Volkes Wille? - Stefan Howald - E-Book

Volkes Wille? E-Book

Stefan Howald

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Beschreibung

Demokratie ist nur wirklich, wenn sie stetig erneuert und erweitert wird. Doch heute ist das Gegenteil der Fall: Stagnation, Krise der Demokratie, Entwertung demokratischer Prozesse. Wir brauchen eine Demokratisierung der Wirtschaft, transnationale Bürgerrechte und neue direktdemokratische Formen.

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Stefan HowaldVolkes Wille?

Stefan Howald

Volkes Wille?

Warum wir mehr Demokratie brauchen

Rotpunktverlag

© 2014 Rotpunktverlag, Zürich

www.rotpunktverlag.ch

Umschlagfotos: Bahnhofstreik, Hauptbahnhof Zürich 2011 (Foto: Unia)

Occupy Paradeplatz, Zürich 2011 (Foto: 20 Minuten / Roman Hodel)

Stuttgart 21 2011 (Foto: Pit Wuhrer)

Landsgemeinde im Kanton Glarus 2005 (Fotoagentur ex-press / Heike Grasser)

Bundeshauskuppel, Bern, auf Lateinisch: »Einer für alle, alle für einen« (Foto: Peter Mosimann)

Europapalast, Sitz des Europarats, Strasbourg (Foto: Keystone / DPA / Winfried Rothermel)

ISBN 978-3-85869-653-3

1. Auflage 2014

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1: Postdemokratie und Wutbürger

»Der wahre Name, den die Demokratie begehrt, heißt Kommunismus«

Krise und Krisengerede|Refeudalisierung?|Auftritt der Wutbürger|Die schlechteste aller Regierungsformen|Wie hältst du’s mit dem Kapitalismus?

Kapitel 2: Was die Schweizer Demokratie gefährdet

»Für eine Million Franken mache ich aus einem Kartoffelsack einen Bundesrat«

Geheime Verführer|Grundkurs: Wie die Schweizer Uhr politisch tickt|Verschwiegene Interessenvertreter|Mündige Bürgerinnen und Bürger|Die politische Farbe des Gelds|Verzögern, verwässern: die Alpen-Initiative|Umgehen: Zweitwohnungsinitiative|Das wahre Volk|Volkswahl des Bundesrats|Nochmals das wahre Volk

Kapitel 3: Wer an der Demokratie partizipieren darf

»Die wollen uns hier wirklich nicht«

Kurzer Besuch in Wald (AR)|Ius soli|Schweizermacher|Ausschlüsse|Wald und Weiach|I bin en Italiano|Mitenand oder illegal|Assimilation oder Integration|Neue Migration|Gesichtslose Tage|Vorwärts zur Citoyenneté|Youtube-Generation

Kapitel 4: Wo die Demokratie stattfindet

»Ein solches Wesen wie den ›Europabürger‹ gibt es nicht«

Die Grenzen des Nationalstaats|Spiele und Musik ohne Grenzen|Menschenrechte für Europa|Geschützte Investitionen|Der Ort der Wahrheit|Hegemonie|Zurück zur EU|EU-Demokratie?|Europäische Bürgerinitiative|Europa der Regionen|Europa von unten

Kapitel 5: Warum Wirtschaft nicht demokratisch verhandelbar ist

»Zutritt verboten«

Ein Weltensegler|Freiheit und Gleichheit|Auftritt des »homo oeconomicus«|Vorrang der Arbeit|Vom Hülfs- und Bildungsverein zur Mitbestimmung und zurück|Kurzer Überblick übers genossenschaftliche Vermögen|Bankeninitiative und Finanzkrise|Das neue Imperium|Auftritt der Troika|Zivilgesellschaft und Accountability|Rückkehr zum Imperium|Der Steuervogt reitet

Kapitel 6: Von der Repräsentation zu den Commons

»Die direkte Demokratie kann Gefahren bergen»

Urschweizer, zu dritt|Ein eigenes Lied|Repräsentation|Ein besonderer Akt|Krise der Parteien|Malerische Kulissen|Auf dem Land|Von Napoleons Gnaden|Erfolgsprodukte|Das Volk auflösen|Ganz ungültig|Hin zu den Allmenden|Wiederkehr einer Totgeglaubten|Ein Meer schlenkernder Arme|Das Netz der Netze und die Schwarmintelligenz|Wikipedia und die Massen|Eine neue »anarchistische Utopie«|Commons

Kapitel 7: Ein paar Schlussforderungen

Warum wir mehr Demokratie brauchen

Parteienfinanzierung und Medienmacht|Ausbau der Stimmberechtigung|»Volksrechte«|Steuerpolitik und soziale Gerechtigkeit|Wirtschaftsdemokratie|Gesellschaftliche Reproduktion|Demokratie als Prozess|Politische Bildung|Populismus versus popular-demokratische Politik

Anhang

Anmerkungen|Bibliografie|Register

Vorwort

Zuweilen möchte man die Demokratie abschaffen und sich ein neues Stimmvolk wählen. Etwa am Sonntag, dem 9. Februar 2014, um 16 Uhr, als klar wurde, dass eine knappe Mehrheit der Schweizer Stimmenden der Initiative gegen die »Masseneinwanderung« zugestimmt hatte und damit den fremdenfeindlichen Parolen der Schweizerischen Volkspartei (SVP) gefolgt war. Dieses ungläubige Gefühl, wenn mittels demokratischer Verfahren gegen ein demokratischeres, menschlicheres, gerechteres Zusammenleben entschieden wird, ist auch in andern Ländern nicht fremd. Etwa wenn bei den EU-Wahlen rechte und rechtsextreme Parteien zulegen. Oder wenn in Ungarn die Demokratie und die Verfassung ausgehebelt werden und sich seitens der EU-Behörden kaum jemand dazu verlauten lässt.

Äußert sich darin eine Krise oder gar der Niedergang der Demokratie? Die Diskussion darüber ist nicht neu, doch die Blickrichtung verkehrt sich periodisch. In den 1990er-Jahren waren es Wirtschaftskreise, die sich mehr oder weniger explizit gegen »unnötige« demokratische Mitsprachemöglichkeiten wandten, die den neoliberalen Umbau der Gesellschaft behinderten. Regelmäßig kommt die Kritik von links angesichts einer ausgehöhlten, rein formalen Demokratie, von Geld und Medien und Populisten pervertiert. Und überhaupt seien alle realdemokratischen Verfahren machtlos gegen die Austeritätspolitik im Gefolge der Finanzmarkkrise und deren soziale Verheerungen. Seit Neuestem ist wieder die Rechte am Zug. Die Schweiz sei eine Diktatur der Linken und der Classe politique, kann SVP-Chef Christoph Blocher verkünden, und die Parlamentsarbeit reine Zeitverschwendung, wobei solchen gezielten Verzerrungen in den Medien diensteifrig Platz eingeräumt wird.

In diesem Buch trete ich zuerst einen Schritt zurück, um zu fragen: Worum geht es überhaupt, wenn von der Krise der Demokratie gesprochen wird? Worum geht es, wenn von der Demokratie gesprochen wird?

Durchgängig werden dabei grundsätzliche Erörterungen mit der Analyse konkreter Beispiele verbunden. Das verlangt immer wieder einen Blick in die Geschichte. Dem entspricht eine doppelte politische Blickrichtung: die Notwendigkeit, an einer grundsätzlichen Kritik festzuhalten und utopische Momente einzufordern und sich zugleich auf die tagespolitischen Mühen der Ebene einzulassen.

Natürlich ist Demokratie zu wichtig, als dass sie der institutionellen Politik überlassen bleiben könnte. Es geht um die ganze Gesellschaft, damit auch um Kultur. In Kunstwerken äußern sich Bilder und Ideen über unsere Gesellschaft. Sie tragen zu deren Veränderung oder Verfestigung bei. Regelmäßig greife ich deshalb auf zeitgenössische Filme, Musik und Literatur zurück. Die Auswahl folgt durchaus persönlichen Vorlieben, will aber zugleich symptomatische Zustände und Tendenzen sichtbar machen.

Ausgangspunkt ist die Schweiz, doch geht die Argumentation darüber hinaus. Über den Zustand der Schweizer Demokratie wird gegenwärtig besonders intensiv diskutiert, im Inland wie im Ausland. Zwei ganz aktuell erschienene Bücher handeln davon. Der Thinktank Denknetz redet von der »überflüssigen Schweiz« und meint damit ein Politik- und Geschäftsmodell, das keine Zukunft habe. Die drei Publizisten Matthias Daum, Ralph Pöhner und Peer Teuwsen haben die alte Frage »Wer regiert die Schweiz?« aufgegriffen und prägen in ihrer neuen Antwort den Begriff einer verharrenden »Retrodemokratie«. Auch im Ausland gibt es ein Interesse an der Schweizer Diskussion, aus unterschiedlicher Perspektive. In Deutschland und in der Europäischen Union interessiert man sich für Chancen und Grenzen direktdemokratischer Mittel. In Britannien und anderswo suchen sich EU-Gegner in der Schweiz Verbündete. Der von der SVP – einer Partei, die in der Schweizer Regierung vertreten ist – lancierte Kampf gegen die Europäische Menschenrechtskonvention könnte einer antidemokratischen europäischen Bewegung einen gefährlichen Fokus bieten.

Dabei geht es nicht um den gerade auch von rechts so gern beschworenen aparten Sonderfall Schweiz mit missionarischen Zügen, sondern um die Schweiz als konkreten Fall, der zwar seine Besonderheiten wie die Volksinitiative hat, an dem sich aber auch grundlegendere Fragen zeigen. Damit ergibt sich der Anschluss an die Diskussion internationaler Entwicklungen wie Occupy Wall Street oder den demokratietheoretisch interessanten Fall des schottischen Referendums um einen Austritt aus dem Staatsverbund Großbritannien.

Im ersten Kapitel skizziere ich die internationale Debatte um die Krise der Demokratie und versuche dabei, den Zusammenhang von politischer Freiheit und sozialer Gleichheit zu rekonstruieren. Denn Demokratie kann nur breit verstanden werden: politisch, sozial, wirtschaftlich, kulturell. Das zweite Kapitel kehrt ein erstes Mal in der Schweiz ein und benennt konkrete Gefährdungen für die Schweizer Demokratie. In den folgenden Kapiteln drei bis sechs geht es um vier Themenbereiche zur Reichweite der Demokratie: Wer darf daran teilnehmen, wo findet sie statt, worüber und in welchen Formen? So werden im dritten Kapitel die Frage des Stimmrechts für Ausländerinnen und Ausländer sowie genereller die Frage nach deren politischer und sozialer Partizipation behandelt. Das tue ich vorrangig anhand der Schweiz, greife auch in die Geschichte zurück. Dabei zeigt sich, wie überwunden geglaubte Zustände und Konzepte plötzlich wieder aktuell werden können. Im vierten Kapitel weitet sich die Problemstellung auf die europäische Ebene aus: Wie lassen sich transnationale Formen der Demokratie denken, insbesondere bezüglich der EU und Europas, innerhalb der EU und über sie hinaus? Kapitel fünf greift noch weiter aus, ins globale Verhältnis von Wirtschaft und Demokratie. Denn die Wirtschaft bleibt nicht nur der blinde Fleck der bürgerlichen Demokratie, sondern es hat sich im internationalen Wirtschaftssystem ein eigenmächtiger Kosmos der Schiedsgerichtsbarkeit herausgebildet, der jeder demokratischen Anstrengung zuwiderläuft. In Kapitel sechs geht es um die demokratischen Verfahrensformen, von der traditionellen repräsentativen Demokratie bis hin zu Experimenten einer Demokratie des Internets, damit auch um die Formen der Selbstermächtigung der demokratisch engagierten Menschen. Dazu gesellt sich eine weitere Frage: Wie wird Gesellschaft gedacht? Schließlich skizziere ich im siebten Kapitel neun Vorschläge, wo und wie die Demokratie verbessert werden müsste und könnte. Das ist zum Teil wiederum konkret auf die Schweiz bezogen, zum Teil grundsätzlicher Natur.

Dieses Buch argumentiert zuweilen aus dem aktuellen politischen Handgemenge heraus. Wo immer möglich, habe ich einige der analysierten Entwicklungen bis zum September 2014 verfolgt. Seit dem Abschluss des Manuskripts sind etliche Entwicklungen weiter vorangetrieben worden. Das unterstreicht eines der Themen dieses Buchs: Demokratie als Prozess und als Lebensform zu verstehen. Dann müsste man sich kein neues Stimmvolk wählen, weil sich die Menschen im demokratischen Gemeinwesen selbst entwickeln.

Ich habe vielen zu danken – und ich hoffe, sie wissen um meinen Dank –, vor allem meiner Partnerin Renée Gruber, die mich mit ihren vielfältigen Lektürehinweisen und mit ihrer unbeirrbaren demokratischen Empörung immer wieder aus vorschneller Versöhnung aufgerüttelt hat.

Stefan Howald

Dielsdorf, im Oktober 2014

Kapitel 1: Postdemokratie und Wutbürger

»Der wahre Name, den die Demokratie begehrt, heißt Kommunismus«

Krise und Krisengerede

Im Gefolge der Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 wurden in den westlichen Industrieländern demokratische Institutionen eingeschränkt, geschwächt und ausgehöhlt. Nationale Regierungen sind hilflos gegenüber der Troika – EU-Kommission, Europäische Zentralbank und Internationaler Währungsfonds –, die eine Politik im Interesse von Märkten und Banken verfolgt. Die Parlamente haben an Macht verloren. Die sozialen Proteste werden durchs soziale Elend abgedämpft oder gar erstickt.

Die Schweiz hat, wieder einmal, besondere Probleme. Sie hat auch besondere Lösungsmittel, die zugleich zu ihren Problemen beitragen. Die Stimmbeteiligung bei Wahlen und Abstimmungen erreicht immer neue Tiefstände, die andere europäische Länder in eine politische Sinnkrise stürzen würden. Die Geldströme in der Politik sind bekannt, aber nicht belegt, dafür akzeptiert. Die Demokratiekritik wird von rechts instrumentalisiert. Ebenso das Instrument der Volksabstimmung. Ja, die Mehrheit verhält sich öfter »unanständig«, wie der Schriftsteller Jonas Lüscher beklagt.1

Doch die Kritik am Rückbau der Demokratie reicht weiter zurück als zur Wirtschaftskrise oder zu den jüngsten fremdenfeindlichen Wahlerfolgen der Schweizerischen Volkspartei (SVP). Der englische Politologe Colin Crouch prägte im Jahr 2003 den Begriff »Postdemokratie«, und der ist seither salonfähig geworden. Die Konstruktion des Begriffs orientiert sich an früheren wie Poststrukturalismus, Postmoderne oder Postfeminismus. Darin steckt eine chronologische wie eine inhaltliche Dimension. Einer gesellschaftlichen Epoche und ihrer Theorierichtung folgt eine Nachphase, die ihre Vorgängerin inhaltlich teilweise überwindet. Die Benennung war in unterschiedlichem Maß negativ oder positiv besetzt. Der Poststrukturalismus wurde wissenschaftsgeschichtlich mehrheitlich als Öffnung eines steril gewordenen Strukturalismus aufgefasst; die Postmoderne galt, heftig umstritten, den einen als lustvoller Ausgang ins Anything goes, während andere sie als Schreckbild einer Beliebigkeit und eines Verrats an der Aufklärung verdammten; der Postfeminismus hinwiederum versucht, ebenfalls umstritten, eine kritische Haltung zu retten, indem einige inhaltliche Forderungen, die dieser Haltung entspringen, preisgegeben werden. »Postdemokratie« ist dagegen ausschließlich negativ gemeint: ein Rückschritt, ein Zerfall.

»Der Begriff bezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, dass Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.«2

In seinem ursprünglich 2003 veröffentlichten Buch schrieb Colin Crouch, dass sich die Gesellschaft und die Politik »in Richtung der Postdemokratie bewegen«, hielt also erst eine Tendenz fest. Diese Tendenz hat durch die Finanzmarktkrise einen massiven Schub erhalten.

Für zahlreiche kritische Autorinnen und Autoren ist die »Krise der Demokratie« mittlerweile ein Gemeinplatz, von Wolfgang Streeck über Sahra Wagenknecht, Slavoj Žižek und Giorgio Agamben bis zu Antonio Negri und Jürgen Habermas. Wir sind, sagt Giorgio Agamben »heute Zeugen einer überwältigenden Vorherrschaft von Regierung und Ökonomie über eine sukzessive entleerte Volkssouveränität«.3 »Kein Mensch nimmt Demokratie oder Gerechtigkeit mehr ernst, wir alle wissen um deren Korruptheit«, meint Slavoj Žižek.4 Die Demokratie werde heute »Zug um Zug abgeschafft, indem nicht mehr gewählte Politiker regieren, sondern Finanzinstitute«, heißt es bei Sahra Wagenknecht.5 Die Krise des Euro ist zu einer »Krise des demokratischen Kapitalismus« geworden, erklärt Wolfgang Streeck.6 Für Jürgen Habermas haben Merkel und Sarkozy einen »postdemokratischen Weg«7 eingeschlagen. Der Schriftsteller Ingo Schulze sekundiert: »Eine Situation, in der es der Minderheit einer Minderheit gestattet wird, es also legal ist, das Gemeinwohl der eigenen Bereicherung wegen schwer zu schädigen, ist postdemokratisch.«8 Die Volksvertretung, immer schon ein prekäres Konstrukt, werde heutzutage »ausgehöhlt«, da »ihre Möglichkeiten inzwischen radikal zusammengeschmolzen sind«, sagen Michael Hardt und Antonio Negri.9 Der Club Helvétique, ein loser Zusammenschluss linker und linksliberaler Politiker und Wissenschaftler beiderlei Geschlechts, meint in Bezug auf die Schweiz, die von rechts propagierte »Scheuklappen-Schweiz« stelle »das Prinzip infrage, auf dem die Demokratie ruht«, mache »Volksherrschaft zur Willkürherrschaft«.10 Ja, selbst ein bislang unbescholtener Zeuge wie Marc Chesney, Finanzprofessor am Institut für Banking und Finance der Universität Zürich, fürchtet angesichts der überbordenden Macht der Finanzwirtschaft »um das Wohl der Demokratie«.11

Je nach Interesse richtet sich der Blick dabei auf unterschiedliche Gesellschaftsbereiche. Colin Crouch konzentriert sich auf die Veränderungen der parlamentarischen Demokratie und der öffentlichen Meinungsbildung: Apathie, Personalisierung und Medialisierung, Korruption durch und innerhalb der Parteienfinanzierung. Wolfgang Streeck benennt die strukturelle Veränderung vom sozial umverteilenden »Steuerstaat« zum austeritätsradikalen »Schuldenstaat«.12 Andere Autoren betonen vor allem die Aushebelung demokratischer Institutionen durch angeblich interesselose Fachleute. Jürgen Habermas spricht von einer »demokratisch entwurzelten Technokratie«13. Auch Kristin Ross meint, die EU vermittle ihren Bürgern zusehends die Botschaft, »komplexe Regierungsangelegenheiten den Experten zu überlassen, der Technokratie«.14 Ein besonderer Aspekt dieser zunehmenden technokratischen Herrschaft zeigt sich im Sicherheits- und Überwachungsbereich. Seit den mörderischen Anschlägen von 2001 auf die Twin Towers in New York hat sich in den westlichen Demokratien durch den »Krieg gegen den Terrorismus« ein industriell-militärischer Repressionsapparat aufgebläht. US-Präsident Barack Obama, 2009 Symbol eines gesellschaftlichen Aufbruchs und emotionaler Hoffnungsträger, hat sich als besonders eifriger Verfechter undemokratischer Praktiken entpuppt. Der Skandal um die US-amerikanische National Security Agency (NSA) hat gezeigt, dass die Überwachung der Bürger durch Geheimdienste in Zusammenarbeit mit großen Technologiekonzernen praktisch schrankenlos geworden ist und keinerlei demokratischer Kontrolle mehr untersteht.

Mehr oder weniger ausgesprochen und ausgeführt, geht es bei all diesen kritischen Ansätzen um das verschobene Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik. Man könnte geradezu von einem wirtschaftspolitischen Putsch gegen die Politik sprechen. Dieser Putsch ist aber nicht von den Wirtschaftsführern allein durchgeführt worden, sondern im Einverständnis mit den Politikern und unter deren aktiver Mithilfe. Es ist eine »passive Revolution«15: eine Revolution, weil sie radikale Veränderungen bewirkt, passiv, weil sie von oben durchgeführt worden ist, wobei die zur Beruhigung von Protesten angekündigten Reformen im Finanzsektor weitgehend ausgeblieben sind.

Michael Hardt und Antonio Negri fassen die verbreitete Kritik mit rhetorischem Aplomb zusammen. »Verschuldete«, »Verwahrte«, »Vertretene« und »Vernetzte«: Damit benennen sie die vier Opfer der gegenwärtigen kapitalistischen Apokalypse und deren entleerte Demokratie. Drei der vier Opfer sind einschlägig bekannt. Die aktuelle Finanzmarktkrise hat die Verschuldung und »Verschuldeten« unübersehbar gemacht. In den westlichen Ländern nimmt die Zahl der in Institutionen »Verwahrten«, insbesondere im Asylbereich, zu. Die »Vernetzten« der neuen sozialen Medien fangen sich, nach dem ersten basisdemokratischen Überschwang, zunehmend in allgegenwärtigen Datenströmen und alle überfordernden sozialen Beziehungen. Mit dem Begriff der »Vertretenen« wird schließlich spezifisch die Krise der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie gefasst, die das Volk entmündigt.

All diese Beschreibungen und Befürchtungen haben den unmittelbaren Anschein für sich. Doch mit welchem Bezugspunkt wird der aktuelle Verfall der Demokratie gemessen – geografisch und historisch? Im Weltmaßstab gesehen, verliert die These ihre vordergründige Evidenz. Bei allen Widersprüchen und Rückschritten, die der Arabische Frühling erlebt hat, ist im arabischen Raum die Demokratie zumindest als Versprechen weiterhin präsent. Die Rede von der Krise der Demokratie meint vor allem die westlichen Industriegesellschaften.

Zeitlich gesehen, lief der Demokratieabbau parallel mit der Herrschaft des Neoliberalismus seit Anfang der 1980er-Jahre, der den Nachkriegskonsens aufgekündigt und den Sozialstaat attackiert hat und der seit dem Zerfall des Sowjetimperiums die kapitalistische Wirtschaftsweise als alternativlos präsentieren konnte. Dahinter wird eine weiter reichende Entwicklung angedeutet: Errungenschaften seit dem Aufkommen der Arbeiterbewegung drohen verloren zu gehen. Wir kehren also ins 19. Jahrhundert zurück, zu Manchesterkapitalismus und Imperialismus.

Refeudalisierung?

Oder sogar noch weiter zurück? Die Aushöhlung demokratischer Rechte ist in den letzten Jahren verschärft worden zur These einer »Refeudalisierung« der Gesellschaft. Auch diese These hat einen Anschein für sich. Ein neuer »Geldadel« kauft Kunstbilder und Fußballklubs für Rekordsummen und stellt seinen Reichtum schamlos zur Schau. Die immer zahlreicheren Leiharbeiter werden quasi als Leibeigene gehalten. Das gutbürgerliche Leistungsprinzip arbeitsamer Unternehmer wird durch die schrankenlose Aneignung des Mehrwerts durch Finanzspekulanten ersetzt, die auch den arg gebeutelten Mittelstand aussaugen. Kurzum: Wir kehren zu feudalen Zuständen zurück. Das Wort stammt vom österreichischen Soziologen Sighard Neckel aus einem 2010 veröffentlichten Aufsatz Refeudalisierung der Ökonomie. Zum Strukturwandel kapitalistischer Wirtschaft. Er katapultierte den Titelbegriff in die öffentliche Diskussion. Seither wird er in Feuilletons verwendet; sogar in der bürgerlichen Welt beklagte Chefideologe Thomas Schmid im Sommer 2011 die »Refeudalisierung der Politik«. Auch Marc Chesney spricht ganz selbstverständlich von einem neuen »Geldadel«; und der Kampf gegen Abzocker und Heuschrecken greift gelegentlich auf die Metapher fürstlicher Gehälter und feudaler Entartung zurück.

»Refeudalisierung« ist zweifellos ein süffiger Begriff, weil er sofort Bilder handfester Unterdrückung und unmoralischer Völlerei hervorruft. Bei genauerer Betrachtung aber ist er nicht haltbar.16 Die Einkommensschere hat sich zwar in den letzten dreißig Jahren massiv geöffnet, ist aber nicht größer als vor hundert Jahren. Der französische Ökonom Thomas Piketty, dessen Bestseller Le capital au XXIe siècle verdienstvollerweise die wachsende Vermögens- und Einkommenskluft in den letzten drei Jahrzehnten des Neoliberalismus dokumentiert, belegt gleichzeitig, beinahe verschämt, dass die Ungleichheit Anfang des 20. Jahrhunderts, in der Belle Époque noch ungleich größer war.17

Das heutige Prekariat und die Leiharbeit erzeugen allerdings keine Leibeigenschaft, sondern treiben kapitalistische Prinzipien auf die Spitze. Es fehlt gerade die persönliche Beziehung der Abhängigkeit. Im Gegenteil: Bei der Leiharbeit wird das Vermögen, die Ware Arbeitskraft einzukaufen, seinerseits zur Ware, von Firma zu Firma weitergegeben, und alle Vermittler schneiden sich ein Stück vom Mehrwert ab. Insgesamt meint »Refeudalisierung« bloß: Es ist schlimmer als vor dreißig Jahren geworden. Was zutreffend und schlimm ist. Aber braucht es dafür einen neuen Begriff, der vieles behauptet und nichts erklärt? An der Refeudalisierungsthese zeigt sich, wie Details über einen groben Leisten geschlagen werden und Schlagworte statt präziser Analysen politisch entwaffnen.

Wäre denn alles vergebens? Der Provokateur Slavoj Žižek, der gelegentlich auch den Pragmatiker mimen kann, meint in dieser Rolle: »Es gibt keinen Grund, demokratische Wahlen zu verachten; es ist nur wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen, dass sie nicht per se ein Indikator der Wahrheit sind.« Doch dann fährt er fort: »Gewöhnlich spiegeln sie mehr oder weniger die von der hegemonialen Ideologie bestimmten Doxa [Meinungen] wider.«18 Das steht in Gefahr, der alten Priestertrugtheorie zu verfallen, und kann auch kulturpessimistisch zugespitzt werden. Der französische Philosoph Alain Badiou, einst Maoist, spricht verächtlich von der »grenzenlosen Einfalt der Demokratien unserer Zeit«.19 Etwas elaborierter Hardt und Negri: »Heute findet politische Beteiligung im Dunkeln statt: Entweder wird sie von Lobbys kontrolliert, oder sie ist gleich krimineller Natur. Die Vertretenen leben in einer verblödeten Gesellschaft, manipuliert durch die lärmende Idiotie der Medienspektakel, erstickt von der undurchschaubaren Informationsflut, und ständig im Angesicht der zynisch zur Schau gestellten Macht der Reichen, die sich vor nichts und niemandem verantworten müssen.«20

Verblödet, Idiotie: In solchen Aussagen äußert sich ein – theoretisch längst überholt geglaubter – Bildungsdünkel. Ideologie als »Opium für das Volk«. Die falsche Erinnerung an das Marx-Wort ist weiterhin wirkungsmächtig: von oben durch trügerische Priester verabreicht. Bei Karl Marx aber ist die Religion als damals wirkungsmächtigste Ideologie »Opium des Volkes«21: funktional fürs Überleben wichtig und zuweilen von den Konsumenten eigenverantwortlich eingenommen. Was Kritik nicht überflüssig, aber einen komplexeren Ideologiebegriff notwendig macht.

Auftritt der Wutbürger

Es stimmt ja: In den westlichen Industriestaaten hat das Interesse am politischen Prozess abgenommen. Alle Politiker jammern über sinkende Stimmbeteiligungen und zunehmende Apathie. Aber man kann das auch anders lesen. Der französische Politologe Pierre Rosanvallon beispielsweise meint bezüglich der Gegenwart: »Als Souverän haben die Bürger ihre Fähigkeit, sich einzumischen und ihren Einfluss geltend zu machen, beständig erhöht. […] Noch die Heftigkeit, mit der sie das parlamentarische System attackieren, zeugt von ihrer Entschlossenheit, das demokratische Ideal mit Leben zu erfüllen.«22

Der scheinbare Gegensatz zwischen der Krise der Demokratie und der Stärkung des demokratischen Ideals lässt sich leicht auflösen. Die politische Beteiligung verläuft nicht mehr in den traditionellen Bahnen, ist unberechenbarer, auch diffuser geworden. Im deutschen Blätterwald tauchte im Herbst 2010 für dieses Phänomen der Begriff »Wutbürger« auf. Die zähen Proteste gegen den neuen Bahnhof S 21 in Stuttgart sowie die breite Zustimmung, die Thilo Sarrazins Polemik gegen die Einwanderung und den despektierlich abgewerteten »Multikulturalismus« hervorgerufen hatte, wurden von Dirk Kurbjuweit im Spiegel kurzerhand zusammengezwungen: Hier zeige sich eine neue Schicht aktiver Menschen, die bereit seien, sich öffentlich und heftig zu exponieren. Es seien überwiegend gut situierte, konservative, ältere Menschen. Enttäuscht von den Politikern und der herkömmlichen Politik, wehrten sie sich gegen den Wandel, seien »Ausdruck einer skeptischen Mitte, die bewahren will, was sie hat und kennt«.23

Der neue Begriff war zuerst einmal Ausdruck einer Verwunderung: dass da überhaupt jemand trotz laufender Finanzkrise wagte, aufzumucken. Dass es vor allem gutbürgerliche Kreise waren, die aufmuckten. Aber die Wortprägung war zugleich diffamierend gemeint. Dafür wurde gezielt das Wort »Wut« gewählt, das Zeichen des Emotionalen, Irrationalen, und nicht etwa Zorn. Wut gilt als dumpfer denn Zorn. Wut teilt nach allen Seiten aus, ist blindwütig, heißrot. Zorn dagegen ist zielgerichtet, kalt, stahlblau. Der Vorwurf sollte zugleich davon ablenken, dass auch die aktuelle Parteipolitik populistisch wie selten zuvor mit Emotionen arbeitet. Und prophylaktisch könnte die Diagnose in anderem Zusammenhang, treuherzig seufzend, den Einsatz von Emotionen und Wut rechtfertigen: Seht, die Bürger wollen und brauchen das.

Entsprechend trieb die Debatte skurrile Blüten, wurde demokratischer Aufbruch ins Gegenteil umgedeutet. In der Zeit sah Adam Soboczynski die Wutbürger auch an andern Fronten des Protests am Werk, etwa wenn sie die weltweite Geheimdiplomatie aufdeckten. Die neue Protestbewegung wolle, meinte er indigniert, keine Regierung mehr, die »auf diskrete Kommunikation angewiesen ist, sondern feiert Wikileaks«.24 Und er argumentierte von rechtslibertärer Seite her: Auch die Kampagnen gegen Migranten seien wie die gegen Raucher Ausdruck eines Wunschs, Minderheiten zu gängeln, solange der Staat diese noch schütze. In solcher Publizistik wurde unter dem Stichwort Antidemokratismus Unterschiedliches grotesk zusammengeworfen und zu einem trüben Brei verrührt, jenseits der Realität. Der Protest gegen S21 zeichnete sich ja gerade durch demokratische Offenheit aus, dadurch, dass er verschiedene Schichten und Interessen zusammenbrachte. Er war gerade nicht wütend auf konservative Ressentiments beschränkt, sondern zielgerichtet. Der lokale Anstoß des Zorns schloss Bemühungen um eine übergreifende Perspektive – zur Verkehrspolitik, zu kapitalistischem Wachstum – nicht aus. Und die Protestbewegung erkundete verschiedene Formen: Die Rückeroberung der Straße ging einher mit Mischformen der repräsentativen und direkten Demokratie, mit gelegentlichem Seitenblick auf die Volksabstimmungen der Schweiz. Soboczynski sah darin in kalkulierter Verkehrung eine antidemokratische Tendenz. Die neuen Protestierenden wollten sich »nicht in den Niederungen der Parteien engagieren, sondern den Meinungsbildungsprozess in Volksabstimmungen abkürzen«.

Umgekehrt versuchte Barbara Supp im Spiegel, das Wort »Wutbürger« durch die positive Ergänzung »Mutbürger« aufzuwerten.25 Sie wies auf eine Tradition friedlicher Straßenproteste hin und erklärte, »dass die Mitte der Gesellschaft mit mehr Misstrauen betrachtet, wie ihre Regierungen regieren«, dass sie »über Ursachen, Risiken und Nebenwirkungen von Beschlüssen« informiert werden wolle und dass dazu »frühe Bürgerbeteiligung, Volksentscheide« nötig seien.

Angesichts dieser medialen Aufgeregtheiten wurde »Wutbürger« zum »Wort des Jahres« 2010 erkoren, in den Duden aufgenommen und als Gegenreaktion gleich auch noch zum »Unwort des Jahres« erklärt. Eine Studie gab erste vage Aufschlüsse über die soziale Zusammensetzung der Protestbewegung: Vor allem aber wurde vor Verallgemeinerungen gewarnt. Seither ist der Begriff ein wenig verweht, jedoch kürzlich vom österreichischen Schriftsteller und Publizisten Robert Menasse wieder aufgegriffen worden. Ja, das Phänomen des Wutbürgers ist eine der beiden Triebfedern seines weit herum diskutierten Plädoyers für eine demokratisierte Europäische Union. Schon im Untertitel stellt er die »Wut der Bürger« gegen den »Frieden Europas«. Der Wutbürger, so Menasses Arbeitshypothese, sei derjenige, der die einfache innenpolitische Alternative von denen da oben gegen die hier unten nach außen projiziere: die seelenlosen, Geld verschlingenden Bürokraten in Brüssel gegen die hart arbeitenden Menschen in den einzelnen Mitgliedstaaten. Menasse beschreibt scharfsinnig einige Positionen der xenophoben EU-Gegner und einer auf die eigene Haustür beschränkten Politperspektive, übernimmt allerdings die medialen Vorurteile gegen die neuen Protestformen, verallgemeinert sie unzulässig und kleistert sie mit der Vokabel vom Wutbürger zu. Dabei übersieht er auch, welches Potenzial in den neuen Protesten gerade für seine durchaus honorable Vision eines »nachnationalen, subsidiären Europa der Regionen«26 steckt.

Die schlechteste aller Regierungsformen

Es gibt ein bekanntes Bonmot des langjährigen britischen Premierministers Winston Churchill aus dem Jahr 1947: »Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen, ausgenommen alle anderen.« Darin äußert sich, so die Mär, der englische Pragmatismus, dank dessen die Britinnen und Briten sich während des Zweiten Weltkriegs gerade gegen den Kriegsapparat der mörderischsten Ideologie der Weltgeschichte behauptet hatten. Doch in den Kontext gestellt, in dem es geäußert wurde, beginnt das Bonmot zu schillern und verkehrt sich beinahe ins Gegenteil. Churchill, der Britannien siegreich durch den Zweiten Weltkrieg geführt hatte, war bei den Parlamentswahlen im Juli 1945 mit seinen Konservativen überraschend von der Labour Party unter Clement Attlee geschlagen worden, und zwar deutlich mit 39,8 gegen 47,8 Prozent Wählerstimmen. Offensichtlich traute eine Mehrheit der Briten dem Kriegshelden Churchill nicht zu, sie gleich erfolgreich durch den Frieden zu führen. Tatsächlich hatte er sich in früheren Regierungen als radikaler Konservativer und Reaktionär gebärdet, hatte als Kriegsminister 1919 die antirevolutionäre Weiße Armee in Russland unterstützt, während der Zwischenkriegszeit entschieden eine Klassenpolitik gegen die Arbeiterklasse und die Gewerkschaften propagiert und sich noch während des Zweiten Weltkriegs für die Fortführung der britischen Kolonialherrschaft ausgesprochen. Laut dem erklärten Urdemokraten Churchill waren offenbar nicht alle Menschen der Demokratie gleich würdig.

Nach der Wahlniederlage 1945 blieb Churchill konservativer Parteichef und Oppositionsführer. 1947 präsentierte die Regierung Attlee einen moderaten Reformvorschlag für das Oberhaus, die jenseits aller demokratischen Verfahren ernannte zweite britische Parlamentskammer. Churchill fürchtete, zu Recht, dadurch werde eine konservative Bastion geschwächt. In einer langen Rede vor dem Unterhaus griff er die Pläne der Regierung an und warf dieser vor, nicht das Volk zu vertreten, ja, dieses durch ihre Sozialpolitik und die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien in die Knechtschaft zu führen: »Wir nähern uns in diesem Land einer Diktatur an«, meinte er und bot als Antithese dann den berühmten Satz über die Demokratie an.27 Indem eine linkssozialdemokratische Politik als diktatorisch verleumdet wurde, wollte er den Einsatz für einen antidemokratischen Zustand als Verteidigung der Demokratie verkaufen.

Es blieb dann der Labour-Regierung vorbehalten, Mitte 1948 endgültig das demokratische Prinzip »Eine Person, eine Stimme« einzuführen, indem das Doppelwahlrecht der Universitäten und der City of London beseitigt wurde. Als Churchill im Oktober 1951 erneut Premierminister wurde, hatten seine Konservativen mit 48 Prozent zwar weniger Volksstimmen als die 48,8 Prozent der Labour Party erhalten. Aber wegen des britischen Majorzwahlrechts reichte das für 321 Sitze gegenüber 295 für Labour. Zuweilen gesellt sich Demokratie offensichtlich zu allen anderen schlechtesten Regierungsformen.

Die Demokratie trägt ein zentrales Problem schon im Namen: demos-kratia, »Volks-Macht«, »Volks-Herrschaft«. Wer ist das Volk, und wie erringt und sichert es seine Herrschaft?

Jean-Jacques Rousseau, der erste und einflussreichste Demokratietheoretiker der Moderne, stellte sich am Beginn seines grundlegenden Werks Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts die Frage, wie sich individuelle und gesellschaftliche Bedürfnisse vereinen ließen.28 Gegen alle Vorstellungen eines Gottesgnadentums begründete er das Konzept der Volkssouveränität: In einem ursprünglichen Akt der Vergesellschaftung entäußern sich die Individuen ihrer natürlichen Freiheit durch eine freiwillige Verbindung zugunsten des Gemeinwillens. Nur diesem Gemeinwillen als der gesetzmäßigen, selbstgegebenen Macht schulden die Menschen Gehorsam. Der Gemeinwille begründet auch die Gleichheit aller. Freilich muss er konkret ausgeprägt und umgesetzt werden. Rousseau erkannte das Dilemma, dass sich der Gemeinwille als Willensäußerung zwar theoretisch begründen lässt, dass daraus aber nicht naturwüchsig konkrete Vorschriften, Handlungsanleitungen und Gesetze folgen. Dafür braucht es einen Gesetzgeber. Das Volk als der Souverän bleibt diesem übergeordnet. Allerdings gilt: »Niemals kann das Volk korrumpiert werden, doch oft wird es betrogen.«29 So muss es zuweilen zu seinem Glück angeleitet werden. Der Gesetzgeber hat den Souverän von der Güte seines Entwurfs zu überzeugen. Dabei kann er sich zuweilen auch eines »Tricks« bedienen.30 Rousseau mühte sich mit unterschiedlichem Erfolg ab, dieses Spannungsverhältnis zwischen Souverän und Gesetzgeber zu lösen. Da seine Vorstellungen unter den kleinräumigen Bedingungen der damaligen Republik Genf entstanden, war ein direkter, rational argumentierender Meinungsaustausch noch vorstellbar.

Damit sind in der Demokratie von Beginn an zwei Bedeutungen angelegt: die als grundsätzliche Form einer Gesellschaft und die als konkrete Ausgestaltung des Zusammenlebens. Demokratie ist einerseits die »Verfassung des Gemeinwesens«, andererseits eine »Regierungstechnik«, einerseits die grundsätzliche Konzeption des öffentlichen Rechts und andererseits konkrete Verwaltungspraxis, zugleich »eine Legitimationsform der Macht wie auch die Art und Weise ihrer Ausübung«31. Vereinfacht ließe sich sagen, dass Rousseaus »Gemeinwille« der Legislative und sein »Gesetzgeber« der Exekutive entspricht.

Wovon wird also gesprochen, wenn heute von Demokratie gesprochen wird? Offensichtlich von unterschiedlichen Dingen auf verschiedenen Ebenen, je nach Kontext und Absicht. Einerseits ist Demokratie als Gesellschaftsform zum nicht hinterfragbaren »Wahrzeichen«32 der westlichen Gesellschaften geworden: Wir alle sind jetzt Demokratinnen und Demokraten, und es gibt keine Alternative dazu. Andererseits ist sie, gleichzeitig, als Regierungstechnik in der Form des Sozialstaats zunehmend umgebaut und ausgedünnt worden. Die Debatte findet im demokratischen Raum statt: Wir denken unser (nicht nur politisches) Leben demokratisch. Als »Wahrzeichen« gibt die Demokratie der Kritik ihren Raum vor: Ihre jetzige konkrete Form mag gefährdet, »postdemokratisch« sein, aber wir alle wollen doch bloß eine bessere Demokratie (können doch nichts anderes als eine bessere Demokratie wollen). So kann noch während ihres Abbaus ihre Macht weiterhin beschworen werden.

Auch global bewegen wir uns diskursiv im Rahmen demokratischer Vorstellungen. Diese Vorstellungen sind mehr oder weniger real. Große Teile der Weltbevölkerung, etwa in China oder Russland, leben in Verhältnissen, die nicht westlichen demokratischen Vorstellungen entsprechen. Aber diese Vorstellungen bleiben der Referenzpunkt. Einzig die fundamental-islamistische Version eines Zusammenfallens von Religion und Staat vermag eine beschränkte Gegenvorstellung zu entwickeln. Die Attraktion des chinesischen oder russischen Modells ist dagegen »nur« der ökonomische Erfolg, und in China ist das Fehlen sozialer und politischer Mitbestimmung zusehends umstritten.

Wie hältst du’s mit dem Kapitalismus?

Historisch gesehen, war es das bürgerliche Versprechen, dass der aufkommende Kapitalismus an Demokratie gekoppelt sei. Die Freiheit der Wirtschaftssubjekte ist auf die freien politischen Subjekte angewiesen. Und umgekehrt. Der Kapitalismus garantiert Wachstum und Wohlstand, die Demokratie garantiert die tätige Mitgestaltung des öffentlichen Lebens. Wenn wir Demokratie wollen, müssen wir den Kapitalismus in Kauf nehmen. Und umgekehrt. Das war zur ideologischen Beruhigung gedacht, um den Kapitalismus zu zähmen, hatte aber auch reale Bedeutung. In der Nachkriegszeit hieß das ein – unterschiedlich stark ausgebauter – Sozialstaat und gegen das angelsächsische Modell eines schrankenlosen wirtschaftsliberalen der rheinische Kapitalismus mit einem korporatistischen Einbau der Gewerkschaften. Letzterer unternahm damit schüchterne Versuche, ins Reich der Wirtschaft einzudringen; in der Schweiz blieb die Wirtschaftsdemokratie vollkommen ausgespart, während ansatzweise direktdemokratische Mittel bewahrt wurden.

Bereits 1973 nach dem Militärputsch von General Augusto Pinochet in Chile wurde mit Hilfe von US-Ökonomen versucht, eine forcierte kapitalistische Entwicklung von der Demokratie abzukoppeln. Systematischer wurde dieser quasi naturwüchsige Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Demokratie mit dem Wirtschaftserfolg ostasiatischer »Tigerstaaten« widerlegt, in denen rasantes Wachstum durch autoritäre wirtschaftspolitische und soziale Instrumente erreicht wurde. Der langjährige, von 1959 bis 1990 diktatorial regierende Premierminister Lee Kuan Yew von Singapur berief sich in diesem Zusammenhang auf spezifische »asiatische Werte«, etwa ein rigides »konfuzianisches« Arbeitsethos, die auf westliche Demokratien nicht angewiesen oder sogar damit unvereinbar seien. In vielfach vergrößertem Maßstab trifft dasselbe heute für China zu, wo sich kapitalistisches Wachstum ohne demokratische Entscheidungen vollzieht. Seit Neustem gilt diese Beziehung auch im Westen als gekappt. Slavoj Žižek stellt apodiktisch fest: »Heute dagegen ist diese Verbindung zwischen Demokratie und Kapitalismus unterbrochen.«33 Jürgen Habermas spricht etwas zurückhaltender von einem »Auseinanderdriften von Kapitalismus und Demokratie«.34 Grundsätzlich befinde sich »Europa im Widerspruch zwischen Demokratie und Kapitalismus«, meint ein Artikel im Argument-Sonderband zu Europa.35

Nur: Mit welcher Demokratie hatte der Kapitalismus eine so enge Beziehung? Vielleicht hilft ja doch ein Abstecher in die gesellschaftstheoretische Forschung.36 Idealtypisch lassen sich »thin democracies« von »strong democracies« unterscheiden, schwache von starken Demokratien. Ideengeschichtlich entspricht das dem liberalen beziehungsweise dem republikanischen Gesellschaftsverständnis, dem Vorrang des Individualwohls gegenüber dem Gemeinwohl und konkreter geht es um negative »Freiheiten von etwas« (Zwang, Not, Zensur) oder positive »Freiheiten zu etwas« (Meinungsäußerung, Niederlassung, Koalitionsbildung).

Im gegenwärtigen »Wahrzeichen«, das die westliche Demokratie darstellt, steht die Freiheit im Vordergrund. Das ist aber nicht zwingend, sondern Resultat der historischen Entwicklung. An ihrer Stelle könnte auch die Gleichheit stehen. Freiheit und Gleichheit sind die beiden imaginären Punkte der Demokratie, jene Vorstellungen, die Diskurse und Handeln bestimmen und deren jeweiliger Stellenwert aus der aktuellen politischen Konstellation entspringt.

Gerade die gegenwärtige Unterordnung der Gleichheit unter die Freiheit als Hauptkennzeichen der Demokratie bestreitet Pierre Rosanvallon. Sein neustes Buch rückt schon im Titel die Gleichheit in den Vordergrund, gegen jeden modischen Trend: Die Gesellschaft der Gleichen. Für ihn geht es aktuell nicht vorrangig um die Krise der Demokratie, sondern um eine »Krise der Gleichheit«37.

Rosanvallon rekonstruiert diesen Zusammenhang bei Rousseau und der Französischen Revolution, wo Gleichheit noch selbstverständlich gegen jedes Privileg ins Feld geführt wurde. »Man lässt sich bei der Errichtung einer Gesellschaft von dem Grundsatz leiten, dass alle Menschen, die ihr beitreten, gleich sind. Damit ist nicht gemeint, dass alle gleich an Wuchs, an Talenten, Fleiß oder Besitztümern sind, was absurd wäre, sondern dass sie gleich an Freiheit sind«, schrieb Rabaut Saint-Étienne im Sommer 1789 in einem Aufsatz über die Grundlagen einer neuen Verfassung.38 Für die Gegenwart hält der französische Philosoph Jacques Rancière an diesem Gedanken fest: »Nach meinem Verständnis setzt die Demokratie eine Gleichheit voraus, gegenüber der sich sogar eine oligarchische Staatsform wie die unsere mehr oder weniger rechtfertigen muss. Ja, die Demokratie hat sehr wohl eine kritische Funktion: Sie ist der Keil der Gleichheit, der objektiv und subjektiv im Herrschaftskörper steckt und verhindert, dass sich Politik in bloße Polizei verwandelt.«39 Und der französische Gesellschaftstheoretiker Étienne Balibar hat für diesen unlösbaren Zusammenhang sogar den Begriff »Égaliberté«, »Gleichfreiheit«, geprägt.40

Doch Gleichheit wird zumeist als Gleichmacherei diffamiert. Tatsächlich steht sie in einem prekären Verhältnis zu Differenz, zu Unterschiedlichkeit und Individualität. »Wie kann man ähnlich und einzigartig, gleich und verschieden, gleich in der einen und ungleich in anderer Beziehung sein? Das sind die Fragen unserer Zeit. Von ihnen hängt die Zukunft der Demokratien ab«,41 formuliert Pierre Rosanvallon. Statt Gleichheit abstrakt zu denken, betont er eine dynamische und unmittelbare »Beziehungsgleichheit«. Sie ist durch drei Punkte charakterisiert: Singularität, Reziprozität, Kommunalität. Mit der Singularität anerkennt Rosanvallon die aktuelle Form in dem seit der Aufklärung andauernden Prozess der Individualisierung. Der Einzelne, die Einzelne wollen sich in ihrer Besonderheit verwirklichen. Das wird vom Neoliberalismus in Dienst genommen, in der flexibilisierten Ich-AG, aber es ist als Resultat einer historischen Entwicklung und als entsprechendes Bedürfnis nicht mehr rückgängig zu machen. Allerdings vollzieht sich die Singularität nur in der Beziehung mit anderen: in der Reziprozität, der Wechselwirkung. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Tier. Das beinahe banal wirkende Argument kann auf den verschiedensten Ebenen belegt werden. So hat der britische Paläoanthropologe Chris Stringer kürzlich darauf hingewiesen, dass sich schon die biologische Ausstattung des menschlichen Auges von derjenigen anderer Primaten unterscheidet und durch die sich klar von der Iris abhebende Pupille die soziale Interaktion erleichtert.42 Aus der Reziprozität entsteht die Kommunalität, die Gemeinschaftlichkeit. Hier trifft sich Rosanvallon mit anderen zeitgenössischen Theoretikern. Ja, »Commons« und »Common Goods«, das Gemeinsame und die Gemeingüter, sind die Schlagworte der Stunde.

Es gibt das ehrwürdige Wort von Rosa Luxemburg: »Keine Demokratie ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Demokratie.«43 Der Slogan tönt aus einer versunkenen Welt zu uns. Als ihn Rosa Luxemburg 1918 formulierte, zielte sie in zweierlei Richtungen. Gegen die Mehrheitssozialdemokratie musste der Anspruch auf den Sozialismus festgehalten werden. Gegen Lenins Bolschewiki musste die Demokratie als unverzichtbarer Bestandteil der gerechten Gesellschaft verteidigt werden.

Tatsächlich kann man auch heute die Demokratie, und mit ihr Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit, an einen ebenso ehrwürdigen wie prekären Begriff anknüpfen, wie es der französische Philosoph Jean-Luc Nancy tut: »In diesem Sinne lautet der wahre Name, den die Demokratie begehrt, der ihr über fünf Jahrhunderte am Horizont erschien und den sie hervorbrachte: Kommunismus.«44

Bei Alain Badiou äußert sich der gleiche Gedanke wie folgt: »Das Gegenteil der Demokratie – verstanden in dem Sinn, den ihr der Parlamentarismus des Kapitals während seines unendlich langsamen Untergangs gegeben hat – ist nicht der Totalitarismus und auch nicht die Diktatur –, sondern der Kommunismus. Der Kommunismus, der, mit Hegel zu reden, den beschränkten, weil leeren Formalismus der Demokratien in sich aufnimmt und überwindet.«45

Aber erstens steckt im »unendlich langsamen Untergang des Kapitals« eine bemerkenswerte hegelianische geschichtsteleologische Vorstellung, zweitens wird damit jegliche inhaltliche Bestimmung von Demokratie aufgegeben, und deshalb ist das, drittens, modische Krakeelerei.

Jenseits der leeren Kritik am leeren Formalismus gilt es, Freiheit und Gleichheit in ein produktives Verhältnis zu bringen. Welche Mitglieder einer demokratischen Gemeinschaft gelten als gleich und frei, und verfügen sie über die gleiche Freiheit? Die Konzeption der Menschenrechte etwa dehnt die Definition der Gleichheit und damit auch die Grenzen der Demokratie historisch stetig aus: allgemeines Wahlrecht für Arbeiter, für Frauen, für Ausländerinnen und Ausländer … Oder nach den politischen die sozialen und die wirtschaftlichen Rechte … Deshalb ist es laut Étienne Balibar nicht möglich, »die Forderung nach diesen Rechten auf irgendeinen im voraus definierten Bereich einzugrenzen«.46 Was weiterhin heißt: »Eine Politik der Menschenrechte geht bis an die Grenzen der Demokratie und treibt die Demokratie an ihre Grenzen, sofern sie sich nie damit begnügen kann, bürgerliche und staatsbürgerliche Rechte zu erobern oder juristisch zu garantieren, so wichtig diese Zielsetzungen auch sind. Sie muss die Menschenrechte, will sie diese in einem gegebenen historischen Augenblick erreichen, notwendig ausweiten und letztlich als Bürgerrechte erfinden (dazu gehört, sie zu konzipieren, öffentlich zu erklären und durchzusetzen).«47

Wenn die Demokratie an ihre Grenze getrieben wird, weitet sich diese Grenze aus. Entsprechend lässt sich das Modell Demokratie nach verschiedenen Themen differenzieren, die bestimmte konkrete Fragen aufwerfen. Sie machen die Themen der Kapitel 3 bis 6 dieses Buchs aus:

Wer kann am demokratischen Prozess teilnehmen: die Entstehung des allgemeinen Wahlrechts, das Ausländerstimmrecht und die soziale Partizipation von Ausländern.

Wo kann demokratisch mitbestimmt werden: die Frage der nationalen Begrenzung der Mitwirkung und einer transnationalen Staatsbürgerschaft.

Worüber kann demokratisch verhandelt werden: die Ausklammerung der Wirtschaft, die Zivilgesellschaft und die Notwendigkeit einer Wirtschaftsdemokratie.

Wie soll demokratisch verhandelt werden: die Formen der Demokratie, von der Landsgemeinde über den repräsentativen Parlamentarismus bis zur Räterepublik des Internets.

Zuvor aber kehren wir nochmals in der Schweiz ein.

Kapitel 2: Was die Schweizer Demokratie gefährdet

»Für eine Million Franken mache ich aus einem Kartoffelsack einen Bundesrat«

Geheime Verführer

Den Spruch über den Kartoffelsack und den Bundesrat soll Rudolf Farner geäußert haben, um 1960, nachdem seine Werbeagentur erstmals amerikanische PR-Methoden in der Schweiz etabliert hatte.1 Ob er ihn wirklich je gesagt hat, wollte er lange Jahre weder bestätigen noch dementieren, denn die Aussage gehörte bald zu seinem Image, und sie umschrieb auch die Macht, die man den neuen PR-Methoden, positiv oder negativ, zuschrieb. 1957 hatte der US-amerikanische Publizist Vance Packard das Buch The Hidden Persuaders veröffentlicht, das ein Jahr später unter dem Titel Die geheimen Verführer. Der Griff nach dem Unbewussten in jedermann auf Deutsch erschien und zum Sensationserfolg wurde. Packard schilderte in grellsten Tönen die neuen Methoden der sogenannten Tiefenpsychologie und konnte mit konservativem Vorbehalt das Schreckbild der kommunistischen Gehirnwäsche evozieren, aber zugleich ein ungeahntes Feld kommerzieller Verlockungen eröffnen.

Der 1917 geborene Rudolf Farner hatte 1950 die Dr. Rudolf Farner Werbeagentur und 1951 zusammen mit dem späteren Oberstdivisionär Gustav Däniker die Dr. Rudolf Farner Public Relations Agentur gegründet. Ab Mitte der 1950er-Jahre setzten sich beide Teilhaber im sogenannten Konzeptionsstreit innerhalb der Schweizer Armee für eine massive Aufrüstung der mechanisierten Truppen und der Luftwaffe sowie für die Anschaffung von Atomwaffen ein. Dazu benützten sie aggressive, negative Werbekampagnen, die gelegentlich direkt auf den Mann spielten, und setzten eigens gegründete Vereinigungen wie den Verein zur Förderung des Wehrwillens ein. Während die PR-Agentur Zeitungen und Zeitschriften Gratistexte zur Verfügung stellte, ließ die Werbeagentur bei Gelegenheit durchblicken, dass man die Schaltung von Inseraten bei einem unfreundlichen redaktionellen Umfeld überdenken müsse.

Der nonkonformistische Schweizer Schriftsteller Walter Matthias Diggelmann hat im Roman Das Verhör des Harry Wind von 1962 die Macht der Werbung und Propaganda sowie diesen Schweizer Armeestreit zum Thema gemacht. Diggelmann hatte selbst eineinhalb Jahre lang als Werbetexter im Büro Farner gearbeitet. Seiner Titelfigur verlieh er denn auch Züge des damals mächtigsten Schweizer Werbezars, er zeigt die Werbemethoden, mit denen die damals lancierten Abrüstungs- und Anti-Atomwaffen-Initiativen bekämpft und die Akzeptanz der Schweizer gegenüber Atomwaffen gesteigert werden sollten. Diggelmann nimmt auch Bezug auf Farners berühmtesten Spruch, gibt ihm aber mit einem anderen Nahrungsmittel eine hübsche zeitgenössische Pointe. Harry Wind erzählt nämlich, wie er mit Oberstkorpskommandant Sturzenegger über die geplante Aufrüstung gesprochen habe, wobei Sturzenegger gemeint habe, Atomwaffen bringe man gegenwärtig beim Volk nicht durch. Wind fährt dann fort: »Wenn Sturzenegger so etwas zu mir sagt, dann antworte ich: ›Geben Sie mir Zeit, ich will es versuchen.‹ Ich könnte aber auch sagen. ›Die Atomwaffen, die bringen wir genauso gut herein wie Bananen.‹«2 Später wiederholt er den Satz: »Ich sagte damals, ich bringe Atombomben mit derselben Leichtigkeit in die Schweiz wie Bananen.« Die einst exotischen Bananen sind dann tatsächlich in die Schweiz hereingekommen und zum Allgemeingut geworden, Atomwaffen dagegen nicht. Zwar wurden die Initiativen für ein Atomwaffenverbot dank viel Geld abgeschmettert, aber die Einführung von Atomraketen scheiterte an ökonomischen Realitäten und am Skandal um die Beschaffung der neuen Mirage-Kampfjets. Was zeigt, dass PR doch nicht allmächtig ist. Übrigens wären heute ein paar Millionen mehr nötig für einen Bundesrat. Und auch dann wäre der Erfolg nicht garantiert, wie ein Ex-Bundesrat vor ein paar Jahren erfahren musste. Was natürlich kein Argument für die PR ist. Und schon gar nicht gegen Transparenz in diesem Bereich, im Gegenteil.

Grundkurs: Wie die Schweizer Uhr politisch tickt

Das Schweizer Politsystem ist noch zu weiten Teilen auf dem Milizsystem aufgebaut, das heißt, es gibt kaum Berufspolitiker. Das hängt auch mit dem föderalistischen Staatsaufbau zusammen, in dem die kleinen Körperschaften relativ viel Kompetenzen und Autonomie besitzen. In den rund 2350 Gemeinden lohnen sich, abgesehen von größeren Städten, Vollämter kaum; und auch in den übergeordneten 26 Kantonen ist Berufspolitik nicht immer nötig – etwa in einem Kanton wie Appenzell Innerrhoden mit seinen 16 000 Einwohnerinnen und Einwohnern.

Der Föderalismus äußert sich auf nationaler Ebene im Zweikammersystem: Während die 200 Nationalräte nach Einwohnerzahl in den einzelnen Kantonen im Proporzsystem gewählt werden, stehen im Ständerat allen Kantonen (Ständen), unabhängig von ihrer Größe, zwei großmehrheitlich im Majorz gewählte Sitze zu, beziehungsweise in den sechs – offiziell nicht mehr als solche bezeichneten – Halbkantonen je einer. Entscheide benötigen Mehrheiten in beiden Parlamentskammern, was das Gewicht der kleinen Kantone überproportional verstärkt.

Auf Bundesebene wird die Schweiz im siebenköpfigen Bundesrat seit 1943 – ja, seit 1943 – in einer Koalition regiert, die aus den vier Parteien Freisinnig-Demokratische Partei (FDP), Christlichdemokratische Volkspartei (CVP), Sozialdemokratische Partei (SPS) und Schweizerische Volkspartei (SVP), sowie seit 2007 der Bürgerlich-Demokratischen Partei (BDP), einer Abspaltung der SVP, besteht. Diese Koalition ist allerdings angesichts der aggressiven Politik der rechts-chauvinistischen SVP immer mehr gefährdet; im Parlament sowie auf kantonaler Ebene schmieden die Regierungsparteien jeweils wechselnde Allianzen. Größte Nicht-Regierungsparteien sind die Grünen (GPS) sowie die Grünliberalen (GLP).

Zu diesem repräsentativen Parlamentssystem treten die direktdemokratischen Instrumente des Referendums und der Volksinitiative, und zwar sowohl auf kantonaler wie auf Bundesebene. Dem obligatorischen Referendum auf Bundesebene unterstellt sind alle Verfassungsänderungen sowie Beitritte zu supranationalen Organisationen; fakultativ kann ein Referendum von 50 000 Stimmberechtigten zu allen Gesetzesentwürfen gefordert werden; Volksinitiativen können von 100 000 Stimmberechtigten zu allen Themen eingebracht werden und brauchen in der Abstimmung sowohl das Volks- wie das sogenannte Ständemehr.

Verschwiegene Interessenvertreter

Gerade angesichts des Milizsystems spielt das Lobbying in der Schweizer Politik eine zunehmend wichtige Rolle. Der direkteste Ort dafür ist das Bundeshaus. Jede Parlamentarierin, jeder Parlamentarier kann pro Session zwei Zutrittsberechtigte zu den beiden Räten benennen. Anfang 2014 hatten 409 Personen eine solche Zutrittsberechtigung erhalten. Zuweilen werden sie als persönliche Mitarbeiter deklariert, zuweilen als Gäste. Niemand muss seine politischen oder kommerziellen Verbindungen offenlegen. Die Neue Zürcher Zeitung hat die durch Mandate und Geschäftsbeziehungen belegbaren Interessen ausgewertet.3 54 Zutrittsberechtigte, also über 13 Prozent, gehörten der Consulting- und PR-Branche an. Ihre spezifischen Arbeitsgebiete lassen sich nicht eindeutig aufschlüsseln, dürften sich aber stark auf die im Folgenden genannten wichtigsten Wirtschaftsbranchen konzentrieren. Als spezifische Interessengruppe sind am häufigsten Bauwirtschaft und Immobilien mit 44 Badgeträgern (rund 11 Prozent) vertreten, danach folgen Wirtschaftsdachverbände (37) sowie Industrie und Energie (37). Dagegen stehen auf grüner, linker Seite 35 Umweltvertreter und 22 Gewerkschafter; auch unter »Hilfswerke, Nonprofit und Soziales« (35) findet sich der eine oder die andere linke Interessenvertreterin. Die ungleichen Machtverhältnisse zeigen sich beispielsweise auch darin, dass die Landwirtschaft einen Lobbyisten mehr als die Gewerkschaften aufweist.

Während manche ihre Interessenbindung offenlegen, agieren andere eher verschwiegen. Von den Gewerkschaftsvertretern haben 21 von 22 ihre Bindung öffentlich deklariert; umgekehrt war es bei denjenigen im Bereich Altersvorsorge nur gerade einer von 27 – die so gewichtigen Pensionskassen, Versicherungen und Vertreter der Gesundheitsindustrie operieren also lieber im Halbschatten. Auch die Immobilienbranche ist ziemlich publizitätsscheu: Nur 15 von 44 Vertretern geben ihre Interessenbindung bekannt. Im Übrigen verteilt die SVP mehr Zutrittsberechtigungen an Wirtschaftsvertreter als FDP und CVP zusammen. Das jetzige System bevorzugt offensichtlich diejenigen, die schon Macht haben.

Minimalforderung bezüglich der Lobbyarbeit bleibt die Transparenz. Erstaunlicherweise sind die Lobbyisten dem Anliegen gegenüber offener eingestellt als die Parteienvertreter. So scheiterte im März 2012 eine parlamentarische Initiative des Neuenburger Sozialdemokraten Didier Berberat im Ständerat. Dafür hat mittlerweile die Schweizerische Public-Affairs-Gesellschaft (SPAG), der vier Fünftel der professionellen Lobbyisten angehören, ihre Standesregeln verschärft: Künftig müssen alle Mitglieder ihre Interessenbindungen offenlegen. So ermutigt, hat Didier Berberat im April 2014 eine neue Interpellation eingereicht, in der er den Ständerat auffordert, sich von den SPAG-Regeln inspirieren zu lassen und eine entsprechende Vorschrift zu erlassen, damit auch diejenigen 20 Prozent der Lobbyisten außerhalb des Verbands einer Kontrolle unterständen.

Öfter sind die Parlamentarier allerdings selbst Lobbyisten. So üben Ständeräte im Durchschnitt 6,9 Verwaltungsratsmandate aus, Nationalräte deren 4. Transparency International Schweiz, die sich als NGO auf Fragen der Korruption spezialisiert hat, vermutet, viele der Verwaltungsratsmandate könnten aus Zeitmangel nicht seriös wahrgenommen werden und seien vor allem aus finanziellen Gründen übernommen worden, was die entsprechenden Parlamentarier noch anfälliger dafür mache, die Interessen ihrer Firma im Parlament zu vertreten.4

Mündige Bürgerinnen und Bürger

Öffentlichkeit ist ein wesentliches Moment in jenem Prozess, in dem sich die Gestalt des mündigen Bürgers, und später auch der mündigen Bürgerin, bildet. Das gilt sowohl für die Gesellschaft als Ganzes wie für die einzelnen Gesellschaftsmitglieder. Historisch gesehen, war der Aufstieg des Bürgertums untrennbar mit der Entstehung öffentlicher Diskussionsforen wie des Kaffeehauses und der Presse verknüpft. In modernen westlichen Gesellschaften bilden die Medien nach wie vor das Fundament für eine informierte politische Diskussion. Als »vierte Macht im Staat« wird ihnen zugleich Kontrollfunktion zugeschrieben. Die Medien tragen so zur Mündigkeit des Citoyen bei und sind ihrerseits auf mündige Konsumenten angewiesen. So weit die Fiktion. Die reale Meinungsbildung ist längst – und war immer schon – durch die herrschende Medienlandschaft verzerrt. Man sollte die Medien nicht über-, aber auch nicht unterschätzen. Sie sind ein wichtiges Element eines gesellschaftlichen Klimas, das seinerseits Haltungen und Handlungen prägt.

Es ist ein alter Trick rechtspopulistischer Bewegungen, eine Verschwörung der Öffentlichkeit gegen sie zu behaupten und den angeblichen Linksdrall der Medien anzugreifen. SVP-Chef Christoph Blocher und seine Kohorten betreiben dieses Spiel seit 1992. Dabei verfügt die SVP mittlerweile stärker als alle anderen Parteien über eigene Medien beziehungsweise kann auf Medien zählen, die klar ihre Position vertreten, von Teleblocher über die regelmäßig erscheinenden SVP-Nachrichten bis zur Basler Zeitung und der Weltwoche.