, wenn man mich gefragt hätte, ob ich mir vorstellen könnte, jemals woanders zu leben. Ausgerechnet mich sollte es also erwischt haben?

Dabei fiel mir allerdings der Satz eines ehemals befreundeten Lokalzeitungsjournalisten ein, der in den 1980er-Jahren nach Köln wechselte und beim Abschied zur Begründung ausführte: „Wenn man anfängt, Bottrop für den Nabel der Welt zu halten, ist es Zeit, sich zu verändern.“ Wie wahr!

Nun ist sicherlich auch Bad Reichenhall objektiv nicht der Nabel der Welt, aber durch ihr Klima, ihren Charme und ihre zentrale Lage kommt die Stadt dem Nabeldasein sehr nahe. Bad Reichenhall ist nicht zu groß und nicht zu klein, versprüht jede Menge Lebensgefühl und -qualität, bietet eine hervorragende Infrastruktur und ist verkehrsgünstig gelegen. Die Nähe zu Bergen und Seen, aber auch zu Salzburg und München sowie zu Sehenswürdigkeiten und Skigebieten – letzteres ist für mich von enormer Bedeutung - ist sensationell.

Also: Liebe auf den ersten Blick!

In der Folgezeit interessierte ich mich für alles, was mit dieser wunderschönen Alpenstadt zu tun hat. Ich verschlang Ortsprospekte und studierte Stadtpläne. Der Segen des Internets – oftmals verfluche ich die neuen Medien und wünsche mir die gute alte Zeit zurück – konnte hier einmal positiv zu Buche schlagen. Immer öfter ertappe ich mich, die Internetauftritte der Stadt aufzurufen und von da aus hemmungslos weiter zu surfen. Dann vergesse ich alles um mich herum. Und der tägliche Blick auf die Webcams ist obligatorisch, besonders spannend im Winter, wenn die Landschaft langsam ins Weiß getaucht wird. Die Homepage „www.bad-reichenhall.de“ ist übrigens hervorragend übersichtlich gestaltet und bietet alle erdenklichen Informationen. Von da aus wird man auch bestens auf interessante Angebote weitergeleitet. Muss ja mal gesagt werden.

Als ich eines Tages dann feststellte, dass es sogar ein Reichenhall-TV gibt, war ich ganz „aus dem Häuschen“. Eine wundervolle Idee. Jetzt warte ich schon immer unbändig auf die nächste Monatsausgabe und freue mich wie ein Kind, wenn diese endlich online ist. Für mich könnte der Bericht des Regionalfernsehens Oberbayern ruhig länger dauern. Ich frage mich, wer außer mir noch sämtliche verfügbaren Ausgaben als Video „nachgeschaut“ hat.

In der Favoritenleiste meines Browsers – ich weiß nicht, warum ich diese immer liebevoll „Knabberleiste“ nenne – sind selbstverständlich die Schnellklicks für das Reichenhaller Tagblatt und die Nachrichten aus Bad Reichenhall gespeichert.

Unzählige Videos über Bad Reichenhall geben mir das Gefühl, ich wäre schon sehr oft da gewesen. Jede Ecke kommt mir irgendwie bekannt vor, und doch gilt es, diese erst nach und nach live zu entdecken.

Apropos Ecken: es wäre unfair zu behaupten, das Ruhrgebiet habe keine schönen Ecken. Zugegeben ist auch das Bottroper Rathaus ein schmuckes Stück Ruhrgebiet. Nur sind es gefühlt nicht so viele schöne Ecken, oder ich erkenne sie nicht (mehr). Vielleicht will ich sie auch gar nicht sehen und lieber verdrängen. Die Schönheit unserer Region an der Ruhr ist aus meiner Sicht dennoch sehr begrenzt, wobei Schönheit bekanntlich allein im Auge des Betrachters liegt, auch auf die Gefahr hin, dass ich mir den Zorn der Ruhrgebietfans zuziehe.

Noch schlimmer sind allerdings die kaum lösbaren Strukturprobleme, mit denen die Städte hier zu kämpfen haben. Ohne Moos nix los. Die Lebensqualität sinkt trotz beharrlicher Dementi der Verantwortlichen stetig.

Bei diversen Rankings schnitten die Städte im Westen bekanntlich zuletzt sehr mies ab. Regelmäßig rangieren wir in sämtlichen Listen deutschlandweit ganz hinten, egal ob es um Kaufkraft, Lebenserwartung, Bildung, Armut, Luftverschmutzung oder sonstiges geht. Man muss die Tabellen nur in der richtigen Reihenfolge lesen.

Die jüngste Studie des ZDF in 53 Kategorien sieht Bottrop auf Platz 391 von 401, knapp vor Gelsenkirchen, das Berchtesgadener Land jedoch auf Platz 36. Da muss ja was dran sein.

In unserer 120.000-Einwohner-Stadt hat im Jahr 2016 das letzte Voll-Sortiment-Kaufhaus seine Pforten geschlossen, auch wenn es inzwischen einen Ersatz „light“ gibt. Seit Jahren steht der Umbau unseres einzigen Einkaufszentrums still. Ein baulicher Torso! Die City ist ausgestorben, auch wenn manche Verantwortliche das nicht gern hören. Eine einzig gepushte Gastromeile schafft keinen Ausgleich. Sich weitestgehend allein über eine solche definieren zu wollen, ist aus meiner Sicht ein falscher Weg.

Die Servicewüste hat sich ausgebreitet; Hektik, Stress, miese Laune, Oberflächlichkeit, Kriminalität, Aggressivität am Steuer und auf dem Bürgersteig sind die vorherrschenden Stichworte. Es reicht allmählich.

Zurück zu den Ticks:

Früher würzte meine Mutter im elterlichen Haushalt immer mit Bad Reichenhaller Salz. Das war in den meisten Haushalten wohl ganz normal. In den Tante-Emma-Läden meiner Jugend standen die Salze selbstverständlich, und auch mein kleiner Spielzeugkaufladen beherbergte einige Minipackungen davon. Die Salze waren mindestens genauso obligatorisch wie die berühmte Würzflasche aus Singen. Dann kam die Zeit der Discounter, die zunächst keine Markenprodukte im Angebot hatten. Das Reichenhaller Salz verschwand nach und nach aus den Haushalten, auch in unserem. In strukturschwachen Gegenden spart man halt selbst beim Salz.

Nach unserem Erstbesuch in Bad Reichenhall griffen wir wie automatisiert wieder zu der blauen, runden Dose mit der Raute und der roten Banderole mit dem Schriftzug „Bad Reichenhaller“. Die Verpackung hat sich im Laufe der Jahre kaum verändert. Es ist ein Stück „Heimatgefühl“ auch jetzt in meiner Küche. Und immer, wenn ich darauf schaue, wird mir ganz warm ums Herz, auch wenn die Berge nur aufgemalt sind.

Am liebsten würde ich den Kühlschrank öffnen und dort allabendlich ein Reichenhaller BÜRGERBRÄU finden, aber das gibt es hier doch eher selten zu kaufen. Bei einer Brauereibesichtigung erfuhren wir, dass die größte Menge ins unmittelbare Umfeld geliefert wird, aber ein Teil auch nach Italien geht. Der Import zu mir nach Hause dürfte umständlich und kostspielig sein. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.

Die berühmten Mozartkugeln jedenfalls habe ich in unserem Supermarkt schon gefunden. Es fehlt nur das passende Kaffeehausflair. Und sie schmecken vor Ort irgendwie halt besser.

Als sich kurz nach der Fahrt unser Bügeleisen in Richtung Elektromüll verabschiedete, waren wir gezwungen, ein neues zu kaufen. Beim Auspacken sagte meine damalige Partnerin knochentrocken: „Oh, das letzte Bügeleisen vor Bad Reichenhall“. Das war so wie „die letzte Tankstelle vor der Autobahn“, aber ein bisschen auch wie „bald ist es schon soweit“. Da wusste ich noch nicht, dass es keine gemeinsame Zeit im Alter geben würde. Die Lebensrealität überholte die Planung mal wieder ebenso rasant wie imposant.

Die Idee, dort meinen Lebensabend zu verbringen, habe ich trotz der Trennung von meiner Partnerin noch nicht ad acta gelegt. Bad Reichenhall bleibt für mich halt Bad Reichenhall.

Ich würde ungern die Erkenntnisse aus dem Lied „Berlin“ von Nik P. ziehen, das Vorhaben solange auf die lange Bank geschoben zu haben, bis es nicht mehr verwirklicht werden kann. „Ist noch zu früh für Berlin“ – „Es ist zu spät für Berlin“. Wie wahr.

Also tröste ich mich zunächst mit der Vorstellung, so oft wie möglich die Stadt aufzusuchen und die aktuelle Entwicklung regelmäßig zu verfolgen. Bis dahin würze ich schon mal das Essen mit den Schätzen aus der Alpenstadt.

3. „Ich würde gern mal Izze fahren“

Bahnfahren macht Spaß

Nun planten wir nach unserem Erstbesuch, so bald wie möglich wieder nach Bad Reichenhall zu reisen, um unsere Eindrücke in der Stadt und über die Stadt zu vertiefen. Aber so ganz einfach ist es ja nicht, mal eben dorthin zu reisen. Immerhin liegen wir knapp 800 Kilometer auseinander. Die Stadt Bad Reichenhall ist die von Bottrop aus gesehen am weitesten entfernteste Stadt in Deutschland, wenn man die Marktgemeinde Berchtesgaden mal ausklammert.

Gleichzeitig hatte meine damalige Partnerin immer wieder davon gesprochen, sie wolle doch mal ICE fahren, von ihr immer wieder „Izze“ genannt.

So war mir ihr Wunsch Befehl, und ich besorgte heimlich bei einem großen Discounter ein Sonderticket der Deutschen Bahn für zwei Hin- und Rückfahrten quer durch Deutschland.