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Der Begriff der Moderne ist immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher und politischer Diskussionen. Entlang drei größerer Themenkomplexe stellen sich renommierte Wissenschaftler aus den verschiedensten Kulturkreisen, im Gespräch mit dem ehemaligen Bundespräsident Horst Köhler, den sich gegenwärtig aufdrängenden Fragen: Wie ist das Verhältnis von ›Individuum und Gemeinschaft‹? Wie können ›Wissenschaft und Weisheit‹ in Beziehung gesetzt werden, ohne dass dabei kulturelle Werte und Eigenarten aus dem Blick geraten? Und schließlich, ist der Begriff des Fortschritts heutzutage noch von Relevanz und wenn ja, wie sollte er verstanden werden, damit sowohl in kultureller, als auch in materieller Hinsicht keine Dissonanz zwischen ›Mensch und Moderne‹ entsteht? Der vorliegende Band zieht einen Bogen zwischen diesen spannenden Fragen und liefert mit seinen politisch versierten und wissenschaftlich fundierten Texten einen wertvollen Beitrag zum kulturellen Dialog der Gegenwart.
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Seitenzahl: 229
Vielfalt der Moderne - Ansichten der Moderne
Herausgegeben von Hans Joas
Fischer e-books
Redaktion: Christian Scherer
Günter Stock
Unsere heutige Welt ist in wohl einzigartiger Weise durch die Errungenschaften des Menschen, seine intellektuellen Erkenntnisse und Artefakte geprägt. Erkenntnisse und deren technische, das heißt praktische Realisierung charakterisieren die von Jürgen Mittelstraß beschriebene »Leonardo-Welt«[1]: Aus dem Homo sapiens sapiens wurde auch der Homo faber – der Mensch in einer von ihm gewiss nicht erschaffenen, aber doch stark gestalteten und in großer Umwälzung befindlichen Umwelt mit all ihren geistigen, ideologischen, technischen und praktischen Veränderungen, die wir beobachten und erleben.
Die technischen Errungenschaften zeichnen den Homo faber aus. Es wird aber zusehends deutlich, dass wir diese Errungenschaften im Kontext ihres gesamten, insbesondere sozialen Umfeldes betrachten (lernen) müssen. Das vom Menschen Geschaffene ist nicht nur in der Weise von ihm zu verantworten, dass er stolz auf die Errungenschaften sein kann, es gibt ihm auch ein zunehmendes Bewusstsein für die nicht erwünschten und in manchen Fällen auch nicht wünschbaren Konsequenzen seines Tuns. Damit wächst zugleich die Einsicht, dass nur der Mensch selbst in der Lage ist, mit seinem Verstand und mit seinen praktischen Fähigkeiten die Dinge dort zu ordnen, wo sie bereits aus den Fugen geraten sind oder drohen, aus den Fugen zu geraten.
Die Fähigkeit des Menschen zur Erkenntnis und zu daraus resultierendem praktischem Handeln sind somit zwei untrennbar miteinander verbundene Gaben, die ihn auszeichnen. Während die jüngste Moderne im Wesentlichen Fortschritte in den einzelnen Wissens- und Anwendungsdisziplinen gezeitigt und zu einer Steigerung der Leistungsfähigkeit geführt hat, die uns nur Bewunderung abverlangen kann, geht es heute mehr und mehr darum zu erkennen, dass Fortschritte in einzelnen Disziplinen allein für die vor uns liegenden Probleme nicht passfähig sind.
Die großen Herausforderungen unserer Zeit sind demzufolge nur im Rahmen ganzheitlicher und interdisziplinärer Bemühungen zu bewältigen, die ihrerseits das gesamte Spektrum des Wissens, zu dem Menschen fähig sind, fordern – ein Phänomen, das übrigens, wie so vieles, nicht neu ist: Als Gottfried Wilhelm Leibniz im Jahre 1700 die Churfürstlich Brandenburgische Societät der Wissenschaften initiierte, welche die Vorläuferin der Preußischen Akademie der Wissenschaften war, in deren Tradition wiederum die heutige Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften steht, ging es ihm im Unterschied zu den bereits bestehenden Akademien wie der Londoner Royal Society, der Pariser Académie des sciences und der Leopoldina darum, Natur- und Geisteswissenschaften in dieser neuen Institution interdisziplinär zu vereinen.
Wie nur wenige seiner Zeit verstand Leibniz, dass die Probleme und Nöte jener Zeit (Kriege, Hunger, Krankheiten etc.) der Anstrengung aller Disziplinen und der Besten ihres Faches bedurften. Heute sind wir in einer ähnlichen Situation, und die Herausforderungen könnten wohl größer nicht sein: eine wachsende Weltbevölkerung, eine zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich, regionale Konflikte, Fragen der Energiegewinnung und des Klimas, der Ernährung, des Wassers und der Landnutzung – und zwischen all diesen Bereichen und fast als Querschnittsthema schließlich die Gesundheit. All dies sind Probleme, die zwar naturgemäß eine auf Naturwissenschaften gegründete Handlungsweise erzwingen, zugleich aber auch weit über unsere durch Natur- und Technikwissenschaften gelernten Problemlösungsfähigkeiten hinausgehen. Auch wenn die konkreten Herausforderungen andere als im 17. und 18. Jahrhundert sein mögen, die Notwendigkeit, alles verfügbare Wissen der Zeit zu bündeln und in den Dienst der Bewältigung unserer Aufgaben zu stellen, ist durchaus vergleichbar: Wenn es uns nicht gelingt, eine wahrhaftige Einsicht in diese Notwendigkeit zu gewinnen, werden wir unter Umständen nicht die zurzeit möglichen Problemlösungen finden; es könnte eine Situation eintreten, in der es nicht möglich ist, die Problemlösungen auch wirklich einzusetzen, weil die Bürgerinnen und Bürger sie nicht verstehen, sie ablehnen oder gar Angst vor ihnen haben.
Die Kluft zwischen dem, was moderne Wissenschaft leisten kann, und dem, was Menschen zu verstehen imstande sind, wird jeden Tag größer, und die moderne Wissenschaft gerät dabei zunehmend in Gefahr, nicht mehr tun zu dürfen, was sie tun und leisten könnte bzw. kann. Am sichtbarsten tritt dies naturgemäß in dem Bereich zutage, der den Menschen unmittelbar betrifft und sein Selbstverständnis berührt, nämlich im Bereich seiner Gesundheit: Fragen der genetischen Analyse zur Optimierung einer dringend notwendigen präventiven Medizin (prädiktive Diagnostik), Fragen der genetischen Analyse von befruchteten Eizellen und Embryonen zur Erkennung von unheilbaren und nach kurzer Lebensspanne zum Tod führenden Erkrankungen (Präimplantationsdiagnostik, pränatale Diagnostik), Fragen einer alternden Gesellschaft mit einer immer weiter zunehmenden Zahl von dementen Patienten (Palliativmedizin, Sterbehilfe) – all dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einem großen, für den Menschen wichtigen Gebiet, der zeigt, dass die Herausforderungen, mit denen unsere Gesellschaft konfrontiert ist, gewaltig sind und beispielsweise nicht allein durch medizinische Technologie gelöst und schon gar nicht bestimmt werden können. Ähnlich weitreichende Fragen stellen sich auch im Bereich der Energie, der Ernährung und des Klimaschutzes.
Dies alles belegt, dass und wie sehr der Mensch in seiner gesamten Erkenntnis und Handlungsfähigkeit gefordert ist. Wer nun glaubt, aus den vorhergehenden Ausführungen einen gewissen Fortschrittspessimismus herauslesen zu können, wird die wirklich denkbare und meines Erachtens einzig mögliche Alternative unterschätzen, nämlich das bislang Erreichte sowohl dankbar als auch kritisch zu würdigen und darauf zu achten, dass wir unsere geistigen Ressourcen in einer Weise weiterentwickeln, dass Lösungen für die genannten Probleme möglich bleiben und möglich werden.
Disziplinäre Exzellenz ist demzufolge nicht das einzige Ziel der wissenschaftlichen Forschung wie auch unserer Ausbildungssysteme, vielmehr ist disziplinäre Exzellenz zunächst die Voraussetzung für eine darauf gründende Exzellenz inter- oder transdisziplinärer Arbeitsweise. Yehuda Elkana spricht in diesem Kontext von der Notwendigkeit, »›concerned‹ scholars«[2] auszubilden und damit die Fähigkeit des Wissenschaftlers zu trainieren, problemorientiert und kontextbewusst an die bestehenden Herausforderungen unserer Zeit heranzugehen.
Für moderne Akademien der Wissenschaften ist dies bereits Programm. In interdisziplinären Arbeitsgruppen versuchen sie, problemorientiert Fragestellungen in inter- und transdisziplinärer Weise neu zu analysieren, um mit Hilfe des vorhandenen Wissens praktische Vorschläge und Empfehlungen zu entwickeln. Daher ist die wissenschaftsbasierte Beratung der Gesellschaft insgesamt, in Einzelfällen auch der Politik eine besonders dringliche Aufgabe, der wir uns aus der Wissenschaft heraus zuwenden müssen – eine Aufgabe, welche nicht nur Wissenschaftsakademien, sondern zunehmend auch Forschungsinstitutionen und -verbünde tangiert.
Ziel solcher Beratungen kann jedoch nicht sein, Entscheidungen vorwegzunehmen, sondern Entscheidungsfähigkeit durch Wissen herzustellen. Eine der wohl größten Herausforderungen besteht in diesem Zusammenhang darin, dass Wissenschaft und Wissenschaftler zu jedem Zeitpunkt ihres Rates deutlich machen, wie weit ihr gesichertes Wissen reicht und wo die aus solchem Wissen abgeleitete Spekulation beginnt: Die Angelsachsen nennen dies educated guess und machen damit deutlich, dass die Aussagen die Grenzen des sicheren Wissens überschreiten. Es ist in diesem Kontext besonders wichtig darzulegen, was gesichertes Wissen bedeutet, denn in der Regel wird es das Wissen sein, welches von der Mehrheit der Wissenschaftler als gesichert angesehen wird.
Wissenschaft ist grundsätzlich offen für neue Erkenntnisse und zwingt uns alle, von Zeit zu Zeit das Sichergeglaubte grundsätzlich in Frage zu stellen. Dies alles muss wissenschaftlicher Rat dokumentieren, um langfristig glaubwürdig zu sein. In einer wissensbasierten Welt ist die Orientierungsfunktion durch Wissenschaft unerlässlich und bedarf deswegen einer permanenten Überprüfung – so ist gute Wissenschaft selbst angelegt.
Horst Köhler
Wohl alle Kulturkreise der Erde glauben, auf der Höhe der Zeit zu sein und die richtigen Antworten für die Probleme der Gegenwart finden zu können. Fast alle verstehen sich als »modern«. Aber bedeutet Moderne für alle das Gleiche? Welches Verständnis von Modernität haben Menschen aus unterschiedlichen Weltteilen? Welche Erwartungen und Hoffnungen, welche Ängste verbinden sie mit den modernen Zeiten? Schließlich: Was können die verschiedenen Weltkulturen voneinander lernen, wenn sie sich über ihr Verständnis von und ihr Verhältnis zur Moderne austauschen? Weltweit sehen sich die Menschen in der einen oder anderen Form mit der Modernisierung ihrer Gesellschaft konfrontiert. Ihre Lebenswege verflechten und durchdringen sich dank moderner Transport- und Kommunikationsmittel immer mehr; und nicht selten prallen unterschiedliche Sichtweisen von Individuum, Gemeinschaft, Staat, von Wissenschaft, Weisheit, Natur, von Religion, Fortschritt oder Moderne aufeinander. Die rasante technische und wirtschaftliche Entwicklung erzeugt in vielen Teilen der Welt Wachstumsschmerzen und den Wunsch, bestimmte gesellschaftliche Bereiche vor Wandel zu bewahren. Zugleich schwindet in der westlichen Welt die Selbstgewissheit, dass die von Europa ausgegangene Moderne universell und das erstrebenswerte Ziel aller Entwicklung sei. Längst ist nicht mehr zu übersehen, dass es verschiedene, wenn auch vielfach miteinander verschlungene Entwicklungspfade gibt und dass das westliche Verständnis von Modernität vielerorts – auch in der westlichen Welt – auf Skepsis oder gar offene Ablehnung stößt. Die von mir 2008 initiierte Gesprächsreihe »Vielfalt der Moderne – Ansichten der Moderne« hat sich bewusst eines ebenso facetten- wie konfliktreichen Begriffes angenommen. Ziel war ein Dialog der Kulturen und Religionen, der nicht um sich und in sich selbst kreist, sondern sich mit der Moderne als einer weltweit das Leben der Menschen beeinflussenden Kraft und den mit ihr verbundenen Konsequenzen beschäftigt. Jeweils zwölf herausragende Persönlichkeiten aus allen Weltgegenden, Kulturkreisen und Religionen wurden eingeladen, in dem Berliner Amtssitz des Bundespräsidenten, Schloss Bellevue, über ihre Ansichten der Moderne zu diskutieren.
Zentral war die Suche nach Gemeinsamkeiten – die Vielfalt der Weltsichten, die dabei zum Vorschein kam, sollte anerkannt, nicht aber in den Mittelpunkt der Suche gestellt oder gar verabsolutiert werden. Wenn wir in unseren Gesprächen den Aspekt der Vielfalt und der verschiedenen Ansichten betont haben, dann deshalb, weil es mir wichtig ist, Verschiedenheit zu erkennen, auch anzuerkennen, ohne darauf zu verzichten, nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Selbstvergewisserung und Respekt vor dem anderen – beides ist unabdingbar für ein gutes Zusammenleben in unserer einen Welt. Wir brauchen, mit Alain Touraine gesagt, Antworten auf die Frage, wie wir zusammenleben können als Gleiche und doch Verschiedene.
Ausgangspunkt der Gespräche war die Frage, wie die in Europa entstandene Form der Moderne sich entwickelt hat, welche Werte sie prägen und inwiefern diese Werte anschlussfähig sind an die Werte anderer Weltkulturen, -religionen oder -zivilisationen. Das Hinterfragen der jeweils eigenen Maßstäbe und Entwicklungspfade sollte dabei im besten Falle zu einer Entpartikularisierung unserer Ansichten von Moderne führen und von dort aus zu einem als verbindlich und erstrebenswert anerkannten Zivilisationsrahmen, der Vielfalt zu schätzen weiß und fördert, ohne auf die Einhaltung gemeinsamer Mindeststandards zu verzichten.
In der ersten Gesprächsrunde wurde das Thema »Individuum und Gemeinschaft« behandelt: Während des größten Teils der Menschheitsgeschichte hatten Verpflichtungen gegen die Gemeinschaft und gegen Gott oder die Götter ein größeres Gewicht als die Ansprüche des einzelnen Menschen. In der europäischen und nordamerikanischen Geschichte hat sich dagegen seit Renaissance und Reformation, vor allem aber seit dem 18. Jahrhundert ein Welt- und Menschenbild durchgesetzt, das das Individuum gegenüber unterschiedlichen Formen von Gemeinschaft stärker in den Vordergrund rückte. Der Begriff »Individualismus« steht dabei für durchaus verschiedene Aspekte – etwa die Fähigkeit des Einzelnen zur autonomen moralischen Entscheidung, die Orientierung am eigenen (wirtschaftlichen) Nutzen und das Streben nach (schöpferischem) Selbstausdruck und Selbstverwirklichung. Fortschreitende Individualisierung – sei es im Sinne der Entscheidungsautonomie, Nutzenorientierung oder Selbstverwirklichung – eröffnet dem Einzelnen unerhörte Freiheitsspielräume. Diese Freiheit kann aber vom Einzelnen und von der Gesellschaft auch als Belastung und Überforderung erlebt werden. Hinzu kommt, dass die sozialen Folgen der Individualisierung – etwa eine Schwächung des Gemeinsinns oder vorgefundener sozialer Beziehungen in der Familie – problematisch sein können.
Tradition genügt unter Bedingungen der Individualisierung nicht mehr als Rechtfertigung gesellschaftlicher und politischer Ordnungen. Im Westen ist an ihre Stelle zunehmend die Berufung auf die allgemeine Gültigkeit von Recht und Gesetz und den Wählerwillen getreten. Damit stellen sich auch neue Fragen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Staat, Religion und gesellschaftlichem Leben. In Opposition zur Entwicklung im Westen betonten und betonen andere Staatsordnungen den Vorrang von Gemeinschaftswerten gegenüber den Ansprüchen des Einzelnen. Die enormen technischen Veränderungen auf den Gebieten der Kommunikation und des Transports sind heute nicht mehr auf wenige (fortgeschrittene) Weltgegenden beschränkt, sondern beeinflussen alle Menschen. Globaler Warentransport, Tourismus, Echtzeit-Kommunikation gehören zu den Signaturen unserer Zeit. Das Internet ist zu einem der wichtigsten Kommunikationsmedien geworden. Es hat zudem einen reflexiven Charakter, insofern es nicht nur Informationen bereitstellt, sondern auch neue Möglichkeiten der Meinungsbildung und der politischen Mobilisierung bietet, wie wir es aktuell erleben.
Der zweite Themenkreis, dem wir uns zuwandten, war die Verbindung von »Weisheit und Wissenschaft«: Welche Macht hat die Vernunft, und welche Ansichten des Wissens gibt es in den unterschiedlichen Kulturen? Einen wesentlichen Impuls gewann die neuzeitliche Entwicklung Europas aus dem Gedanken, dass die Natur im Prinzip vollständig erkannt, beherrscht und ausgenutzt werden könne. Seit Descartes gelten der eigene Verstand und der Zweifel als die wichtigsten Werkzeuge des Erkenntnisfortschritts. Übersehen wird allerdings häufig, dass sich die moderne Wissenschaft nicht allein aus dem Rationalismus der europäischen Aufklärung und dem Denken der Antike speist, sondern dass sie beispielsweise auch auf dem praktischen Wissen von Handwerkern basierte und wichtige Impulse aus nichteuropäischen Wissenschaftstraditionen (wie etwa der chinesischen) bezog, deren Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit und Vernunft sich zum Teil deutlich von der europäischen Sichtweise unterscheiden.
Die empirischen Naturwissenschaften im heutigen Sinn entwickelten sich ab dem 16. Jahrhundert und boten die Grundlage für einen weitverbreiteten Fortschrittsoptimismus, der auch die Entwicklung der modernen Sozialwissenschaften prägte – etwa die der Soziologie, die selbst ein Kind der Moderne ist, insofern sie Gesellschaften als dem Wandel unterworfene Zusammenschlüsse von Menschen beschreibt und nicht als gesetzte Schöpfungsordnungen. Im Zuge der skizzierten Entwicklungen erweiterten sich die Handlungs- und Reflexionsräume wie auch die technischen Möglichkeiten enorm; zugleich wuchs aber auch die Skepsis, ob das wissenschaftlich und technisch Mach- und Denkbare überhaupt moralisch akzeptabel und politisch erwünscht sei. Nach dem Eindruck vieler wird das, wonach geforscht wird, immer weniger vom Forschungsinteresse des Einzelnen und immer öfter von inneren Gesetzmäßigkeiten des Wissenschaftsbetriebs oder von ökonomischen oder strategisch-militärischen Interessen bestimmt.
Auch die Fortschritte in den Lebenswissenschaften – insbesondere auf dem Gebiet der Stammzellforschung und beim Klonen von Lebewesen – rühren an fundamentale Fragen des Menschseins. Der Mensch ist zunehmend in der Lage, in seine eigene Natur einzugreifen. Weltweit wird in Laboren gentechnisch geforscht, ebenso werden weltweit Grenzen und Tabus der Forschung am Menschen diskutiert. Hirnforscher ermöglichen uns immer bessere Einsicht in Struktur und Funktionsweise des menschlichen Gehirns und stellen damit unter anderem auch unser Menschenbild in Frage, das auf der Vorstellung beruht, dass der Mensch autonom handelt und fähig ist, freie Entscheidungen zu treffen und für sein Tun Verantwortung zu übernehmen.
Die Frage, warum wir auf der Welt sind und aus welchen Quellen wir auf der Suche nach dem Sinn schöpfen können, wurde in der dritten Gesprächsrunde diskutiert. Ausgangspunkt der Aufklärung und damit auch der europäischen Moderne war der Zweifel an herrschenden Autoritäten und an überlieferten Vorstellungen von der Welt und dem Platz des Einzelnen darin. Rational und naturwissenschaftlich begründete Weltbilder traten verstärkt in Konkurrenz zu religiösen Sinndeutungen. Weltweit erscheint heute der Stellenwert von Religionen als Deutungs- und Sinnstiftungsinstanzen sehr unterschiedlich – sowohl säkulare als auch religiöse Weltbilder breiten sich aus und bieten dem Einzelnen eine Vielzahl von möglichen Sinnquellen. Dies wird einerseits als Freiheitsgewinn interpretiert. Andererseits wird – wie überhaupt seit Beginn der europäischen Moderne – über die Entzauberung der Welt, den Verlust an Spiritualität und die damit einhergehende »transzendentale Obdachlosigkeit« (Lukács) des modernen Menschen geklagt: Grundmotive, die sich – in unterschiedlicher Ausprägung und Schärfe – auch in der heutigen Kritik an säkularen Strömungen der westlichen Kultur finden und die sich in einer Sehnsucht nach Stringenz – bis hin zum gewalttätigen Fundamentalismus – äußern.
Seit der frühen Neuzeit hat sich die globale Vernetzung rasant beschleunigt. Neu erschlossene Verkehrswege und Kommunikationsmittel erleichterten nicht nur die Verbreitung von Gütern und Nachrichten, sondern auch von Ideen, Wertvorstellungen und kulturellen Praktiken. Die Folge waren und sind Anpassungs-, Aneignungs- und Vermischungsprozesse verschiedenster Art – mit Auswirkungen auf die Lebenswelten praktisch aller Menschen auf der Erde. Heute sind kulturelle Phänomene weniger denn je an Orte gebunden, sie »entterritorialisieren« sich (Appadurai) zunehmend und prägen als »kulturelle Ströme« das Leben sowohl in den Metropolen als auch in entlegenen Regionen. Die Welt ist in einem nie zuvor gekannten Ausmaß zu einem interaktiven System geworden, Zeit und Raum trennen immer weniger. Diese Verbindungen eröffnen eine Vielzahl von Optionen, erzeugen aber auch Ängste vor dem Verlust oder der Vermischung überlieferter Ordnungsmuster, Wertvorstellungen und Identitäten.
Zu den treibenden Kräften des Zeitalters der Moderne gehören die Neugier, der Wille zur Nutzbarmachung der Natur, das Prinzip der Steigerung und des Fortschritts. Der wissenschaftliche und technische Fortschritt hat das Leben – für die Regionen der Welt, die an ihm teilhaben – angenehmer, sicherer und kalkulierbarer gemacht. Zugleich aber hat er neue Risiken und Probleme hervorgebracht, die auch diejenigen treffen, die von den Segnungen des Fortschritts nicht profitieren. Inzwischen drohen die im Zuge der Moderne entwickelten Wirtschaftsweisen und Hervorbringungen von Wissenschaft und Technik die Umwelt so stark zu beeinflussen, dass die Zukunft der menschlichen Zivilisation gefährdet ist. Auch der sich beschleunigende Wandel der individuellen und kollektiven Lebenswelten wird von vielen nicht mehr nur als Fortschritt begrüßt, sondern als Verlust von Orientierung und Beständigkeit beklagt. Andererseits verbindet sich mit künftigen wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen die Hoffnung, dass sie zur Überwindung der negativen Folgen der bisherigen Entwicklung beitragen können.
Wir alle müssen bereit sein, lebenslang zu lernen und uns in immer neue Zusammenhänge hineinzufinden.
Einen Einblick und Ausschnitt in die Vielfalt dieser neuen Zusammenhänge präsentiert nun dieses von Hans Joas herausgegebene Buch. Sechs Autoren, die an jeweils einer der drei Gesprächsrunden teilgenommen haben, stellen in ihren Beiträgen ihre Erkenntnisse zur »Vielfalt der Moderne und den Ansichten der Moderne« dar. Dieses Buch unterstreicht die Bedeutung des Dialoges zwischen den unterschiedlichen Denkrichtungen und Kulturen aus aller Welt. Ich habe in der Zusammenarbeit mit Hans Joas und in den Begegnungen mit den Teilnehmern viel gelernt. Vor allem aber haben mich die Gespräche darin bestärkt, dass die Vielfalt der Moderne Frieden und Entwicklung in der Welt nicht entgegenstehen muss. Als Erstes müssen wir einander zuhören lernen. Ich wünsche diesem Buch eine weite Verbreitung und seinen Lesern inspirierende Erkenntnisse.
Hans Joas
Die Begriffe »Moderne« und »Modernisierung« sind häufig nur Kampfbegriffe. Sie werden im Meinungsstreit eingesetzt, um eigene politische Positionen oder Züge der eigenen Kultur für überlegen zu erklären, gewünschten Veränderungen die Aura historischer Unvermeidlichkeit zu verleihen und sie gegen mögliche Einwände zu immunisieren. Lange Zeit blickten etwa in Deutschland die Protestanten auf die religiösen Praktiken der Katholiken als auf etwas Vormodernes herab, als Relikte der mittelalterlichen Zeiten, mit denen die Reformation angeblich gebrochen hatte. Dieselben Protestanten mussten aber auch oft erleben, dass ihr christlicher Glaube von aufklärungsbegeisterten Ungläubigen für historisch überholt erklärt wurde. Katholiken neigen dazu, dem orthodoxen Christentum in derselben Haltung entgegenzutreten, und alle Christen zusammen rieten lange Zeit den Juden zur Assimilation, um endlich an die historische Entwicklung Anschluss zu finden. Neuerdings konfrontiert mit Millionen muslimischer Mitbürger, neigen europäische Christen aller Schattierungen zusammen mit Säkularisten aller Art dazu, den Islam als untauglich für die Moderne zu betrachten. Aber keineswegs nur auf religiösem oder religionspolitischem Gebiet wird der Verweis auf die Moderne als Trumpfkarte gezogen. Soziale Bewegungen zum Schutz der Umwelt wurden und werden oft als antimodern zumindest belächelt, wenn nicht polemisch attackiert. Der Erhalt der Wohlfahrtsstaaten kann ebenso als nicht länger in die Zeit passend abgelehnt und in diesem Sinne unmodern abqualifiziert werden wie die Bemühungen, in den Einrichtungen des Bildungssystems auf Freiräume der Selbstentfaltung für viele oder auf die enge Verknüpfung von Forschung und Lehre Wert zu legen. Selbst dort, wo nicht einfach für die eigene Seite im Meinungskampf »Modernität« in Anspruch genommen wird, werden Einwände gegen laufende Veränderungen recht leicht zu bloßen Spannungen in einem letztlich unvermeidlichen Modernisierungsprozess erklärt.
Angesichts der Häufigkeit, mit der so von Moderne und Modernisierung mit Nachdruck gesprochen wird, sollte man meinen, dass immerhin allen Beteiligten klar ist, worauf sich diese Begriffe genau beziehen. Doch zeigt schon ein kleines Gedankenexperiment, dass dies keineswegs der Fall ist. Wann beispielsweise soll eigentlich die Epoche genannt Moderne begonnen haben? Die Daten, die auf diese Frage hin genannt werden, streuen vom fünfzehnten bis zum zwanzigsten Jahrhundert. Manche nennen die Erfindung des Buchdrucks, die »Entdeckung« Amerikas oder die Reformation; andere zielen eher auf den Westfälischen Frieden 1648, die amerikanische und die Französische Revolution Ende des achtzehnten Jahrhunderts oder die in England beginnende, sich dann aber immer weiter ausbreitende industrielle Revolution. Philosophen erklären häufig das Denken von Descartes oder Kants »kopernikanische Wende« zum Beginn der Moderne. Dort, wo weniger Politik, Wirtschaft und Technik im Vordergrund stehen, sondern Kunst und Kultur, wird die Zäsur zur Moderne häufig noch anders gesetzt. Es kann dann erst die Entstehung der abstrakten Malerei, der Bruch mit der spätromantischen Musik, ein multiperspektivisches Erzählen zum Beginn der Moderne erklärt werden oder auch die sexuelle Revolution der 1960er Jahre und der generelle Bruch mit Autoritäten und Traditionen in dieser Zeit.
Abhängig von diesen so stark variierenden chronologischen Bestimmungen ist dann selbstverständlich auch, welche Weltgegenden als modern klassifiziert werden und welche nicht. Erst recht ist von den Vorstellungen über den Zeitraum, der »Moderne« genannt wird, beeinflusst, ob wir uns nun eigentlich immer noch als in der Moderne befindlich einschätzen oder nicht. Seit den späten 1970er Jahren, als von Frankreich ausgehend der vorher nur vereinzelt in Debatten über Architektur und Literatur auftauchende Begriff »Postmoderne« plötzlich zum Signum eines neuen Zeitalters zu avancieren schien, über die in den 1980er und 1990er Jahren geführten Diskussionen über eine »reflexive« oder »zweite« oder vielleicht sogar »dritte« Moderne, häuften sich Überlegungen, denen zufolge die Moderne zumindest in Europa für ein abgeschlossenes historisches Kapitel erklärt wurde. Klassische Konzepte zum Verständnis der Moderne – wie Nationalstaat, Klasse, Geschlechtsrollen – wurden dabei leicht für ungeeignet zum Verständnis der Gegenwart erklärt. Doch haben sich alle diese Debatten inzwischen etwas erschöpft. Epochenbrüche sind mit großer Sicherheit erst aus zeitlicher Distanz zu erkennen, und die Neigung, Gegenwartsereignissen historische Bedeutung zuzusprechen, ist so inflationär geworden, dass sich zunehmend Skepsis ausbreitet, wenn von später Moderne oder Postmoderne die Rede ist.
Noch etwas kommt hinzu. Wenn die Moderne auch, aber nicht nur chronologisch gemeint ist, dann hat sie auch einen normativen Gehalt. Dann werden mit diesem Begriff Aspekte hervorgehoben, die befürwortet werden, deren Entstehung für gut gehalten und deren weitere Verwirklichung unterstützt wird. Dann ist etwa vom »Projekt« der Moderne die Rede, um diesen Appellcharakter ganz deutlich werden zu lassen. Erneut – wie schon bei der Frage nach der Chronologie – ist aber erstaunlich unklar oder umstritten, was in diesem normativen Sinn zur Moderne gehört. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit würden wohl heute von allen »Befürwortern« der Moderne an vorderster Stelle genannt werden, aber schon bei der »sozialen Marktwirtschaft« dürfte Uneinigkeit ausbrechen. Erst recht ist dies der Fall, wenn etwa Säkularisierung (in welchem genauen Sinn auch immer) oder Verzicht auf die gewalttätige Austragung internationaler Konflikte aufgeführt werden. Dann leben wir vielleicht noch gar nicht in der ersehnten Moderne, die andere gleichzeitig schon für beendet erklären. Ein ständiges Problem ergibt sich dann bei der Einordnung der Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts in ein auf den »Moderne«-Begriff hin ausgerichtetes Geschichtsbild. Im Rückblick mögen uns heute Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus als rückständig und sogar kulturell altbacken erscheinen. Aber in der Zeit ihrer Entstehung und massenhaften Attraktivität war das ganz anders. Gerade junge Menschen sahen in ihnen oft etwas zuhöchst Modernes, und die Totalitarismen pflegten umgekehrt einen veritablen Kult der Jugend. Avantgardistische Künstler sympathisierten auch deshalb mit ihnen; die Regime selbst stellten sich als großen historischen Schritt nach vorn dar. Die normativen Gehalte, die heute mit der Moderne als einem Projekt verknüpft gedacht werden, waren aber gerade nicht Teil ihres Verständnisses von Moderne. Eine liberal-demokratische Ordnung wurde vielmehr als bloßes anachronistisch gewordenes Relikt des neunzehnten Jahrhunderts betrachtet.
Der Begriff der Moderne scheint nach dem bisher Gesagten von solcher Mehrdeutigkeit, er scheint so zutiefst umstritten und durch seine Verwendung als Kampfbegriff kompromittiert, dass man auf die Idee kommen kann, auf ihn am besten ganz zu verzichten. In der Tat habe ich selbst schon mit dem Gedanken gespielt, ähnlich wie andere dies mit ähnlich schwierigen Begriffen wie dem der Funktion getan haben, ein Moratorium ins Spiel zu bringen – dafür zu plädieren, die Rede von der »Moderne« für ein paar Jahre oder Jahrzehnte schlicht bleibenzulassen und stattdessen jeweils neutralere chronologische Angaben zu verwenden oder eindeutigere normative Urteile zu äußern. Gegner können ja auch dann noch abgelehnt werden, wenn ihre Klassifizierung als un- oder antimodern unterbleibt.[3]
Abgesehen davon, dass es vermessen wäre, mit der Befolgung eines solchen Appells ernsthaft zu rechnen, lässt sich gegen das vorgeschlagene Moratorium natürlich auch einwenden, dass ein solcher für das Selbstverständnis zentraler Begriff nicht einfach aus dem Wortschatz getilgt werden kann. Er scheint ja von vielen als unentbehrlich empfunden zu werden; deshalb ist wohl fruchtbarer als vollständiger Verzicht eine offensive Wendung der Debatte, eine Einbeziehung einer Vielzahl von Ansichten der Moderne, eine Berücksichtigung der Vielfalt der Moderne weit über das übliche Maß hinaus.
Diese Idee stand am Anfang der Veranstaltungsreihe, die auf Wunsch von Bundespräsident a.D. Horst Köhler in den Jahren 2008 und 2009 an seinem Amtssitz im Berliner Schloss Bellevue stattfand. Bei der Erarbeitung der genaueren Konzeption, der Auswahl der Teilnehmer und der Leitung der Diskussion bot mir der Bundespräsident eine zentrale gestaltende Rolle an. Nach seiner eigenen Auskunft ging ein entscheidender Impuls für ihn selbst von Erfahrungen aus, die er vor seiner Amtszeit als Bundespräsident als Präsident des Internationalen Währungsfonds gemacht hatte. Insbesondere die tiefgehende Krise Argentiniens 1998/99 hatte ihm, dem professionellen Ökonomen, unabweislich vor Augen geführt, wie wenig rein ökonomische Modelle die Ursachen der Krise zu erklären und realistische Abhilfestrategien zu konzipieren erlauben, wenn diese Modelle unsensibel sind gegenüber den kulturellen, sozialen und politischen Bedingungen des Wirtschaftens. Dies lenkte sein Interesse u.a. auf Max Weber, der so tiefschürfend wie vielleicht kein anderer über die religiösen und generell kulturellen Vorstellungen richtigen wirtschaftlichen Handelns, die beabsichtigten und unbeabsichtigten Wirkungen solcher Vorstellungen und ihren historischen Wandel nachgedacht und vergleichend geforscht hatte.[4] So imponierend seine Forschungen waren, so unbestreitbar sind auch ihr fragmentarischer Charakter und der oft überholte Forschungsstand, auf dem seine Thesen beruhen. Außer Frage steht auch, dass in viele seiner Theorien – wie es wohl nur allzu menschlich ist – zeitgebundene und persönliche Auffassungen einflossen, die man bei aller Bewunderung für Webers Genialität gleichwohl heute nicht übernehmen darf. Wer heute Ähnliches wie er versucht, wird mehr als er auf arbeitsteiliges Vorgehen setzen, da die Zahl der Veröffentlichungen und Forschungen sich der Synthetisierung durch einen Einzelnen zunehmend entzieht. Man wird auch heute nicht einfach mit dem Überlegenheitsgefühl (einst) der deutschen oder (heute) der westlichen Wissenschaft über alle Welt und ihre Differenz zum »okzidentalen Rationalismus« dozieren, sondern hören wollen, wie außerhalb des Westens empfunden, gedacht und argumentiert wird. Aus der Idee, eine Reihe von Veranstaltungen zur Beratung des Bundespräsidenten über Ansichten der Moderne und Vielfalt der Moderne durchzuführen, ergab sich damit auch eine Idee zur organisatorischen Struktur. Es sollten nicht einfach westliche Intellektuelle über die Vielfalt der Welt sprechen, sondern es sollten führende Intellektuelle aus allen Erdteilen eingeladen werden, aus Indien und China, Lateinamerika und Afrika – dem Kontinent, dem immer Horst Köhlers besondere Aufmerksamkeit galt –, aus der arabischen Welt, aber natürlich auch aus Europa und Nordamerika. Die Hoffnung war dabei, dass ein solcher Dialog zu einer sonst nicht erreichbaren Vielfalt und zur Infragestellung von Annahmen führen könne, die sich aus einer ungenügenden Berücksichtigung der Erfahrungs- und Denkweisen anderer ergeben. Wenn schon die Herausforderungen wirtschaftlicher, politischer und ökologischer Art immer globaler werden, darf das Denken nicht kulturell beschränkt bleiben.
Gerade die letzten Jahrzehnte, vor allem seit den 1980er Jahren, haben ja die Welt in einer Weise verändert, die solchen globalen Dialog unumgänglich macht. Im neunzehnten Jahrhundert war in Europa die Vorstellung von einem klar zu beschreibenden Zivilisationsgefälle weit verbreitet. Selbst innerhalb Europas sahen Franzosen und Engländer sich als den anderen überlegen an. Die Deutschen maßen sich an ihnen und schwankten zwischen Minderwertigkeitsgefühlen und trotzigen Überlegenheitsträumen. Diese schienen sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts sogar zu verwirklichen, bis Europa als Ganzes in die Katastrophe des großen Krieges von 1914 bis 1918 geriet, des ersten Krieges, der die Bezeichnung Weltkrieg erhielt. Noch wichtiger als die kulturellen Abwertungen anderer war im neunzehnten Jahrhundert natürlich die Ideologisierung von Vorstellungen zivilisatorischer Überlegenheit im Weltmaßstab, als Rechtfertigung für Kolonialismus und Imperialismus. Hier wurden kulturelle Vorstellungen auch zunehmend pseudowissenschaftlich biologisiert und damit zu Vorstellungen rassischer Überlegenheit. Im deutschen Nationalsozialismus wurde eine auf deutsche Mitbürger und die Bewohner anderer europäischer Gesellschaften angewandte Rassenideologie in mörderischer Konsequenz ausgelebt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Welt von sowjetmarxistischen Denkschemata einerseits, der westlichen »Modernisierungstheorie« andererseits dominiert. Insbesondere in den USA