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Die Menschen sind zu unfassbarer Gewalttätigkeit und Grausamkeit fähig. Die Menschheitsgeschichte ist reich an Massenmorden und Genoziden. Aber auch tagtäglich berichten die Medien von Amokläufen oder Familientragödien. Vergewaltigungen und Missbrauch zeichnen die menschliche Natur tatsächlich ebenso aus wie unsere Fähigkeit zur Empathie und Nächstenliebe. In umfassenden Recherchen erkundet der Sozialpsychologe Baumeister die psychologischen Mechanismen hinter dem menschlichen Bösen. Was motiviert die Menschen dazu, grausam und gewalttätig zu sein? Wie können die Täter dies mit ihrem Selbstbild als menschliches Wesen vereinbaren? Wie reagiert die Gesellschaft auf den Ausbruch des Bösen in ihrer Mitte? Baumeister verzichtet konsequent auf jede moralisierende Sichtweise sowie ideologische oder emotionale Verzerrungen - und eröffnet damit den Blick auf die tatsächlichen Ursachen und Mechanismen des Bösen. Die Grausamkeit ist ein absolut zentrales Thema der Menschheit – und seit vielen Jahrhunderten Thema in der Philosophie, Theologie und Geschichtsschreibung. Immer wieder wird die Frage nach dem Bösen neu gestellt, inzwischen auch vermehrt von Sozialwissenschaftlern. Die Psychologie hält sich zumeist bedeckt, allerdings wurden bereits in den 1970er Jahren mit dem Stanford-Prison-Experiment und dem Milgram-Experiment zwei bahnbrechende Versuche in der Psychologie durchgeführt, die die Frage nach dem Bösen im Menschen mit einer ganz neuen Dringlichkeit stellten. Mit Baumeister hat sich nun endlich ein renommierter Sozialpsychologe der Herausforderung gestellt und eine Psychologie des Bösen entwickelt.
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Seitenzahl: 830
Baumeister
Vom Bösen
Verlag Hans Huber
Sachbuch Psychologie
Wissenschaftlicher Beirat:
Prof. Dr. Guy Bodenmann, Zürich
Prof. Dr. Dieter Frey, München
Prof. Dr. Lutz Jäncke, Zürich
Prof. Dr. Franz Petermann, Bremen
Prof. Dr. Hans Spada, Freiburg i. Br.
Prof. Dr. Markus Wirtz, Freiburg i. Br.
Roy F. Baumeister
Vom Bösen
Warum es menschliche Grausamkeit gibt
Aus dem amerikanischen Englisch von Sebastian Vogel
Verlag Hans Huber
Programmleitung: Tino Heeg
Lektorat: Sigrid Weber, Gaby Burgermeister
Herstellung: Jörg Kleine Büning
Umschlaggestaltung: Anzinger Wüschner Rasp, München
Druckvorstufe: punktgenau gmbh, Bühl
Druck und buchbinderische Verarbeitung:
Aalexx Buchproduktionen GmbH, Großburgwedel
Printed in Germany
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Anregungen und Zuschriften bitte an:
Verlag Hans Huber
Lektorat Psychologie
Länggass-Strasse 76
CH-3000 Bern 9
www.verlag-hanshuber.com
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel Evil. Inside Human Violence and Cruelty bei W. H. Freeman & Co.
© 1997 by Roy F. Baumeister
Deutsche Erstausgabe
1. Auflage 2013
© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-456-95233-8)
(E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-456-75233-4)
ISBN 978-3-456-85233-1
Inhalt
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Vorwort
1 Die Frage nach dem Bösen und die Antworten
Teil 1: Bild und Realität
2 Opfer und Täter
3 Der Mythos vom reinen Bösen
Teil 2: Die vier Wurzeln des Bösen
4 Habgier, Wollust, Ehrgeiz: Das Böse als Mittel zum Zweck
5 Egotismus und Rache
6 Wahre Gläubige und Idealisten
7 Kann das Böse Spaß machen? Die Freude, anderen wehzutun
Teil 3: Wie sie es machen
8 Die rote Linie überschreiten: Wie das Böse beginnt
9 Wie das Böse wächst und sich verbreitet
10 Umgang mit Schuldgefühlen
11 Ambivalenzen und Mitläufer
Teil 4: Zusammenfassung
12 Warum gibt es das Böse?
Anmerkungen
Register
Roy F. Baumeister
Ich habe fünf oder sechs Jahre an diesem Buch über das Böse geschrieben. Während dieser Jahre gab es viel Grund zum Optimismus für den Weltfrieden. Heute können wir uns kaum noch an die Jahrzehnte des Kalten Krieges erinnern mit seiner zugrundeliegenden Annahme, dass die Welt in einem endlosen Kampf zwischen Gut und Böse darniederlag. Wir haben in der stillen Annahme gelebt, dass ein Atomkrieg zwischen den kommunistischen Ländern und der freien Welt früher oder später das Leben auf diesem Planeten und die Menschheit auslöschen würde. Stattdessen gab die Sowjetunion überraschend ihre feindliche Haltung gegenüber dem Westen auf und brach auseinander, Osteuropa kostete die Freiheit und Deutschland wurde in einer riesigen Welle der Begeisterung wiedervereinigt. Einige Zeitgenossen sprachen vom «Ende der Geschichte» und der Entstehung einer Welt ohne Feinde.
Die Ereignisse seither haben diese Hoffnungen nicht bestätigt. Als Terroristen im Jahre 2001 Flugzeuge in das New Yorker World Trade Center lenkten, erhielt das Böse in den Augen der Amerikaner ein neues und sichtbares Antlitz. Die amerikanischen Bemühungen, einen Krieg gegen den Terrorismus zu führen, haben zu kostspieligen und brutalen Konflikten geführt, und als Folge davon glauben viele Menschen, die amerikanischen Streitkräfte und sogar Amerika selbst seien böse. All diese Ereignisse bestätigen ein grundlegendes Prinzip dieses Buches, nämlich dass Leute, die Böses tun, ihre Handlungen im Allgemeinen nicht als böse betrachten. Böse ist, was die andern tun.
Jedenfalls ist deutlich geworden, dass wir nicht kurz davor sind, eine Welt zu schaffen, die frei von Bösem ist. Gewalt, Unterdrückung, Grausamkeit und andere Formen des Bösen sind von Dauer. Das Ende des Kalten Krieges war ein Segen, aber andere Kriege dauern an, und zahlreiche Konflikte brodeln auf der ganzen Welt. Während ich diese Zeilen schreibe, sind die Nachrichten voll von beunruhigenden Spekulationen darüber, ob es zwischen Israel und Iran, zwischen China und Japan oder vielleicht auf der koreanischen Halbinsel zu militärischer Gewalt kommt. Viele andere Länder werden von inneren Konflikten zerrissen, aus Gründen, die von religiösem Idealismus bis zum Drogenhandel reichen.
Natürlich ist Optimismus nicht gänzlich unangebracht. Auf lange Sicht dürfte sich das Ausmaß der Gewalt verringern, wie Steven Pinker in seinem neuesten Buch The Better Angels of Our Nature [dt. erschienen 2011 unter dem Titel «Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit» bei S. Fischer, Frankfurt/Main; neue Ausgabe für 2013 angekündigt] ausführlich dokumentiert. Eine größere Öffnung bedeutet, dass das Böse nicht mehr wie früher straffrei und im Geheimen agieren kann. Die Ausbreitung demokratischer Institutionen und andere kulturelle Veränderungen schränken die Macht immer mehr ein. Im Zuge veränderter sozialer Normen werden Menschen immer mehr und aggressive Gewalt immer weniger geduldet. Vielleicht stimmt es sogar, dass die Leute heutzutage moralisch besser sind als früher. Kinder werden jedenfalls mit mehr Liebe und weniger körperlichen Strafen erzogen als in vergangenen Zeiten.
Das moderne Deutschland steht für viele dieser Veränderungen. Es erwachte aus dem Albtraum des Zweiten Weltkrieges mit der kollektiven Erkenntnis davon, wie erschreckend weit seine Führer das Land in eine böse Richtung geführt hatten. Die massenhaften Tötungen des Dritten Reiches waren nicht die schlimmsten im 20. Jahrhundert. Die sowjetischen und chinesischen Säuberungen kosteten mehr Menschenleben, und die Massaker in Ruanda und Kambodscha vernichteten einen größeren Anteil ihrer Bevölkerung. Aber die Todeslager Nazi-Deutschlands beherrschen die Vorstellungskraft der Welt auf eine zwingendere Art und werden wahrscheinlich das dominierende Bild des Bösen in der westlichen Zivilisation bleiben. Dafür, dass das deutsche Volk einen großen Teil der Schuld für das begangene Unrecht anerkannte und sein neues Land als tolerant, gesamtheitlich, nachbarschaftlich und stark dem Frieden verpflichtet wiederaufbaute, gebührt ihm Anerkennung.
Die Veränderungen sind bedeutsam. Vor hundert Jahren war Europa eine Ansammlung schwer bewaffneter Länder, die auf einen Krieg vorbereitet waren. Die meisten Nationalstaaten wurden von Monarchen regiert, und ihre militärischen Anführer hatten großen politischen Einfluss. Die Bevölkerungen betrachteten nahegelegene Länder gewohnheitsmäßig als böse Feinde. Heute sind die europäischen Armeen und Kriegsflotten stark verkleinert und kaum in der Lage, selbst begrenzte militärische Aktionen zu organisieren. Es besteht weder die Erwartung noch die Bereitschaft, gegen ihre Nachbarn in den Krieg zu ziehen, und sie betrachten sich auch nicht mehr gegenseitig als Feinde. In den kommenden Jahrzehnten erwartet niemand einen Krieg in Europa.
Um Mutmaßungen über die Zukunft des Bösen anzustellen, ist es sinnvoll, die vier Hauptursachen zu betrachten, die im vorliegenden Buch behandelt werden. Gewalt gereicht manchen Leuten immer noch zum Nutzen, aber es wird immer schwieriger, ungestraft davonzukommen, weil den Gesetzen immer nachdrücklicher und wirksamer Geltung verschafft wird. Gewalt als Mittel zum Zweck wird daher aller Wahrscheinlichkeit weiter abnehmen, wenn es auch keinen Grund für die Annahme gibt, dass sie völlig verschwinden wird. Indem der Mittelstand weltweit wächst, werden immer weniger Menschen glauben, dass Gewalt das beste Mittel ist, um zu bekommen, was sie wollen.
Die zweite Hauptursache ist der bedrohte Egotismus. Dazu gibt es beunruhigende Tendenzen, wie beispielsweise die jüngsten Anzeichen dafür, dass der Narzissmus in einigen Teilen der Welt (einschließlich der Vereinigten Staaten von Amerika) zunimmt. Einige Länder hegen immer noch einen historischen Groll und fühlen sich auch nicht anerkannt, was zu internationalen Aggressionen führen könnte. Aber ich habe den Eindruck, dass sich heutzutage weniger Länder Respekt zu verschaffen suchen, indem sie ihre Nachbarn militärisch angreifen.
Die ideologischen Ursachen des Bösen bleiben vielleicht die größte Gefahr. Die meistdiskutierte Gefahr heutzutage ist der islamische Dschihad. Kaum ein Christ oder Jude hält Gewalt heutzutage für ein gutes Mittel, seiner Religionsgemeinschaft zu dienen oder den Glauben zu verbreiten. Politische Gewalt ist immer noch verbreitet, aber der Unmut und die Konflikte sind eher örtlich begrenzt. Es gibt nichts auf der heutigen Welt, das der beabsichtigten kommunistischen Weltrevolution ähnlich sieht.
Kurz nachdem ich die erste amerikanische Auflage des Buches über das Böse veröffentlicht hatte, begann ich mit der Arbeit an einem wissenschaftlichen Grundlagenpapier, das sich inzwischen als sehr einflussreich erwiesen hat. Es wurde 2001 unter dem Titel «Bad is stronger than good» veröffentlicht. Es drückt ein psychologisches Prinzip aus, zu dem sehr wenige Ausnahmen gefunden werden können: Schlechte Dinge haben stärkere psychologische Auswirkungen als gute. Das Böse zu verstehen bleibt wichtig, weil schlechte Taten eine unverhältnismäßige Macht ausüben.
Dennoch gab mir dieses Werk auch Anlass zu Optimismus. Das Leben ist oft sehr gut, trotz der Macht schlechter Dinge – weil es viel mehr gute als schlechte Dinge gibt. Das Gute kann über das Böse triumphieren, und im Allgemeinen tut es das auch, einfach weil es viel zahlreicher und häufiger vorkommt. Es wird immer böse Menschen und schlechte Taten auf der Welt geben, aber indem wir zur größeren Anzahl guter Menschen und guter Taten beitragen, können wir gewährleisten, dass das Böse im Allgemeinen besiegt wird und dass das menschliche Leben für die ganze Menschheit immer besser wird.
Warum gibt es das Böse? Welche Motive haben diejenigen, die Böses tun? Wie schaffen sie es, ihre Taten mit einem Selbstbild zu vereinbaren, in dem das Böse nicht vorkommt? Zur Beantwortung dieser uralten Fragen bedient sich das vorliegende Buch der modernen Methoden der Sozialwissenschaft.
Unsere Bemühungen, das Böse zu verstehen, sind mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Dazu gehört, dass die Täter dazu neigen, die moralische Dimension ihres Handelns zu ignorieren oder herunterzuspielen – eine Dimension, die für die Opfer von größter Bedeutung ist. Deshalb sind alle ehrlichen Bemühungen, die Täter zu verstehen, in gewisser Hinsicht unsensibel gegenüber den Opfern. Es besteht die Gefahr, dass wir damit die Handlungen der Täter stillschweigend billigen. Man darf das moralische Denken nicht aufgeben oder vergessen, aber wir müssen es zunächst zurückstellen, damit wir verstehen können, wie die Täter ihre Umwelt und ihre Handlungen sehen.
Eine solche Herangehensweise hat zur Folge, dass wir den emotionalen, politischen und ideologischen Ballast, der unserer kulturell geformten Sichtweise des Bösen anhängt, zumindest vorübergehend über Bord werfen müssen; die sich daraus ergebende Analyse könnte manche Menschen verletzen. «Politisch korrekt» kann dieses Buch nicht sein. Ein Wissenschaftler, der einen Entwurf davon gelesen hatte, meinte, dass ich vermutlich schon in der Mitte des ersten Kapitels sowohl die extreme Linke als auch die extreme Rechte in Empörung versetze. Mir geht es nicht darum, irgendjemanden zu empören, aber wenn es mir gelingt, eine Innensicht von Grausamkeit und Gewalt zu formulieren, werden die Ergebnisse aller Voraussicht nach verstörend sein. Wie noch zu sehen sein wird, unterscheidet sich unsere vor allem kulturell bedingte Sicht auf das Böse erheblich von den tatsächlichen psychologischen Vorgängen bei den Tätern.
Vom Bösen basiert auf einer eingehenden Studie früherer Arbeiten zu dem Thema, dennoch werden manche Leser feststellen, dass ihre Lieblingsarbeiten über die Theorie des Bösen nicht berücksichtigt wurden. In der Sozialwissenschaft sind Ideen billig, Tatsachen hingegen kostbar. Ich habe versucht, eine Theorie auf der Grundlage aller Tatsachen und Befunde aufzustellen, die ich zusammentragen konnte, und hatte nicht den Anspruch, systematisch über alles zu berichten, was Theoretiker über das Böse zu sagen hatten. Manche meiner Schlussfolgerungen wurden vielleicht durch frühere Theorien schon vorweggenommen, andere sind möglicherweise neu. Meine Hoffnung war, dass eine aufmerksame und gewissenhafte Auseinandersetzung mit der Masse an Tatsachenbelegen zu möglichst richtigen Schlussfolgerungen führen. Zu einigen dieser Ergebnisse sind diejenigen, die sich in der Vergangenheit mit dem Thema beschäftigt haben, sicherlich auch mit weniger Belegen gekommen; aber ein Ergebnis, das sich auf einen Berg von Befunden stützt, ist etwas anderes und in vielerlei Weise nützlicher als Aussagen, die nur auf Intuition, persönlichen Erfahrungen oder eine geringe Menge unzuverlässiger Indizien gründen.
Dass ich so großen Wert auf Tatsachen lege, hat noch eine andere Seite. Ich habe weitgehend der ständigen Versuchung widerstanden, Kernpunkte mit fiktiven Episoden aus Literatur, Filmen und anderen Unterhaltungsmedien zu verdeutlichen. Viele Bücher über das Böse sind voller solcher Beispiele, und manchmal scheint der Unterschied zwischen Äußerungen von Macbeth und Ted Bundy nicht einmal mehr als bedeutsam betrachtet zu werden. Ich bin jedoch schon in einem recht frühen Stadium des Projekts zu der Erkenntnis gelangt, dass fiktive Beispiele oft schlimmer als nur nutzlos sind, weil unsere kulturell geprägten Vorstellungen vom Bösen tief verwurzelt sind und sich sehr von der tatsächlichen Psychologie der Täter unterscheiden. Deshalb führe ich Beispiele aus der Fiktion nur bei der Erörterung des konstruierten «Mythos» des Bösen an. Im Rest des Buches, der sich auf die tatsächliche Psychologie der Täter konzentriert, beziehe ich mich zur Verdeutlichung der Kernpunkte ausschließlich auf reale Geschichten (und andere Tatsachen). Dies machte es wesentlich schwieriger, dieses Buch zu schreiben, weil es nicht einfach ist, Tatsachen anstelle der leicht verfügbaren fiktiven Beispiele zu finden, es erschien mir aber unverzichtbar.
Auch auf den sprachlichen Stil des vorliegenden Buches muss kurz eingegangen werden. Täter bevorzugen in der Regel eine minimalistische, distanzierte Denkweise. Jede Bemühung, sie zu verstehen, muss solchen sprachlichen Neigungen Rechnung tragen, und auch dies geschieht um den Preis, das Leiden der Opfer herunterzuspielen. Vermutlich ist das sogar der entscheidende Punkt: In den meisten Fällen wollen die Täter nicht beim Leiden der Opfer verweilen, denn das würde ihr Tun stören. Gleichzeitig bedarf es aber gelegentlich einer anschaulicheren Sprache, damit man das Böse auch da erkennt, wo es häufig übersehen wird.
Als ich dieses Buch schrieb, war es mein Ziel, die Leser zu ermutigen, zu verführen und vielleicht auch zu täuschen, damit sie Ereignisse aus der Sicht derer betrachten, die Böses tun. Natürlich ist die Identifikation mit dem Bösen der erste Schritt dazu, es auch zu begehen; deshalb ist es notwendig, sich aus dieser Rolle sofort wieder zurückzuziehen, wenn man sie übernommen hat! Wenn man die Natur des Bösen verstehen will, ist ein Schritt sehr hart: Wir müssen erkennen, dass wir selbst unter bestimmten Umständen viele jener Taten begehen könnten, die in der Welt allgemein als böse betrachtet werden. Solange wir aber Täter als eigene Spezies, als fremdartige Kategorie oder anderen Menschenschlag betrachten, können wir nicht wirklich behaupten, sie zu verstehen. Unsere größte Chance, selbst nicht zu Tätern zu werden, besteht darin, dass wir solche Reaktionen verstehen und erkennen lernen, damit wir in ihnen das Böse erkennen, bevor wir es begehen – dieser Hoffnung ist das vorliegende Buch gewidmet.
Ich möchte den vielen Menschen danken, die mir bei der Verwirklichung dieses Projekts geholfen haben, insbesondere weil sie Entwürfe lasen und wertvolle Ratschläge und Kommentare beisteuerten. Unter anderem waren das John Darley, Richard Felson, Brad Bushman, Dianne Tice, Kristin Sommer, Donna Baumeister und Julie Exline. Auch die Studierenden meines Kurses für Interdisziplinäre Psychologie im Herbst 1995 lasen den vollständigen Entwurf und brachten wertvolle Hilfen und Vorschläge ein (meist, indem sie mich piesackten, bis ich die Beispiele klarer und anschaulicher formulierte!). Laura Smart und Joe Boden arbeiteten mit mir am Manuskript für einen Zeitschriftenartikel, der zur Grundlage für ein Kapitel wurde, und Lisa Macharoni war eine große Hilfe bei der Bewältigung einiger wissenschaftlicher Routinearbeiten.
Auch die Unterstützung verschiedener Institutionen war höchst willkommen und hilfreich. Die Case Western University unterstützte mich mit technischen Mitteln und ihrer Bibliothek, aber auch indem sie mir Zeit für die wissenschaftliche Arbeit – unter anderem in Form eines Freisemesters – einräumte. Das Institut für Psychologie unter Leitung von Joe Fagan und Sandra Russ bot mir hilfreiche Unterstützung, und Dean John Bassett steuerte die Mittel zum Kauf des Computers bei, auf dem dieses Buch geschrieben wurde. Das psychologische Institut der University of Virginia unterstützte mich großzügig als Gastgeber während meines Freisemesters. Ein Forschungsstipendium des National Institute of Mental Health (MH 51482) war während der Arbeit an dem Buch ebenfalls hilfreich, und ein Arbeitsstipendium des James McKeen Cattell Fund ermöglichte es mir, überhaupt anzufangen.
Zwei Menschen bin ich zu besonders großem Dank verpflichtet. Der erste gilt meiner Lektorin Susan Finnemore Brennan sowie ihren Kolleginnen und Kollegen beim Verlag W. H. Freeman and Company. Mit ihnen zu arbeiten, war eine Freude und intellektuell ausgesprochen anregend. Und zweitens danke ich meiner geliebten Frau Dianne Tice, die mir während der Jahre, in denen ich an dem Projekt arbeitete, intellektuell und auch anderweitig eine große Hilfe war.
Warum gibt es das Böse? Diese Frage quält die Menschheit schon seit Jahrhunderten. Gäbe es eine einzige, einfache Antwort, wir hätten sie vermutlich schon vor langer Zeit gefunden. So aber müssen wir nicht nur nach einer Antwort suchen, sondern auch verstehen, warum sich die Frage trotz der Bemühungen vieler kluger Männer und Frauen immer noch stellt.
In der Regel tritt das Böse in die Welt, ohne dass diejenigen, die ihm die Tür öffnen und es einlassen, es erkennen. Die meisten Menschen, die Böses tun, sehen in ihrem Verhalten nichts Böses. Das Böse existiert vorwiegend im Auge des Betrachters, und zwar insbesondere im Auge des Opfers. Gäbe es keine Opfer, würde auch das Böse nicht existieren. Es gibt zwar Verbrechen ohne Opfer (beispielsweise viele Übertretungen von Straßenverkehrsvorschriften), und vermutlich haben auch viele Sünden keine Opfer zur Folge, aber das sind nur untergeordnete Kategorien von etwas, das vorwiegend durch den angerichteten Schaden definiert wird. Man stelle sich eine Gesellschaft vor, in der niemand jemals etwas tut, was auf jemand anderen negative Auswirkungen hat. Was hätte die Polizei noch zu tun? Gäbe es dann überhaupt noch eine Polizei?
Wenn die Viktimisierung das Wesen des Bösen darstellt, ist die Frage nach dem Bösen eine Frage des Opfers. Die Täter haben nicht das Bedürfnis, für das, was sie getan haben, nach Erklärungen zu suchen. Und Außenstehende sind entweder nur neugierig, oder sie haben Mitgefühl. Es sind die Opfer, die von der Frage getrieben sind: Warum ist das geschehen? Warum haben diese Soldaten meine Familie erschossen? Warum hat jene Frau eine Bombe in diesen Bus gelegt? Warum haben mich diese jungen Kerle zusammengeschlagen? Warum hat mein Großvater mich gezwungen, mit ihm zu schlafen? Das allgemeine Muster lautet: Leiden führt zur Suche nach einer sinnvollen Erklärung.1 Der Gedanke, Leiden sei etwas Zufälliges, Unvermeidliches und Sinnloses, hat die meisten Menschen noch nie zufriedengestellt, und Opfer sehnen sich nach genaueren Begründungen. Das Böse ist eine partielle Erklärung, und viele Opfer geben sich (zumindest eine Zeit lang) mit der Erkenntnis zufrieden, dass ihre Peiniger böse waren. Auf lange Sicht bedarf jedoch auch das Böse einer Erklärung.
Das Böse stellt einige unserer grundlegenden, wichtigen Annahmen über die Welt infrage, und deshalb zielt die Frage, warum es das Böse gibt, ins Herz der Vorstellungen über den Platz des Menschen im Universum. Der große Denker Thomas von Aquin schrieb, die Existenz des Bösen in der Welt sei das größte Hindernis für den christlichen Glauben und die christliche Lehre.2 Mit anderen Worten: Nichts untergräbt den christlichen Gottesglauben stärker als die Tatsache, dass es das Böse gibt. Wenn Gott allgütig und allmächtig ist, wie kann er dann zulassen, dass Böses geschieht?
Sozialwissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass die meisten Menschen in der modernen westlichen Gesellschaft mit einer sehr positiven Einstellung durchs Leben gehen: Danach ist die Welt im Wesentlichen ein schöner Ort zum Leben, das Leben meistens gerecht, und es gibt gute Menschen, die es verdienen, dass ihnen Gutes widerfährt.3 Solche Überzeugungen sind sehr hilfreich für ein glückliches, gesundes Dasein. Leiden und Viktimisierung dagegen untergraben solche Überzeugungen und machen es schwierig, in der Gesellschaft weiterhin glücklich zu leben oder erfolgreich zu sein. Tatsächlich sind die direkten und konkreten Auswirkungen mancher Traumata oder Verbrechen nur relativ gering, die psychischen Effekte setzen sich dagegen oft unendlich lange fort. Von einer Vergewaltigung oder einem Überfall mag sich der Körper relativ schnell erholen, die seelischen Narben sind jedoch manchmal viele Jahre spürbar. Ein Merkmal solcher Narben besteht darin, dass die Opfer ihren grundlegenden Glauben an eine gerechte, gutartige Welt oder sogar an sich selbst als gute Menschen verlieren. Das Böse zielt also auf die Grundüberzeugungen der Menschen.
Fragen nach dem «Warum» des Bösen kann man auf verschiedene Arten beantworten. Eine besteht darin, dass man einen vernünftigen Zweck oder ein Ziel beschreibt, dem böse Taten dienen. Eine andere sucht nach Erklärungen unter moralischen Gesichtspunkten, und eine dritte besteht darin, die Ursachen zu erklären. Viele Arbeiten haben sich sich mit der Frage des Bösen in der Theologie beschäftigt, insbesondere mit einer möglichen Funktion des Bösen im Kosmos sowie den Gründen, warum Gott zulässt, dass es existiert.
Dieses Buch wird versuchen, eine kausale Antwort zu geben. Es bemüht sich nicht um theologische oder moralische, sondern um wissenschaftliche, genauer gesagt um sozialwissenschaftliche Erklärungen. Es geht mir nicht darum, die Existenz des Bösen zu verteidigen oder zu rechtfertigen, sondern ich möchte erklären, wie das Böse in die Welt kommt. Dazu gehören drei Fragen. Erstens: Wie kommt es zu den jeweiligen Ereignissen? Zweitens: Was veranlasst Menschen dazu, Ereignisse als böse wahrzunehmen? Und, da die Wahrnehmung des Bösen häufig von der Realität abweicht: Wie lässt sich die große Kluft zwischen Wahrnehmung und Realität des Bösen erklären?
Viel Zeit blieb ihr nicht. Sie hatte Hunger, aber ihr Flug würde schon bald zum Einsteigen bereit sein. Manchmal liegen Flüge so, dass man den ganzen Tag nichts essen kann, aber sie brauchte unbedingt etwas. Und sie hatte Glück: In der Nähe ihres Gates war ein kleiner Imbissstand geöffnet. Sie stellte sich an, kaufte einen Beutel Chips und eine Cola light.
Aber in der kleinen Flughafen-Cafeteria waren alle Tische besetzt. Sie musste sich zu jemand anderem an den Tisch setzen. Einen möglichen Platz hatte sie schnell ausfindig gemacht: An einem kleinen Tisch saß ein halbwegs gut gekleideter Mann und las Zeitung. Ihm würde es sicher nichts ausmachen, wenn sie sich auf einen der freien Stühle an seinem Tisch setzte und in aller Ruhe ihren Snack verzehrte.
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