Via Podiensis - Rainer Schulz - E-Book

Via Podiensis E-Book

Rainer Schulz

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Beschreibung

In diesem Pilgerbuch versammelt sich eine Reihe kleiner Reiseerzählungen, unterhaltsam, spannend, berührend, humorvoll, informativ, Ein wenig Träumerei, Märchen oder Fabel hier, ein wenig Feuilleton, lyrische Prosa oder historischer Exkurs da - so meditieren sich 24 Pilger-Momente durch Frankreichs Südwesten, zwischen Conques und Moissac, entlang der uralten »Via Podiensis«.

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VORWORT

In diesem Pilgerbuch versammelt sich eine Reihe kleiner Reiseerzählungen. Ein wenig Träumerei, Märchen oder Fabel hier, ein wenig Feuilleton, lyrische Prosa oder historischer Exkurs da – so meditieren sich 24 Pilger-Momente durch Frankreichs Südwesten, zwischen Conques und Moissac, entlang der uralten »Via Podiensis«.

Für die großzügig zur Verfügung gestellten Bilder gilt ein herzlicher Dank den Pilgerbrüdern Jürgen Blum, Matthias Jokisch und Jürgen Nitz.

Rainer Schulz

INHALT

Vorwort

Inhalt

Conques

1 | Fides — Die Getreue

2 | »Eia, ultra!«

3 | Porte de la Vinzelle: Torheiten

Decazeville

1 | Moreau & Decazes

2 | Der kleine Stein

Faycèlles

1 | Landschaftsbild

2 | Cazelles

Cajarc

1 | Safran

2 | Charolais

Limogne-en-Quercy

1 | Marie

2 | Dolmen

Cahors

Lascabanes

1 | Im Tal

2 | Le Nid des Anges

Lauzerte entgegen

1 | Der Weg

2 | Der Hügel

3 | Im Licht

Nahe Lauzerte

1 | Die Traurigkeit

2 | Übermut + Hochmut – eine Fabel

3 | Der Hohlweg

4 | Lauzerte – die Leuchtende

Rast

Moissac

1 | Stolz und fromm

2 | Entäussert

Pilgern heute

Anhang

Weiterführende Erläuterungen

Bildhinweise

Personennamen

Literaturhinweise

CONQUES

Bild 1: Conques, Basilika Sainte Foy (JN)

1 | FIDES — DIE GETREUE

Welche Schuld traf sie? Hatte Gott eingegriffen, als man das kleine Mädchen zum Tod durch Verbrennen verurteilte? Sie war nur zwölf Jahre alt gewesen.

Die Gedanken an jenes Kind ließen den Wallfahrer nicht los, während er versuchte, seinen Schritt in einen ordentlichen Rhythmus zu bringen. Unaufmerksam stolperte er, stieß sich heftig an einem Stein und versuchte, den Schmerz zu beherrschen – mit mäßigem Erfolg. Der Tag war noch zu jung, und der Körper wollte sich dem Exerzitium des Gehens noch nicht fügen.

Gott habe unverhofft schweren Regen geschickt, so hieß es, und damit Feuer und Glut gelöscht. So sei das Mädchen vor dem Verbrennen auf glühendem Rost bewahrt worden. Doch schien die Macht des Höchsten begrenzt gewesen zu sein, denn nun wurde die kleine Fides geköpft, und Gott vermochte es nicht zu verhindern – oder wollte es nicht. Erst danach nahm er sich des Opfers von neuem an, sandte zwei Tauben aus und ließ den vom Leib getrennten Kopf davontragen.

Langsam kroch der Wallfahrer den Bergwald hinauf. Auf halber Höhe blickte er versonnen zurück: Tief unten lag das mittelalterlich malerische Conques.

Dorthin also sollten die Tauben den Kopf der Heiligen Fides getragen haben? »Lauter Legenden«, dachte er und schüttelte die schauerlichen Überlieferungen um den Märtyrertod der kleinen Fides ab. Keuchend und schwitzend arbeitete er sich zwischen den wilden Kastanien nach oben und konzentrierte sich auf das Ziel seiner Pilgerfahrt. Doch immer wieder holte ihn die Vergangenheit ein. Ihm war, als habe er sich in ein gewaltiges Geschichtsbuch verirrt; alles auf diesem Weg atmete Geschichte und Geschichten.

Er stellte sich das Weinen und Rufen des Mädchens vor, ihre verzweifelten Eltern, angesehene Patrizier im gut 200 km entfernten südfranzösischen Agen; oder Datius, Prokonsul Aquitaniens, bis aufs Äußerste gehorsam gegenüber seinem Kaiser Maximinian, so gehorsam, dass er sogar den Tod eines Kindes verfügte. Gut 1700 Jahre lag das alles zurück, und doch schien es nun ganz nahe zu sein. Seltsam aber blieb, dass jenes Kind sich nicht hatte einschüchtern lassen, dass es sich dem kaiserlichen Tribunal gegenüber fest zu Christus bekannt und jeder Verehrung anderer Gottheiten widerstanden haben soll. Nur zehn Jahre später wäre dem Mädchen nichts geschehen – da wurde der Glaube an Christus Staatsreligion, und die Verfolgungen hatten ein Ende.

Der Tod der kleinen Fides und das vermutete Grab des Jakobus im galizischen Santiago de Compostela – beinahe zur selben Zeit brachen Wellen der Verehrung dieser zwei Zeugen des Glaubens los. Im Jakobsweg verbanden sich beide miteinander. Wie Jakobus seine große Kirche in Santiago de Compostela erhielt, so weihte man der Heiligen Fides die Basilika »Sainte Foy« zu Conques. Hagiographen, Künstler und Pilger nahmen sich der beiden an und sorgten dafür, dass sie nicht in Vergessenheit gerieten.

Der Wanderer hatte die ersten Strapazen des heutigen Pilgerweges hinter sich und den Rand des nun unter ihm liegenden steilen Tales erreicht. Die kleine Fides ließ er zurück, dort im tiefen Schlund – nicht ganz allerdings; denn ab und an kehrte die Erinnerung an sie zurück, wenn hier eine Taube aufflog oder dort ein Dorfkind am Straßenrand spielte.

Bild 2: Conques, Basilika Sainte Foy (MJ)

2 | »EIA, ULTRA!«

War dieses Tal ein alles in den Abgrund ziehender Schlund? Oder eine wunderbare Blüte, die sich zum Himmel öffnete? Symbol einer Mördergrube? Oder eine Muschel, in deren Mitte eine wunderschöne, leuchtende Perle lag?

Vor über 800 Jahren hat sich die hoch aufragende Abteikirche Sainte Foy zu Conques tief unten im Grund der atemberaubenden, kraterartigen Schlucht eingewurzelt. Hier kümmerten sich liebevolle Ordensleute mit viel Hingabe um das Wohl der Jakobspilger, die in großen Scharen auf ihrem langen Weg nach Santiago de Compostela vorbeikamen. Ihr Ziel lag 1.200 Kilometer entfernt, jenseits der Pyrenäen im galizischen Santiago de Compostela. Doch in Conques wurden sie mit einer überwältigenden Gastfreundschaft empfangen, die ihnen nicht nur Unterkunft und Speise bot, sondern auch geistliche Zuwendung und Zeit zum Aufatmen, zum Durchatmen, zum Gebet und zur Meditation.

Der hohe Raum der Abteikirche öffnet sich den herbeiströmenden Wallfahrern in einer beeindruckenden und zugleich schlichten Weise. Er umhüllt die nach Spiritualität hungernden Menschen mit dem warmen Farbton seiner Steine und dem verhaltenen Leuchten der 104 von Pierre Soulages gestalteten Glasfenster. 1994 fertiggestellt, wurden sie zu einem wahren Hingucker. Die in ferne Höhen strebenden Pfeiler der Emporenbasilika strecken sich gen Himmel, und sie ziehen den Blick und die Sehnsucht der in sich gekehrten Pilger mit sich nach oben.

Die meisten von ihnen bleiben lange und fügen sich willig ein in die Stundengebete der Mönche. Sie lassen sich segnen, stärken sich singend, hörend, schauend, staunend.

Die Kulturbeflisseneren draußen vor der Kirche erschaudern, wenn sie die Botschaft des Tympanons am Westportal betrachten. Seit Jahrhunderten sind hier die beeindruckenden Darstellungen des Jüngsten Gerichts zu bewundern. Sie zeugen von den überwältigenden Fertigkeiten romanischer Künstler und Bildhauer. So vereinen sich deren Werk und Botschaft immer wieder mit dem entschlossen gesungenen »Ultreya!«, was so viel heißt wie »Auf geht’s!«. – oder auf Latein: »Eia, ultra!« –: »Los, vorwärts!« »Auf nach Santiago!« – ein Ruf, der die Pilger weiterführt und ihnen zugleich hier, in Conques, ein Stück Einkehr und Ruhe auf ihrem langen Weg schenkt.

Der Refrain des mittlerweile weit verbreiteten, mehrstrophigen Liedes greift zurück auf den »Codex Calixtinus«, eine aus der Mitte des 12. Jahrhunderts stammende Handschrift, benannt nach Papst Calixtus II. (1119–1124). Diese enthält ein »Buch des heiligen Jakobus«, welches seinerseits ein flämisches Pilgerlied zitiert – vielleicht das älteste Pilgerlied überhaupt –, bekannt unter dem lateinischen Titel »Dum pater familias« oder auch »Canto de Ultreya«:

»Herru Sanctiagu / Gott Sanctiagu / E Ultreia, e suseia / Deus aia nos«, also etwa: »Herr Jakobus / gütiger Jakobus, / los und vorwärts, / Gott helfe uns!«

Santiago de Compostela war und ist das Ziel im fernen Spanien, und es war und ist die Entschlossenheit der Pilger, woraus Conques, Station am Jakobsweg, immer neu Kraft und Bedeutung erhielt und erhält: Schlund, Schlucht, Krater und Ort des Gedenkens an ein zu Tode gemartertes Kind haben sich darüber geöffnet und entfaltet wie eine wundersame Blüte, deren Duft, Schönheit und spirituelle Kraft sich nach allen Richtungen verbreitet, hinaus über den Rand des tiefen Tals in die weiten Wälder und Landzüge der wildromantischen »Midi-Pyrénées«. So bleibt die Sehnsucht nach »Santiago« wach und bleiben die Pilger in Bewegung – eine Bewegung aus der Tiefe in die Höhe, vom Irdischen zum Himmlischen, vom Äußeren ins Innere, vom Lärm in die Stille, vom Unwesentlichen zum Wesentlichen.

3 | PORTE DE LA VINZELLE: TORHEITEN

»Ich bin ein Tor, aber dumm bin ich nicht!«, murmelte das Stadttor den Pilgern zu, die es durchschritten, um endlich hinauszukommen ins weite Land, ins Flusstal des Lot, nach Figeac und Cahors.

»Ich bin ein Tor, aber dumm bin ich nicht!« Nichts war überflüssiger als diese Bemerkung, denn ganz im Gegenteil durfte sich das kleine Stadttor der Bewunderung aller erfreuen, die seiner ansichtig wurden und es lobten seiner Festigkeit, seines Alters und seiner Schönheit wegen.