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Stefan Howald

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Beschreibung

George Orwell (1903-1950) gehört zu den politisch interessantesten und einflussreichsten europäischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Sein Roman «1984», die Darstellung einer vom Großen Bruder überwachten totalitären Gesellschaft, ist zur Schreckensvision und zugleich zum Sinnbild einer ganzen Epoche geworden; seine Fabel «Animal Farm» gilt als eine der eindringlichsten Abrechnungen mit den pervertierten Utopien unserer Zeit. Orwell war ein Schriftsteller, der jeglichen Machtmissbrauch der Intellektuellen scharf kritisierte. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

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Stefan Howald

George Orwell

 

 

 

Über dieses Buch

George Orwell (1903–1950) gehört zu den politisch interessantesten und einflussreichsten europäischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Sein Roman «1984», die Darstellung einer vom Großen Bruder überwachten totalitären Gesellschaft, ist zur Schreckensvision und zugleich zum Sinnbild einer ganzen Epoche geworden; seine Fabel «Animal Farm» gilt als eine der eindringlichsten Abrechnungen mit den pervertierten Utopien unserer Zeit. Orwell war ein Schriftsteller, der jeglichen Machtmissbrauch der Intellektuellen scharf kritisierte.

 

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Vita

Stefan Howald, geboren 1953, Studium der Germanistik und Geschichte in Zürich und Berlin, Dissertation 1983 zum Romanwerk Robert Musils. Arbeitete längere Zeit als Redaktor beim Zürcher Tages-Anzeiger und bei der WOZ – Die Wochenzeitung, dazwischen als freier Journalist und Publizist, unter anderem in London. Übersetzte mehrere Krimis, Sachbücher sowie die Romane des schottischen Schriftstellers Stuart Hood aus dem Englischen; zudem übersetzte er und edierte (zusammen mit Bernhard Wiebel) erstmals alle originalen Münchhausen-Erzählungen von Rudolf Erich Raspe aus dem Englischen (Stroemfeld 2015). Publikationen: Peter Weiss zur Einführung (Junius 1994), Karl Viktor von Bonstetten. Leben und Werk (Stroemfeld 1997), Eric Ambler. Biografie (Diogenes 2002), Insular Denken. Grossbritannien und die Schweiz (NZZ Verlag 2004), Für die Freiheit des Wortes. 100 Jahre religiöser Sozialismus in der Schweiz (Mitautor, TVZ 2009), Walter Jonas. Künstler. Denker. Urbanist (Scheidegger & Spiess 2011), Volkes Wille. Warum wir mehr Demokratie brauchen (Rotpunktverlag 2014), Links und bündig. WOZ – eine alternative Mediengeschichte (Rotpunktverlag 2018).

Impressum

rowohlts monographien

begründet von Kurt Kusenberg

herausgegeben von Uwe Naumann

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2021

Copyright © 1997 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Für das E-Book wurde der Text erweitert sowie die Bibliographie aktualisiert, Stand: Januar 2021

Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten

Redaktionsassistenz Katrin Finkemeier

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung any.way, Hamburg

Coverabbildung NPG; mit freundlicher Genehmigung des Felix-H.-Man-Nachlasses (George Orwell. Foto von Felix H. Man, um 1947. London, National Portrait Gallery)

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00992-9

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

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Einleitung

Der Name Orwell steht im deutschsprachigen Raum als Synonym für die Warnung vor einer totalen Überwachungsgesellschaft, wie sie Orwell in seinen Büchern Farm der Tiere und Neunzehnvierundachtzig darstellte. Schlagworte vom Großen Bruder, einer umfassenden Videoüberwachung und der Pervertierung von Denken und Sprache sind geläufig in der politischen Auseinandersetzung.

Diese Wirkung hat eine Geschichte. Nach dem Erscheinen von Neunzehnvierundachtzig im Jahre 1949 diente George Orwell für zwei Jahrzehnte als Kronzeuge gegen die totalitäre Gefahr, die vor allem mit dem Kommunismus identifiziert wurde. In den siebziger Jahren trat seine Technologiekritik in den Vordergrund und erreichte im Hinblick auf das Jahr 1984, den Titel seines Buches, ihren Höhepunkt. Seither ist Orwell wieder ins kollektive Unbewusste gesunken; seine pessimistische Vision bleibt aber, in einem neuen Zeitalter der Katastrophen, jederzeit aktualisierbar. Dabei kann das Schreckbild des Großen Bruders ganz unterschiedlichen Bedrohungen angeheftet werden, vom Satellitenfernsehen bis zu Saddam Hussein.

Solche Interpretationen reduzieren Orwell auf dessen Spätwerk und übersehen andere, teilweise ebenso interessante Werke. Erst Anfang der achtziger Jahre wurden beispielsweise die im angelsächsischen Raum als klassisch anerkannte Sozialreportage Der Weg nach Wigan Pier und die ebenso klassische Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus, Tage in Burma, ins Deutsche übersetzt. Seine journalistische Arbeit, die den Reichtum und die Attraktivität seines Denkens am schlüssigsten dokumentiert, ist zu weiten Teilen immer noch nicht auf Deutsch erhältlich.

Kurz vor seinem frühen Tod hat sich George Orwell ausdrücklich verbeten, dass je eine Biographie über ihn verfasst werde. Statt der Person sollte die Sache, die er in seinen Werken vertreten hatte, in Erinnerung bleiben. Trotz dieses Bilderverbotes ist es gerade die Person, die immer wieder fasziniert hat. Sein Asketismus, sein Beharren auf einer eigenständigen Position zwischen allen politischen Stühlen haben in England dazu geführt, ihn zur Figur des heiligen Sankt George zu machen, der unerschrocken gegen Lügen aller Art zu Felde zieht. Auch das ist freilich eine Vereinseitigung. Im Übrigen ist bereits der Name George Orwell, auf den sich dieses Bild bezieht, ein willkürlich gewähltes Pseudonym. Der Namenswechsel war für den als Eric Blair geborenen Schriftsteller eines der Themen seines Lebens: die Erprobung verschiedener Rollen, die Erfindung einer neuen Identität.

Orwell war ein Intellektueller, der den Intellektuellen Machtmissbrauch vorwarf; er verstand sich als Linker, der zum schärfsten Kritiker der Linken wurde. Als seine prägende Erfahrung begriff er den Totalitarismus, und er hat seinen Mitgenossen vorgeworfen: Die Sünde beinahe aller Linken von 1933 an war es, daß sie antifaschistisch zu sein suchten, ohne antitotalitär zu sein.[1] In einer politisch polarisierten Zeit wollte er sich dem Zwang zur Polarität nicht fügen. Der dritte Weg sollte ein Weg moralischer Verantwortung und menschlicher Anständigkeit sein. Das ging nicht immer ohne Widersprüche ab. Sein libertärer Radikalismus nahm zuweilen konservative Züge an. Manchmal fiel er seinen eigenen Vorsätzen in den Rücken. Der Mensch war nachgiebiger als der heftige Polemiker, der zur Toleranz aufrief. Noch in seinen Irrtümern beeindrucken freilich Aufrichtigkeit und Offenheit.

Diese einführende Biographie folgt der Konstruktion des George Orwell auch im Gebrauch der Namen. Während mit Bezug auf das frühe Leben von Eric Blair gesprochen wird, tritt mit den ersten literarischen Werken die Kunstfigur George Orwell in den Vordergrund, bis diese ganz überhandnimmt. Im Rückblick wird immer jener Name gebraucht, unter dem Orwell in die Literaturgeschichte eingegangen ist.

Orwell war selbst einer der unerbittlichsten Analytiker seiner persönlichen Entwicklung. Manche biographischen Details zur ersten Lebenshälfte sind nur aus seinen eigenen Schriften bekannt. Selbst die autobiographisch angelegten Texte verfolgen einen bestimmten Zweck, sind also kritisch zu lesen, nicht nur als historische Dokumente, sondern immer auch als Symptome einer späteren Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte.

Die Freuden der Kindheit

Ich war das mittlere von drei Kindern, von meinen beiden Geschwistern trennten mich jeweils fünf Jahre, und meinen Vater bekam ich vor meinem achten Lebensjahr nur selten zu Gesicht. Aus diesen und andern Gründen war ich recht einsam und entwickelte bald höchst unangenehme Eigentümlichkeiten, die mich während meiner ganzen Schulzeit unbeliebt machten. Ich hatte die Gewohnheit, die man oft bei sich selbst überlassenen Kindern findet, mir Geschichten auszudenken und mich mit imaginären Personen zu unterhalten, und ich glaube, daß meine literarischen Versuche von Anfang an von dem Gefühl begleitet waren, von den andern getrennt und nicht genügend anerkannt zu sein.[2]

So hat George Orwell 1946 im Nachhinein seine frühe Jugend beschrieben. Die Charakterisierung des jungen Eric Blair ist eine Stilisierung, aber sie beschreibt reale Konstellationen und Probleme. Die Einsamkeit, das Außenseitertum, die mangelnde Anerkennung wurden wiederkehrende Themen von Orwells Leben wie seiner literarischen Kunst; und auch Literatur als Kompensationsform beschäftigte ihn immer wieder. Das individuelle Problem hat freilich soziale Bedeutung. Denn die Abwesenheit des Vaters lag in dessen Arbeit als Kolonialbeamter begründet; und die mangelnde Anerkennung weist nicht nur auf ein persönliches Zugehörigkeitsproblem hin, sondern stellt auch die Frage nach der gesellschaftlichen Identität, die Eric Blairs Jugend vermittelte.

Beide Eltern stammten aus Kolonialfamilien, allerdings verschiedener Art: Die Angehörigen der einen Linie waren als Beamte und Erzieher tätig, die der anderen als Händler und Unternehmer. Der Großvater väterlicherseits hatte als Pfarrer in Indien und Tasmanien gewirkt, auch kurz in Südafrika gelebt; 1854 war er nach England zurückgekehrt und Pfarrer in Dorset geworden. Sein Sohn Richard, Orwells Vater, war ihm in den Fernen Osten gefolgt, blieb dort ein mittelhoher Beamter, der nie den großen Aufstieg schaffte. Aus der Familie der Mutter, Limouzin, stammten erfolgreiche Händler, doch ging ein beträchtliches Vermögen noch ihrem Vater verloren.

Als sich Richard Walmesley Blair 1875 mit achtzehn Jahren entschied, in den Kolonialdienst zu treten, stand England vor der Aufgabe, sein Empire zu konsolidieren. Blair schaffte wegen mangelnder gesellschaftlicher Protektion nur den Eintritt in das wenig angesehene Opium-Department. Das rangierte sozial gesehen am untersten Ende der Kolonialdienste, war aber wirtschaftlich umso wichtiger. 1842 hatte England im ‹Opium-Krieg› von China die Abtretung Hongkongs sowie die Öffnung von fünf weiteren Häfen erzwungen, in denen vor allem Opium aus Burma und Indien umgeschlagen wurde. 1860 wurden im ‹Lorcha-Krieg› weitere Zugeständnisse erpresst. Seither bildete Opium einen Stützpfeiler der britischen Überseewirtschaft; ein Sechstel der Einnahmen in Britisch-Indien stammte aus dem Drogenhandel. Die Agenten des Opium-Departments hatten die Herstellung und den Versand der Droge zu überwachen. Richard Blair diente vorerst in Indien, später in Nieder-Burma. 1886 wurde Ober-Burma von englischen Truppen erobert und zu Britisch-Indien geschlagen. Das Land war nicht nur ökonomisch wichtig für die Rohstoffe Öl und Opium, sondern auch als Grenzterrain zu China, je nach Bedarf Pufferzone oder Aufmarschgebiet.

Richard Blairs Arbeit um die Jahrhundertwende fiel mit dem Höhepunkt des britischen Imperialismus zusammen. Der Burenkrieg von 1902 brachte einen ersten Rückschlag, auch einen vorsichtigen Umschwung in der öffentlichen Meinung zu Hause; in Indien entstand die erste Unabhängigkeitsbewegung. Richard Blair schien von solchen Entwicklungen kaum berührt. Er war der pflichtgetreue Beamte par excellence, der sich auch durch zahlreiche Versetzungen quer durch den indischen Subkontinent und nur spärliche Beförderungen nicht davon abhalten ließ, seine Aufgaben zu erfüllen.

Relativ spät, mit 39 Jahren, heiratete er 1896 die einundzwanzigjährige Ida Mabel Limouzin. Sie war in Penge bei London geboren, ihre Mutter Engländerin, der Vater Franzose; doch sie hatte die meiste Zeit ihres Lebens im burmesischen Moulmein zugebracht. Dort führte ihr Vater Frank Limouzin die von seinem Vorfahren gegründete Teakholz- und Schiffbaufirma, verspielte dann aber einen Teil des Familienvermögens durch Reisspekulationen. Die Heirat zwischen Richard und Ida war eine Vernunftehe, kurzfristig bei einem Urlaub in Moulmein angebahnt und beschlossen, wie es den Kolonialbeamten bei ihren Arbeitsbedingungen und der beschränkten Auswahl an sozial akzeptablen Kandidatinnen nicht anders möglich war. Dennoch scheint die Verbindung überraschend liberal und erfolgreich funktioniert zu haben; Ida Blair machte die vielen Ortswechsel ihres Gatten vorerst mit, bewahrte sich dabei aber ihre Eigenständigkeit. Nachdem 1898 die Tochter Marjorie zur Welt gekommen war, wurde am 25. Juni 1903 in Motihari in Bihar (Indien) Eric Arthur Blair geboren. Ein Jahr später kehrte die Mutter mit ihren beiden Kindern nach England zurück, nach Henley-on-Thames in Oxfordshire, Ort der bekannten Ruderregatta. Es war ein weitgehend männerloser Haushalt, der da geführt wurde; Richard Blair gesellte sich ein einziges Mal, im Sommer 1907, für drei Monate zu seiner Familie, bevor er sich Ende 1911 vorzeitig pensionieren ließ. Die Mutter lebte ohne ihn ein durchaus angeregtes Leben, war kulturell interessiert, verkehrte in einem Kreis enger Freundinnen.

Eric Blairs Altersabstand zu seiner älteren Schwester Marjorie und der 1908 geborenen jüngeren Avril führte, wie er es später beschrieb, zu einem Gefühl der Einsamkeit. Dazu scheint in diesem Frauenhaushalt eine gewisse Abneigung Männern gegenüber gepflegt worden zu sein; Ida Blair hegte Sympathien für die Suffragettenbewegung und vermittelte ihrem Sohn das Gefühl, Männer seien vor allem eine irritierende Störung, die sich freilich ignorieren lasse. Das sollte zu Eric Blairs lebenslanger Unsicherheit Frauen gegenüber beitragen. Aber es scheint auch Verunsicherungen bezüglich des sozialen Status gegeben zu haben. In der Erinnerung verschärft hat Orwell mehrere Vorfälle überliefert, in denen ihm seine soziale Überlegenheit eingebläut wurde. Ich erinnere mich an die Arbeiter, die das neue Haus nebenan bauten, die mich mit nassem Mörtel spielen ließen und von denen ich zum erstenmal das Wort «bugger» hörte; und an den Klempner weiter oben an der Straße, mit dessen Kindern ich Vogelnester ausnehmen ging. Aber kurz darauf wurde mir verboten, mit den Klempnerskindern zu spielen; sie waren «gewöhnlich», und ich sollte mich von ihnen fernhalten.[3] In späteren autobiographischen Aufzeichnungen aus den vierziger Jahren hat er die Episode wiederholt, aber zugleich ein sexuelles Motiv hinzugefügt: Mit den Klempnerskindern scheint er nicht nur Vogelnester ausgenommen, sondern auch Doktor gespielt zu haben. Sexuelle und soziale Bedrohung fielen in den ‹Schmuddelkindern› zusammen.

Ich wurde in das hineingeboren, was man den unteren oberen Mittelstand nennen könnte[4], begann Orwell später eine seiner glänzendsten Abrechnungen mit der englischen Klassengesellschaft; und eines der Hauptcharakteristika dieses unteren oberen Mittelstandes war die ständige Sorge ums Geld. Dabei ging es nicht ums Überleben. Der Alltag stellte finanziell gesehen keine größeren Probleme. Richard Blair verdiente im Jahr 650 Pfund, nach seiner Pensionierung betrug die jährliche Rente 438 Pfund; und dies zu einer Zeit, als ein Facharbeiter etwa 100 Pfund, ein Betriebsleiter 200 und ein Akademiker 330 Pfund verdiente.[5] Die Familie Blair war durchaus gut situiert. Zum Problem wurde Geld erst, wenn es mit bestimmten sozialen Ansprüchen in Konflikt geriet.

Dies geschah bei der Einschulung des jungen Eric 1911. Für drei Jahre hatte er eine Kirchenschule besucht, mit gutem Erfolg, er hatte früh lesen gelernt. Doch jetzt ging es um die Vorbereitung auf ein späteres College. Man entschied, ihn in der relativ neuen Privatschule St. Cyprian’s in Eastbourne (Sussex) unterzubringen, die bereits gute Resultate im Drill ihrer Absolventen für höhere Aufgaben vorweisen konnte. Das Schulgeld betrug 180 Pfund pro Jahr; das wären etwa 40 Prozent der Rente des Vaters gewesen, der bereits seine Pensionierung plante. Die Aufnahme des jungen Eric war deshalb nur möglich, weil die Schulleiter das Schulgeld aufgrund der vielversprechenden Leistungen in der Klosterschule auf die Hälfte reduzierten. Wiederum viel später hat Orwell schonungslos mit dieser Schule abgerechnet, in einem Text, der juristisch als so heikel empfunden wurde, dass er erst Jahre nach seinem Tod veröffentlicht wurde. Die Freuden der Kindheit, Orwells Bericht über die Vorbereitungsschule, enthielt zumeist Erinnerungen des Abscheus. Das überfüllte, unterernährte, dreckige Leben, das wir führten, war abscheulich.[6]

Solche harsche Kritik zeitigte bei der späteren Veröffentlichung eine Kontroverse mit anderen Absolventen der Schule, die dem Essay Ungenauigkeiten und Verzerrungen vorwarfen. Doch Orwells Text ist keine autobiographische Beschreibung der eigenen Erfahrungen, obwohl er als solcher auftritt; er ist vielmehr eine Analyse der Institution Privatschule, die mit Beispielen arbeitet, welche, autobiographisch nicht immer ganz korrekt, auf die eigene Person übertragen werden. Zugleich ist er eine weitere Analyse der sozialen Schicht des unteren oberen Mittelstands. Als Institutionenanalyse ist der Text weitgehend zutreffend. Orwell strich die soziale Funktion des Instituts heraus. St. Cyprian’s war eine teure und snobistische Schule, die im Begriff war, noch snobistischer und vermutlich noch teurer zu werden.[7] Daraus ergab sich eine durchgängige soziale Abstufung, im Auftreten der Schüler wie in deren Behandlung durch Lehrer und Schulleitung. Die reichen Jungs kriegten mitten im Vormittag Milch und Kekse, sie hatten ein- oder zweimal in der Woche Reitunterricht, Flip [die Schulleiterin] bemutterte sie und nannte sie bei ihren Vornamen, und vor allem wurden sie niemals geschlagen.[8] Die Ideologie der Schule war allerdings widersprüchlich: Der als ehrenhaft angesehene Asketismus des englischen Imperialismus traf auf den sozialen Snobismus. Dabei setzte sich eines durch, die Herrschaft des Geldes.

Orwell stilisierte sich selbst als Sohn von Eltern, die diese Schule eigentlich gar nicht zu finanzieren vermochten, und beschrieb die demütigende Position, in die er dadurch geriet. Da war auch das wöchentliche Taschengeld, das wir in Süßigkeiten bezogen, welche Flip von einem großen Tisch austeilte. Die Millionärssöhne bekamen jede Woche sixpence, aber die übliche Summe betrug threepence. Ich und ein oder zwei andere kriegten bloß twopence. Meine Eltern hatten nichts Entsprechendes verfügt, und die Einsparung eines einzigen Pennies pro Woche brachte ihnen nichts ein: Es ging bloß um eine Frage des Status. Noch schlimmer war die Sache mit den Geburtstagskuchen. Es war üblich, daß jeder Junge an seinem Geburtstag einen großen Kuchen mit Zuckerguß und Kerzen kriegte, der während der Teepause an alle verteilt wurde. Er wurde routinemäßig bestellt und auf die Rechnung der Eltern gesetzt. Ich kriegte niemals einen solchen Kuchen, obwohl meine Eltern dafür gerne bezahlt hätten. Von Jahr zu Jahr, während ich nie zu fragen wagte, hoffte ich verzweifelt, daß ich diesmal einen Kuchen kriegen würde. Ein- oder zweimal behauptete ich sogar meinen Kollegen gegenüber voreilig, daß es diesmal einen Kuchen gebe. Dann war es Zeit für den Tee, und kein Kuchen war zu sehen, was mich nicht gerade beliebter machte.[9]

Das Motiv des Außenseiters verdeutlichte er in einer weiteren Anekdote. Der junge Eric, schwach, unbeliebt, wurde von einem stärkeren Jungen lange gequält; da ging er eines Tages kurz vor Ende einer Pause mit freundlichem Gesicht auf diesen zu, versetzte ihm einen unvermuteten Schlag ins Gesicht und weigerte sich nachher, zum Revanchekampf anzutreten, worauf die Quälerei aufhörte. Im Nachhinein sah Orwell darin die Lehre enthalten, dass die Schwachen in einer Welt, die von Starken dominiert wird, sich eigene Regeln schaffen müssen, um bestehen zu können. Diese Einsicht in eine notwendige Widerborstigkeit der kleinen Leute beurteilte er allerdings selbst als eine nachträgliche Interpretation, die ihm damals nicht möglich gewesen sei. Ich lebte in einer Welt von Jungen, gierigen Tieren, die nichts hinterfragten, das Gesetz des Stärkeren fraglos annahmen und ihre eigenen Demütigungen rächten, indem sie sie an jemanden weitergaben, der kleiner war als sie.[10] Übrigens hat Orwell seine Schulerfahrung nicht immer gleich negativ beurteilt. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sollte er beispielsweise plötzlich die militärische Erziehung, die schon in St. Cyprian’s eingesetzt hatte und die er lange verabscheute, positiver sehen.

Der junge Eric Blair war in dieser Schule nicht sehr glücklich; aber er war auch kein gequälter Märtyrer. Glücklich war er in den Ferien. Da ging er an die Themse zum Fischen, und er machte die ersten Jugendbekanntschaften, vor allem mit den Kindern der Nachbarsfamilie Buddicom: Jacintha, Guiny und Prosper. Im späteren Roman Auftauchen, um Luft zu holen hat er solche Erfahrungen auf dessen Hauptfigur und Ich-Erzähler übertragen. Aber wenn ich jetzt auf meine Jugendzeit zwischen acht und fünfzehn zurückblicke, scheinen die Tage nur mit Angeln ausgefüllt gewesen zu sein. Jede Einzelheit habe ich noch im Gedächtnis. Ich erinnere mich an bestimmte Tage und an einzelne Fische, und es gibt auch keine Viehtränke oder kein Stauwasser, die ich nicht sofort, wenn ich die Augen schließe, vor mir sehe.[11] Daraus entsteht ein durchaus nostalgisch verklärtes Bild der englischen Landschaft. Die stillen Sommerabende, das leise Rauschen am Wehr, die Ringe auf dem Wasser, wenn ein Fisch hochkam, die Mücken, die einen beinah auffraßen, und die Schwärme von Weißfischen, die um die Angel kreisten und doch nie anbissen.[12] Solche Momente des Glücks werden der Moderne der dreißiger Jahre entgegengesetzt, kaum gemildert durch das ironische Licht, in welches die Romanfigur getaucht ist. Weil ich meine Kindheit im Grund eben doch wehmütig betrachte – weniger meine eigene Kindheit als die Zeit, in der ich aufwuchs und die jetzt wohl gerade endgültig versinkt. Und das Angeln ist typisch für jene Zeit, denn sobald man ans Angeln denkt, fallen einem nur noch Sachen ein, die mit der modernen Welt nichts zu tun haben. Schon die Vorstellung, daß einer einen ganzen Tag lang unter einer Weide an einem stillen Teich sitzt – ja, daß er diesen stillen Teich überhaupt findet – gehört der Zeit vor dem Weltkrieg an, einer Zeit ohne Radio, ohne Flugzeuge, ohne Hitler. Sogar in den Namen der gewöhnlichsten Fische liegt so etwas wie Frieden: Rotauge, Rotflosse, Weißfisch, Silberling, Barbe, Brassen, Gründling, Hecht, Döbel, Karpfen, Schleie. Es sind solide Namen. Die Menschen, die sie geschaffen haben, wußten nichts von Maschinengewehren, sie lebten nicht in der Angst vor der Kündigung und verbrachten ihr Leben nicht mit Aspirinschlucken, sie gingen nicht in Filme und brauchten sich nicht zu überlegen, wie sie dem Konzentrationslager entrinnen könnten.[13]

Anfang 1912 war der Vater, pensioniert, aus Indien zurückgekehrt; es machte wenig Unterschied im Blair’schen Haushalt. Orwell sollte bis zum Tod seines Vaters nie sehr vertraut mit diesem werden; aber Richard Blair scheint ein durchaus verträglicher Charakter gewesen zu sein, zurückhaltend und überraschend wenig autoritär, eher ein wenig resigniert angesichts seiner bescheiden auskömmlichen Stellung im Leben.

Zweifellos hatte der junge Eric Blair, wie er es später beschreiben sollte, schon früh das Bedürfnis, sich literarisch auszudrücken. Doch das verließ die Bahnen des Üblichen vorerst nicht. Er lieferte routinierte Gelegenheitsverse zu Familienanlässen und erste zeitgebundene Veröffentlichungen in Lokalzeitungen: patriotische Gedichte zum Kriegsausbruch 1914 und zum Tod von Feldmarschall Kitchener 1916, wie sie damals gängig waren. Zwar gab es höhere Ansprüche, wie er selbst bekannte. Ich schrieb mit vierzehn in etwa einer Woche ein ganzes Theaterstück in Versen, in Anlehnung an Aristophanes, und war an der Herausgabe von Schülerzeitungen beteiligt, die teils gedruckt, teils als Manuskript erschienen. […] Aber gleichzeitig mit all dem führte ich fünfzehn Jahre oder länger eine literarische Vorübung ganz anderer Art durch: es war eine Konzeption einer fortlaufenden «Geschichte» über mich selbst, eine Art Tagebuch, das nur in meinem Kopf existierte.[14] Vor allem mit der zwei Jahre älteren Jacintha Buddicom teilte er ein intensives Interesse an Literatur. Überliefert ist aus Erics Jugendproduktion abgesehen von den beiden Zeitungsgedichten und ein paar Beiträgen in Schülerzeitungen nichts weiter; Orwell selbst und die Zeit haben radikal damit aufgeräumt.

Der Erste Weltkrieg schlug bei besonderen Gelegenheiten als Patriotismus in die Schule zurück, zudem war der Vater als Reserveoffizier eingerückt; aber insgesamt blieb Eric Blair davon weitgehend unberührt. In den letzten zwei Jahren in St. Cyprian’s, 1915 und 1916, strengte er sich beim Lernen mehr an, erreichte schließlich einen Ersatzplatz für ein Stipendium in Eton. Da er sich zugleich für einen Platz am weniger bekannten Wellington College beworben hatte, verbrachte er das Frühjahrssemester 1917 dort und rückte dann im Mai 1917, als ein Platz frei wurde, als sogenannter King’s Scholar nach Eton ein. Man kann sich Orwells späterem Urteil anschließen, dass die Jahre in Eton, aufs Ganze gesehen, weniger prägend waren als die früheren Schuljahre. Meine Schulbildung erhielt ich teilweise in Eton, von 1917–21, da ich das Glück hatte, ein Stipendium zu bekommen; aber ich arbeitete dort nicht und lernte sehr wenig, und ich habe nicht das Gefühl, daß Eton einen besonders formenden Einfluß auf mein Leben gehabt hat.[15]

Nach der Anspannung in St. Cyprian’s hatte er jeglichen schulischen Ehrgeiz aufgegeben und landete leistungsmäßig immer im untersten Drittel aller Schüler seines Jahrgangs. Das Bild vollkommenen Desinteresses, das er später entwarf, stimmt allerdings nicht ganz. So entwickelte er beim berühmten «Wall Game», dem eigentümlichen Fußballspiel in Eton, in seinem zweiten Schuljahr ungewöhnlichen Ehrgeiz und wurde in den geheiligten Protokollbüchern der Schule mehrfach lobend erwähnt. Die Anstrengung für ein halbes Jahr schien ihm freilich zu genügen, danach trieb er wieder in die Mittelmäßigkeit ab. Er fiel auch nicht sonderlich durch außerschulische Aktivitäten auf. Zwar hatte er regen Kontakt mit Cyril Connolly, dem späteren bedeutenden Literaten. Die beiden lasen viel gemeinsam, vor allem zeitgenössische Literatur, die damals in Eton misstrauisch betrachtet wurde. Manche Lektüre von H.G. Wells und anderen wirkte untergründig bis in die letzten Werke von Orwell nach. Es gab romantische Verliebtheiten; doch Jacintha Buddicom las die ihr gewidmeten schwärmerischen Gedichte nüchtern urteilend auf Versmaß und passende Wortwahl hin. Es gab, wiederum, in Schulzeitschriften ein wenig Spott und Satire auf den Schulbetrieb, auch bei Kriegsende ungebärdige Demonstrationen gegen den patriotischen Pomp.

Insgesamt entwarf sich Eric Blair als Außenseiter, aber er wirkte eher einzelgängerisch und ungesellig denn rebellisch. 1920 konnte er einem Freund immerhin von seinem ersten Abenteuer als Amateurtramp berichten[16]. Als er bei einem Ausflug einen Zug verpasste, musste er im Freien übernachten. Auf dem Feldrain bot mir ein großer Baum Schutz, die Büsche verdeckten mich, aber es war kaum auszuhalten vor Kälte. Ich hatte keine Decke, meine Mütze war mein Kissen, und ich lag da «gehüllt in den Soldatenmantel» (den zusammengerollten Regenschutz). So döste & zitterte ich bis ca. 1 h, dann brachte ich meine Wickelgamaschen wieder in Ordnung & kriegte es fertig, den ersten Zug, der um 4.20 ging, um eine Stunde zu verschlafen & mußte bis 7.45 auf den nächsten warten. Beim Aufwachen klapperten mir die Zähne noch immer, und nach meiner Ankunft in Looe mußte ich erst noch gut 6 Kilometer zu Fuß und in glühender Sonne hinter mich bringen. Ich bin sehr stolz auf mein Abenteuer, möchte es aber nicht noch einmal durchmachen.[17] Zehn Jahre später entschied er freilich, die harmlose Jugenderfahrung noch einmal durchzumachen, nicht mehr bloß als Abenteuer, sondern als hartes soziales Experiment. Es sollte zu seinem literarischen Durchbruch führen.

Ansonsten wies äußerlich gesehen wenig auf Künftiges voraus. Eric Blair schloss die Schulzeit in Eton zu Weihnachten 1921 ab. Er zeigte keinerlei Interesse an einem Studium oder an einem eigenständigen Lebensplan, also übernahm er das Lebensziel seines Vaters und bewarb sich um eine Stelle im Kolonialdienst. Deren oberste Abteilungen standen ihm ohne Universitätsstudium nicht offen, doch bewerben konnte er sich immerhin bei der Indian Imperial Police. Vom Eton-Lehrkörper wurde das mit Abscheu gesehen, was den Außenseiter freuen mochte, aber es war doch besser als das erbärmliche Opium-Department des Vaters. Da eine Anstellung keineswegs garantiert war, bereitete er sich ein halbes Jahr lang im Privatunterricht auf die Prüfungen vor, in Southwold (Suffolk) an der englischen Ostküste, wohin die Eltern eben gezogen waren. Die Prüfungen in vier Pflicht- und drei Wahlfächern bestand Eric Blair als Siebenter; die anschließende Reitprüfung warf ihn auf den einundzwanzigsten Platz von dreiundzwanzig erfolgreichen Kandidaten zurück. Das von ihm als erste Wahl angegebene Einsatzgebiet Burma wurde ihm bewilligt, weil sich sonst kaum andere Bewerber dafür interessierten. Ohne großes Bedauern, ohne große Begeisterung schiffte sich Eric Blair am 27. Oktober 1922, neunzehnjährig, nach Rangun ein.

Vorposten des Empire

U Po Kyins früheste Erinnerung – sie reichte in die achtziger Jahre zurück – war der Einmarsch der siegreichen britischen Truppen in Mandalay, den er, ein kugelbäuchiges Kind, mitangesehen hatte. Er erinnerte sich, wie diese Kolonnen großer Beefsteakmänner mit roten Gesichtern und roten Röcken ihn entsetzt hatten; und die langen Gewehre auf ihren Schultern und das schwere, rhythmische Stampfen ihrer Stiefel. Nach ein paar Minuten hatte er Fersengeld gegeben, denn in seinem kindlichen Sinn hatte er begriffen, daß sein Volk dieser Rasse von Riesen nicht gewachsen war. Auf der Seite der Briten zu kämpfen, von ihrer Größe zu nutznießen, war schon in der Kindheit sein höchster Ehrgeiz gewesen.[18] So wird der Distriktrichter U Po Kyin in Orwells Roman Tage in Burma