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Wahrheit oder Verschwörungsmärchen: Welche Gefahren lauern in unserer vernetzten Welt? Eine Mordserie erschüttert eine deutsche Großstadt. Leichen von jungen Frauen tauchen an unterschiedlichen Fundorten auf. Der Gerichtsmediziner macht eine grausige Feststellung: Den Frauen wurden mit chirurgischer Genauigkeit große Mengen Blut abgenommen. Die Polizei steht vor einem Rätsel. Wer steckt hinter den Schneewittchen-Morden? Hauptkommissarin Christine Peterson fordert die Unterstützung der Privatermittler Janina Funke und Bastian Becker an. Doch die Spurensuche erweist sich als schleppend. Je länger die Mordermittlungen andauern, desto mehr Verschwörungsmärchen verbreiten sich im Netz. Nach und nach entwickeln sie sich zu einer ganz eigenen, echten Bedrohung. - Wer ist der Frauenmörder? Mitreißende, moderne Crime-Noir-Geschichte - Erschütternd & gesellschaftskritisch: Spannendes Buch über Wahn und Wirklichkeit - Verbrecherjagd unter erschwerten Bedingungen: Ermittlungsarbeit im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit Die Angst vor dem Vampir-Mörder: Gibt es das Böse? Bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage nach dem »Warum?« geraten Janina Funke und Bastian Becker immer mehr unter Druck. Der Landesinnenminister drängt auf rasche Ermittlungsergebnisse. Die Stimmung in der Gesellschaft ist angespannt. Die Menschen gehen auf die Straße und brüllen ihre Verdächtigungen heraus. Die Ermittler versuchen, sich in den Täter hineinzuversetzen. Will der Mörder seine Opfer vorführen? Arbeitet er alleine? Steht er in Verbindung zur Realvampirismus-Szene? In seinem ersten Kriminalroman entführt uns der Bestsellerautor und Kriminalbiologe Mark Benecke in einen unbekannten, düsteren Teil unserer Gesellschaft, wo Verbrechen und Verschwörungsglaube eine unheilvolle Verbindung eingehen.
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Seitenzahl: 266
MARK BENECKE
mit Dennis Sand
Kriminalroman
Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.
1. Auflage
© 2022 Benevento Verlag bei Benevento Publishing München – Salzburg, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg
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Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich
Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Gesetzt aus der Minion, Gist Rough, Futura, Norwester
Umschlaggestaltung: ZERO Media, München
Umschlagmotive: FinePic®, München
Autorenillustration: © Claudia Meitert/carolineseidler.com, nach einem Foto von Dennis Ostermann & Jens Howorka
eISBN 978-3-7109-5135-0
VORSPIEL
TEIL 1
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
TEIL 2
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
TEIL 3
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
NACHWORT
ZUM AUTOR
Wie ungewöhnlich. Peterson lehnte sich gegen ihren Wagen und hielt für einen kurzen Moment den Atem an. Diese Stille. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie die große Stadt das letzte Mal so friedlich erlebt hatte. Vielleicht, dachte sie, liegt es am Wetter. Es war kalt geworden. Und vor ein paar Tagen, da war dieser Nebel aufgezogen. Dieser schwere Nebel, der die Stadt wie eine graue Wolke eingehüllt hatte. Peterson konnte kaum etwas erkennen.
Die Hauptkommissarin griff in die Tasche ihres Trenchcoats und zog sich eine Packung Zigaretten hervor. Elendige Angewohnheit. Hatte sie schon längst aufgeben wollen. Aber es half ja nichts. Christine Peterson war jetzt Mitte fünfzig. Ihre Ernährung war scheiße. Ihre Schlafgewohnheiten waren scheiße. Und irgendwie musste sie ja durch den Tag kommen. Sie fischte sich eine Kippe aus der Packung und steckte sie sich an.
»Also gut«, rief sie schließlich, drückte sich von ihrem Auto ab und ging ein paar Meter in Richtung des abgesperrten Tatorts. »Was haben wir denn da?« Die Spurensicherung hatte schon begonnen, nach Hinweisen zu suchen.
»Eine junge Frau, Anfang zwanzig, Todesursache völlig unklar.«
Peterson beugte sich unter dem Absperrband durch und hockte sich neben die Leiche. »So habt ihr sie gefunden?«
»So haben wir sie gefunden.«
Die Hauptkommissarin zog die Augenbrauen hoch. Wie lange machte sie diesen Job jetzt schon? Sechsundzwanzig Jahre? Siebenundzwanzig? Sie hatte aufgehört mitzuzählen. Sie wusste nur, dass sie in diesen Jahren so einiges gesehen hatte. Viele merkwürdige Gestalten. Viele Morde. Viele Tote. Und einige davon waren wirklich sehr übel zugerichtet. Aber das hier? Sie legte den Kopf schräg und betrachtete die Leiche. Ein hübsches Mädchen, dachte sie. Wer kam nur auf die Idee, so etwas mit ihm anzustellen? Peterson stand auf und schaute sich um. Die Leiche befand sich mitten auf einer viel befahrenen Hauptstraße. Hier hatte man sie abgelegt. Aber nicht einfach so. Das Mädchen trug einen weißen Bademantel. In seiner linken Hand hatte es eine verwelkte Blume. In der rechten einen Schädel. Von einem Hund oder einer Katze, dachte Peterson. Offenbar wollte man, dass sie gefunden wird. »Hat sie irgendwelche offensichtlichen Verletzungen?«, fragte sie einen der Polizisten.
»Nichts. Gar nichts.«
Peterson nahm noch einen Zug von ihrer Zigarette und betrachtete das Mädchen. Sie sah ungewöhnlich weiß aus. Eine echte Schneewittchen-Leiche, dachte sie. Aber vielleicht lag es auch am Licht. Christine Peterson schaute sich um. Doch der Nebel verschluckte alles. Bloß das flackernde Blaulicht drang ein wenig aus der Wolke grauer Feuchtigkeit hervor.
»Wer hat sie gefunden?«
»Ein Pärchen. Zwei Jogger. Sie sitzen im Krankenwagen. Stehen leicht unter Schock.« Peterson nickte, stand auf, streckte sich einmal und ging zu dem Krankenwagen, der etwas abgelegen von dem Tatort entfernt stand. Auf der Einstiegstreppe saßen zwei junge Leute. Bestimmt Studenten, dachte sie. Nicht älter als das tote Mädchen. Sie waren in eine Decke eingehüllt. Der Junge hatte seinen Arm tröstend auf die Schulter seiner Begleiterin gelegt. Sie trank aus einer Tasse mit dampfendem Tee. Peterson streckte den beiden seine Zigarettenschachtel entgegen. Sie schüttelten den Kopf.
»Peterson, Kriminalpolizei. Sie haben die Leiche gefunden?«
Das Mädchen nickte.
»Können Sie mir erzählen, wie es dazu kam?«
»Keine große Geschichte«, sagte der Junge. »Wir waren gerade joggen. Eine Runde am Fluss entlang. Und dann … dann lag sie da. Einfach so. Gott, ich wäre fast über sie …« Er brach ab und verzog das Gesicht. »Wer macht denn so was?«, fragte er. »Wer legt denn einfach eine … eine Leiche mitten in die Stadt. Direkt an eine Hauptstraße, das ist doch irre.«
»Ist es«, sagte Peterson, die dasselbe dachte. Sie klopfte dem Jungen auf die Schulter. »Ihre Personalien wurden schon aufgenommen?«
Die beiden nickten. »Dann gehen Sie nach Hause. Sollten wir noch etwas benötigen, dann melden wir uns.«
Peterson atmete tief durch. Die Staatsanwaltschaft würde wahrscheinlich eine baldige Obduktion der Leiche veranlassen.
Irgendwas stimmte nicht. Das wusste Daniel Richter sofort. Er war jetzt schon seit einigen Jahren dabei. Er hat vieles gesehen. Vieles erlebt. Aber noch nie hatte er einen solchen Anruf bekommen. Nicht von ihm. Nicht vom Professor. »Kommen Sie sofort vorbei«, hatte der Alte nur gesagt. »Das ist etwas, was Sie sich ansehen müssen.« Ungewöhnlich. Wirklich äußerst ungewöhnlich. Und das auch noch an einem Sonntagvormittag. Eigentlich hatte Richter ja schon Pläne für sein Wochenende gehabt, aber die mussten jetzt erst einmal warten. Da war er vielleicht auch zu sehr Opfer seiner eigenen Neugierde. Der Assistenzarzt zog sich eine Jacke über, setzte sich auf sein Fahrrad und machte sich auf den Weg. Es war kalt geworden. Draußen waren nur wenige Menschen unterwegs, aber die Luft war angenehm frisch. Was kann der Professor nur haben, fragte er sich. Er war wirklich nicht der Typ für geheimnisvolle Anrufe. Und der Professor war erst recht nicht der Typ, der sich über ungewöhnliche Entdeckungen sonderlich begeistern konnte. Es musste also schon etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein. Nach einer Viertelstunde erreichte Richter die Rechtsmedizin. Er stellte sein Fahrrad ab und betrat die altehrwürdige Einrichtung durch die Hintertür. Schon als er durch die weiträumige Eingangslobby schritt, hörte er laute Musik durch die Gänge schallen.
Stirb nicht vor mir, glaubte er herauszuhören.
Das war typisch, dachte er und grinste.
Richter betrat den Obduktionssaal. Der Raum roch nach Lindenblüten und Muff. Eine Mischung aus den Gerüchen der uralten Kühlung und der Fäulnis von Leichen, die erst spät in ihren Wohnungen gefunden wurden. Vor ihm stand Professor Frenzel direkt vor einem Tisch, auf dem eine Leiche lag. Das Radio war auf volle Lautstärke aufgedreht. Der Professor war zwar beim Gesundheitsamt angestellt und hatte gar keinen Lehrtitel an der Universität, aber jeder nannte ihn respektvoll trotzdem so. Er war ein kleiner, dickbäuchiger Mann mit langen weißen Haaren und einem dichten Vollbart. Unter seinem geöffneten Kittel trug er ein knallbuntes, vorwiegend gelbes Hawaiihemd und eine kurze Bermudahose. »Na, Herr Professor, Sie haben wohl noch gar nicht mitbekommen, dass der Sommer schon wieder vorbei ist?«, lächelte sein Assistent. Doch der Professor ging gar nicht auf den Spruch ein. Gedankenverloren stand er vor dem toten Körper der jungen Frau, die hier lag.
»Ah, Richter«, sagte er. »Kommen Sie, kommen Sie, das müssen Sie sich ansehen.« Richter stellte sich neben seinen Chef und betrachtete die Leiche. Eine junge Frau, schätzungsweise Anfang zwanzig, auf den ersten Blick keine äußeren Gewalteinwirkungen erkennbar.
Richter schaute zu dem Professor, der sich ganz in der Leiche verloren hatte. Er wirkte nicht ganz anwesend. Zwar hatte er ein Skalpell in der Hand, aber mit der Obduktion noch gar nicht angefangen.
»Fällt Ihnen nichts auf, Richter?«
»Doch«, sagte er. Die Leiche war ungewöhnlich hell. Nein, sie war schneeweiß.
»Hat sie einen Blutmangel?«, fragte Richter. Der Professor drehte sich zu ihm und schaute ihn an.
»Nein, Richter. Sie hat so gut wie überhaupt kein Blut mehr im Körper.«
Jetzt verstand der Assistenzarzt erst, was den Professor so faszinierte. Er ging noch einmal um den Obduktionstisch herum, um zu erkennen, ob es nicht doch irgendwo eine mögliche Austrittswunde gab. Aber da war keine. Zumindest nichts Offensichtliches.
»So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen«, sagte der Professor. »Irgendjemand hat dieser Frau beinahe ihr komplettes Blut aus dem Körper entfernt.«
Das war er. Der perfekte Augenblick. Bastian Becker hatte den Gipfel erreicht. Die letzten Meter waren anstrengend, aber nun stand er auf dem vereisten Felsen und blickte auf die Welt hinab. Becker betrachtete die schneebedeckten Wälder und die einsamen, weiß eingeschneiten Hütten, die ihm zu Füßen lagen. Über seinem Kopf krächzten ein paar Vögel, während die Sonne langsam aufstieg und die gesamte Landschaft in ein sanftes, goldenes Licht tauchte. Was für eine Aussicht! Becker fühlte eine tiefe, innere Ruhe. Er stand dort, direkt an der Klippe, und atmete ein paar Mal durch. Wie friedlich von hier oben doch alles war. Becker zog sich ein Zigarillo aus der Jackentasche, steckte es sich an und nahm einen tiefen Zug. Er spürte, wie sich seine Lungen mit dem warmen Tabakdampf füllten. Es fühlte sich an, als wären die Sorgen und Probleme der vergangenen Monate einfach von ihm abgefallen. Als würden sie sich im Angesicht der atemberaubenden Natur ganz einfach auflösen. Welche Bedeutung hatten sie auch schon, fragte er sich selbst, diese ganzen belanglosen Dinge, mit denen er sich in seinem Alltag quälen musste. Welche Bedeutung hatten sie im Angesicht der Schönheit dieser Welt? Becker hatte ein paar schlechte Wochen hinter sich. Unbezahlte Rechnungen. Offene Mietzahlungen. Ängste, die ihn eigentlich um den Schlaf brachten. Aber hier oben, da wurden die Sorgen auf einmal unbedeutend.
»Bastian!«
Ja, hier oben war er frei. Bastian Becker streckte die Arme aus, als wären sie Flügel, und schloss dabei die Augen, er spürte den frischen Luftzug, der ihm um die Nase wehte. Er ging noch einen Schritt vorwärts, stellte sich genau an die Kante, seine Zehen ragten schon über sie hinaus, und plötzlich, da hatte er das Gefühl, dass nun alles möglich sei. Er hielt noch für einen kurzen Moment inne – und dann wagte er es. Er trat über die Schwelle hinaus und spürte, wie die Schwerkraft seinen Körper hinunterzog, wie er fiel, aber plötzlich, da wurde alles ganz leicht, er erhob sich wieder, und das Unmögliche wurde tatsächlich möglich, er begann mit seinen ausgebreiteten Armen zu fliegen und über die vereiste Winterlandschaft zu gleiten.
»Bastian!«
Und so schwebte er über die malerischen, schneebehangenen Wälder, bis er schließlich eine Lichtung unter sich entdeckte. Becker sank ein wenig ab und sah, dass auf dieser Lichtung eine kleine Hütte stand. Eine einfache Hütte. Sie war aus Holz. Becker kniff die Augen zusammen, um sie näher zu erkennen, und in diesem Moment wurde ihm bewusst, welche Hütte das war, die er da sah, und plötzlich spürte er einen tiefen Stich in seinem Herzen, und es fühlte sich von einem Moment auf den nächsten alles ganz verändert an. Die Leichtigkeit, mit der er über die Erde schwebte, war verloren. Die Wolken zogen sich zu und verdeckten die Sonne. Becker fühlte, dass ein Gewitter aufzog. In der Ferne hörte er ein Donnergrollen, und er schaute wieder auf die Hütte hinunter und plötzlich sah er, dass sich der Schnee rot verfärbte, und Becker verlor das Gleichgewicht und plötzlich, da schwebte er nicht mehr, plötzlich verlor er mehr und mehr die Kontrolle, und er fiel tiefer und tiefer in Richtung Boden. Sein Herz zog sich zusammen, Erwartung und Anspannung pumpten durch seinen Körper, als er dem blutroten Boden immer näher und näher kam, und plötzlich …
»… Herrgott noch mal, wach endlich auf!« Bastian Becker riss seine Augen auf und schreckte hoch. Verdammt! Was war los?
Janina wich einen Schritt zurück und schaute ihren Partner mit hochgezogenen Augenbrauen an. Bastian brauchte ein paar Sekunden, um sich wieder zu orientieren. Wo war er doch gleich? Er schaute sich um. Schreibtisch. Papierstapel. Bücherwand. Ach ja. Sein Arbeitszimmer. Er musste eingeschlafen sein. »Bastian, das ist schon das dritte Mal diese Woche«, sagte Janina, und in ihrer Stimme lag mehr Sorge als Wut. »Ist wirklich alles in Ordnung bei dir?«
Becker fing sich wieder, schüttelte die Traumbilder ab und kam langsam in der Wirklichkeit an. »Ja«, sagte er. »Ja, na klar. Ich … muss eingeschlafen sein.«
»Du hast geschrien, Bastian.«
Becker kratzte sich am Kopf. Es war ihm unangenehm. Er schaute auf die große Uhr, die an der Wand hing. Es war gerade einmal Mittagszeit. Er dachte zurück an die letzte Nacht. Sie war kurz gewesen. Zu kurz.
»Hier«, sagte Janina und streckte ihm das Telefon entgegen, das sie schon die ganze Zeit in der Hand hielt. Mit ihrem Handballen verdeckte sie die Sprechmuschel. »Da will jemand mit dir reden.«
Becker atmete durch. Da war sie wieder. Die Realität. Mietschulden, Rechnungen und jede Menge Arbeit. Er nahm das Telefon und hielt es abwartend noch ein paar Sekunden in der Hand. »Hallo?«, fragte er vorsichtig.
»Hören Sie mal, Becker«, vernahm er eine seltsam vertraute Stimme am anderen Ende. »Wir haben hier was. Ungewöhnlicher Fall. Wir bräuchten Ihre Hilfe.«
Er hielt kurz inne. Becker erkannte Petersons knorrige Stimme sofort. Wie lange war es her, dass er das letzte Mal mit ihr gesprochen hatte? Er rechnete es rasch durch: beinahe auf den Tag genau fünf Jahre.
»Peterson …«, begann Becker etwas unsicher. Er wusste nicht genau, wie er diesen Anruf einzuordnen hatte. »… ich bin gerade wirklich überladen mit Arbeit. Es ist … kein guter Zeitpunkt«, sagte er und begutachtete die Unordnung auf seinem Schreibtisch. Die Akten stapelten sich mittlerweile wirklich bedenklich hoch. Er musste diesen ganzen Mist abarbeiten. Dringend. Außerdem brauchte er Geld. Ebenfalls dringend.
»Hören Sie zu, Becker, wenn ich Ihnen sage, dass wir hier einen außergewöhnlichen Fall vorliegen haben, dann haben wir hier einen außergewöhnlichen Fall vorliegen. Ich kenne Sie. Kommen Sie vorbei, schauen Sie es sich an, und Sie werden garantiert nicht Nein sagen.«
Becker rang mit sich selbst. Er hatte seine Gründe, warum er sich so lange nicht mehr bei Peterson gemeldet hatte.
»Schon okay«, gab er dann aber schließlich nach. »Ich kann in …«, er schaute auf seine Uhr, »… vier Stunden bei euch sein. Dann schaue ich mir die Sache einmal an. Aber ich kann für nichts garantieren.«
»Gut. Danke. Bis später.«
Becker legte das Telefon auf den Tisch und lehnte sich schwer in seinem Schreibtischstuhl zurück. Scheiße, dachte er sich und massierte seine Schläfen. Das war nicht das, was er jetzt gebrauchen konnte. Scheiße, wiederholte er. Wieso habe ich das zugesagt? Er ließ seinen Blick einmal durch den Raum schweifen. Über die schweren und vollgestopften Bücherregale, über den schönen, antiken Holzschreibtisch, den er in fünfter Generation geerbt hatte. Auf dem Boden stapelten sich leere Weinflaschen. Und vor ihm, da lag die Arbeit der vergangenen drei Monate, die es noch abzuschließen galt. Becker fasste sich an den Kopf. Er war ein gefragter Privatermittler. Es gab kaum jemanden, der sich so in Spuren von Tatorten kniete wie er. Er bearbeitete Fälle, die andere für unlösbar oder hirnverbrannt hielten. Aber er war nicht imstande, aus seiner Fähigkeit auch Geld zu schlagen. Zu oft nahm er noch kniffelige, aber unterbezahlte Fälle an.
»Bastian?«, hörte er Janina aus der Küche rufen. »Die verdammte Milch im Kühlschrank ist seit ganzen drei Monaten abgelaufen.«
Becker atmete schwer aus und vergrub sein Gesicht zwischen seinen Händen. Ein paar Sekunden später stand Janina mit der abgelaufenen Milchtüte in der Hand vor ihm. »Wer war das?«
»Das war Christine Peterson«, sagte Becker und schaute an ihr vorbei.
»Die Christine Peterson, von der du …«
»Ja.«
Schweigen. »Was wollte sie?«, hakte Janina vorsichtig nach.
»Sie hat einen Auftrag. Einen Fall, bei dem ich beraten soll. Ich weiß noch nicht, worum es geht …«
»Wirst du annehmen?«
Becker schaute zu ihr hoch. Janina war der einzige Mensch in seinem neuen Leben, der von seiner Vergangenheit wusste. Er hatte ihr alles anvertraut. Oder zumindest das meiste. Darum wusste sie, wie unangenehm diese Entscheidung für ihn gerade war. »Ich werde es mir zumindest anschauen«, sagte Becker. »Keine Ahnung, ich denke es ist …«
»… wichtig?«
»Wichtig. Ja.«
»Und diese Sache mit deinen Träumen? Das ist jetzt schon …«
»Es ist in Ordnung. Wirklich«, winkte Becker ab und schaute seine Partnerin an, die ihre Augenbrauen wieder in dieser ganz besonderen Weise hochgezogen hatte, die ausdrückte, dass sie sich Sorgen machte. »Es ist einfach nur viel Arbeit gerade.«
Seine Partnerin strich ihm mit der Hand über die Schulter. »Ist es ja immer, nicht?«, sagte sie, um ihn ein wenig aufzumuntern. »Komm, pack deine Sachen. Ich buche uns ein Ticket. Wann sollen wir bei Peterson sein?«
»Und?«, fragte ihn Janina. »Wie fühlt es sich an?«
Becker stand vor dem großen Altbaugebäude in der Stadtmitte und legte seinen Kopf in den Nacken. Mit seinem Blick fuhr er an den kleinen Steinfiguren entlang, die in der Architektur verarbeitet waren. »Um ganz ehrlich zu sein«, begann Becker, »es ist ein bisschen wie nach Hause kommen.« Er zwang sich zu einem Lächeln. Janina lächelte ebenfalls. »Es ist gut, dass wir hier sind.«
»Noch habe ich den Job nicht angenommen.«
»Das wirst du.«
»Weil wir in Schulden versinken?«
»Auch«, sagte Janina. »Aber auch, weil du früher oder später Frieden mit deiner Vergangenheit schließen musst.«
»Das hast du schon öfter gesagt.«
»Und jedes Mal habe ich recht.«
Becker stieg die drei Stufen hoch und zog die große Eingangstür des Polizeipräsidiums auf, dann legte er den Kopf leicht schräg und gab Janina zu verstehen, dass er ihr den Vortritt lassen würde. Sie lächelte und betrat das Gebäude.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, wurden sie im Empfangsraum von einem schlecht gelaunten Beamten begrüßt. Ein junger Kerl. Vielleicht Anfang dreißig, Dreitagebart, dicke Augenringe und einen großen Pott Kaffee vor der Nase. Becker zog seinen Ausweis hervor und legte ihn ungefragt auf den Tisch. »Bastian Becker, das ist Janina Funke. Wir werden von Hauptkommissarin Peterson erwartet.« Der junge Polizist nahm den Ausweis, spielte ein wenig mit ihm herum, las den Namen, schaute zu Becker auf und betrachtete dann wieder den Ausweis. Er brauchte ein paar Sekunden, bis bei ihm der Groschen fiel. »Sind Sie … der Bastian Becker?«, fragte er und drückte sein Kreuz durch, um ein wenig Haltung anzunehmen.
»Ich weiß nicht«, sagte Becker. »Dürfen wir durch?«
»Natürlich, Herr Becker. Es ist schön, dass wir Sie hier wieder begrüßen dürfen«, sagte der junge Polizist etwas zu überbetont förmlich und stand auf, um den beiden Ermittlern den Weg zu zeigen.
Becker lächelte ihm freundlich zu. »Danke«, sagte er. »Ich glaube, ich kenne mich hier noch einigermaßen aus.«
»Natürlich, Herr Becker.«
Janina schaute Bastian an, der zuckte nur mit den Schultern. Dann betraten die beiden die Haupthalle der Wache, die aus einem riesigen Großraumbüro bestand. Die einzelnen Schreibtische waren durch schwarze Raumtrenner voneinander abgesondert, aber das konnte nicht verhindern, dass hier ein ziemliches Durcheinander herrschte. Zumindest wirkte es für Außenstehende so. Becker blieb für einen kurzen Moment stehen und beobachtete das Treiben. Ein lautes Stimmengewirr schlug ihm fast körperlich entgegen. Er sah Beamte, die an ihren Schreibtischen saßen und telefonierten, Polizistinnen und Polizisten, die Akten von links nach rechts trugen, die sich auf ihre Schreibtische lehnten und Gespräche führten, Berichte tippten oder gehetzt auf die Uhr schauten.
»Hey«, sagte Janina. »Du lächelst ja.«
Tatsächlich fühlte es sich für Becker wieder genauso an wie damals. Wie zu der Zeit, als er noch ein Teil dieser Truppe war. Nichts hatte sich hier verändert. Es war alles eher noch ein wenig lauter und hektischer geworden. Becker erinnerte sich plötzlich daran, wie er das erste Mal hier stand. Er war gerade einmal achtzehn Jahre alt und hatte mit seiner Polizeiausbildung begonnen. Die Wache war seine erste Lehrstation. Niemals, dachte er, würde er diesen Moment vergessen, in dem er diese heiligen Hallen zum ersten Mal betreten hatte, und niemals würde er das Gefühl vergessen, das dieser Moment in ihm ausgelöst hatte. Diese Hektik. Diese permanente Anspannung. Dieses Bewusstsein, zugleich ein Teil von etwas Größerem zu sein. Ein Rädchen in einem großen Getriebe, das nach seinen ganz eigenen Regeln und Gesetzen funktionierte – das sollte ihn sehr lange Zeit nicht mehr loslassen. Damals hatte sich Becker geschworen, dass er unbedingt hier, genau hier an diesem Ort, arbeiten wolle. Und es sollte ihm einige Jahre später auch gelingen. Wie sehr ihm das noch zum Verhängnis wurde, konnte er ja nicht ahnen.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Ja«, antwortete Becker und riss sich aus seinen Gedanken. »Es ist nur ziemlich überwältigend, an den Ort zurückzukehren, wo alles begonnen hat.« Er lächelte. »Komm«, sagte er. »Die Büros sind im Obergeschoss.« Die beiden gingen an den Schreibtischen der Beamten vorbei, bis sie eine große Treppe erreichten, die sie in den ersten Stock brachte. Dort war es wesentlich ruhiger. Von einem langen Flur aus gingen links und rechts verschiedene Türen ab, die zu den Konferenzräumen und Einzelbüros führten. Becker kannte den Weg noch ganz genau. Erster Flur links, fünfte Tür rechts. Er klopfte drei Mal. »Herein«, hörte er eine schlecht gelaunte Stimme, und Becker öffnete die Tür.
Peterson lag zurückgelehnt in ihrem Bürostuhl, hatte die Füße auf dem Tisch abgelegt und war ganz in eine Akte vertieft.
»Höllenhunde«, sagte Becker. »Hier hat sich ja wirklich gar nichts verändert.«
Peterson senkte die Papiere und erkannte Becker. Sofort raffte sie sich auf und umarmte ihren ehemaligen Kollegen. »Becker! Scheiße! Gut, dass Sie da sind.«
Die beiden Ermittler standen sich gegenüber und musterten sich. »Junge«, sagte Peterson und schlug ihrem ehemaligen Schützling auf die Schulter. »Sie sehen wirklich beschissen aus. Geht’s Ihnen gut?«
»Den Umständen entsprechend«, konterte Becker und klopfte Peterson ebenfalls auf die Schulter. »Und bei Ihnen? Immer noch zu viele Überstunden?«
»Wir nennen das hier mittlerweile Bonus-Arbeitszeiten, Becker. Alles für die gute Sache.«
»Peterson, das ist meine Partnerin Janina Funke«, sagte Becker dann schließlich. »Sie ist die beste Tüftlerin, die ich in meinem Leben kennengelernt habe. Und sie arbeitet mit mir bei den meisten Fällen zusammen.«
Peterson gab der jungen Frau die Hand und zog die Augenbrauen hoch. »Ein solches Kompliment ausgerechnet von ihm – das ist schon viel wert, das wissen Sie hoffentlich«, scherzte sie.
»Ohne mich«, entgegnete Janina mit einem Augenzwinkern, »wäre er aufgeschmissen. Das weiß er auch.«
»Wo die Dame recht hat, da hat sie recht«, bestätigte Becker und schaute sich im Büro um. Sofort fiel ihm die große Korkpinnwand auf, die Peterson aufgestellt hatte. Dort waren zahlreiche Fotos und Notizen angeheftet.
»Ist das …«
»… das ist unser Fall, ja. Wir haben eine Leiche gefunden«, begann sie direkt einzuleiten. »Die Tat wirkte geplant. Überaus präzise und kaltschnäuzig durchgeführt. Die Leiche haben wir an einer viel befahrenen Hauptstraße gefunden. Es war, als ob uns der Täter regelrecht vorführen wollte.«
»Anscheinend ein Mann oder eine Frau mit einem gewissen Geltungsbedürfnis«, fiel Janina ein.
»Das denke ich auch«, sagte Peterson, griff nach dem Telefonhörer und wählte eine Durchwahlnummer.
»Brinkmeier, Peterson hier. Kommen Sie einmal rüber, ich möchte Ihnen jemanden vorstellen.«
Becker hatte sich vor die Pinnwand gestellt und war bereits ganz vertieft in die vielen kleinen Zettelchen, die dort vor ihm angebracht waren. »Becker, keine Sorge, Sie bekommen Ihre Einweisung schon noch früh genug. In einer Dreiviertelstunde haben wir unsere erste Lagebesprechung, aber vorher würde ich Ihnen gerne noch jemanden vorstellen.«
In dem Moment öffnete sich die Tür und eine junge Frau in einem perfekt sitzenden Kostüm betrat den Raum. »Janina Funke, Bastian Becker, darf ich Ihnen vorstellen: Das ist Alina Brinkmeier. Sie ist so etwas wie …«, Peterson zögerte, »… unser Wunderkind.«
Becker war noch ganz vertieft in die Stadtkarte, in der mit einer kleinen Nadel der Fundort der Leiche markiert war. Nur widerwillig drehte er sich um. »Hallo«, sagte er schließlich und gab Brinkmeier die Hand.
»Alina Brinkmeier ist noch recht frisch von der Akademie und …«
»… ich bin bereits seit drei Jahren fertig mit der Ausbildung, Peterson.«
»… und ist ganz schön vorlaut für ihre jungen Jahre. Aber gut, sie kann es sich erlauben. Sie hat das Studium gradlinig abgeschlossen und für uns bereits zwei superschräge Fälle gelöst. Aber das wird sie Ihnen sicher bald mal in aller Ruhe erzählen«, sagte Peterson nicht ganz ohne Stolz auf Brinkmeier, von der sie stets behauptete, sie entdeckt zu haben. Als Brinkmeier noch auf der Akademie war, da hatte Peterson gleich erkannt, dass die junge Frau sehr viel gründlicher und fleißiger war als ihre Mitstreiterinnen. Man musste Brinkmeier damals regelrecht aus der Bibliothek hinausschleifen, damit die dortigen Mitarbeiter auch einmal Feierabend machen konnten.
»Ich habe viel von Ihnen gehört, Herr Becker«, sagte Brinkmeier und zog sich eine Zigarette hervor, die sie sich anzündete. Dann musterte sie Janina ein paar Sekunden von oben bis unten.
Becker winkte nur ab. »Glauben Sie niemals dem Tratsch, den Sie auf einem Polizeiflur hören.«
»Becker und Funke werden uns in diesem Fall beratend zur Seite stehen«, erklärte Peterson. »Das ist ein außergewöhnlicher Fall, und wir brauchen hier das beste Team, das wir zusammenbekommen können.«
Oliver Schneider schmiss die Tür von dem kleinen Eckbüro zu, knallte das bedruckte Blatt Papier mit der flachen Hand auf den Schreibtisch seines Chefs und stemmte seine Fäuste in die Hüften. »Ich sage Ihnen, das ist nicht nur eine Geschichte. Das ist die Geschichte.« Im Hintergrund klingelten Telefone. Die Redaktion wimmelte wie ein Bienenstock. Es war kurz vor Redaktionsschluss. In einer Stunde musste die Zeitung für morgen stehen.
»Chef, ich meine das ernst. Das ist der Aufmacher heute.«
Thorsten Exner lehnte seinen schweren Körper in seinem Schreibtischstuhl zurück und verschränkte seine Arme hinter dem Kopf. Er musterte Schneider. Er mochte den Typen. Ein ehrgeiziger Journalist, wie er sie am liebsten hatte. Jemand, der von seinen Geschichten wirklich überzeugt war und dafür kämpfte. Jemand, der sich die Finger schmutzig machte, um an eine Geschichte zu kommen. Ein echtes Trüffelschwein. Aber heute trieb er es ein bisschen zu weit, selbst für seinen Geschmack. »Schneider, der Aufmacher für heute ist gesetzt. Sie wissen genau, Kommunalratssitzung. Finanzausschuss. Wichtige Weichenstellung für die Zukunft unserer Stadt.«
»Ach, das ist doch nur Bürokraten-Blabla, wen interessiert das? Meine Story wird die ganze Stadt weghauen.«
Schneider lachte auf. »Weghauen?«
»Sie wissen, was ich meine. Verdammt, haben Sie die Geschichte denn überhaupt schon gelesen?«
Exner beugte sich vor und zog das bedruckte Blatt zu sich heran. »Überflogen«, gestand er. »Ein Mord. Herausragender Fundort der Leiche. Studentin, frisch in die Stadt gezogen. Ist ein gutes Thema. Aber nicht Seite eins.«
Schneider schlug auf den Tisch. »Das ist nicht irgendein Mord. Meine Quellen berichten, dass sie so etwas noch nie zuvor erlebt hätten. Es ist ein total irrer Fall. Sie nennen den Täter den Schneewittchen-Mörder.«
Exner kratzte sich am Kopf. Für ihn war das noch immer eine spannende Polizeimeldung. Aber er konnte nicht erkennen, warum das Thema so interessant sein sollte, dass es auf Seite eins stehen könnte. Zu viel Blut war in harten Zeiten nicht beliebt. Die Menschen hatten genug um die Ohren und wollten sich lieber mit Kleinkram betäuben.
»Wieso eigentlich Schneewittchen-Mörder?«, fragte er.
»Das ist es ja«, floss es aus Schneider heraus. »Der Täter hat seinem Opfer das Blut entnommen. Einfach so. Das Mädchen hatte kaum noch einen Tropfen in ihrem Körper. Darum sah die Leiche weiß aus, als man sie gefunden hat. Aber das ist noch nicht alles. Der Täter muss ihr das Blut mit einem Trick entnommen haben. Es gibt nur winzige Einschnitte.«
»Gibt es schon einen Verdacht? Hinweise auf einen Täter?«
»Keine. Die Polizei tappt im Dunkeln. Sie haben sogar einen Berater dazugerufen.«
»Ist nichts Besonderes, passiert ständig.«
»Mag sein, aber der Fall ist doch außergewöhnlich.«
Exner lehnte sich zurück und überflog noch einmal die Geschichte, die ausgedruckt vor ihm lag. »Keine Seite eins. Wir machen es auf die Panorama-Seite. Wenn der Fall sich weiterentwickelt, hat er vielleicht den Wumms für mehr.«
Schneider fasste sich an den Kopf. Er konnte das nicht verstehen. Wer wollte etwas über einen Geldausschuss lesen, wenn man eine schneeweiße Leiche im Angebot hatte? Er liebte seinen Job, aber er hasste es, dass die Kollegen so schwerfällig waren. Kein Wunder, dass die Auflage der Zeitung Jahr für Jahr zurückging. Egal, dachte sich Schneider. Sollten sie es doch drucken, wo sie wollten. Er hatte eine bessere Idee.
Schneider ging durch den Redaktionsraum. In einer langen Reihe waren hier mehrere Schreibtische nebeneinander angeordnet, auf denen jeweils ein großer Computer stand. Er betrachtete seine Kolleginnen und Kollegen, die auf die Bildschirme schauten. Das Klappern der Tastaturen schwebte als Klangteppich durch den Raum. Er setzte sich an den letzten Tisch, der etwas abgesetzt von der langen Reihe stand, schnappte sich einen leeren Stuhl und schaute seine Kollegin an.
»Melanie, meine Beste, wie geht es dir? Du siehst heute fantastisch aus.«
»Sag einfach, was du willst, Oliver.«
Schneider beugte sich zu der Kollegin vor und sprach etwas leiser. Es sollte verschwörerisch wirken. »Pass auf, ich habe hier eine Geschichte, die unfassbar knallen wird. Für den Chef ist sie nichts Besonderes, aber ich bin mir sicher, dass sie online abgeht.«
Jetzt beugte sich auch die junge Kollegin vor. »Okay, dann mal los!«
Melanie Junghans war für die Onlineseite der Tageszeitung verantwortlich. Wie bei den meisten Lokalzeitungen wurden die Onliner in der Redaktion etwas stiefmütterlich behandelt. Während die großen Blätter ihre gesamte Energie schon in das Online-Geschäft steckten, waren die kleinen Zeitungen immer noch Fans gedruckter Ausgaben. Ihr Geld verdienten sie mit Zeitungsabonnenten – solange die noch lebten –, aber nicht im Netz. Junghans war darum offen für alles, was ihre Abteilung stärkte.
»Angst vor dem Vampir-Mörder«, begann Schneider und ließ eine kurze Kunstpause. »Eine junge Frau geht abends vor die Tür. Morgens ist sie tot. Und sie hat kein Blut mehr in ihrem Körper.«
»Hast du dir das ausgedacht?«, lachte Junghans.
»Nein, das ist wirklich so passiert. Und wir sind die Ersten, die das haben. Wir müssen das ganz groß hinlegen.«
Melanie Junghans legte ihren Kopf schräg und musterte ihren Kollegen eindringlich. Sie versuchte herauszufinden, ob er das gerade wirklich ernst meinte oder er sie mit der Geschichte nur ärgern wollte. Kannte sie ja alles schon. Die Onliner, hieß es einmal, nehmen alles, was sich um Sex oder Gewalt dreht.
»No shit«, sagte Schneider und legte ihr die ausgedruckte Story auf den Tisch. »Ich meine das ernst. Es ist passiert. Hier. Mitten in der Stadt.«
Junghans nahm den Artikel, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und las ihn sich durch. »Ergibt Klicks und eine gute Schlagzeile«, sagte sie. »Schick mir die Geschichte. Ich haue sie auf alle unsere Kanäle.«
»Machen Sie die Tür zu«, raunte Peterson ihren rechtswissenschaftlichen Praktikanten an, nachdem der das Tablett mit den fünf Kaffeegläsern im übertrieben großen Büro seiner Chefin abgestellt hatte. Die Kriminalkommissarin hatte schlechte Laune. Nicht ohne Grund. Sie hielt die aktuelle Ausgabe der örtlichen Zeitung hoch. »Die machen aus unserem Schneewittchen-Killer einen Vampir-Mörder.«
»Einfallsreich«, sagte Becker und nahm sich die Zeitung. Zum Glück war es nur eine kleine Spalte, die man im hinteren Teil versteckt hatte. Das würde untergehen. »Es wäre mir lieber, wenn wir diesen Einfallsreichtum bei der Bearbeitung unseres Falles beweisen würden, als die Presse bei ihren Schlagzeilen«, murmelte sie. »Je mehr davon noch kommt, desto mehr werden wir unter Druck geraten. Und im Moment fischen wir noch völlig im Trüben.«
Peterson schaute ihr Team an – Becker, dessen Partnerin Janina, Professor Frenzel und Alina Brinkmeier. »Also gut«, sagte sie schließlich. »Lassen Sie uns zusammentragen, was wir haben.« Sie ging an die große Pinnwand, die in ihrem Büro aufgebaut stand, und tippte auf das Foto der Leiche. »Jessika P., einundzwanzig Jahre alt, Studentin der Beziehungswissenschaften, politisch, kommt ursprünglich aus Bamberg und ist dieses Jahr in unsere Stadt gezogen. Beliebt unter ihren Mitstudierenden.«