Die Macht des Schlechten - Roy F. Baumeister - E-Book

Die Macht des Schlechten E-Book

Roy F. Baumeister

0,0

Beschreibung

Bezwingen Sie den Negativitätseffekt! Warum brauchen wir durchschnittlich vier gute Erlebnisse, um ein schlechtes emotional auszugleichen? Warum erschüttert uns ein einziges Wort der Kritik, selbst wenn es mit heftigem Lob daherkommt? Der renommierte Sozialpsychologe Roy F. Baumeister entdeckte den Negativitätseffekt als grundlegenden Aspekt unseres Wesens. Mit ihm lässt sich erklären, warum Länder in katastrophale Kriege geraten, warum Paare sich scheiden lassen, warum Menschen Vorstellungsgespräche vermasseln. Doch wir können lernen, unsere Negativitätsvorurteile zu erkennen, zu steuern und sogar zu überwinden. Die Macht des Schlechten kann perfekt für Gutes genutzt werden. »Dieser faszinierende Blick eines unserer kreativsten Psychologen und Wissenschaftsautoren auf unsere Negativitätsvorurteile kann Ihr Verständnis der menschlichen Natur erhellen, Ihre Weltanschauung ausbalancieren und Sie aufheitern.« Steven Pinker

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 500

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Roy F. Baumeister / John Tierney

DIE MACHT DES SCHLECHTEN

Nicht mehr schwarzsehen und gut leben

Aus dem Englischen von Bernhard Schmid

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Die amerikanische Originalausgabe erschien im Dezember 2019 bei Penguin Press unter dem Titel The Power of Bad. How the Negativity Effect Rules Us and How We Can Rule It.

Copyright © Roy F. Baumeister and John Tierney, 2019.

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition published by arrangement with Penguin Press, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.

Vita

Roy F. Baumeister ist seit 2016 Professor für Sozialpsychologie an der University of Queensland in Australien, mit den Themenschwerpunkten Sexualität, Selbstkontrolle, Selbstbehauptungsmechanismen, Motivation und Aggression. Er promovierte an der Princeton University und war unter anderem Francis Eppes Eminent Professor of Psychology an der Florida State University. Er ist einer der international bekanntesten Psychologen und Autor zahlreicher Bücher, zuletzt des Bestsellers »Die Macht der Disziplin«. 2015 wurde Baumeister in die American Academy of Arts and Sciences gewählt.

John Tierney arbeitet als Autor und Wissenschaftsjournalist bei der New York Times.

Inhalt

PROLOG: DER NEGATIVITÄTSEFFEKT

Kapitel 1Wie negativ ist negativ?

Benutzen wir mal den Verstand

Zählen wir doch mal nach

Die Viererregel

Sicherheitsjunkies

Riskieren Sie etwas

Kapitel 2Lieben lernen

Das Negative beseitigen

Der Schiffbruch der Liebe

Die passable Beziehung

Kapitel 3Dämonisches

Auf negative Aussichten programmiert

Das ängstliche Gehirn

Der Guru des positiven Denkens

Arbeit an der Furchtlosigkeit

Freier Fall

Kapitel 4Nutzen Sie die Macht

Konstruktive Kritik

Schlimme Nachrichten: Wie man sie nicht überbringt

Wie man eine schlechte Nachricht richtig überbringt

Kapitel 5Himmel oder Hölle

Belohnung vs. Strafe

Die Hölle auf Erden

Belohnung und Strafe

Zuckerbrot plus Peitsche

Die Kartoffelchips-Erweckung

Kapitel 6Grundkurs Business

Ja, bei uns gibt es keine faulen Äpfel

Einer verdirbt das ganze Fass

»Niemand hat dich gewählt«

Wir retten das Fass

Kapitel 7Online-Gefahren

Sunshine Hotel vs. Moon Lady

Das Problem mit den Sternen

Die Peak-End-Regel

Kapitel 8Das Pollyanna-Prinzip

Unsere natürliche Waffe gegen die Negativität

Happy Talk

Die Pollyanna in uns

Varianten des Such-die-Freude-Spiels

Kapitel 9Die Krisenkrise

Rückenwind für Negatives

Die professionelle Panikmache

Kollektive Dummheit

Plädoyer für weniger Profit mit der Schwarzmalerei

Kapitel 10Die Zukunft des Guten

Plädoyer für eine negativitätsarme Diät

DANK

ANMERKUNGEN

Prolog: Der Negatitivitätseffekt

1 Wie negativ ist negativ?

2 Lieben lernen

3 Dämonisches

4 Nutzen Sie die Macht

5 Himmel oder Hölle

6 Grundkurs Business

7 Online-Gefahren

8 Das Pollyanna-Prinzip

9  Die Krisenkrise

10 Die Zukunft des Guten

PROLOG: DER NEGATIVITÄTSEFFEKT

Nimm das Schlechte mit dem Guten, sagen wir uns stoisch. Aber so funktioniert unser Gehirn nun mal nicht. Unser Verstand ist geprägt vom verzerrenden Einfluss eines fundamentalen Ungleichgewichts, und was dies für unser Leben bedeutet, wird der Wissenschaft gerade erst so richtig klar: schlecht ist stärker als gut.

In der wissenschaftlichen Literatur firmiert diese verzerrende Macht des Negativen unter mehreren Begriffen: Negativitätsbias, Negativitätsdominanz oder schlicht Negativitätseffekt. Wie immer Sie es nennen wollen, gemeint ist eine allgemein menschliche Neigung, sich von negativen Ereignissen und Emotionen stärker beeinflussen zu lassen als von positiven. Während uns ein Wort der Kritik zu vernichten vermag, kann es uns durchaus kalt lassen, wenn uns jemand mit Lob überhäuft. Wir sehen das eine feindselige Gesicht in der Menge, während uns so manches freundliche Lächeln entgeht. Hört sich deprimierend an – und oft genug ist es das auch –, aber der Negativitätseffekt muss mitnichten das letzte Wort haben. Schlecht ist stärker, aber gut kann durchaus die Oberhand gewinnen, wenn wir verstehen, womit wir es zu tun haben.

Indem wir den Negativitätseffekt durchschauen und uns über unsere angeborenen Reaktionen hinwegsetzen, können wir destruktive Muster durchbrechen und positiver – effektiver – in die Zukunft sehen; anders gesagt, wir können uns die durchaus bemerkenswerten Vorteile dieser verzerrenden Tendenz zunutze machen. Pech, schlimme Nachrichten und negative Gefühle, das alles sorgt für starke, ja die stärksten Anreize überhaupt, widerstandsfähiger, gescheiter, netter und liebenswürdiger zu werden. Schlecht – oder besser gesagt das Negative – lässt sich zu unserem Vorteil nutzen, allerdings nur, wenn wir rational denkend seine irrationale Wirkung durchschauen. Es braucht Weisheit und ein gutes Stück Arbeit, dieser Negativität ein Schnippchen zu schlagen. Und in einer digitalen Welt, die die Macht des Negativen potenziert, gilt das mehr denn je.

Der Negativitätseffekt ist ein simples Prinzip mit alles andere als simplen Folgen. Solange wir den verzerrenden Einfluss des Negativen auf unser Urteilsvermögen nicht erkennen, werden wir schreckliche Entscheidungen fällen. Unser Negativitätsbias erklärt uns die Welt im Großen wie im Kleinen: wie Länder in desaströse Kriege stolpern, warum Nachbarschaften sich befehden und Ehepaare sich scheiden lassen, warum die Wirtschaft stagniert, warum Bewerberinnen und Bewerber Einstellungsgespräche vermasseln, Schulen Schüler durchrasseln lassen und warum so viele den risikolosen Ausweg wählen, anstatt aufs Ganze zu gehen. Der Negativitätseffekt zerstört Reputationen ebenso, wie er Unternehmen in die Pleite führt. Er fördert Stammesdenken und Xenophobie. Er sorgt für von grundlosen Ängsten geschürten Zorn unter US-Amerikanern ebenso wie für Hunger in Sambia; er ist der Auslöser moralischer Paniken unter Liberalen wie Konservativen; er vergiftet die Politik und sorgt dafür, dass man Demagogen wählt.

Die Macht des Negativen ist universell, unbesiegbar jedoch ist sie nicht. Seine stärkste Wirkung entfaltet der Negativitätseffekt bei uns in jungen Jahren, wenn wir ganz besonders aus Kritik und Fehlern lernen sollen. Mit zunehmendem Alter nimmt die Notwendigkeit zu lernen ab; wir gewinnen an Perspektive. Alte Menschen neigen zu mehr Zufriedenheit als junge, da ihre Emotionen und Urteile nicht mehr so stark von Problemen und Rückschlägen verzerrt werden. Sie begegnen der Macht der Negativität durch den Genuss der Freuden, die der Tag ihnen bringt, und mit Erinnerungen an glückliche Augenblicke, anstatt sich in vergangenem Elend zu suhlen. An objektiven Kriterien gemessen mag ihr Leben (schon gar, wenn sie gesundheitliche Probleme haben) nicht besser erscheinen, aber sie fühlen sich besser und sind in der Lage, vernünftigere Entscheidungen zu treffen, weil sie es sich erlauben können, unangenehme Gelegenheiten, aus denen sie etwas lernen könnten, zu ignorieren und sich stattdessen auf die angenehmen Seiten des Lebens zu konzentrieren.

Genau diese Art von Weisheit versuchen wir in diesem Buch zu vermitteln. Wir werden erklären, wie sich die Macht des Negativen nutzen lässt, sofern sie förderlich ist, und wie wir sie überwinden können, wenn sie schadet. In einer ganzen Reihe neuer Studien über den Negativitätseffekt hat die Forschung Strategien herausgearbeitet, wie sich mit ihr umgehen lässt. Die Evolution hat uns anfällig gemacht für das Negative, da es eine primitive Region in unserem Gehirn – das heißt im Gehirn aller Tiere – regiert; sie hat aber auch die anspruchsvolleren Regionen des menschlichen Gehirns mit kognitiven Werkzeugen ausgestattet, die es uns erlauben, der Negativität Paroli zu bieten oder uns ihrer gar konstruktiv zu bedienen. Heute werden diese Werkzeuge immer wichtiger, weil es mehr Panikmacher und Giftspritzen gibt denn je – mehr Negativitätskrämer, wie wir sie hier nennen wollen, Menschen, die finanziell und politisch davon profitieren, der Öffentlichkeit Angst einzujagen oder gar Hass zu säen.

Wir werden aufzeigen, wie sich der rationale Teil unseres Gehirns dazu einsetzen lässt, uns das Negative im Privat- wie im Berufsleben vom Leibe zu halten – in der Liebe, bei Freundschaften, in der Schule, in unserem Zuhause, bei der Arbeit, im Geschäft, in der Politik, im Staat. Vor allem aber wollen wir aufzeigen, wie das Positive letztendlich obsiegen kann. Gut wirkt zwar nicht so stark und unmittelbar auf unsere Emotionen wie schlecht, hat aber durch Beharrlichkeit, Intelligenz und schiere Masse durchaus eine Chance.

Indem Sie lernen, wie das Negativitätsbias auf Sie – und jeden anderen von uns – wirkt, werden Sie die Welt realistischer und weniger ängstlich sehen. Sie können sich dann ganz bewusst über die Impulse hinwegsetzen, die für erdrückende Unsicherheiten, Panikattacken und Phobien wie etwa Höhen- und Redeangst verantwortlich sind. Eine Phobie ist eine verselbstständigte Illustration der Macht des Negativen: eine Überreaktion auf die Möglichkeit, dass etwas schiefgehen könnte, ein irrationaler Impuls, der Sie daran hindert, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Phobien lassen sich jedoch ebenso überwinden wie allgemeinere Probleme, hat man erst einmal verstanden, wie der Negativitätseffekt funktioniert.

Anstatt also nach einem Rückschlag zu verzweifeln, können Sie nach Wegen suchen, von der erlittenen Schlappe zu profitieren. Anstatt unbedingt die perfekten Eltern, die perfekten Paare sein zu wollen, können Sie versuchen, die fundamentalen Fehler zu vermeiden, die eine weit größere Rolle spielen als alles, was Sie anderen Gutes tun. Sie können in jeder Beziehung lernen, einem Streit ein Ende zu machen, bevor er beginnt – oder zumindest dafür sorgen, dass er nicht aus dem Ruder läuft, indem sie erkennen, wie leicht ein kleiner Affront falsch interpretiert, wie leicht aus einer Mücke ein Elefant werden kann, zumal wenn Partner einander nicht zu lesen vermögen. Und beruflich können sie die Fallstricke ausfindig machen und umgehen, die Karrieren ruinieren und Unternehmen zum Scheitern verurteilen.

Das Positive am Negativen ist seine Fähigkeit, den Verstand zu schärfen und uns mit dem nötigen Willen zu erfüllen. Indem Sie die Wirkung schmerzlichen Feedbacks verstehen lernen, werden Sie besser mit Kritik umgehen können – was sie in die Lage versetzt, die nützlichen Lektionen aus ihr zu ziehen, ohne sich von ihr entmutigen zu lassen. Außerdem werden Sie Kritik üben lernen, was eine wahrhaft seltene Fertigkeit ist. Die meisten Menschen, auch die sogenannten Experten, haben keine Ahnung, wie man schlechte Nachrichten überbringt, weil Sie die Mechanismen ihrer Aufnahme nicht verstehen. Wenn Ärzte ungeschickt eine trostlose Diagnose vermitteln, tragen sie nur zu Kummer und Verwirrung der Patienten bei. Auch bei der Beurteilung von Schülerinnen und Schülern, Studierenden oder Angestellten sind viele Lehrende und Chefs rasch bei der Hand mit Kritik, die in der Hauptsache nur entmutigen kann, während andere dem Problem grundsätzlich aus dem Weg gehen, indem sie ausschließlich gute Bewertungen oder Noten vergeben. Einige Techniken, die man jüngst in Schulen, Büros und Fabriken getestet hat, werden Sie in die Lage versetzen, ihre Aufgabe effektiver zu erledigen.

Kritik und Strafen sorgen, sofern richtig verabreicht, weit schneller für Fortschritte als der Ansatz, einfach jedem eine Medaille fürs Mitmachen anzuheften. Sie inspirieren Menschen, aus ihren Fehlern zu lernen, anstatt weiterhin ihre Karrieren oder Beziehungen aufs Spiel zu setzen. Kritik und Strafen bringen den Menschen bei, an sich selbst zu arbeiten und mit anderen zurechtzukommen, ob es sich dabei nun um die berufliche Zusammenarbeit mit anderen handelt, um Verantwortlichkeiten zu Hause oder darum, eine Liebesbeziehung am Leben zu erhalten, deren Flamme zu erlöschen droht.

Richtig verstanden, vermag die Macht des Negativen aus uns allen das Beste herauszuholen.

Der Negativitätseffekt ist ein fundamentaler Aspekt der Psychologie und ein nicht weniger wichtiger Fakt im Leben an sich. Und dennoch hat man ihn erst jüngst entdeckt, und das herzlich unerwartet, um ehrlich zu sein. Roy Baumeisters Forschung begann, wie immer, mit einer eher vagen Fragestellung, wie sie heute unter seinen Forschungskollegen in der Psychologie eigentlich nicht mehr in Mode ist. Vor der ersten Zwischenprüfung hatte er eigentlich Philosoph werden und sich ganz allgemein mit Lebensfragen beschäftigen wollen. Seine Eltern freilich fanden das eher realitätsfern – nicht gerade das, was die Studiengebühren einer Universität wie Princeton gerechtfertigt hätte –, und so entschloss er sich denn in einem Kompromiss für die Sozialpsychologie.

Nach seiner Habilitation widmete sich Baumeister, zuerst an der Case Western Reserve, dann an der Florida State und schließlich an der University of Queensland im australischen Brisbane hoch spezialisierter und experimenteller Forschung – der Arbeit, mit anderen Worten, wie sie heute Journalisten und den für Lehrstühle zuständigen Ausschüssen zusagt. Er machte sich einen Namen mit Arbeiten über Selbstbeherrschung, soziale Zurückweisung, Aggression und andere Themen. Er widmete sich darüber hinaus aber auch Fragen weit über die Grenzen seiner eigentlichen Spezialgebiete hinaus.1 Warum gibt es so etwas wie das Böse? Was ist das Selbst? Was formt das menschliche Wesen? Worin besteht der Sinn des Lebens? Er widmete jeder dieser Fragen jeweils ein Buch. Er durchkämmte dazu nicht nur die psychologische Literatur, sondern auch die anderer Disziplinen. Ziel seiner Bemühungen war es, Muster aufzuspüren, die anderen Spezialisten nicht aufgefallen waren.

In den 1990er-Jahren begann er sich für gewisse Muster bei positiven und negativen Ereignissen zu interessieren. Psychologen hatten beim Studium der Reaktionen auf bestimmte Ereignisse festgestellt, dass eine erste negative Reaktion eine sehr viel stärkere Wirkung hatte als ein positiver erster Eindruck; Experimente von behavioristisch ausgerichteten Ökonomen hatten aufgezeigt, dass die Gefahr eines finanzielles Verlusts eine weit stärkere Wirkung hat als ein entsprechender finanzieller Gewinn. Was verleiht dem negativen Eindruck so viel mehr Macht? Wann und wie lässt sich diesem Eindruck entgegenwirken?

Um diesen Fragen nachzugehen, machte Baumeister sich auf die Suche nach Situationen, in denen schlimme Ereignisse keine derart starke Wirkung zeitigten. Sein Ansatz war nur logisch: Um die Quelle der Kraft eines Phänomens zu verstehen, sucht man nach Beispielen, in denen es Schwächen zeigt. Will man herausfinden, was ein Dach trägt, sucht man nach Stellen, an denen es durchzuhängen beginnt. Erklärtes Ziel von Baumeister und seinen Kollegen war, »mehrere konträre Muster zu identifizieren«, die es ihnen ermöglichen würden, »eine komplexe und nuancierte Theorie darüber zu entwickeln, wann schlecht stärker und wann gut stärker ist«.2

Was ihnen jedoch nicht gelang. Zu ihrer großen Überraschung erbrachte die Sichtung der Literatur nicht nur der Psychologie, sondern auch der Soziologie, der Volkswirtschaft, der Anthropologie und anderer Disziplinen auch nicht ein überzeugendes Beispiel dafür, dass das Positive stärker ist als das Negative. Studien zeigten, dass eine angegriffene Gesundheit oder Rabeneltern eine weit nachhaltigere Rolle spielen als eine robuste Gesundheit und großartige Eltern. Die Wirkung schlimmer Ereignisse hält länger an als die positiver. Ein negatives Bild (das Foto eines toten Tiers) stimuliert mehr elektrische Aktivität als ein positives Bild (etwa das Foto einer Schale mit Schokoeis). Eine Kritik schmerzt weit mehr, als ein Lob Freude macht. Strafen motivieren Schüler und Arbeiter stärker als Belohnungen. Man fängt sich leichter einen schlechten Ruf ein und wird ihn auch nicht so leicht wieder los wie einen guten. Baumeisters Sichtung der einschlägigen Forschungsergebnisse zeigten, dass schlecht durch die Bank mehr Gewicht hat als gut. Fast durch Zufall war die Psychologie damit auf ein wesentliches Phänomen gestoßen, das sich in so vielen unterschiedlichen Bereichen des menschlichen Lebens beobachten lässt, dass das übergreifende Muster der Forschung entgangen war.

Während er seine Ergebnisse zu Papier brachte, kam Baumeister eher zufällig für einen Vortrag über seine Arbeit an die University of Pennsylvania. Nach seiner Präsentation sprach ihn Paul Rozin, einer der Professoren aus seinem Publikum, an. Rozin sagte ihm, er arbeite an einem ähnlichen Projekt, wenn auch mit einem ganz anderen Ansatz. Er hatte sich bereits mit seiner hoch kreativen Forschung in eher vernachlässigten Themengebieten, dem magischen Denken etwa oder dem Ekel, einen Namen gemacht.

In einer denkwürdigen Reihe von Experimenten hatte Rozin aufgezeigt, wie wenig es braucht, um uns etwas an sich Gutes zu verderben.3 Er musste nur kurz eine sterilisierte tote Küchenschabe in ein Glas Apfelsaft zu tunken, schon weigerte sich der größte Teil der Versuchspersonen, auch nur daran zu nippen. (Eine bemerkenswerte Ausnahme waren dabei kleine Jungs, denen anscheinend vor gar nichts zu grausen schien.) Dem größten Teil der Erwachsenen dagegen war danach die Lust auf Apfelsaft vergangen – selbst welchen aus einem frischen Karton und in einem sauberen Glas. Schon die geringste Berührung mit einem ekligen Insekt verleidete ihnen jegliche Nahrung.

Aber mal angenommen, ein Experimentator legt gutes Essen, also zum Beispiel einen leckeren Petit Gâteau, auf einen Teller voll sterilisierter Küchenschaben. Würde einem das die ekligen Viecher schmackhaft machen? Können Sie sich ein Dessert – oder was auch immer – vorstellen, das so gut ist, dass seine bloße Berührung mit dem Teller die Schaben essbar macht? Nein. Und zwar deshalb, weil es eine »Anti-Schabe« einfach nicht gibt. Rozins Studie über Ekel und Übertragung bestätigte ein altes russisches Sprichwort: »Ein Löffel Teer kann ein Fass Honig verderben, aber ein Löffel Honig hilft keinem Fass Teer.«

Als Rozin dieser Asymmetrie nachzugehen begann, stellte er fest, dass dieses Negativitätsbias für ein breites Spektrum von Phänomenen gilt. So verurteilen zahlreiche Religionsgemeinschaften eine Person eines einzigen Fehltritts wegen, oder es genügt ein Augenblick, um von einem Dämon besessen zu sein; dagegen braucht es Jahrzehnte der Hingabe und guter Taten, um ein Heiliger zu werden. Im Kastensystem der Hindus kontaminiert sich ein Brahmane, ein Angehöriger der Priesterkaste, allein dadurch, dass er eine Speise zu sich nimmt, die von jemandem aus einer niedrigeren Kaste zubereitet wurde; ein Unberührbarer dagegen wird nicht etwa dadurch reiner, dass er vom Teller eines Brahmanen isst.

Sowohl Baumeister als auch Rozin waren einige linguistische Besonderheiten aufgefallen. Die Psychologie beschreibt Gemütszustände gern in Gegensatzpaaren: glücklich oder traurig, entspannt oder ängstlich, erfreut oder ärgerlich, freundlich oder feindselig, optimistisch oder pessimistisch. Aber als Baumeister sich die psychologische Forschung über die Wirkung positiver oder negativer Ereignisse vornahm, musste er feststellen, dass etwas fehlte. Psychologinnen und Psychologen wissen seit Langem, dass ein einzelnes Ereignis Menschen auf Jahre hinaus zeichnen kann; sie haben dafür den Begriff Trauma. Aber was ist das Gegenteil? Welches Wort würde einen positiven Gemütszustand bezeichnen, der in Reaktion auf ein einzelnes Ereignis über Jahrzehnte hinweg anhält?

Kurzum, es gibt kein Gegenteil von einem Trauma, da ein einzelnes positives Ereignis nie und nimmer eine entsprechend anhaltende Wirkung hat. Man kann sich bewusst den einen oder anderen vergangenen Augenblick des Glücks ins Gedächtnis rufen, aber die Augenblicke, die einem plötzlich und ungebeten in den Sinn kommen – Psychologen bezeichnen sie als unwillkürliche Erinnerungen –, sind eher die unglücklichen. Schlimme Augenblicke sorgen für unbewusste Gefühle, die einen einfach nicht mehr loslassen wollen. Als Forschende fünfzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg amerikanische Veteranen des pazifischen Kriegsschauplatzes mit solchen verglichen, die in Europa gekämpft hatten, konstatierten sie einen erheblichen Unterschied im Geschmack: Die Pazifikveteranen mieden nach wie vor die asiatische Küche. Desgleichen kann eine einzige schlimme sexuelle Erfahrung eine Person ein Leben lang verfolgen, wogegen selbst das seligste Schäferstündchen zur vagen Erinnerung verblassen wird. Ein Akt der Untreue kann eine Ehe zerstören, aber kein noch so inniger Akt der Hingabe sorgt für ein ewiges Band. Ein Augenblick elterlicher Vernachlässigung kann zu Jahrzehnten Angst und Therapie führen, aber kein Mensch verbringt seine Erwachsenenjahre mit einer Fixierung auf den einen einzigen wunderbaren Tag im Zoo.

Rozin fielen noch andere Wörter zur Bezeichnung von etwas Schlechtem auf, die sich nicht paaren ließen; so gibt es auch nicht ein Wort, das dem Gegenteil von Mörder entspräche. Als man diese Erkenntnis auf die Probe stellte, indem man Leute bat, doch eines zu nennen, gab es keinen Konsens. Einigen Leuten wollte überhaupt nichts einfallen; andere schlugen Wörter vor, die irgendwie nicht so recht passen wollen, wie zum Beispiel Erlöser (ein breiter Begriff, der in der Regel eine spirituelle und andere Formen von Rettung konnotiert); desgleichen der Lebensretter (der einen eher an einen Sanitäter denken lässt oder gleich an einen Retter im übertragenen Sinn). Bereits vor Baumeister hatten Forschende bei der Betrachtung von Sprachen rund um die Welt ein Negativitätsbias bei der Verteilung von Wörtern festgestellt: Es gibt mehr Synonyme für ein negatives Konzept wie Schmerz als für sein Gegenteil, das der Lust. Aber einen Gegensatz zum Mörder gibt es nicht. Die Forschenden an der University Pennsylvania suchten nach weiteren solchen »alleinstehenden Substantiven«, positiven wie negativen, und fanden nur eine Handvoll – und alle bezeichneten sie etwas Negatives.

So bekamen sie Synonyme für Sympathie (wie etwa Mitgefühl und Mitleid) zu hören, aber kein einziges Wort, das die Empathie mit dem Glück eines anderen bezeichnen würde. Es fanden sich Wörter für ein unerwartetes negatives Ereignis wie Unglück und auch für die Möglichkeit, dass etwas Schlimmes passieren könnte, zum Beispiel Risiko, ein Gegenbegriff dazu wollte den Leuten aber nicht einfallen. Ebenso wenig wie den meisten Leuten ein Antonym für Ekel in den Sinn kam. Zum gleichen Ergebnis kamen die Forschenden, als sie sich Versionen dieser Wörter in zwanzig anderen Sprachen ansahen, sowohl in den meistgesprochenen als auch in weniger geläufigen wie Isländisch und Ibo.4 Die Ergebnisse demonstrierten eine extreme Version des Negativitätsbias: Etwas Schlechtes beziehungsweise Schlimmes wirkt so stark, dass der Mensch erst gar nicht auf die Idee kommt, ihm etwas Gutes entgegensetzen zu wollen.

Nachdem sie sich ausgetauscht hatten, wurde Baumeister und Rozin klar, dass sie beide unabhängig voneinander auf dasselbe Prinzip gestoßen waren, was sie dazu veranlasste, 2001 die Veröffentlichung ihrer Erkenntnisse zu koordinieren. Beide Arbeiten gehören mittlerweile zu den meistzitierten in der sozialwissenschaftlichen Literatur. Sie inspirierten Psychologen und ein breites Spektrum anderer Forschender zu Hunderten von Studien über das Negativitätsbias, was nicht nur zu seiner Entdeckung in immer neuen Domänen führte, sondern auch zur Analyse seiner Wirkung und zu Versuchen, dagegen anzugehen. Das vorliegende Buch soll den Anfang machen, diesen wachsenden Korpus an wissenschaftlicher Literatur, der sowohl unser Verständnis des Negativitätseffekts vertieft als auch die ursprünglichen Arbeiten bestätigt hat, einem breiteren Publikum vorzustellen.

Rozins zusammen mit seinem Kollegen von der University of Pennsylvania Edward Royzman verfasste Studie trug den Titel »Negativity Bias, Negativity Dominance, and Contagion«. Die beiden kamen darin zu dem Ergebnis, dass »negative Ereignisse auffallender, stärker, im Verein mit anderen dominant und im Allgemeinen effektiver als positive Ereignisse sind«.5 Baumeisters Studie trug den schlichten Titel »Bad Is Stronger Than Good«. Geschrieben hatte er sie zusammen mit zwei Kolleginnen von der Case Western Reserve University, Ellen Bratslavsky und Kathleen Vohs, sowie Catrin Finkenau von der Freien Universität Amsterdam.6 Nach Sichtung des Materials kamen sie zu folgendem Schluss: »Belege dafür, dass negative Ereignisse eine stärkere Wirkung haben als positive, finden sich im Alltag ebenso wie in lebensverändernden Ereignissen (z. B. Traumata), engen Beziehungen, Mustern sozialer Netzwerke, zwischenmenschlichen Interaktionen und Lernprozessen.«

Wie Baumeister und seine Co-Autorinnen schrieben, hat die Macht der Negativität in ihrem eigenen Metier hundert Jahre lang für eine verzerrende Gewichtung gesorgt. Sowohl psychologische Fachzeitschriften als auch Lehrbücher hätten mehr als doppelt so viel Platz auf die Analyse von Problemen verwandt als auf die Forschung nach den Quellen von Glück und Wohlbefinden. Warum? »Man könnte, als eine von vielen, die Hypothese aufstellen, dass Psychologinnen und Psychologen pessimistische Misanthropen oder Sadisten sind, die eine perverse Befriedigung aus dem Studium menschlichen Leids und Versagens ziehen.« Eine bessere Erklärung jedoch sei laut Baumeisters Team der Druck auf die Forschenden in dieser jungen Wissenschaft, mit statistisch relevanten Ergebnissen aufzuwarten: »Sie mussten die stärkstmöglichen Effekte studieren, auf dass die Wahrheit leuchtender durch das Zwielicht der Fehlervarianz scheinen konnte, damit sie bei ihren Messungen stärker zum Ausdruck kam. Wenn schlecht stärker als gut ist, dann mussten die frühen Psychologen unweigerlich zum Studium der negativen und problematischen Seite des menschlichen Lebens tendieren.«

Forschende waren damit ihrer eigenen Version des Anna-Karenina-Prinzips gefolgt, das nach Tolstois berühmter Bemerkung benannt ist, laut der glückliche Familien alle gleich, jede unglückliche Familie jedoch auf ihre eigene Art unglücklich sei. Es war leichter, die Probleme unglücklicher Menschen herauszuarbeiten und zu messen, also hatten die Psychologen mit diesen begonnen. Noch weiter verzerrt wurde die Forschung, da sie die Öffentlichkeit durch den Filter einer Presse erreichte, die stets auf der Suche nach Nachrichten von unmittelbarer Wirkung, mit anderen Worten schlechten Nachrichten ist. Entsprechend brachte sie zahllose Artikel über den Tribut von Traumata, Psychosen und Depression, herzlich wenig dagegen über die Widerstandsfähigkeit des Geistes und dessen Fähigkeit zum Glück.

So geriet das Konzept der posttraumatischen Belastungsstörung ins öffentliche Bewusstsein, nicht jedoch das des posttraumatischen Wachstums, obwohl dieses weit vorherrschender ist. Die meisten Menschen, die ein Trauma erfahren, gelangen irgendwann zu der Überzeugung, dass die Erfahrung sie stärker gemacht hat, klüger, reifer, toleranter und verständnisvoller; ihrer Ansicht nach sind sie auf die eine oder andere Weise eine bessere Version ihrer selbst. Der einflussreiche Psychologe Martin Seligman hat immer wieder bedauert, dass man der posttraumatischen Belastungsstörung so viel mehr Beachtung schenkt als dem posttraumatischen Wachstum, weil sie für die irrige Erwartung sorgt, dass schlimme Ereignisse hauptsächlich negative Wirkungen haben. Mindestens 80 Prozent der Menschen erleiden noch nicht einmal eine posttraumatische Belastungsstörung, nachdem sie einem entsetzlichen Ereignis ausgesetzt waren.7 Obwohl ein einzelnes schlimmes Ereignis stärker wirkt als ein positives, reagieren die Menschen mit der Zeit in vieler Hinsicht so konstruktiv, dass sie besser denn je für die Herausforderungen des Lebens gewappnet sind. Negatives vermag uns am Ende stärker zu machen.

So sehr waren Psychologen und Journalisten auf das Negative fixiert, dass sie die Wahrheit über die menschliche Widerstandskraft beinahe übersahen. Erst nachdem sie das Negativitätsbias in ihrem eigenen Fachgebiet erkannt hatten, begannen Psychologen der Frage nachzugehen, wie man Robustheit, Wachstum und Wohlbefinden fördern könnte, anstatt lediglich immer nur das Elend zu lindern. Zu diesem Zweck begannen sie sich mit der Macht der Negativität zu beschäftigen. Andere Disziplinen schlossen sich an. Die Kognitionswissenschaften fanden neue Wege, ihr im Rahmen der Behandlung von Angst- und anderen Störungen zu begegnen; außerdem lernte man, sie zur Beschleunigung von Lernprozessen einzusetzen. Volkswirtschaftler begannen zu verstehen, wie sich mit ihrer Hilfe die Produktivität der Arbeiterschaft verbessern ließ. Mit der Religion befasste Soziologen erkannten, wie die Macht der Negativität zu tugendhaftem Verhalten führt und warum die Hölle sich als Konzept in den Religionen gar so rasch ausbreitete. Die christliche Doktrin der Ursünde, laut der die Menschheit seit dem Sündenfall von Adam und Eva zu ewigem Leid verurteilt ist, mag hart anmuten, ebenso, wie es unfair scheint, dass der Held der klassischen griechischen Tragödie eines – und eben nur eines – tragischen Fehlers wegen dem Untergang geweiht ist. Tatsache ist, diese Glaubensgrundsätze decken sich mit einem fundamentalen Element der menschlichen Psychologie und Evolution.

Das Leben muss jeden Tag aufs Neue gewinnen; dem Tod genügt ein einziger Sieg. Ein einziger kleiner Irrtum, eine einzige Fehleinschätzung löscht womöglich alle unsere Erfolge aus. Das Negativitätsbias ist adaptiv, wie Biologen Merkmale nennen, die die Überlebenschancen eines Individuums oder einer Gruppe erhöhen. In der Savanne unserer Jäger-Sammler-Vorfahren haben die überlebt, die mehr darauf achteten, den giftigen Beeren aus dem Weg zu gehen, als sich auf den Genuss der köstlichen zu konzentrieren. Sie taten besser daran, auf hungrige Löwen zu achten als auf wohlschmeckende Gazellen. Die Liebenswürdigkeit eines Freundes war keine Existenzfrage, die Falschheit eines Feindes dagegen konnte zum Tode führen. Auf Gruppenebene hing das Überleben von etwas ab, was die Forschung als Kettenprinzip bezeichnet (nach dem Klischee, dass eine Kette immer nur so stark ist wie ihr schwächstes Glied): Die Sicherheit des Clans ließ sich nicht durch ein einziges gutes Mitglied gewährleisten, wogegen der ganze Clan rasch vergiftet war, wenn ein nachlässiger Koch giftige Knollen servierte. Ein einziger Verräter genügte für einen fatalen Tipp an einen feindlichen Clan.

Ein einziger Fehler kann heute noch tödlich sein; ein Feind kann einem immer noch das Leben zur Hölle machen; ein Verlust kann jahrelange Gewinne eliminieren. Auf Gefahren besonders zu achten hat also durchaus immer noch seinen evolutionären Sinn. Auf der anderen Seite kann sich unser feines Gespür für das Negative auch als Schwäche erweisen, und was für Jäger und Sammler noch sinnvoll gewesen sein mag, ist womöglich nicht immer das Beste für uns. Das Bedürfnis, sich den Bauch mit kalorienreichen Dickmachern vollzuschlagen, hatte in mageren Zeiten in der Savanne durchaus seinen Sinn, führt aber heute, mit Junkfood-Tempeln an jeder Ecke, eher zu Beschwerden und Korpulenz. Darüber hinaus hat das Negative heute auch seine Verfechter, die die Medien nicht weniger geschickt einsetzen als die Leute, die einem Junkfood verkaufen wollen.

Deshalb mutet die heutige Welt auch gar so gefährlich an. Der Terrorismus ist ein Produkt des Medienzeitalters.8 Noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Ermordung einer Handvoll Zivilisten strategisch nicht den geringsten Sinn. Erst als Telegraf und flinke Druckerpressen für die schnelle Verbreitung von Nachrichten sorgten, wurden Terroristen der Durchschlagskraft eines einzigen schrecklichen Anschlags gewahr. Die Suche nach der Angst beschleunigte sich, als man Nachrichten über Rundfunk und Fernsehen zu verbreiten begann, und seit Kabelkanäle, Websites und Social Media rund um die Uhr um die Gunst des Publikums buhlen, läuft sie im Hyperdrive. Sie alle machen sich gewisse menschliche Urgefühle zunutze, indem sie einen Hype um Bedrohungen schaffen – Natur, Technik, Ausländer oder politische Gegner, ihnen ist dabei alles recht. Die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten war Quotengold, weil sie bei beiden Seiten das Schlimmste herausholte, und heute vergeht kaum eine Woche ohne eine Warnung vor dem Untergang der abendländischen Kultur.

Den ganzen lieben langen Tag bestimmt die Macht des Negativen unsere Stimmungen, hat bei unseren Entscheidungen das letzte Wort. Sie ist die treibende Kraft hinter den Nachrichten und prägt den öffentlichen Diskurs; Journalisten bedienen sich ihrer, Politiker, Marketingleute, Blogger, Social-Media-Nattern, Internet-Trolle und weiß der Kuckuck wem sonst noch nach unserer Aufmerksamkeit auf unseren Bildschirmen ist. Historisch gesehen war das letzte Vierteljahrhundert außergewöhnlich friedlich, und trotzdem haben die Leute mehr Schlachten und Blutvergießen mitbekommen als je zuvor. Die Zahl der Gewaltverbrechen in den USA wie auch in Deutschland ist seit 2007 gesunken,9 gefühlt jedoch ist sie für die meisten US-Amerikaner gestiegen.10 Warum? Weil die Medien voll davon sind. Die ständige Berieselung mit schlechten Nachrichten vermittelt den Menschen ein Gefühl der Hilflosigkeit. Sie bauschen daraufhin ihre persönlichen Sorgen zu Katstrophen auf und verzweifeln ob der heutigen Welt.11

Je höher die Lebenserwartung, desto öfter klicken wir in unserer Freizeit auf Schlagzeilen wie »Warum Ihre Ernährung Sie ins Grab bringt«. So glücklich Ihr Familienleben auch sein mag, Sie sehen sich mit »Listicles« bombardiert – von den sieben untrüglichen Merkmalen, dass Ihr Partner fremdgeht, bis zu den fünf todsicheren Tipps, mit denen Sie ihr Kind vor einer Entführung schützen. So tugendhaft Sie auch leben, die Rattenfänger, die es im Web auf Ihre Klicks abgesehen haben, werden immer eine Möglichkeit finden, mit Ihren Ängsten zu spielen. Als Haustierbesitzer sind Sie nicht einmal auf Sites mit reizenden Tiervideos sicher vor einem Algorithmus, der Sie auf Artikel wie diesen aufmerksam macht: »Würde Ihr Hund Sie fressen, wenn Sie sterben? Informieren Sie sich!«

Wenn wir die überproportionale Wirkung des Negativen nicht auszugleichen lernen, wird sie unsere Emotionen ebenso verzerren wie unsere Weltsicht. Die glücklichsten Menschen der Weltgeschichte dachten ihretwegen, auf ihnen laste ein Fluch. Jahrtausende über bestand das übliche Los des Menschen in einer kurzen Lebenspanne voll Plackerei auf dem Feld. 1950 mussten die meisten Menschen mit weniger als einem Dollar pro Tag zurechtkommen12 und konnten nicht lesen;13 heute sind extreme Armut und Jugendanalphabetismus unter 10 Prozent gesunken und der Trend hält an.14 Wir sind reicher, gesünder, freier und sicherer, als unsere Vorfahren sich das je hätten erträumen können, und dennoch können wir uns nicht so recht darüber freuen. Wir wollen lieber auf die Stimme hören, die uns einflüstert, dass die Welt vor die Hunde geht, ganz zu schweigen davon, dass wir sie auch noch wählen. Anstatt Gelegenheiten beim Schopf zu packen und unseren Horizont zu erweitern, wettern wir über Ungerechtigkeiten und leben in Angst vor dem nächsten Desaster. Und allzu oft macht unsere Reaktion alles noch viel schlimmer.

Das Negativitätsbias lässt uns besonders auf äußerliche Bedrohungen achten und diesen eine überproportionale Bedeutung beimessen. Schauen wir dagegen nach innen, unterliegen wir einem anderen Bias. Interessanterweise neigen wir dann nämlich dazu, unsere Tugenden überzubewerten – und unsere Fähigkeit zur Selbsttäuschung kann erstaunliche Ausmaße annehmen. Als man zum Beispiel Gefängnisinsassen, durchaus Gewalttäter und andere schwere Jungs, darum bat, sich mit dem Rest der Bevölkerung zu vergleichen, bezeichneten sie sich nicht nur als moralischer, ehrlicher und mitfühlender als diese, sie schrieben sich auch mehr Selbstbeherrschung zu. Nur in einer Eigenschaft wollten sich diese verurteilten Straftäter nicht über den Rest der Gesellschaft stellen: Was ihre Gesetzestreue anbelangte, hielten sie sich in aller Bescheidenheit gerade mal für Durchschnitt.15

Wir neigen alle dazu, einer wie der andere, unsere Fähigkeiten ebenso zu überschätzen wie unsere Macht über unser Schicksal. Die Leute rasen mit einem falschen Gefühl der Sicherheit über die Autobahn, weil sie sich für überdurchschnittlich gute Fahrer halten; sie gehen davon aus, dass ihre Fertigkeiten sie schützen werden, egal wie viele Unfälle von Faktoren bestimmt werden, die sich ihrer Kontrolle entziehen. In ähnlicher Weise unterschätzen Menschen, wenn sie gefragt werden, ob sie in der Lage sind, ein Projekt fertigzustellen, normalerweise den zeitlichen Rahmen. Sie sind viel zu überzeugt von sich und planen Verzögerungen nicht ein, die sich ihrer Kontrolle entziehen. Dieses »Optimismusbias« verführt die Menschen dazu, das Risiko für negative Ereignisse in ihrem Leben zu unterschätzen, was das eine oder andere negative Ereignis ausmacht. Nicht dass sie nicht wüssten, dass etwas Schlimmes passieren könnte, ja, sie haben nicht selten sogar die unrealistisch hohe Erwartung, dass etwas Schlimmes passiert, aber sie sagen sich, dass es einem anderen passiert.

Immer wieder führt diese toxische Kombination aus Angst und übersteigertem Selbstvertrauen zur Katastrophe. Politologen haben dieses Phänomen herangezogen, um – angefangen beim Gemetzel des Ersten Weltkriegs – einige der rätselhaftesten Fehler der modernen Geschichte in den Griff zu bekommen. Warum war das Deutsche Kaiserreich gar so erpicht auf einen Krieg, der sich als derart zwecklos erwies? Vor dem Krieg war Deutschland die vorherrschende Wirtschafts- und Militärmacht Europas gewesen – selbst der tollkühnste unter seinen Nachbarn hätte keinen Angriff gewagt. Und dennoch war die deutsche Regierung besessen von dem Gedanken, hinter dem Tun anderer Nationen Feindseligkeiten zu sehen. 1912 überlegte der damalige deutsche Reichskanzler Bethmann Hollweg, ob es denn noch einen Zweck habe, neue Bäume im Park seines Guts zu pflanzen, weil er davon ausging, dass dort ja doch in einigen Jahren die Russen sein würden.16 So sehr die Historiker sich bemühten, rationale Gründe für diese Paranoia zu finden, die beste Erklärung findet sich laut den Politikwissenschaftlern Dominic Johnson und Dominic Tierney17 in der psychologischen Literatur.

Sie zogen jüngst die Arbeit von Baumeister und Rozin zur Erklärung nicht nur der Ängste heran, die die deutsche Regierung in den Ersten Weltkrieg führte, sondern auch zur Erklärung der amerikanischen Entscheidung für den Einmarsch im Irak 2003.18 Wie das Deutsche Reich überschätzten die Amerikaner die Bedrohung durch den Feind aufgrund der irrigen Annahme, Saddam Hussein verfüge über Massenvernichtungswaffen. Und ebenso wie die Deutschen einen raschen Sieg erwarteten, erlagen auch die Amerikaner dem Optimismusbias, als sie ihre Fähigkeit überschätzten, Saddam durch eine stabile demokratische Regierung zu ersetzen. So schufen sie in ihrem Eifer, eine imaginäre Gefahr zu bannen, eine ausgesprochen reelle Bedrohung, indem sie für genau das Chaos sorgten, das ISIS und anderen dschihadistischen Gruppen zur Blüte verhalf.

Diese Kriege sind Beispiele für ein Phänomen, das wir als Krisenkrise bezeichnen: eine nicht abreißende Serie künstlich hochgespielter Bedrohungen, die zu Reaktionen führen, auf die hin wir letztlich alle schlechter dastehen. Die Vereinigten Staaten sind die größte Militärmacht der Weltgeschichte, und dennoch wollen ihre Politiker uns einreden, Staaten wie Iran und Nordkorea stellen eine tödliche Bedrohung für uns dar. Je sicherer die Straßen werden, desto verzweifelter suchen die Medien nach neuen Gefahren – nehmen Sie nur die eingebildeten Kriminalitätswellen illegaler Zuwanderer (die mit einiger Wahrscheinlichkeit eher weniger Verbrechen begehen als wir Einheimischen).19 Oder nehmen Sie die angeblich grassierende Gefahr durch wildfremde Kindesentführer (ein Risiko, das statistisch noch geringer ist als ein Tod durch Blitzschlag)20. Und will sich wieder mal so gar nichts Spektakuläres tun, können die Medien immer noch die Angst vor künftigen Untergangsszenarien schüren: da löscht dann ein Virus die Menschheit aus, Roboter übernehmen die Welt oder es steht uns ein Umweltkollaps ins Haus. Apokalyptische Prophezeiungen sind so alltäglich geworden, dass eine bundesweite Stichprobe amerikanischer Schulkinder unter zehn auf die Frage, wie die Erde denn ihrer Ansicht nach aussehen würde, wenn sie mal groß wären, eines von drei Kindern die Befürchtung äußerte, dass es dann womöglich keine Erde mehr geben würde.21

Die Soziologen nennen diese Art von erwachsenem Kinderschreck availability entrepreneur, also Verfügbarkeitsunternehmer. Es handelt sich dabei um Journalisten, Aktivisten, Akademiker, Prozessanwälte und Politiker, die Kapital aus der menschlichen Neigung schlagen, eine Gefahr daran zu messen, wie viele Beispiele dafür uns gerade einfallen wollen, anders gesagt entsprechend verfügbar sind. Die Zahl der Menschen, die in den letzten zwanzig Jahren weltweit durch al-Qaida, ISIS und ihre Verbündeten ums Leben kamen, liegt unter der Zahl der US-Amerikaner, die in ihrer Badewanne gestorben sind,22 nur sind Letztere im Gegensatz zu Terroropfern nun mal nicht Tag für Tag auf unseren Bildschirmen zu sehen. Folge davon ist ein sich selbst erhaltender Prozess, den Timur Kuran und Cass Sunstein als Verfügbarkeitskaskade bezeichnet haben:23 Die Berichterstattung einer Gefahr schürt Ängste in der Öffentlichkeit, was zu weiterer Berichterstattung und damit zu weiteren Ängsten führt. Dies ist der Grund dafür, dass 40 Prozent aller Amerikaner in der Angst leben, sie oder jemand aus ihrer Familie könnten einem Terroranschlag zum Opfer fallen.24 Badewannen dagegen, die trotz des hohen Tributs an Menschenleben, die sie fordern, nicht der Sensationsmache der Medien ausgesetzt sind, flößen keinem Furcht ein; Millionen von Amerikanern benutzen sie, ohne erst aus Angst um ihr Leben zu überlegen, ob sie sich da hineintrauen sollen.

Wir wollen hier gegen die Kaskaden der Furcht angehen, die völlig unnötig Ängste schüren und politisch zu destruktiven Entscheidungen führen. Wir hoffen hier eine neue, eine andere Art von Kaskade loszutreten. Wir erwarten sehr wohl, dass es die Erde noch geben wird, wenn die heutigen Kinder groß sind, und wir würden diesen Optimismus gern mit ihnen und ihren Eltern teilen. Das Leben ist heute nicht mehr »einsam, arm, gehässig, brutal und kurz«, wie Thomas Hobbes den Naturzustand des Menschen beschrieb,25 und dennoch, so haben Psychologen festgestellt, sehen heute noch selbst wohlhabende Menschen mit einer ansehnlichen Lebensspanne eben dieses Leben in diesem Licht. Als Forschende Erwachsenen in den USA, Kanada und Indien die Frage stellten, ob das Leben nun lang oder kurz und leicht oder schwierig sei, gaben die Amerikaner sich keinen Deut heiterer als die Inder, und das trotz der statistischen Vorteile hinsichtlich Einkommen und Lebenserwartung in den USA. Die Optimisten waren, wie nicht weiter überraschen wird, erheblich glücklicher als die Pessimisten, darüber hinaus sozialer eingestellt, gingen eher zur Wahl, spendeten karitativ und leisteten Freiwilligendienst in ihrer Gemeinde.26

Wie lässt sich die Schar der Optimisten vergrößern? Wir erhoffen uns hier keinesfalls, den Negativitätseffekt ausmerzen zu können, wirklich nicht, aber wir hoffen doch, Ihnen zeigen zu können, wie Sie sich nicht länger von ihm Ihr Leben bestimmen lassen. Als Erstes werden wir seiner Macht auf den Grund gehen – um wie viel schlecht stärker ist als gut, wie der Negativitätseffekt in unserem Gehirn wirkt, wie er unsere Wahrnehmung der Menschen wie auch der Risiken um uns herum beeinflusst. Wir wollen Ihnen zeigen, wie Sie diese Verzerrungen bei sich minimieren können. In der Mitte des Buches werden wir darüber sprechen, wie Sie die Macht des Negativen positiv einsetzen und wie Sie mit den speziellen Herausforderungen des Negativitätseffekts im Geschäftsleben und in der Online-Welt umgehen können. Wir werden uns die menschlichen angeborenen Stärken ebenso ansehen wie bewusste Strategien, mit denen wir uns gegen das unablässige negative Bombardement wehren können.

Wir Menschen sind insofern einzigartig im Tierreich, als wir das Negativitätsbias kontrollieren – oder zumindest erkennen – können. Andere Geschöpfe verfügen über eine angeborene Aversion gegen Gefahren und Mechanismen, die sie befähigen, eine Abneigung gegen bestimmte Dinge zu entwickeln; Menschen haben eine einzigartige Fähigkeit, Aversionen zu überwinden.27 Nicht selten lernen wir mit der Zeit, Aktivitäten zu lieben, die uns zunächst entsetzliche Angst eingejagt haben, Horrorfilme gucken, zum Beispiel, oder Achterbahn fahren. Uns schaudert bei der ersten Begegnung mit Kaffee, Knoblauch oder Chilischoten, irgendwann jedoch beginnen wir ihren Geschmack zu goutieren. Die Angst vor dem Sturz ist angeboren – Kinder zeigen sie, noch bevor sie sprechen lernen –, trotzdem entwickelt so mancher eine Liebe fürs Fallschirmspringen oder Bungee-Jumping.

Wir können uns die Perspektive erarbeiten, die uns erkennen lässt, dass es in unserem Leben wie überhaupt auf der Welt mehr zu feiern als zu betrauern gibt, und wir können dieses Wissen dazu einsetzen, um die Welt ein bisschen besser zu machen. Wir können uns trotz der Macht des Negativen entfalten, wir müssen nur lernen, wie. Den Anfang dazu machen wir am besten nach der alten Devise: Erkenne den Feind.

Kapitel 1Wie negativ ist negativ?

Benutzen wir mal den Verstand

Ganz zu Beginn seiner Laufbahn, lange vor seiner ersten Veröffentlichung über den Negativitätseffekt, unternahm Baumeister etwas, was sich mit etwas gutem Willen als Pilotstudie bezeichnen lässt, auch wenn er selbst der einzige Proband war. Er lebte damals in einer Beziehung mit einer Frau, die so brillant wie charmant und – jedenfalls meistens – durchaus liebevoll war. Allerdings sah sie sich öfter zu lautstarken Tobsuchtsanfällen provoziert, die ihn verwirrten und bedrückten. Nie hatte er seine Eltern die Stimme gegeneinander erheben hören; nie war ihm jemand mit einem derart explosiven Temperament auch nur untergekommen. Schon beim harmlosesten Fehler konnte sie in die Luft gehen. Da genügte eine Lache im Bad nach dem Duschen oder dass er nach dem Bügeln eines Hemds das Gerät auszuschalten vergaß. Einmal wurde sie so wütend, dass sie eine Schüssel an der Küchenwand zerschlug. Er wusste, dass er alles andere als perfekt war, und ihm war durchaus klar, dass eine Beziehung auch Arbeit bedeutet, aber diese Konfrontationen waren für ihn schwer zu ertragen.

Hinterher tat ihr das dann aufrichtig leid. Sie entschuldigte sich, nahm alle Schuld auf sich und erklärte ihm, was sie so aufgebracht hatte und was er beim nächsten Mal anders machen könnte. So brillant und charmant, wie sie dabei war, schmolzen seine Zweifel wieder dahin. Er dachte an den Anfang ihrer Beziehung zurück, an die aufregenden Augenblicke der Entdeckung einer Seelenverwandtschaft, und er wusste, dass er sie immer noch liebte. Also versöhnten sie sich immer wieder leidenschaftlich und versprachen einander, sich künftig mehr Mühe zu geben. Sie versuchte ihren Zorn in den Griff zu bekommen, und er versuchte ein rücksichtsvollerer Partner zu sein. Eine Zeit lang war wieder alles gut, aber schließlich ging es doch bergab. Als er sich, um ihr zu helfen, so verhielt, wie sie es vorgeschlagen hatte, tat sie das als Masche ab und blieb wütend auf ihn, worauf er einmal mehr so weit war, die Beziehung zu beenden. Aber am nächsten Morgen schöpfte er dann doch wieder Hoffnung.

Er wusste, dass schlecht und gut sich einander nicht notwendigerweise ausschließen; sie können, in unterschiedlichen Bereichen, durchaus nebeneinander bestehen. Er wusste, als Liebender sollte er auf sein Herz hören, aber auf welches Herz und an welchem Tag? An den schlimmen Tagen sehnte er sich verzweifelt danach, frei zu sein, aber auf der anderen Seite wollte er auch nicht allein sein. Er war in einer Familie aufgewachsen, in der Liebe sich eher wie eine Verpflichtung als eine Freude ausnahm, weshalb sich für ihn mit seiner Liebe eine neue Welt aufgetan hatte. Es schien ihm leichtfertig, eine Beziehung zu beenden, die ihm immer wieder Augenblicke intensiven Glücks bescherte. Wenn er in seinen Psychologieseminaren etwas gelernt hatte, dann war das, wie leicht der menschliche Geist sich vom Hin und Her der Gefühle zerfleischen ließ. Er konnte seinen Gefühlen einfach nicht trauen – nicht, wenn sie derart zwischen Seligkeit und Verzweiflung pendelten. Entsprechend suchte er nach einer Möglichkeit, seinen rationalen Verstand wieder in den Dialog miteinzubeziehen.

Wir kennen das alle. Wir wollen uns ein Urteil über etwas bilden – eine Affäre, einen Job, eine Freundschaft, ein Projekt – und notieren uns das Für und Wider. Selbstverständlich möchten wir alles Mögliche durchziehen, zu unseren Verpflichtungen stehen, aber was, wenn der Preis dafür einfach zu hoch ist? Das Bauchgefühl rät einem, dem Spuk ein Ende zu machen, aber da das Negative bei der Intuition nun mal die Oberhand hat, ist auf unser Bauchgefühl eben nicht notwendigerweise Verlass. In einem leidenschaftlichen – oder brenzligen – Augenblick wird das Negative immer stärker sein. Um schlecht und gut richtig gegeneinander abzuwägen, muss man seinen rationalen Verstand – das »System 2« – einschalten, wie der Psychologe Daniel Kahneman den logischen, aber langsameren Teil des Verstandes nennt. Das bedarf auf kurze Sicht einer größeren geistigen Anstrengung, als Kahnemans »System 1« – dem Bauchgefühl – zu folgen, dem instinktiven und emotionalen Teil, der sich rasch mal von der Macht des Negativen überzeugen lässt, aber auf lange Sicht erspart es einem sowohl Kummer als auch Energieverluste.

Im Dilemma seiner vertrackten Beziehung suchte Baumeister Zuflucht in der klassischen Strategie aller Sozialwissenschaftler – dem Sammeln von Daten. Er entwickelte dazu ein primitives binäres System. Jeden Abend ließ er den vergangenen Tag Revue passieren und fragte sich, ob er froh war, in dieser Beziehung zu sein; die Antwort vermerkte er als ja oder nein in einem Notizbuch. Außerdem setzte er einige Grenzwerte. Sollten die schlechten Tage überhandnehmen, so sagte er sich, wäre das ein klarer Grund für die Beendigung der Beziehung. Sollten unter dem Strich wenigstens vier gute Tage auf einen schlechten kommen, wäre das ein Grund, in der Beziehung zu bleiben. Alles dazwischen wäre, na ja, dazwischen. Ihm war klar, wie willkürlich diese Parameter waren, aber in seiner Verzweiflung hätte ihm auch schon ein Hauch von Klarheit genügt.

Nachdem er einige Monate Buch geführt hatte, sah er, dass das Verhältnis von gut und schlecht relativ stabil war – nur die Klarheit stand nach wie vor aus. Es kamen zwei gute Tage auf einen schlechten, ein Verhältnis genau in der Mitte der von ihm gesetzten Grenzwerte. Was tun? Die guten Tage überwogen merklich, das schon, aber an den schlechten Tagen ging es ihm schlechter denn je. Er entschloss sich, mit seiner Partnerin Schluss zu machen, eine Entscheidung, die doch wieder eher auf seinem Bauchgefühl beruhte als auf seinen Daten. Schließlich jedoch lieferten ihm andere Wissenschaftler eine vernunftgesteuerte Erklärung für seine Entscheidung – und für seine wissenschaftliche Methode.

Beim Durchgehen der täglichen Einträge in seinem Notizbuch stieß er auf ein Konzept, das er später als Positivity Ratio bezeichnen sollte. Er verstand darunter die Zahl der positiven Ereignisse im Verhältnis zu den negativen. Dieses simple Verhältnis vermag natürlich unmöglich eine Liebe oder das Leben an sich in seiner ganzen Komplexität zu messen, ist aber ein wertvolles Werkzeug zum Verständnis des Negativitätseffekts. Es erlaubt den Forschenden immerhin, das Negative zu messen und seine Wirkung zu taxieren. Und Therapeutinnen und Beratern gibt es eine Methodik an die Hand, Probleme zu diagnostizieren und Fortschritte einzuschätzen.

Und, ganz entscheidend: Es eröffnet uns allen eine Möglichkeit, mit der Macht des Negativen umzugehen: Es erlaubt uns, den rationalen Teil unseres Gehirns dazu einsetzen, die lähmenden Ängste sowohl zu verstehen als auch zu überwinden, die unser Leben belasten und Beziehungen ruinieren. Um dahinterzukommen, wie gut eine Person, ein Paar oder eine Gruppe funktionieren und um das Negativitätsbias zu überwinden, brauchen wir eine Methode, mit der sich das Positive gegen das Negative abwägen lässt. Nur so können wir ihre relative Stärke feststellen. Wir müssen uns fragen: Wie schlecht ist eigentlich schlecht?

Zählen wir doch mal nach

Einer der Pioniere bei der Arbeit mit der Positivity Ratio war Robert Schwartz, ein klinischer Psychologe, dem sich irgendwann die Frage stellte, inwieweit er und seine Kollegen ihren Patienten eigentlich tatsächlich eine Hilfe waren. Ihm war nach einem präziseren Maß für den Fortschritt als ein lapidares »die Patientin war nach der Behandlung nicht mehr so depressiv«. Beginnend in den 1980er-Jahren, verglich er über mehrere Jahrzehnte hinweg die Anzahl positiver und negativer Gefühle von Personen in psychotherapeutischer Behandlung. Wie er feststellte, gab es einige, die doppelt so viele negative Gefühle erlebten wie positive, ein Verhältnis, das sich durch Gesprächstherapie und Antidepressiva verbessern ließ.

Am anderen Ende des Spektrums fand er Personen, die zu 90 Prozent positive Gefühle hatten, dabei jedoch geradezu in gefährlichem Maße unrealistisch waren und zu Egoismus, Manien und Verleugnung neigten. Das Leben ist keine unablässige Abfolge seliger Augenblicke, und ein gesunder Mensch reagiert durchaus auf Negatives – wenn auch nicht allzu sehr. Schwartz kam zu dem Schluss, dass Menschen mit einem ausgewogenen Verhältnis von positiven und negativen Gefühlen zu einer »leichten Dysfunktionalität« neigen, während »normal funktionierende« Personen durchschnittlich zweieinhalb positive Gefühle pro einem negativen Gefühl hatten. »Optimal funktionierende« Menschen brachten es auf etwas über vier positive pro negativem Gefühl.1 Das mag sich alles nach grauer Theorie anhören, aber ein solches Hilfsmittel für eine Therapie zur akkurateren Bestimmung von Gefühlen war ein wichtiger Schritt zur besseren Behandlung von Leiden wie etwa der Depression.

Andere Forschende zählen etwas prosaisch die Arten, wie Menschen sich lieben – oder eben auch nicht. Eine eher simple Methode ist dabei, die Häufigkeit des Intimverkehrs und der Zankereien in einer Beziehung zu zählen. Weder die eine noch die andere Zahl sagt für sich genommen groß etwas aus: Einige Paare streiten sich kaum und gehen selten miteinander ins Bett, während andere sich ständig streiten, um sich dann leidenschaftlich wieder zu versöhnen. Das Verhältnis jedoch zwischen Sex und Knatsch hat sich als verlässlicher Prädiktor für die Aussichten einer Ehe erwiesen.2

Eine etwas ehrgeizigere Methode besteht darin, den Umgang zweier Partner miteinander zu quantifizieren. Ein früher Versuch hierzu findet sich in einer Studie des Psychologen Harris Friedman von 1971, für die er Buch über positive und negative Bemerkungen von Ehepaaren im Rahmen eines stressigen Rollenspiels führte, in dem ihre Zusammenarbeit gefragt war.3 Wie er feststellte, entsprach das Verhältnis von positiven zu negativen Bemerkungen während des Rollenspiels dem Grad der Zufriedenheit der beiden Partner mit ihrer Ehe. Der Psychologe John Gottman stellte in seinen Studien fest, dass sich in einer problematischen Beziehung positive und negative Interaktionen in etwa die Waage halten, während in Beziehungen, denen langfristig Glück bestimmt ist, die positiven Interaktionen um das Fünffache überwiegen.4

Diese »Gottman-Ratio« von 1 zu 5 hat sich als durchaus erfolgreicher Standard für die Beurteilung unterschiedlicher Beziehungstypen etabliert. Einige glückliche Paare zeigen nach außen eher wenig Zuneigung, ihre Beziehung jedoch floriert, weil sie kaum streiten; andere erfolgreiche Paare streiten öfter, machen das aber mit einem gerüttelt Maß an Wärme und Güte wieder wett. Einige amerikanische Forschende sprechen bei der Gottman-Ratio von über den Daumen gepeilt »fünf Nummern pro Streit«. Was natürlich eine krasse Simplifizierung ist, schließlich gibt es viele andere Formen von Zuneigung, dennoch erlaubt diese Regel die Einschätzung eines fundamentalen Problems: Überwiegt das Positive das Negative in signifikanter Weise? Die Gottman-Ratio ist also für Paare ein Ziel, auf das sich hinzuarbeiten lohnt, auch wenn sie keineswegs besagt, dass schlecht fünfmal stärker ist als gut.

Paartherapeuten raten zur Fünf-zu-eins-Ratio, weil das Positive hier deutlich überwiegt.

Behavioristisch ausgerichtete Ökonominnen und Ökonomen studieren seit Langem schon Positivity Ratios, und das mit einem recht simplen Maß: dem Dollar. Schon vor einem halben Jahrhundert haben Forschende experimentell festgestellt, dass Menschen in ihrer Gier nach dem Mammon unvernünftige Wetten eingehen – sie hätten da eigentlich nur die Betreiber von Spielcasinos zu fragen brauchen. Ihre Experimente haben aber ergeben, dass Menschen noch irrationaler handeln, wenn sie Gefahr laufen, Geld zu verlieren. Nach einschlägigen Arbeiten der Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky bekam dieses Phänomen den Namen Verlustaversion. Wie die beiden feststellten, sind die meisten von uns noch nicht einmal bereit, bei gleichem Einsatz auf Kopf oder Zahl zu wetten. Wir riskieren keinen Zwanziger, es sei denn, es besteht die Chance, wenigstens das Doppelte zu gewinnen. Warum? Kahneman und Tversky kamen zu dem Schluss, dass der Verlust eine weit gewichtigere Rolle spielt als der Gewinn.5

Wie andere Forschende jüngst herausgefunden haben, gibt es jedoch auch noch einen anderen Grund für die Vorsicht der Zocker. Sie rührt nicht nur daher, dass Menschen eben nicht gern ihr Geld verlieren; sie glauben vielmehr schlicht nicht an die Fifty-fifty-Chance eines Münzwurfs. Ihrem Bauchgefühl folgend, halten sie die Wahrscheinlichkeit, dass die Münze Zahl zeigt, für höher, wenn sie Kopf wählen. Das hört sich verrückt an und ist natürlich irrational, aber eben gar nicht so selten – es ist einfach die Art, wie Menschen sich die Zukunft vorstellen.

Wenn man uns, sagen wir mal, identische Wettervorhersagen für London und Madrid gibt, mit einer zehnprozentigen Wahrscheinlichkeit für Niederschläge in beiden Städten, dann gehen wir automatisch davon aus, dass es eher in London regnet als in Madrid.6 Mathematisch macht das nicht den geringsten Sinn, aber die Wahrscheinlichkeit, dass es in London regnet, scheint uns nun mal höher, weil wir Regen eher mit England verbinden als mit Spanien. Je vertrauter uns ein Szenario ist, das heißt, je mehr Bilder wir davon im Kopf haben, desto wahrscheinlicher erscheint es uns.7 Diese Täuschung kann sehr wohl unser Urteil über einen Münzwurf verzerren. Experimente, bei denen man die Augenbewegungen von Spielern im Casino verfolgte, zeigten, dass diese mehr auf einen potenziellen Verlust achteten als auf einen Gewinn.8 Da sie mehr Zeit auf den Gedanken verwenden, dass sie verlieren könnten, halten sie das schließlich auch für wahrscheinlicher und lehnen deshalb eine Wette ab, bei der nicht mehr zu gewinnen als zu verlieren ist.9 Sie verlangen Gewinnchancen von wenigstens 2 zu 1, manchmal mehr, je nachdem, wie viel Geld im Spiel ist, um nur einen von mehreren Faktoren zu nennen. Noch weit größere Differenzen stellt der Volkswirtschaftler Richard Thaler bei erhöhten emotionalen Einsätzen fest.

Die Viererregel

Wie wir gesehen haben, sind zwischen zwei und fünf positive Ereignisse notwendig, um ein negatives aufzuwiegen. Es überrascht nicht weiter, dass die Ergebnisse am unteren Ende alle aus Studien kommen, bei denen Geld im Spiel war. Schlussendlich hat es unser Verstand in solchen Situationen mit der Überwindung des Negativitätsbias leichter, weil er sich statt auf Gefühle auf konkrete Zahlen konzentrieren kann. So schmerzlich es ist, Geld zu verlieren, man kann sich sagen, dass der Verlust eines Hunderters durch den Gewinn eines Hunderters wieder aufgewogen ist. Spieler trainieren sich darauf, auf der Basis mathematischer Chancen anstatt ihres Bauchgefühls zu spielen. Nicht jeder ist dazu fähig, aber bei Experimenten mit Geld waren einige Teilnehmende zweifelsohne in der Lage, Gewinn und Verlust leidlich rational gegeneinander abzuwägen, sodass unter dem Strich ein durchschnittliches Verhältnis von 2 zu 1 erreicht wurde.

Sobald es aber nicht um Geld geht, ist es weit schwieriger, objektive Vergleiche anzustellen; beim überwiegenden Teil der positiven und negativen Ereignisse in unserem Leben können wir von derart rationalen Urteilen nur träumen. Wie bereits erwähnt, ist die Positivity Ratio bei Depressiven oder Personen in konfliktreichen Ehen eher höher als 2 zu 1. Studien über die Stimmung von Arbeitern und Angestellten im Verlauf des Tages zeigen, dass ein Rückschlag zwischen zwei- und fünfmal so stark wirkt wie ein positives Ereignis.10 Emotionen beeinträchtigen unsere Rationalität und machen uns entsprechend anfälliger für die Macht des Negativen.

Einige der meistzitierten Messungen von emotionalem Wohlbefinden hat die amerikanische Psychologin Barbara Fredrickson durchgeführt.11 Damals noch an der University of Michigan, teilte sie ihre Probanden unter den dortigen Studierenden aufgrund von Diagnosetests in zwei Kategorien ein: in Blühende beziehungsweise Erfüllte und Welke beziehungsweise Vegetierende. Die erfüllten Studierenden, so zeigten die Testergebnisse, waren zielbewusst, entschlussfreudig und hatten ihr Leben im Griff; sie akzeptierten sich und kamen gut mit anderen aus. Die vegetierenden Studierenden hatten mehr persönliche Probleme und fühlten sich weniger gut in die Gemeinschaft integriert.

Im Verlauf der folgenden Monate führten beide Studierendengruppen täglich Buch über ihre Höhen und Tiefen. Jeden Abend loggten sie sich in eine Website ein und beurteilten, wie stark sie – wenn überhaupt – bestimmte Gefühle empfanden. Die Liste umfasste positive Emotionen (wie Belustigung, Staunen, Freude, Mitgefühl, Dankbarkeit und Liebe) und negative (wie Ärger, Verachtung, Traurigkeit, Verlegenheit, Schuld und Angst). Bei der Zusammenfassung aller Tagesberichte stellte Fredrickson fest, dass die vegetierenden Studierenden zwar mehr positive als negative Emotionen hatten, ihr Positivitätsquotient insgesamt jedoch nur bei etwa 2 zu 1 lag; bei den erfüllten Studierenden lag er insgesamt bei etwas über 3 zu 1.

Da die Studie auf die universelleren Vorteile der positiven Psychologie aufmerksam machte, erregte das Ergebnis weithin Aufmerksamkeit. Fredrickson und andere Forschende hatten bereits in Laborexperimenten bewiesen, dass durch positive Stimuli angeregte Menschen bei kreativen Aufgaben besser abschneiden. Sie sehen buchstäblich das große Ganze: ihr Blick erfasst ein weiteres Gesichtsfeld, anstatt sich lediglich auf das zu konzentrieren, was unmittelbar vor ihnen liegt, wie das der Fall ist, wenn man sie mit negativen Stimuli zu motivieren versucht. Fredrickson entwickelte, was sie als »Broaden-and-build«-Theorie bezeichnete: positive Gefühle erweitern unseren Horizont und ermöglichen uns die Ausbildung von Fähigkeiten, die uns dabei behilflich sein können, persönlich wie beruflich aufzublühen. Diese Theorie wurde zu einer der einflussreichsten Ideen der positiven Psychologie, und die Studie mit den täglichen Einträgen der Studierenden lieferte sowohl eine real nachvollziehbare Bestätigung als auch eine Methode zur Einschätzung des psychischen Wohlbefindens einer Person.12

Nach und nach ermittelte die Forschung ähnliche Positivitätsquotienten bei der Messung anderer Auswirkungen von gut und schlecht. Eine der simpelsten Messungen – von uns favorisiert, weil es genau das betrifft, was Baumeister in seiner problematischen Beziehung praktizierte – besteht einfach darin, die guten und die schlechten Tage zu zählen. Bei einigen Forschenden sieht das so aus, dass sie Personen fragen, ob sie einen guten, einen schlechten oder einen typischen Tag hatten. So führte etwa der Psychologe Randy Larsen in seinen Studien Buch über die täglichen Stimmungen von Versuchspersonen über Zeiträume von einem bis drei Monate hinweg.13 Abgesehen von genaueren Angaben über die Art ihrer positiven und negativen Emotionen nennen die Teilnehmenden das Beste und das Schlimmste, was ihnen an jedem Tag widerfahren ist, und bewerten die Intensität der Wirkung der einzelnen Erlebnisse auf sie. Larsen kombinierte alle diese Antworten, um jeden Tag als überwiegend positiv oder negativ zu klassifizieren. Alles in allem kamen in seinem Versuch bei einer typischen Person drei gute Tage auf einen schlechten.

Um also über dem Durchschnitt zu liegen, sollten auf jeden schlechten Tag wenigstens vier gute kommen. Dies scheint uns ein erstrebenswertes Ziel zu sein – und nicht nur, weil es zufällig dasselbe ist, auf das der junge Baumeister kam, als er die guten und die schlechten Tage in seiner Liebesbeziehung zählte. Seit seiner Schätzung sind Forschende wiederholt zu der Erkenntnis gekommen, dass Negatives mindestens zweimal so wirkungsvoll ist wie Positives und im Allgemeinen mindestens dreimal so wirkungsvoll, wenn es um Emotionen und Beziehungen anstatt um Geld geht. Das bedeutet, dass der Positivitätsquotient, falls das Gute das Schlechte überwiegen soll, wenigstens bei 3 zu 1 – vorzugsweise etwas höher – angesetzt werden muss. Entsprechend schlagen wir eine Richtlinie vor, die wir die Vierer-Regel genannt haben: Es braucht vier gute Erlebnisse, um ein schlechtes Erlebnis wettzumachen.

Wir schlagen das als groben Richtwert vor. Wir behaupten keineswegs, damit eine universelle Konstante wie die Lichtgeschwindigkeit oder »Avogadros Zahl« entdeckt zu haben. Es handelt sich um eine Faustregel, nicht um ein Naturgesetz. Es gilt nicht für jede Person in jeder Situation und auch nicht für jede Art von Positivem oder Negativem, das einem widerfährt. Einige Arten von Negativem sind sondergleichen in ihrer Wirkung. Wie bereits angemerkt, gibt es eine Handvoll negativer Wörter – wie etwa Trauma und Mörder –, die noch nicht einmal ein positives Komplement haben.

Alles in allem haben praktisch alle negativen Wörter Antonyme, weil wir Menschen nun mal Gutes und Schlechtes gegenüberstellen. Meist haben wir es mit einer Mischung aus positiven und negativen Erfahrungen und Emotionen zu tun. Indem wir die beiden gegeneinander abwägen, schätzen wir unsere Aussichten ein. Die Viererregel kann uns dabei helfen, mithilfe von Baumeisters simpler Technik die guten und die schlechten Tage zu zählen, eine Beziehung oder unseren Arbeitsplatz zu beurteilen. Wenn am Arbeitsplatz Montag bis Donnerstag gut ausfallen, wiegen diese guten Arbeitstage in einer typischen Woche den schlechten Freitag durchaus auf. Selbstverständlich wird die 4-zu-1-Regel kein großer Trost sein, wenn man am Freitag gefeuert wird. Aber das wäre dann auch keine typische Woche. Die Regel greift nur, wenn die Ereignisse von der Größenordnung her zu vergleichen sind. Wir sprechen von ganz gewöhnlichen Erfolgen und Rückschlägen bei der Arbeit oder in Augenblicken der Zuneigung oder Zänkereien zu Hause. Wenn Sie und Ihr Partner mindestens viermal so oft Sex miteinander haben, wie sie sich streiten, klingt das nach einer leidlich gesunden Beziehung. Liegt das Verhältnis bei lediglich 2 oder 3 zu 1, wäre ich mir da nicht mehr so sicher. Liegt es bei 1 zu 1, so ist das kein Unentschieden – dann haben Sie ein Problem.

Wenn Sie an sich zu arbeiten beginnen, sagen wir mal durch tägliche Fitnessübungen oder eine gesündere Ernährung, kann die Viererregel eine gute Zielvorgabe abgeben. Immer wieder lassen die Leute ihre guten Vorsätze fürs Neue Jahr sausen, weil sie sich unrealistische Ziele setzen. Sie geben dann beim ersten Ausrutscher auf. Leute auf Diät stolpern praktisch immer über etwas, was Ernährungsforscher den »Was-soll’s-Effekt« nennen: Jetzt habe ich mit der Portion Eis ohnehin schon gesündigt, da kann ich auch gleich den Rest der Packung aufessen. Anstatt nach Perfektion zu streben und zu verzweifeln, wenn wir scheitern, könnten wir uns zum Ziel setzen, uns an wenigstens vier von fünf Tagen an unsere Diät zu halten. Was durchaus etwas lax sein mag für einige Unterfangen, sagen wir mal, wenn es ums Rauchen geht, wo einfach aufzuhören oft die einzige Lösung ist. Aber in der Regel werden wir davon profitieren, dass wir das Verhältnis von Tugend und Laster bei 4 zu 1 oder höher halten.