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"Selbst besser werden und die Welt besser machen; ich denke, dass alle einverstanden sind damit, dass darin die Aufgabe des menschlichen Lebens besteht." "Sie sagen, ich scheine Gott nicht anzuerkennen. Das ist ein Irrtum. Ich erkenne nichts an, außer Gott." Mit diesem Band der Tolstoi-Friedensbibliothek erfolgt zunächst die Neuedition von zwei Sammelausgaben, die noch zu Lebzeiten Leo N. Tolstois erschienen sind: "Der Sinn des Lebens" (1901) mit Übertragungen von Raphael Löwenfeld und Michail Feofanov; "Gott und Unsterblichkeit" (1901), übersetzt aus dem Russischen von L. Albert Hauff. Diese beiden Veröffentlichungen waren nicht zuletzt Angebote an eine Leserschaft, die sich nach der (sogenannten) Exkommunikation des Dichters mit dessen Gedankenwelt vertraut machen wollte. Im einzelnen werden Übersetzungsversionen u.a. zu folgenden Texten dargeboten: Das Leben und die Lehre Christi (1881-1883); "Du sollst dem Bösen nicht Widerstand leisten" (Brief 1896); Gedanken von Gott (Zusammenstellung aus verschiedenen Quellen durch Wladimir Tschertkow, 1898); Der Sinn des Lebens (Zusammenstellung durch Tschertkow, 1901); Antwort an den Synod (1901); Brief an den Zaren und seine Leute (1901). Enthalten sind in der vorliegenden Sammlung auch zwei sehr unterschiedliche Tolstoi-Breviere aus der Zeit der Weimarer Republik. Karl Nötzel hat aus einigen Teilen des Gesamtwerks einen "Aufruf zur Bruderschaft" (1928) zusammengestellt, distanziert sich jedoch in einem peinlichen Nachwort von dem Russen, soweit dieser mit seinem harmonischen Weltbild nicht in Einklang steht und als ein Wegbereiter des Bolschewismus (miss)verstanden werden kann. - "Gedanken Leo Tolstois über Gewalt, Krieg und Revolution" (1928) aus seinen Schriften, Tagebüchern und Briefen hat Valentin Bulgakov ausgewählt. Herausgegeben wurde dieses Heft auch im deutschen Sprachraum von der IDK (Internationale der Kriegsdienstgegner). Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe B, Band 9 (Signatur TFb_B009) Bearbeitet von Peter Bürger, Ingrid von Heiseler & Katrin Warnatzsch
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Seitenzahl: 360
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Vorwort des Herausgebers
I. DER SINN DES LEBENS | 1901 Religiös-ethische Flugschriften
Leo N. Tolstoi
Übersetzt von Raphael Löwenfeld und Michail Feofanov
1. Der Sinn des Lebens
2. Antwort an den Synod
3. Brief an den Zaren und seine Leute
II. GOTT UND UNSTERBLICHKEIT | 1901
Leo N. Tolstoi
Aus dem Russischen übersetzt von L. A. Hauff
1. Gedanken von Gott (Zusammenstellung 1898)
2. Das Leben und die Lehre Christi (1881-1883)
3. „Du sollst dem Bösen nicht Widerstand leisten“ (1896)
III. AUFRUF ZUR BRUDERSCHAFT | 1928 Eine Botschaft aus dem Gesamtwerk
Leo N. Tolstoi
Ausgewählt und übersetzt von Karl Nötzel
Im Voraus
Gebet
1. Die Schule von Jassnaja Poljana
2. Der Sinn der Volksbildung
3. Die Schmach der Hungersnot
4. An Alexander III.
5. An den Kommandanten eines Strafbataillons
6. Der Sinn des Gebets
7. Von der Liebe zum Nächsten
8. Vom Glauben
9. Bekenntnis zum Glauben
10. Bekenntnis zur christlichen Liebe
11. Vom Reiche Gottes
12. Die politischen Pflichten
13. Das Unrecht der Revolution
14. Der Irrtum des Sozialismus
15. Die Sinnlosigkeit des Klassenhasses
16. Die Berufung der Völker des Ostens
17. Die Bedeutung der Handarbeit
18. Das unschuldige Glück des einfachen Menschen
Nachwort [des Übersetzers]
Textnachweis
Literaturnachweis
IV. GEDANKEN LEO TOLSTOIS ÜBER GEWALT, KRIEG UND REVOLUTION | 1928 Aus seinen Schriften, Tagebüchern und Briefen
Ausgewählt von Valentin Bulgakov, herausgegeben von der Internationale der Kriegsdienstgegner
ANHANG
Die neu edierten Sammlungen (1901 | 1928)
Übersicht zu einzelnen Tolstoi-Texten (chronologisch)
„Selbst besser werden und die Welt besser machen; ich denke, dass alle einverstanden sind damit, dass darin die Aufgabe des menschlichen Lebens besteht.“ (→S. →)
„Sie sagen, ich scheine Gott nicht anzuerkennen. Das ist ein Irrtum. Ich erkenne nichts an, außer Gott.“ (→S. →)
Mit diesem – pragmatisch konzipierten – Band der Tolstoi-Friedensbibliothek erfolgt zunächst die Neuedition von zwei Sammelausgaben, die noch zu Lebzeiten Leo N. Tolstois erschienen sind: „Der Sinn des Lebens“ (1901) mit Übertragungen von Raphael Löwenfeld und Michail Feofanov; „Gott und Unsterblichkeit“ (1901), übersetzt aus dem Russischen von L. Albert Hauff.
Diese beiden Veröffentlichungen waren nicht zuletzt Angebote an eine Leserschaft, die sich nach der kirchlichen „Exkommunikation“ des Dichters mit dessen Gedankenwelt vertraut machen wollte. Sie zeugen aber auch von einer verbreiteten verlegerischen Praxis aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg: Neue Traktate oder ‚Kompilationen‘ zu einem bestimmten Thema werden angereichert mit weiteren Tolstoi-Texten, so dass vom Umfang her eine eigenständige Publikation lohnenswert erscheint. Nicht immer sind es überzeugende inhaltliche Kriterien, denen die Verlage bzw. Herausgeber hierbei den Vorrang einräumen.
Im einzelnen werden Übersetzungsversionen u. a. zu folgenden Texten dargeboten: Das Leben und die Lehre Christi (aus der ‚Kurzen Darlegung des Evangeliums‘, 1881-1883); „Du sollst dem Bösen nicht Widerstand leisten“ (Brief an Ernest Crosby, 1896); Gedanken von Gott (Mysli o boge | zusammengestellt aus verschiedenen Quellen durch Vladimir Čertkov, 1898); Der Sinn des Lebens (O smysle žizni | Zusammenstellung durch Čertkov, 1901); Antwort an den Synod (1901); Brief an den Zaren und seine Leute (1901).
Die aus ausgewählten Briefstellen, Tagebucheinträgen und Abschnitten von Traktaten bestehenden „Kompilationen“ Čertkovs verdienen beim Tolstoi-Studium unsere Beachtung. Die nachfolgend dargebotenen Übertragungen „Der Sinn des Lebens“ (→S. → - →) und „Gedanken von Gott“ (→S. → - →) weisen leider sehr sperrige Anteile und einige unzuverlässige Passagen auf. Im Anhang sind zu beiden Texten alternative Übersetzungen aufgeführt, von denen wir einige im Fortgang der Tolstoi-Friedensbibliothek ebenfalls noch durch Neueditionen zugänglich machen werden.
Enthalten sind in der vorliegenden Sammlung auch zwei sehr unterschiedliche ‚Tolstoi-Breviere‘ aus der Spätzeit der Weimarer Republik. Karl Nötzel hat aus einigen Teilen des Gesamtwerks einen „Aufruf zur Bruderschaft“ (1928) zusammengestellt, distanziert sich jedoch in einem peinlichen – hier nicht eingehender kommentierten – Nachwort von dem Russen, soweit dieser mit seinem eigenen Weltbild nicht in Einklang steht und – wider Willen – nahezu als ein Wegbereiter des ‚Bolschewismus‘ (miss)verstanden werden kann. Eine Bereitschaft dieses Übersetzers, selbst das Bestehende radikal in Frage zu stellen und einen Konflikt mit den Sachwaltern der ‚Öffentlichen Meinung‘ auszutragen, ist nicht zu erkennen. Nötzels Unbehagen an einem Prophetentum mit ‚moralistischem‘ Überhang führt freilich auf eine ernstzunehmende Fährte der Kritik.
Die sich anschließenden „Gedanken Leo Tolstois über Gewalt, Krieg und Revolution“ (1928) aus seinen Schriften, Tagebüchern und Briefen hat Tolstois ehemaliger Sekretär Valentin Bulgakov ausgewählt. Herausgegeben wurde dieses Heft auch im deutschen Sprachraum von der IDK (Internationale der Kriegsdienstgegner). – Das bürgerliche Publikum verspürte nach dem Ersten Weltkrieg allerdings wenig Neigung, sich an die Warnungen Leo N. Tolstois vor einem Abgrund des sich ‚christlich‘ nennenden Zivilisationsgefüges zu erinnern.
pb
Religiös-ethische Flugschriften1
Leo N. Tolstoi
Mit Vergnügen werde ich versuchen, Ihre Frage zu beantworten, da ich sehe, daß sie vollständig aufrichtig gethan ist und daß sie eine Frage von der größten Wichtigkeit und zugleich eine solche ist, die sich die meisten Menschen in der Voraussetzung, daß die Antwort schon längst gegeben oder unmöglich sei, nicht vorlegen. Die Frage aber ist eine einfache, eine unentbehrliche, ohne die, wie es scheinen sollte, man nicht leben kann. Sie fragen: was für ein Ziel hat das menschliche Leben, wozu lebt der Mensch, oder mit anderen Worten, weshalb lebe ich?
Sie haben recht, daß nur die Religion diese Frage beantworte. Die Religion – die wahrhafte Religion ist eben nichts anderes als die Antwort auf diese Frage. Und die Religion, zu der ich mich bekenne – die christliche Lehre in ihrem wahrhaften Sinne giebt auf diese Frage eine Antwort, die ebenso einfach und klar wie die Frage selbst ist, wenn man nur an Stelle des Wortes Ziel das Wort Sinn setzt.
Der Sinn des menschlichen Lebens, der dem Menschen verständlich ist, besteht darin, das Gottesreich auf Erden zu errichten, das heißt die egoistische, haßvolle, gewaltthätige und unverständige Lebenseinrichtung durch eine liebevolle, brüderliche, freie und verständige ersetzen zu helfen.
Das Ziel, das Endziel des menschlichen Lebens in der der Zeit und dem Raume nach unendlichen Welt kann offenbar dem Menschen in seiner Beschränktheit nicht zugänglich sein. Aber der Sinn des menschlichen Lebens, das heißt: weshalb er lebt und was er thun muß, muß dem Menschen unbedingt verständlich sein, ebenso verständlich, wie dem Arbeiter in einer großen Fabrik seine Bestimmung verständlich ist.
Das Mittel aber, um das zu erreichen, das heißt die Antwort auf die Frage, was der Mensch thun soll, besteht darin, was, wie es im Evangelium gesagt ist, das ganze Gesetz und die Propheten ausmacht: „handle anderen gegenüber so, wie du willst, daß man gegen dich handeln soll.“
Die Antwort ist, wie Sie sehen, eine sehr einfache, sie scheint uns nur unklar zu sein, weil unsere tierische Natur, auch die Erziehung und die falsche religiöse Lehre uns beibringen, daß der Sinn des Lebens nicht im Dienste Gottes und des Nächsten, sondern in unserem persönlichen Glücke bestehe. Da wir nur für uns und unser persönliches Glück zu leben gewohnt sind, erscheint es uns schwer, das Ziel unseres Lebens von uns auf den Dienst Gottes zu übertragen. Aber wie schwer das auch sein mag, möglich ist es doch, und je weiter wir es darin bringen, desto natürlicher wird es, um so mehr, da wir den Willen Gottes erfüllen und dadurch das allerhöchste persönliche Glück, das wir früher als das Ziel unseres Lebens hinstellten, erreichen; wie es ja auch im Evangelium heißt: „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen.“
Solange wir dem persönlichen Leben nachgehen, suchen wir nur dieses letztere, das heißt das persönliche Glück, erreichen es nicht und fördern die Begründung des Reiches Gottes nicht, im Gegenteil, wir widersetzen uns ihm. Wenn wir aber das Reich Gottes und seine Wahrheit suchen, so fällt uns jenes, das heißt das Glück, von selbst zu, wenn wir unter dem Glück nicht irgend welche uns liebgewordene äußerliche Güter, sondern die seelischen – Ruhe, Freiheit und Freude verstehen.
Ich schreibe Ihnen nicht das, was ich durch Erörterungen, sondern das, was ich durch Erfahrung errungen habe: es ist möglich, für die Erfüllung des Willens Gottes zu leben. Wenn man auch nicht immer so leben kann, so kann man doch in einigen besseren Augenblicken so leben. Wenn man aber darin den Sinn des Lebens erblickt, dann wird man immer mehr und mehr so leben. Und je mehr man so leben wird, desto stärker wird man die Vernunftmäßigkeit und die Freude solch eines Lebens fühlen. Und man wird von selbst zu einem solchen Leben hingezogen werden.
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Das Ziel des Lebens? Ein Ziel giebt es nicht und kann es nicht geben, und kein Wissen kann es finden. Das Gesetz der Entwickelung – der Weg des Lebens? Ja. Darauf giebt die Religion, die Weisheit, wenn Sie wollen, eine Antwort. Sie antwortet dadurch, daß sie alle die falschen Wege, die mit dem einzigen wahrhaftigen nicht zusammenfallen, vorführt. Durch Negation der falschen Strömungen zeigt und beleuchtet sie den einzigen, den wahren. Auf diesem Wege ist etwas sichtbar, sind nächste Ziele, auf die die Wissenschaft hinweisen wird, in keinem Falle aber wird dieselbe diesen Weg weisen.
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Wegen meiner Schwäche, wegen der unvollkommenen Unterordnung meines ganzen Lebens unter die Vernunft, stelle ich und habe mir diese Frage gestellt und versucht, sie zu beantworten. Wenn ich mit dem Leben der Vernunft vollständig zusammengeflossen wäre, in vollem Einvernehmen mit dem Weltgesetze lebte, hätte ich nicht daran gedacht. Aber ohne ihnen Wichtigkeit zuzuschreiben, bin ich gezwungen, zu sagen, daß das Träume sind, die einem unwillkürlich einfallen.
Ich stellte es mir so vor: das Gesetz des organischen Lebens ist der Kampf, das Gesetz des vernünftigen, bewußten Lebens ist die Einigkeit, die Liebe. Aus dem organischen Leben, dem Leben des Kampfes wird das vernünftige Leben erzeugt und ist mit ihm verknüpft. Das Ziel ist klar: man muß den Kampf beseitigen und Einigkeit stiften, wo Zwist war. Zuerst unter den Menschen, darauf zwischen den Menschen und Tieren, sodann zwischen den Tieren und Pflanzen.
Schon längst ist ein solches Ziel hingestellt. Der Messias der Hebräer ist ja nichts anderes. Die Speere sollen zum Pfluge verarbeitet werden und das Lamm soll neben dem Löwen ruhen.
Von einem diesem ähnlichen Zustande träume ich, aber ich lege keinen Wert darauf; ich weiß, daß es bei weitem nicht alles erschöpft. Mir ist es nur um die Richtigkeit der Wegrichtung zu thun. Ich weiß aber, daß zu der Richtigkeit des Weges als erste Bedingung gehört – ihn mit dem ganzen Wesen zu verfolgen.
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Es ist unleugbar, daß die Unterhaltung und Fortpflanzung des Lebens nicht das Lebensziel sein kann. Aber hier gerade erscheinen zwei verschiedene Standpunkte: der eine, daß das Wissen im Menschen, in der Menschheit liege – die Wissenschaft leitet das Leben und deshalb muß das Ziel des von dem Wissen geleiteten Lebens diesem Wissen bekannt sein; und der andere Standpunkt: daß der Mensch ein Werkzeug der Vernunft zur Erfüllung ihrer (der Vernunft) dem Menschen vollständig unbekannten Aufgabe sei, und das Ziel der Vernunft kann dem Menschen nicht bekannt sein, dem Menschen ist nur der Weg, die Richtung, die ihn die im Menschen lebende Vernunft führt, bekannt. Christus hat dies alles gesagt und ich staune immer von neuem über die Strenge und Genauigkeit seiner philosophischen Definitionen.
Und thatsächlich: kann es denn einen Zweck für das Leben der Welt und das Leben der Menschen, wenn sie ihr Leben mit dem Leben der Welt verschmelzen, geben? Der Begriff Zweck ist ein Begriff der Beschränktheit der menschlichen Vernunft in der Art, wie die Begriffe von Belohnung und Strafe, und deshalb ist dieser Begriff dem Leben der Welt gegenüber nicht anwendbar. Wenn es ein Ziel giebt, dann muß es erreicht werden, und dann hat es ein Ende. Für die Welt im allgemeinen giebt es nur Leben, für die am Leben der Welt Beteiligten giebt es und kann es nur eine Richtung, einen Weg geben.
Außerdem: von dem ersten Standpunkte aus setzt man voraus, daß die ganze menschliche Thätigkeit aus dem Wissen besteht oder wenigstens von ihm geleitet wird, und daß zur Erreichung des Zieles hauptsächlich (ausschließlich meint man oft) die Geistesthätigkeit notwendig sei. Von dem zweiten Standpunkte aus aber geht der Mensch, da er nur die Richtung kennt, mit all seinen Nerven, Muskeln und Nägeln ganz dieser Richtung nach, das heißt, er fügt sich ganz und gar jener Richtung, die er allein kennt, und mit jedem Schritt erblickt er neue Absteckungspfähle auf dem Wege, aber nie sieht er das Ziel und kann es nicht sehen.
Und nur unter dieser Bedingung kann der Mensch vollständig dieser Richtung, der er folgt, glauben und das, was die Vernunft von ihm verlangt, erfüllen. Wenn er die mit der Vernunft übereinstimmenden Bedingungen der Erhaltung und Fortpflanzung des Lebens, wenn er vom Anfang des Weges an und mit dem ganzen Wesen die einzige wahre Richtung, den Weg gewählt hat, nur dann kann der Mensch mit voller Zuversicht weiterschreiten und sich des Einvernehmens und der Einigkeit mit der Vernunft bewußt sein; je näher diese Bedingungen sind, desto sicherer ist es, je weiter, desto zweifelhafter.
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Es ist ein unveränderliches Gesetz des wahren Lebens – das gelobte Land, wohin man andere geführt hat – wenn man auch nur ein wenig an der Führung der anderen geholfen hat – nicht zu schauen. Je mehr die Aufgabe eines wahren Lebens der Wirklichkeit entspricht, desto entfernter sind ihre Nachwirkungen und die Folgen eines wahren Lebens sind nicht nur weit, sondern endlos entfernt, und deshalb kann man sie nicht schauen. Man sieht weiter hinaus, als das Leben reicht. Man sieht, wie ein Haus aufgeführt [sic] wird, man erlebt die Ernennung zum General, aber man wird nicht nur nicht die Befreiung von der Sklaverei des Staates, sondern nicht mal die von der Sklaverei des Bodens erleben. Das ist der offenbarste Beweis dafür, daß das Leben nicht in der Erreichung eines Zieles besteht, sondern in der Erfüllung des Willens Gottes.
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Mit einer besonderen neuen Kraft habe ich begriffen, daß mein und aller Menschen Leben nur ein Dienen ist, daß es aber kein Ziel enthält.
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Jedes Leben ist sinnlos, mit Ausnahme dessen, das den Zweck hat, Gott zu dienen und die uns unzugängliche Sache Gottes zu erfüllen.
Ein sehr häufiger Fehler ist es, das Ziel des Lebens in dem Dienste der Menschen, aber nicht in dem Dienste Gottes zu sehen. Nur in dem Dienste Gottes, das heißt, indem man das, was Er will, thut, kann man die Überzeugung gewinnen, daß man nichts Unnützes thut, und es giebt da nur eine Wahl: wem man dienen soll.
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Gott hat uns seinen Geist, die Liebe, die Vernunft verliehen, damit wir Ihm dienen; wir aber verwenden diesen Geist in unserem eigenen Dienst, wir benutzen das Beil, um den Stiel am Beile zu behauen.
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Der einzige, vernünftige und freudige Sinn unseres Leben liegt darin, daß wir dienen und uns als Diener der Sache Gottes, der Begründung Seines Reiches fühlen. Zuweilen kommt es vor, daß man dieses Dienen nicht fühlt, es scheint einem, daß man aus dem Kummet [Zuggeschirr] herausgekommen ist oder daß die Strangriemen schlaff geworden sind, aber zuweilen erscheint einem das deshalb so, weil man sich an das Kummet gewöhnt hat, weil man sich in die Arbeit hineingezogen hat und dieselbe nicht fühlt. In jedem Falle aber, wenn man auch äußerlich sein Dienen nicht fühlt, wenn man nur im Innern der Seele weiß, daß man sich nicht geweigert hat, zu dienen, das Kummet nicht abgenommen hat, kann man überzeugt sein, daß man dient und daß es offenbar bergab geht oder der Herr einem eine Erholung gönnen will.
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Der Sinn des Lebens ist für mich schon ausschließlich der geworden, Gott zu dienen, indem ich die Menschen von Sünde und Qual rette. Nur das ist schrecklich, daß man den Weg, auf welchem Gott dieses thun will, zu erfahren wünscht, fehlgeht, sich übereilt und, anstatt behilflich zu sein, stört und hindert.
Das einzige Mittel, nicht fehlzugehen, ist, nichts zu unternehmen, sondern den Ruf Gottes, eine Lage, in der man nicht in dieser oder jener Art: für oder gegen Gott, handeln kann, zu erwarten; und in diesen Fällen muß man alle Kräfte der Seele darauf richten, daß man das erstere erfüllt.
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Der Mensch benutzt seine Vernunft, um zu fragen, wozu und weshalb? – indem er diese Fragen seinem Leben und dem Leben der Welt gegenüber in Anwendung bringt. Und die Vernunft selbst zeigt ihm, daß es keine Antwort giebt. Bei diesen Fragen befällt einen so eine Art Übelkeit und Schwindel. Die Indier antworten auf die Frage weshalb: Maja verführte Brahma der in sich existierte, damit er die Welt erschaffe; auf die Frage wozu denken sie nicht mal solch eine dumme Antwort aus. Keine Religion hat eine Antwort auf diese Fragen erdacht, und auch der menschliche Verstand kann sie nicht erdenken.
Was bedeutet denn das? Es bedeutet, daß die Vernunft dem Menschen nicht zur Beantwortung dieser Fragen gegeben ist – daß selbst die Aufwerfung solcher Fragen eine Verirrung der Vernunft bedeutet. Die Vernunft löst nur die Grundfrage wie. Und um das wie zu wissen, löst sie in den Grenzen der Beschränkung die Fragen: weshalb und wozu. –
Was ist denn wie? Wie man leben soll.
Wie denn leben? Selig.
Das ist allem Lebenden und mir notwendig. Und die Möglichkeit dazu ist allem Lebenden und mir gegeben. Und diese Lösung schließt die Fragen: weshalb und wozu aus.
Aber weshalb und wozu verteilt sich die Seligkeit nicht gleichmäßig? Wiederum eine Verirrung der Vernunft. Die Seligkeit ist das Schaffen seiner Seligkeit, eine andere giebt es nicht.
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Ein lebendiger Mensch ist der, welcher vorwärts schreitet dorthin, wo es vor ihm von der sich bewegenden Laterne erleuchtet wird und der nie das Ende der erleuchteten Stelle erreicht, sondern die erleuchtete Stelle geht vor ihm her. Und ein anderes giebt es nicht; und nur bei solch einem Leben giebt es keinen Tod, weil die Laterne auch dorthin leuchtet, und man geht ihr ebenso ruhig wie im Laufe des ganzen Lebens nach.
Wenn aber der Mensch die Laterne verdeckt oder ringsum sich oder nach hinten hin, aber nicht nach vorne leuchtet und zu gehen aufhört, dann steht das Leben still.
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Aber wenn es keinen Sinn in meinem Leben giebt, so giebt es auch keinen im Leben des Menschen und der Menschheit? So reden auch die alten Buddhisten und die neuen Pessimisten. Dasselbe sagt auch das Evangelium, aber mit dem Unterschiede, daß die Buddhisten und die Pessimisten dies als das letzte Ergebnis, aus dem die Negation des Lebens folgt, aussagen; das Christentum sagt das aber aus als einen Hinweis auf das falsche Verständnis des heidnischen Lebens und auf eine Notwendigkeit eines anderen Verständnisses desselben – eines christlichen, und der Bestätigung des Lebens.
Das Leben hat kein dem Menschen verständliches Ziel – dieses eben sagt ja auch das Christentum. Aber obgleich es kein solches dem Menschen erreichbares Ziel hat, so hat es doch einen Sinn und das Dienen für dies dem Menschen unzugängliche Ziel ist auch die Bestimmung des Menschen. Ein dem Menschen erreichbares Ziel würde ein Endziel sein. Das Ziel aber, das jetzt dem Menschen hingestellt ist, ist ewig unerreichbar. Und in der Annäherung liegt der Sinn des menschlichen Lebens. Das nur in der Endlosigkeit erreichbare, dem Menschen hingestellte Ziel ist für ihn unzugänglich, aber die Richtung zu dessen Erreichung ist zugänglich.
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„Wie kann man denn leben ohne zu wissen, was sein wird; ohne zu wissen, in welchen Verhältnissen man leben wird?“
Dann nur fängt das wirkliche Leben an, wenn man nicht weiß, was sein wird. Dann nur schafft man Leben und erfüllt den Willen Gottes. Er weiß. Nur solch eine Thätigkeit zeugt von einem Glauben an Gott und Sein Gesetz. Dann nur ist Freiheit und Leben vorhanden.
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Man muß sich dem Willen Gottes gegenüber, wie jene gute, rassenreine Stute, die ich einmal einfuhr, verhalten; sie wollte sich nicht losreißen, nicht aufhören zu dienen, sondern sie wollte erfahren, was, welche Arbeit ich von ihr verlange. Sie versuchte bald mit einem, bald mit dem zweiten, bald mit dem dritten Fuße, bald rechts, bald links, bald hob sie den Kopf, bald ließ sie ihn sinken.
So müssen wir auch thun.
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Für mich wurde die Lehre Christi am meisten klar, sie ergriff mich am meisten, als ich deutlich begriff, daß mein Leben nicht mir, sondern Dem, der es mir gegeben hat, gehöre, und daß das Ziel des Lebens nicht in mir, sondern in Seinem Willen sei und daß man ihn erfahren und ihn erfüllen muß. Dies verwandelte mich.
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Möge nur Gott uns vor dem Versucher, vor dem Teufel hüten, der das „ich“ ist in mir und in Ihnen. Möge ich nur nicht vergessen, daß mein Leben nicht in dem morgigen Tag, nicht in dem nächsten Jahre, nicht in Jasnaja, nicht in Moskau, nicht mit X. nicht ohne sie sei, sondern überall im Dienste des Vaters, immer und ganz, dann wird es gut sein …
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Man muß sein, wie Laotse sagt, gleich dem Wasser. Wenn es keine Hindernisse giebt, fließt es; findet sich ein Damm, so stockt das Wasser; ist der Damm durchbrochen, fließt es von neuem; in einem viereckigen Gefäße ist es viereckig; in einem runden ist es rund. Deshalb ist das Wasser am allernotwendigsten und allerstärksten.
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Die volle, vollkommene, unerschütterliche Kraft, mit der wir von irgend etwas überzeugt sind, erscheint nicht dann, wenn die Beweise logisch unwiderleglich sind, sogar selbst nicht dann, wenn das Gefühl mit den Anforderungen des Verstandes zusammenfällt, sondern nur in dem Falle, wenn der Mensch durch Erfahrung, nachdem er das Entgegengesetzte durchgemacht hat, zu der Überzeugung gelangt, es gebe nur einen Weg.
Solch eine Überzeugung wird uns verliehen, daß es nur ein Leben giebt: die Befolgung des Willens Gottes.
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Stelle dir vor, daß das geliebte Weib dir heute eine Zusammenkunft versprochen habe. Wie wirst du diesen Tag verbringen, wie wirst du dich zu dieser Zusammenkunft vorbereiten? Wie wirst du dich fürchten zu sterben, wirst fürchten, daß die Welt vor der Zusammenkunft noch untergeht. Wenn nur die Zusammenkunft stattfindet, nachher mag geschehen, was will.
Das bedeutet es, einen Wunsch zu haben. So möchte ich auch wünschen, den Willen Gottes zu erfüllen. Ebenso leidenschaftlich nur eines wünschen – die Erfüllung des Willens Gottes. Ist das möglich?
Ist das möglich? Ja, es ist möglich. Es ist dazu nur ein klares Bewußtsein nötig, um was es sich handelt, man muß sich seiner Arbeit bewußt sein, es ist ein Opfer nötig.
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Möge Ihnen Gott helfen, sich ununterbrochen dessen zu erfreuen, worin einen niemand, nie und nirgend – in der Freude der Erfüllung Seines Wollens – stören kann, wenn man sich nur in Reinheit, Demut und Liebe freut.
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Sie fragen: wozu leben, wie leben und was thun, um ein Recht auf das Leben zu haben? Vorerst muß man die Fragen umstellen und zuerst auf die Frage: wie leben, antworten und dann schon das wozu zu begreifen versuchen. Man muß leben; vor jeder Erörterung haben wir gelebt und leben: wir schlafen jede Nacht, essen mehrere Mal, bewegen uns und denken. Wir sind wie ein Pferd in einer Tretmühle, deren Rad sich bewegt und uns veranlaßt, uns zu bewegen, wir müssen leben und deshalb ist die erste und die Hauptfrage – meiner Meinung nach, die einzige vernünftige – wie leben? Die erste Antwort kennen wir alle und auch Sie erkennen dieselbe je mehr je besser, soweit es möglich ist.
So haben alle Menschen gelebt, das heißt, dahin gestrebt, so leben sie und so wird man leben. Die zweite Frage ist, was bedeutet besser? Worin besteht das besser? Für den Menschen, der nur sich selbst kennt, ist es klar: möglichst viel Genüsse. Aber kaum hat der Mensch begriffen, daß er nicht allein sei, kaum fühlt er die Qual anderer Menschen, so befriedigt ihn die erste Antwort schon nicht mehr, es erscheint ein Widerspruch zwischen den persönlichen Bestrebungen nach Genuß und dem Gewissen. Gerade in diesem Widerspruch befinden Sie sich. Und um ihn zu lösen, muß man sich einer von diesen beiden Kräften anschließen: dem Streben nach persönlichem Glück oder dem Gewissen, und sich vollständig ohne Ausnahme, ohne Vorwände, und ohne Kompromisse anschließen. Aber sich dem Streben nach persönlichem Glück oder dem Gewissen hinzugeben bedeutet nicht etwa, daß man die Stimme des Gewissens oder des persönlichen Glückes in sich ersticken soll, sondern daß man in seinem Bewußtsein als Leben, als wahres Leben nur eins von beiden anerkennen soll. Die Qual, die Zweifel rühren von der in dem Bewußtsein ungelösten Frage her. Wenn Ihre Anforderungen der Wahrheit nicht die Anforderungen Ihres Gewissens, sondern irgend etwas von außen Ihnen Zugewehtes sind, finden Sie Beruhigung, indem Sie sich von dem Gewissen lossagen, leben und Genuß finden, solange Sie können. Selbstverständlich wird das mit einer Qual enden, das weiß ich. Aber Sie können dem nicht auf mein Wort hin glauben, wenn die Forderungen des Gewissens in Ihnen vorläufig noch nicht erwacht sind. Aber sie müssen erwachen, weil die Bewegung der ganzen Menschheit von dem Streben nach persönlichem Glücke zu den Forderungen des Gewissens hinschreitet. Und dies alles spreche ich nur als eine sehr fragliche Möglichkeit aus. Wenn aber das Gewissen in Ihnen erwacht ist, so erkennen Sie doch ein für allemal an, daß das Leben nur in der Befriedigung der Forderungen dieses Gewissens sei, und dann werden Sie von neuem Befriedigung finden und das Leben wird für Sie einen Sinn haben. Denn, was ist eigentlich das Gewissen? Das Gewissen ist das höchste Gesetz alles Lebenden, dessen jeder in sich nicht allein durch Anerkennung der Rechte alles dieses Lebenden, sondern durch die Liebe zu ihm bewußt ist. Die Forderungen des Gewissens sind das, was in christlicher Sprache der Wille Gottes genannt wird, und deshalb besteht der Sinn des Lebens und die Antwort auf die beiden Fragen: wozu leben und wie es thun, um ein Recht auf das Leben zu haben? – darin, daß man den Willen Gottes, der uns in unserem Gewissen bewußt ist, erfüllt. Wohin Sie das führen wird? Ich weiß es nicht, ich weiß aber, daß das klare Bewußtsein dessen Ihr ganzes äußerliches Leben umwandeln und dahin bringen wird, was Ihrem Leben einen ständigen, immer mehr und mehr sich offenbarenden, freudigen und vernünftigen Sinn verleihen wird. Wenn es Ihnen aber nicht klar ist, was das Gewissen verlangt, dann giebt das Evangelium Antwort darauf.
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Bei der Beantwortung Ihrer Frage: „wozu soll man leben?“ muß man zuerst alle weltlichen Erwägungen, die Fragen über diesen oder jenen Kurs, über das, was mir oder meinen Eltern angenehm oder unangenehm sein kann, abstreifen und sich lebhaft seine Lage als die eines einsamen einzelnen menschlichen Wesens, das vor kurzem, vor zwanzig, dreißig Jahren irgend woher erschienen ist und heute, morgen oder nach zehn, zwanzig, dreißig Jahren irgend wohin verschwinden muß, vorstellen.
Wozu muß solch ein Wesen oder Millionen, Milliarden ebensolcher Wesen, die genau in derselben Lage sind, leben? Offenbar ist dies alles nicht für diese Wesen geschaffen, ebenso wie alle Schraubenmuttern, Schrauben, Räder und Kolben einer großen Maschine nicht um ihrer selbst willen, sondern für den Dienst des Gemeinzweckes der Maschine gemacht sind. Ebenso ist es auch mit uns: wir sind Werkzeuge jenes höchsten Willens, der durch uns seine ihm notwendige Sache schafft. Der Unterschied liegt nur darin, daß wir uns als lebend bewußt sind, daß wir, indem wir uns nicht als Werkzeuge des höchsten Willens anerkennen, unter unserer Lage leiden können und daß wir, indem wir uns als notwendige Werkzeuge des Lebens betrachten, eine Freude über die Beteiligung an der unendlich großen Sache, die durch das Leben der Welt geleistet wird, fühlen können.
Aber Sie werden fragen, worin besteht diese Sache? Darauf werde ich antworten, daß wir sie ganz nicht erfassen können, aber wir können immer wissen, wann wir helfen und wann wir uns ihr widersetzen. Liebevolle Beziehungen zu all dem Lebenden – zuerst selbstverständlich zu den Menschen, zu den allernächsten von ihnen – die Empfindung der Liebe und die Erzeugung dieses Gefühls in anderen ist ein Zeichen der Beteiligung an der allgemeinen Sache; die Erzeugung von Feindschaft, von Haß in sich und in anderen ist ein Zeichen des Widerstrebens gegen die allgemeine Sache.
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Ihr Schreiben hat mich nicht nur interessiert, sondern mich zu Ihnen hingezogen.
Ich meine, daß Sie nach dem, was jeder Mensch suchen muß, fahnden und ohne das die Menschen nicht leben können, ungeachtet dessen, daß die ganze Lebensweise der höheren wohlhabenden Klassen sich derartig gestaltet hat, daß die Menschen ohne dasselbe leben könnten. Dies ist das, was Sie suchen und zu dem Sie früher, als es gewöhnlich bei den Menschen vorkommt, von Ihren außerordentlichen Verhältnissen hingezogen wurden, vielleicht aber auch ist es dem zuzuschreiben, daß Ihre Natur ernster ist als die der meisten Menschen: dies ist der einem klar bewußt gewordene Sinn des Lebens: wozu lebe ich? Nicht deshalb doch, damit ich fröhlich sein soll; nicht aus dem Grunde doch, um Menschen zu erzeugen, die ebensowenig als ich wissen, wozu sie leben, sie in die Welt zu setzen und zu erziehen; auch nicht, um archäologische, dem Menschen möglicherweise nützliche Untersuchungen zu machen.
Man kann ohne alles leben, nur nicht ohne Antwort auf diese Frage. Aber unterdessen hält man es in unserer aufgeklärten Welt sogar als einen gewissermaßen geistigen Vorzug, darüber nicht nur in Unwissenheit zu sein, sondern zu behaupten, daß man dies auch nicht wissen kann.
Die Antwort auf diese Frage wird einzig und allein die Religion erteilen. Wenn die Religion, an die Sie geglaubt haben, durch Ihr kritisches Verhältnis zu ihr zerstört ist, suchen Sie sofort eine andere, das heißt eine andere Antwort auf die Frage, wozu Sie leben. Gleich wie man, nach dem Sprichwort, keinen Augenblick ohne König sein kann: Le roi est mort, vive le roi, um so weniger kann man keinen [einen] Augenblick ohne diesen König in Kopf und Herzen sein. – Nur die Religion, das heißt die Antwort auf die Frage: wozu lebe ich? giebt einem etwas, worüber man sich, seine unbedeutende, verfallende, einem überdrüssig gewordene und so unerträgliche Anforderungen stellende Persönlichkeit vergessen kann.
In meinen in Russland verbotenen Büchern habe ich nur darüber geschrieben. Wenn Sie dieselben lesen werden, so werden Sie dort die Antwort, die ich für mich gefunden habe, erhalten. Aber wenn Sie meine Bücher nicht gelesen, oder gelesen und dort diese Antwort nicht herausgefunden haben, kann ich dieselbe in drei Zeilen sagen:
Ich lebe, um den Willen dessen, der mich ins Leben gesandt hat, zu erfüllen. Sein Wille besteht aber darin, daß ich meine Seele bis zur höchsten Stufe der Vollkommenheit in der Liebe entwickele und dadurch der Begründung der Einigkeit zwischen den Menschen und allen Wesen auf der Welt helfen soll.
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Jeder löst das in seiner Art, und die Wahrheit von dem Schwerte und der Teilung bleibt eine gleiche Wahrheit für alle, wie man es auch lösen mag. – Ich will Ihnen eins sagen – das, was mich die Erfahrung gelehrt hat – wie man sich in verwickelten Fällen, in der Enge des Lebens verhalten soll, wenn man in sie hineingerät und dabei fühlt, daß es nur einen einzigen Weg giebt und daß alles schlecht sein wird, wenn man ihn nicht findet. Ich denke wie folgt:
Den Willen Gottes, worin er besteht, was Er verlangt, wozu Er alles geschaffen hat und schafft (wenn man sich aus alter Gewohnheit und der Bildlichkeit wegen so ausdrücken soll), welcher das Ziel Ihres und meines Lebens ist – das zu wissen ist uns nicht gegeben, und wenn wir meinen, das Ziel des Vaters zu kennen, irren wir uns in der gewaltigsten Weise. Wir können Sein Ziel nicht wissen, schon aus dem Grunde, weil es unendlich weit ist.
Aber wir wissen und können immer wissen, ob wir Seinen Willen erfüllen – das, wozu wir leben, das, was Er von uns will. Er hält uns wie an einem Leitseil und wir wissen, gleich einem Pferde, nicht, wohin wir kommen werden und wozu; aber wir merken an dem Schmerze, wenn wir nicht dorthin gehen, wohin wir sollen, und an der Freiheit, dem Fehlen eines Zwanges merken wir, daß wir den richtigen Weg gehen. Und deshalb belehrt uns die Erfahrung und das ganze Wesen, daß das erste, hauptsächliche und einzige, denn alle anderen sind darin enthalten, Zeichen der Erfüllung des Willens Gottes dasjenige sei, daß es uns leicht, nicht schmerzhaft und sogar freudig ist. Er wollte das, weil Er uns liebt, und wir wissen, daß dies nötig ist.
Das zweite Zeichen aber, in Abhängigkeit von dem ersten, ist das, daß es anderen nicht schmerzhaft sei, daß meine Thätigkeit kein Stöhnen der Qual hervorrufen soll. Hier ist gerade der Haken: eines scheint das andere auszuschließen. Aber es scheint nur. Wenn einem das so scheint, so ist das nur ein Zeichen dafür, daß das Leben sich in der Enge abspielt, daß der Weg selten so breit ist, wie man wünschte, daß der wahre Weg schmal ist, schmal wie die Messerschneide, aber er ist da. Indem man fremdes Leid wie sein eigenes empfindet, was Sie auch thun, kann und muß man den Weg, auf dem es leichter sein wird, finden. Und das wird dann geschehen, wenn ich alles, was ich zur Erleichterung des Leidens anderer thun kann, gethan habe. Dieser Weg ist da, er ist da, lieber Freund. Man muß beten, das heißt mit Gott in Verkehr treten, und dieser Weg findet sich. Und je schwerer das Suchen nach ihm ist, desto freudiger ist er. Ja, der Mensch muß frei und allmächtig sein, und es giebt diese eine Richtung, bei der er frei und allmächtig ist, und man kann sie finden.
Aber es giebt noch ein drittes Zeichen, das ich für mich gefunden habe. Das ist nicht die Verkleinerung, sondern die Vergrößerung, Erweiterung der Seele. Dieses Anzeichen ist dadurch wertvoll, daß es die Wahl revidiert. Wenn die Handlung, die Lebensweise, der Weg die Seele erniedrigt und verkleinert, dann ist das nicht das Richtige. Ich will nicht sagen, daß man dieses Zeichen als Anleitung annehmen kann – behüte Gott –, aber man soll alle Kräfte anwenden, um den Weg zwischen dem anderen von mir zugefügten Leid und dem Zwang, den ich fühle, zu nehmen, und nachdem man sich diesen Weg gemerkt hat, kann man seine Richtigkeit durch dieses Zeichen prüfen.
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Das wahre Mahl des Lebens besteht darin, daß man den Willen dessen, der uns hierher gesandt hat, erfüllt und Seine Sache verrichtet. Der Wille aber dessen, der uns gesandt hat, und Seine Sache ist: erstens, daß man für das uns gegebene Leben eine Abgabe in guten Thaten leistet; die guten Thaten aber sind diejenigen Thaten, die Liebe unter den Menschen vermehren; Seine Sache aber ist die, daß das uns gegebene Talent, unsere Seele, erweitert und gehegt wird. Und das eine kann man nicht ohne das andere thun. Man kann nicht gute Thaten, die die Liebe vermehren, schaffen, ohne daß man sein Talent, seine Seele vermehrt, die Liebe nicht in ihr verstärkt, und man kann sein Talent nicht vermehren, die Liebe nicht in seiner Seele vergrößern, ohne daß man den Menschen Gutes erweist und dadurch in ihnen die Liebe vermehrt. Also eins hängt vom anderen ab und eins prüft das andere. Wenn du eine Sache, die du für gut hältst, thust, aber die Vermehrung der Liebe in deiner Seele nicht fühlst, wenn es dabei in deiner Seele nicht freudig ist, so wisse, daß die Sache, die du thust, nicht gut ist. Und wenn du irgend etwas für deine Seele thust und dabei das Gute unter den Menschen sich nicht vermehrt, so wisse, daß das, was du für deine Seele thust, nutzlos ist.
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Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch alles andere zufallen. Suchet den Willen Gottes zu erfüllen und weiter nichts, nichts. Alles wird dann da sein: Wahrheit und Freude und Leben, ohne von Brot und Kleidern, die auch nicht nötig sind, zu reden. Nur das tägliche Brot – die Speise des Lebens, jene, von der Christus gesagt hat: „Mein Brot ist der Wille dessen, der mich gesandt hat, zu erfüllen“ – ist nötig.
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Die Erfüllung des Willens Gottes ist die Aufgabe des Lebens; aber worin besteht der Wille Gottes? Muss man diese oder jene Handlung vollziehen, um den Willen Gottes zu erfüllen? Muß man sich in diese oder jene Verhältnisse stellen: das Gut abgeben, die Familie verlassen, die Menschen bekehren? Muß man nach Niniveh oder nach Jerusalem gehen u.s.w.? Und es giebt keine Antwort.
Weder das eine, noch das andere, noch das dritte ist nötig, und keine Lage, keine Handlung entspricht der Erfüllung des Willens Gottes; sie entspricht ihr nicht nur nicht, sondern hindert sie sogar; denn jede Handlung nach eigenem Willen, jede Umgestaltung der Lage ist ein Ungehorsam gegen den Willen Gottes. Die Erfüllung des Willens Gottes aber ist gleich Seinem Reiche – in uns: die Erfüllung liegt nicht in den Handlungen, sondern in dem Gehorsam, in einem sanften und demütigen Verhältnis gegenüber den Anforderungen des Lebens, in dem man sich befindet.
Du wirst sagen: es giebt Anforderungen, die dem Gewissen widersprechen, oder ein wenig entgegengesetzt sind, oder es giebt gar keine Anforderungen.
Verhalte dich nur gegen die Anforderungen, wenn sie deinem Gewissen widersprechen, mit Sanftmut und Demut, das heißt entsage ihrer Erfüllung ohne Prahlerei und Bosheit, sondern mit Sanftmut und Demut; oder verhalte dich zu jenen Anforderungen, die einander entgegengesetzt zu sein scheinen, auch mit Sanftmut und Demut, indem du von deinem Willen dich abwendest und nur vor Gott stehst – und der Widerspruch wird sich lösen. Daß es gar keine Anforderungen giebt, kann nicht sein. Wenigstens die Bedürfnisse des Körpers sind schon Anforderungen, man kann essen und schlafen und sich bedecken mit Sanftmut und Demut.
Ja, der Wille Gottes besteht nicht darin, was man thun soll (was man thun soll – zeigt das Leben), sondern wie man handeln soll. Das wie ist das, was das wahre geistige Leben schafft.
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Ich dachte vor kurzem darüber nach, daß die Sache des Christen – den Willen des Vaters zu erfüllen, sei; aber worin besteht der Wille des Vaters? Wie soll man es erfahren, um nicht zu irren? Man denkt wohl manchmal, daß der Wille des Vaters darin besteht, daß man predigen soll, oder darin, daß man in dieser oder jener Weise, daß [man] mit der Familie oder ohne sie leben soll. Und wenn derartige Fragen auftauchen, so findet man nie, worin der Wille Gottes besteht und man gerät in Zweifel und Verlegenheit: warum ist es geboten, den Willen Gottes zu erfüllen, aber nicht gezeigt, worin er besteht? Und darüber denke ich folgendermaßen: daß der Wille Gottes uns klar gezeigt ist, aber wir suchen ihn nicht dort, wo er uns gezeigt ist. Wir meinen immer, daß der Wille Gottes in den äußeren Thaten sein könne, wie, daß Abraham in ein fremdes Land ziehen soll u.s.w.; aber der Wille Gottes liegt nur darin, daß wir in dem Joch, in das wir eingespannt sind, sanft und demütig bleiben und ohne zu fragen, wohin, wozu und was wir ziehen, solange die Kraft ausreicht ziehen, stehen bleiben, wenn es uns geheißen wird, und von neuem ziehen, wenn man befiehlt, und dorthin kehren, wohin man befiehlt und nicht fragen, wozu und wohin. –
„Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig.“
Sei sanft und demütig von Herzen, sei mit allem zufrieden, mit jeder Lage einverstanden und du erfüllst den Willen des Vaters. Also, um den Willen des Vaters zu erfüllen, muß man erfahren, nicht was man thun soll, sondern wie man das, was einem zufällt, thun soll.
Leben heißt den Willen Gottes erfüllen. Worin besteht dieser Wille Gottes?
Alles, was wir uns als den Willen Gottes zum Ziel hinstellen können – alles ist unzureichend, unvollständig, alles ist nur ein Zeichen, aber nicht der Wille Gottes selbst. Ebenso, wie ein einzelner Arbeiter nicht die ganze Sache des Unternehmers begreifen kann. (Wie traurig und flach dieser Vergleich des Willens Gottes, d. h. des ganzen mit dem Willen eines Unternehmers auch sein mag, aber gerade durch diese Ungleichmäßigkeit zeigt er um so mehr die Unmöglichkeit für den Menschen, den Willen Gottes zu begreifen.) Wir haben ein Zeichen dafür, daß wir den Willen Gottes erfüllen, aber den Willen Gottes selbst werden wir nie erfahren.
An all diesen Zeichen können wir erfahren, daß wir seinen Willen erfüllen: das aber, worin gerade sein Wille besteht, bleibt für uns ein ewiges Geheimnis.
Und so muß es auch sein. Es könnte kein Leben, kein ewiges Leben geben, wenn das Ziel, zu dem wir streben, uns begreiflich – folglich ein endliches wäre.
Wir haben aber ebenso untrügliche Zeichen dafür, daß wir nach Seinem Willen und nicht gegen denselben leben, wie ein Pferd, dem die Zügel nur nach einer Richtung zu gehen erlauben.
Das allererste, hauptsächlichste und untrüglichste Zeichen, das wir so geneigt sind zu verschmähen – das ist die Abwesenheit des Empfindens der seelischen Qual. (Wie bei dem Pferde die Abwesenheit des Empfindens der durch die Zügel hervorgerufenen Schmerzen.) Wenn man volle, durch nichts beeinträchtigte Freiheit fühlt, dann lebt man nach dem Willen Gottes. Ein anderes Zeichen, welches das erste kontrolliert, ist die reine, ungetrübte Liebe zu den Menschen. Wenn man gegen niemanden Feindseligkeit fühlt, und weiß, daß niemand Böses gegen einen empfindet, dann ist der Wille Gottes erfüllt. Das dritte Zeichen, das wiederum die ersten kontrolliert und von ihnen kontrolliert wird, ist das Wachstum der Seele. Wenn man fühlt, daß man seelisch höher steigt und das Tierische besiegt – handelt man nach dem Willen Gottes.
Wir wissen, wir wissen es genau, wenn wir nach dem Willen Gottes leben. Aber wir wissen nicht den Willen Gottes selbst und wir müssen nicht vergessen, müssen wissen, daß wir ihn nicht kennen und nicht kennen können; aber wir müssen uns nicht äußerliche Ziele hinstellen, indem wir dieselben mit dem Willen Gottes identifizieren, wie hoch auch diese Ziele uns erscheinen mögen, wie zum Beispiel die Unterweisung der Menschen in den Wahrheiten des Glaubens, die thatsächliche Begründung des Reiches Gottes auf Erden, die Hinweisung auf ein Beispiel eines Lebens nach Gottes Wort und vieles andere.
Das Pferd weiß genau, daß es nach dem Willen des Herrn geht, wenn die Zügel es nicht zerren, aber es kennt nicht den Willen des Herrn, und wehe ihm, wenn es meint, diesen Willen zu wissen. Der Herr lenkt die beschmutzte Stute von der Chaussee in den Kot, veranlaßt sie, in einen schmutzigen, von anderen Pferden dicht vollgedrängten Hof hineinzugehen. Der Stute erscheint es klar, daß der Wille des Herrn darin bestehe, die Last auf der Chaussee zu fahren, und sie schleppt dieselbe; das Ablenken aber in den Kot des Hofes und die Vereinigung mit anderen Pferden – das kann der Herr, nach der Meinung der Stute, nicht wünschen, und die Stute widersetzt sich, klagt und leidet. Sie weiß nicht, daß der Herr in den Hof einkehrt, um die Last auf andere Pferde aufzuladen, um das Pferd zu füttern, weil es ihm leid thut und er einen Nachwuchs von ihm erwartet.