Vom Flüchtling zum Spion - Marty Karbassion - E-Book

Vom Flüchtling zum Spion E-Book

Marty Karbassion

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Beschreibung

Eine filmreife, intensive Geschichte von Marty Karbassion Basierend auf einer wahren Begebenheit Es ist ein warmer Sommertag im August 1988, als Mehdi Karbassion ein allerletztes Mal seine Wohnung in West-Berlin betritt. In Eile versteckt er seinen Ausweis und lässt damit sein altes Leben hinter sich. Ein Leben, das mit seiner dramatischen Flucht aus dem Iran Anfang der sechziger Jahre in Deutschland begann. Vor der Haustür steigt er mit seiner neuen Partnerin und zwei angeblichen Familienmitgliedern in das Auto seines besten Kumpels, welcher ihn zum Grenzübergang an der Bornholmer Straße fährt. Dort angekommen verabschiedet er sich nach einem kurzen Gespräch, wobei er auf halbem Wege plötzlich einen dunkelblauen Pass hervorholt. Er dreht sich noch einmal um und winkt seinem Freund aus der Ferne zu, bevor er auf der anderen Seite der Mauer in Ost-Berlin für immer verschwindet. 28 Jahre später nimmt sein Sohn die verlorene Fährte des vermissten Vaters auf. Er rekonstruiert dessen Leben anhand zurückgelassener Tagebücher, spürt alte Weggefährten auf und bringt dabei Dinge ans Tageslicht, die bis zum Geheimdienst führen.

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Seitenzahl: 601

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»Eine Blume fragt nicht danach, ob sie leben oder sterben soll. Nur die Hoffnungslosen werden in den welken Blättern der Vergangenheit nach einer Antwort für die Schönheit der Gegenwart suchen.«

Wer hat bloß dieses ganze Leid und den Schmerz erschaffen? Warum verteilt ein Gott die Gerechtigkeit auf dieser Welt so ungleich, während andere Menschen unendlich viele Qualen, Torturen und psychische Folter über sich ergehen lassen müssen. Ich betrachte den gestrigen Tag als einen der bittersten Momente in meinem Leben. Denn ich habe unmittelbar zu spüren bekommen, was es bedeutet ein zerbrochenes Herz mit sich herumzutragen. Mit einem Mal bemerkte ich, dass das, was in meiner Brust schlägt, nur noch ein kaltes, nutzloses »Ding« war, welches die Aufgabe besaß, dieses abscheuliche Gefühl in meinem Körper zu verbreiten. Ich bin nicht mehr im Stande etwas zu fühlen, da mein ganzes Wesen in dem Augenblick zerbrach, als ich mich von meiner Mutter verabschiedet habe und sie mir weinend sagte, dass sie mich nie wiedersehen werde. Ich spucke auf euch und auf dieses Leben. Verdammt sollt ihr sein, ihr Verantwortlichen. Nur wegen euch und eurer kranken Ideologien muss die Jugend das Land verlassen und all ihre geliebten Menschen für immer zurücklassen. Wenn ich mich an die Atmosphäre meiner Heimat erinnere, an meine Familie, meine warmherzigen Landsleute und an all jene, die die Sprache der Güte und Freundschaft kannten, dann brenne ich innerlich. Warum müssen wir wegen Verfolgung, Armut und tausend anderer Probleme das Land verlassen? Ein Zustand, der mittlerweile ein Dauerzustand geworden ist. Fernab von Freundlichkeit und unseren Träumen. Fern von all denen, die wir lieben. Dann kommen wir irgendwo hin, wo alles fremd ist und für immer fremd bleibt. Dorthin, wo wir für immer Fremde sein werden.

Auf der Flucht, Türkei 1959, Mehdi Karbassion

Vorwort

Oft habe ich mich gefragt, warum ich dieses Buch schreiben sollte. Ich hatte für mich selbst immer nur die gleiche Antwort. Ich kann die Erinnerungen an meinen Papa einfach nicht loslassen. Als kleiner Junge fing ich mich an zu fragen, warum mein Vater auf einmal nicht mehr bei mir sein kann, oder warum wir nicht mehr zusammen meinen Geburtstag feiern konnten. Von hier auf jetzt war er nicht mehr da, um mich auf den Arm zu nehmen, damit ich mich gemütlich bei ihm einkuscheln konnte. Ich wollte wieder dieses Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit spüren. Ein Gefühl, das mit meiner Erinnerung jedes Mal in mir hochkommt, wenn ich mir alte Bilder von ihm anschaue. Als ich damals meine Mutter fragte, wo mein Papa sei, bekam ich von ihr immer die gleiche schulterzuckende Antwort zu hören. Das brach mir als Kind das Herz, weil ich mir vor dem Schlafengehen nichts sehnlicher wünschte, als dass er wiederkommt.

Meine Mutter wurde von ihm in vielerlei Hinsicht allein gelassen. Sie war damals gerade 27 Jahre alt und hatte bei seinem Verschwinden 3 kleine Kinder, die sie von heute auf morgen ganz alleine großziehen und versorgen musste. Die Wut über den Umstand war eine Zeitlang so gewaltig, dass das Thema Vatersehnsüchte vollkommen unerwünscht war. Es hieß dann immer: »Marty, dein Papa war ein Versager und hat dich, mich und deine Brüder im Stich gelassen.« Das »Dich« betonte sie dann immer auf ihre ganz besondere Art und Weise. Ob ihr Sohn sich aber für seinen Vater interessierte, oder dass er ihn gar vermissen könnte, das blendete meine Mutter in ihrem verletzten Stolz vollkommen aus. Schließlich war sie die verlassene und betrogene Ehefrau und das alleine stand über den Vatersehnsüchten ihres Sohnes. Sie dachte, sie könnte ihn einfach so ersetzen, da er ja in ihren Augen sowieso ein Feigling und ein Taugenichts war. Jemand, der einfach abgehauen ist, um sich vor der Verantwortung zu drücken. Doch die Hintergründe und Motive über das Verschwinden von ihm kannte sie nur zu einem gewissen Teil. Er sagte ihr damals:

»Wenn ich wieder aus dem Gefängnis komme muss ich mir was überlegen, denn ich werde wahrscheinlich nie wieder finanziell Fuß fassen können.« Seine Angst war durchaus nicht unbegründet. Was einen Neuanfang aber zusätzlich erschwerte, war, dass meine Mutter ihm seine vielen Seitensprünge nicht verzeihen konnte.

Aus Rache revanchierte sie sich, indem sie, während mein Vater im Gefängnis saß, ein Verhältnis mit seinem Freund Ali anfing. Er spürte zu dieser Zeit sehr genau, dass jemand anderes seinen Platz eingenommen hatte, doch dass es sein bester Freund war, der ihn hinterging, wusste er nicht. Der Druck, der zum Ende hin auf ihm lastete, war enorm und er hätte es sehr schwer gehabt als ehemaliger Schwerverbrecher mit 55 Jahren einen Job zu finden. Während der Untersuchungshaft verriet mein Vater zwei seiner ehemaligen Komplizen an die Polizei, um Haftverkürzung zu erhalten. Da zu diesem Zeitpunkt die Hauptschuld noch immer nicht abschließend geklärt war und die Beweisaufnahme sich langsam dem Ende näherte, traf er aus Angst, ewig hinter Gittern schmoren zu müssen, Aussagen über seine ehemaligen Partner, die schlichtweg nicht stimmten. Er schrieb in seinen Tagebüchern von Perspektivlosigkeit und von der Tatsache, dass er sich alt und hilflos fühlte. Die große Frage, die er sich immer wieder am Ende seiner Tagebücher stellte war ‚Wie kann ich meine Familie ernähren, wenn ich wieder aus dem Gefängnis raus bin?‘ Er sprach von Selbstmord und hatte höllische Angst davor, dass er seinen Kindern kein guter Vater sein könnte. Die Liebe von einst war längst erloschen und war nur noch in seiner Erinnerung und auf alten Bildern existent, was ihm zusätzlich zu schaffen machte.

Unter drei Brüdern war ich der Einzige, der sich für das Verschwinden seines Vaters interessierte. Was zur Folge hatte, dass ich mir von meiner Mutter andauernd anhören musste, was für ein schlechter Mensch er gewesen sei und wie oft er sie betrogen hatte. Dann kam immer ihr Lieblingsspruch: »Charakter hatte dein Vater nicht.« Das ging natürlich nicht spurlos an mir vorüber. Ich geriet mit der Zeit ins Zweifeln und fragte mich, ob es sich überhaupt lohnen würde, einem charakterlosen Mistkerl wie ihm hinterherzulaufen. Meine Oma goss nach ein paar Gläsern Sekt auch noch Öl ins Feuer und ließ ihrer Lästerei freien Lauf. Alles prasselte auf mich ein. Einmal die verlassene Ehefrau, die mich mit ihrem nicht verarbeiteten Hass während meiner Jugend therapierte, und dann noch die Schwiegermutter, die den verschwundenen und untreuen Ehemann ihrer Tochter am liebsten in der Luft zerrissen hätte. Aber ich wollte das nie akzeptieren, trat immer für meinen Vater ein und verteidigte ihn mit meiner ganzen Kraft. Ich fragte mich ununterbrochen warum sie so schrecklich gemein zu ihm waren, obwohl sie die Wahrheit über das Verschwinden nicht kannten. Jeder begeht doch Fehler im Leben, muss er deswegen auch gleich ein schlechter Vater oder Mensch gewesen sein? Vielleicht musste er gehen und wollte uns gar nicht verlassen, dachte ich damals. Ich schien bei diesem Thema völlig allein zu sein und konnte mit niemandem in meiner Familie über die Leere in meinem Herzen sprechen. Wenn das Vaterthema durch Zufall dann doch mal aufkam, endete es meistens in Wutausbrüchen. Dann riss meine Mutter laut fluchend die Hände in die Luft und zählte das Kindergeld, welches er uns noch schuldete. Irgendwann schaltete ich auf Durchzug und erschuf mir meine eigene Welt. Eine Welt, in der mein Papa und ich die besten Freunde waren.

Als andere Jungs mit 15 Jahren abends das erste Mal in die Disko gingen, blieb ich zuhause und schaute mir alte Dias an, bei denen ich mich jedes Mal fragte, wie er denn wohl war, mein Vater. Ich stellte mir mein eigenes Fotobuch zusammen und hängte mir die schönsten Bilder eingerahmt in meinem Zimmer an die Wand. Das war eine schwere Zeit für mich, da ich auf den Rückseiten der Fotos und in alten Notizen nach Hinweisen suchte, die er mir eventuell hinterlassen hatte, damit ich ihn finden konnte. Ich kannte mit der Zeit jeden einzelnen Schnappschuss, jedes Lachen, aber ich kannte die Person hinter den Bildern nicht. Meine Erinnerungen verblassten immer mehr und ich wollte nichts sehnlicher, als den Mann wiedersehen, der mich damals voller Freude auf den Arm genommen und geküsst hatte.

Ich muss rückblickend zugeben, dass er mir sehr gefehlt hat. Auch heute vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht an ihn denke oder von ihm träume.

Einmal ist er in einem meiner Träume mit einem Safarihut auf dem Kopf in ein Flugzeug gestiegen. Ich war ebenfalls an Bord und rannte kurz darauf wie von Sinnen aus dem Flieger, weil ich unbedingt sehen wollte in welcher Airline wir saßen. Doch genau in dem Augenblick wo ich den Namen der Fluglinie erkennen konnte, hob die Maschine vom Rollfeld ab und ich wachte schweißgebadet auf. In einem anderen Traum lag er bei uns gemütlich Zuhause im Bett. Ich schaute ganz genau hin und war erstaunt darüber, dass er exakt so aussah wie ich ihn einst in Erinnerung hatte. Einen Moment später kam meine Mutter ins Zimmer und brachte ihm etwas zum Anziehen. Sie schrie ihn aus voller Kehle an und machte ihm dabei nicht enden wollende Vorwürfe. Ich sprang sofort dazwischen und verteidigte ihn mit all meiner Kraft, da ich um jeden Preis verhindern wollte, dass irgendjemand mein Wiedersehen mit seinem vergangenen Hass kaputtmacht.

Ich vermisse die Zeit, die wir nie gemeinsam verbringen konnten. All das, was für viele Kinder und Heranwachsende normal war, war für mich nur auf Bildern und in meiner Vorstellung existent. Das hat mich in meiner Kindheit und Jugend emotional komplett aus der Bahn geworfen und fühlte sich an wie ein nicht enden wollender Albtraum. In meiner Welt war mein Vater noch am Leben und in der Welt meiner Familie war er schon lange tot und nicht mehr existent. Das konnte und wollte ich in meinem Herzen einfach nicht akzeptieren.

Damals, als mein Papa im Gefängnis saß, schrieb er mir immer Postkarten, die er mir dann, als er im offenen Vollzug saß, immer heimlich vorbeibrachte. An diesem einen Tag bemerkte ich durch Zufall, wie er die Tür aufschloss und leise in die Wohnung kam. Ich rannte wie ein Verrückter auf ihn zu und klammerte mich an sein Bein. Durch meine kleine Brille schaute ich zu ihm auf. Dann nahm er mich auf den Arm und gab mir einen Kuss. Es war ein wunderschöner Moment. Ein Moment, in dem ich als Kind fühlte, dass er ein Teil von mir war und ich zu ihm gehörte. Ich erwartete nicht, dass er mir etwas mitbrachte, sondern klammerte mich an ihn, weil ich ihn so sehr vermisst und so sehr geliebt hatte.

Von seiner ganzen Verzweiflung über die er immer wieder in seinen Tagebüchern schrieb, bekam ich als Kind zwar nichts mit, aber man spürte, dass er an manchen Tagen versuchte zu lachen, obwohl er innerlich todtraurig war.

Kurz vor seinem spurlosen Verschwinden schrieb er eine letzte Postkarte an mich. Auch heute bekomme ich beim Lesen noch jedes Mal Gänsehaut, da ihm während des Schreibens mit aller Wahrscheinlichkeit bewusst war, dass es eine gemeinsame Zukunft mit seinem Sohn niemals geben würde. Ich habe absichtlich nichts am Ausdruck verändert, damit das Gefühl, welches er in seinen Worten vermitteln wollte, nicht verfälscht wird.

Mein lieber Junge Marty,

ich habe mich sehr gefreut, dass ich gestern bei Dir war. Aber Du warst sehr traurig und hast Du sehr lange Zeit geweint. Mein kleiner ich habe Dich sehr lieb und möchte auch sehr gerne immer bei Dir bleiben, aber es geht jetzt nicht und ich hoffe das es bald so weit ist, dass ich immer bei Dir sein kann. Bleibe gesund und denke daran, dass Du einen Vater hast, dass er alles Gute für Dich wünscht und machen will. Habe bisschen Geduld, wir werden sehr viele gute Zeiten miteinander erleben

1000 Küsse von mir, dein Papi

In meiner Jugend musste ich bei Unterhaltungen mit meinem besten Freund immer höllisch aufpassen, dass ich meinen Vater nicht allzu sehr in den Himmel lobe. Denn sobald meine Mutter etwas hörte was ihr nicht gefiel, riss sie mit ihrem Hass alles nieder, was meinen Vater nur ansatzweise in einem positiven Licht erscheinen ließ. Diese Momente der Ablehnung machten mich von Mal zu Mal stärker und zeigten mir, dass ich die Wahrheit über sein spurloses Verschwinden unbedingt aufklären musste.

Dass die Wahrheit aber in Wirklichkeit irgendwo da draußen war, und nicht so einfach zu finden war wie ein Blatt im Wind, davon hatte ich nicht den Hauch einer Ahnung. Erst als ich durch seinen besten Freund erfuhr, dass mein Vater mit einem falschen Pass über die DDR (Grenzübergang Bornholmer Straße) ausgereist war.

Ab diesem Zeitpunkt war mir klar, dass die Suche nach ihm wahrscheinlich eine Suche nach diesem einen Sandkorn sein wird, welches irgendwo in der Wüste herumliegt. Ich musste mich neu sortieren und einen allerletzten Anlauf wagen. Doch wo sollte ich nur anfangen zu suchen? Alles was es gab, waren Fotos, Dias, alte Dokumente (aus den 50er, 60er, 70er und 80er Jahren) und seinen alten »neuen« Pass, den er sich 6 Monate vor seinem spurlosen Verschwinden neu ausstellen ließ.Alles war unsortiert, unvollständig und es gab keinerlei Hinweise oder Spuren, an die ich mich hätte heften können.

Ich stellte jede Theorie auf, die mir einfiel, und las alles über den DDR-Geheimdienst. Irgendwann suchte ich mir Hilfe in Internetforen und kontaktierte Leute, die sich mit der Stasi-Materie besser auskannten als ich. Am 9. November 2014, am 25. Jahrestag des Mauerfalls, verteilte ich am einstigen Grenzübergang Bornholmer Straße Flugblätter, auf denen ich meinen Vater suchte, weil ich hoffte irgendjemanden zu finden, der ihn damals eventuell gesehen haben könnte. Ich spürte seinen Freund Ralf auf, den er im Gefängnis kennengelernt und dem er kurz vor seinem Verschwinden seine Tagebücher anvertraut hatte. Als ich die Bücher 10 Jahre später in den Händen hielt, war die Enttäuschung, dass ich nicht einen Satz lesen konnte, gewaltig. Denn sie waren alle in der Muttersprache (Farsi) meines Vaters geschrieben.

Da meine Mama aus der ehemaligen DDR kam und durch diverse eigenartige Aktionen schon immer einen gewissen Verdacht hegte, dass ihr Ehemann etwas mit der Stasi zu tun haben könnte, schrieb ich auf gut Glück die BSTU (Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen) an. Ich verlangte in einem langen Brief Einsichtnahme in die Akten meines Vaters. Doch all die schriftlichen Begründungen und Dokumente, die ich vorlegte, um Akteneinsicht zu bekommen, waren nicht genug und wurden immer wieder abgelehnt. Sie raubten mir meine Kraft und vor allen Dingen kosteten sie mich wertvolle Zeit. Das wurde zur jahrzehntelangen Tortur und bis heute wird mir die Einsicht in die kompletten Unterlagen verweigert. Mittlerweile bin ich der festen Überzeugung, dass ein anderer Geheimdienst seine Finger ebenfalls im Spiel hat und unbedingt verhindern will, dass wertvolle Details ans Tageslicht gelangen. Den angeblich letzten Teil der Akten durfte ich einsehen, doch diese geben keinerlei Hinweise auf seinen Verbleib und enden 7 Monate vor seinem plötzlichen Verschwinden.

Mit sechzehn Jahren fasste ich einen Entschluss und flog kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag alleine in den Iran, weil ich vermutete, dass mein Vater sich eventuell bei seiner Familie aufhalten würde. Doch auch dort verlief meine Suche im Sande.

Ich gab nicht auf und schlug einen neuen Weg ein, um an wichtige Informationen zu gelangen. Nach langem Überlegen über mögliche Racheakte von alten Weggefährten, fasste ich mir ein Herz und ging zu meinem Anwalt. Dieser beantragte, ohne mit der Wimper zu zucken, die alten Gerichtsakten aus dem Archiv.

Zwei Wochen später hielt ich den verstaubten Aktenstapel endlich in den Händen und suchte anhand der Geburtsdaten und Namen seine damaligen Komplizen mit Hilfe der Behörden auf. Ich wusste, dass Alex, einer seiner alten Partner, wegen der Falschaussage meines Vaters volle acht Jahre im Gefängnis absitzen musste und keinerlei Haftverkürzung bekommen hatte.

Als ich die Adresse von ihm in den Händen hielt und ein paar Tage später vor seiner Haustür stand, schlotterten meine Knie und mein Herz schlug vor Aufregung so stark, dass ich es bei jedem einzelnen Schritt hören konnte.

Sein bester Freund Ali, den ich ebenfalls aufsuchte, erzählte mir, wie er meinen Vater kennenlernte und welche spannenden Abenteuer sie zusammen erlebten. An einem Sonntag im August fuhr er ihn mit seinen angeblichen Familienmitgliedern und seiner neuen Partnerin zum Grenzübergang an der Bornholmer Straße. Dort verabschiedete er sich von ihm, ohne zu wissen, dass es ein Abschied ohne Wiedersehen werden würde. Die Frage, die ich mir immer und immer wieder gestellt habe war, warum verließ er Berlin im August 1988 so schnell und unerwartet? Obwohl seine Haftzeit 4 Monate später, im Dezember 1988, ohnehin vorbei gewesen wäre. Anhand seiner Tagebücher, seinem unfertigen Buch und der zurückgelassenen Unterlagen rekonstruiere ich die Lebensgeschichte meines Vaters, der seine Heimat vor über 55 Jahren als junger Mann fluchtartig verlassen musste.

Andere Länder, andere Bräuche

Mein Vater *Mehdi Karbassion* kommt aus dem Iran und wurde laut seinem Pass am 24.02.1934 in der Stadt Isfahan geboren. Auf einem übersetzten und beglaubigten Dokument steht, dass er am 29.11.1312 (iranischer Kalender) geboren wurde. Das wäre der 18.02.1934. Doch es ist mit dem Jahr 1933 datiert. Er selbst erzählte meiner Mutter, dass er eigentlich 1937 geboren sei und dass sein Vorname und das Geburtsdatum von seinem verstorbenen Bruder übernommen wurde. Welches Datum nun stimmt, das ist schwierig zu sagen. Aber irgendwo zwischen 1933 und 1937 ist mein Papa wohl geboren worden. Wenn alles stimmt, dann wäre er heute zwischen 81 und 84 Jahren alt.

Es war 1934 als Persien in den Iran umbenannt wurde. Das ganze Land befand sich in einem mächtigen Umbruch und sollte durch politische Annäherung mehr an den Westen angebunden werden. Zu diesem Zeitpunkt wurde der gesamte Iran von Armut und großen Hungersnöten heimgesucht, in welche mein Vater hineingeboren wurde. Er wuchs zusammen mit seinen drei Geschwistern auf, mit denen er in einem kleinen Haus am Rande der Stadt Isfahan lebte. Dort hatte der Vater zwar das Sagen, aber da er durch die Arbeit sehr lange von Zuhause wegblieb, wurde die Mutter zur heimlichen Herrscherin im Haus. Der kleine Mehdi schlich während des Kochens ununterbrochen um seine Mama herum, weil er immer die Hoffnung hatte, dass er ein Stück Brot oder eine Süßigkeit ergattern würde. Mamanjun gab natürlich oft genug nach und liebte es, wenn er sich bei ihr geborgen und wohl fühlte. Als er den ersten Tag in die Schule ging, war er nicht sonderlich glücklich, da sein älterer Bruder ihm mehrmals die Geschichte von dem bösen alten Lehrer erzählt hatte. Diesen erkannte man daran, dass er immer eine frische Rute von einem Granatapfelbaum auf dem Tisch liegen hatte. Wenn eines der Kinder nicht gehorchte, dann bekam es so lange Schläge auf die Außenfläche der Hände, bis es vor Schmerzen zusammenbrach.

Glücklicherweise war der böse alte Lehrer aber an diesem Tag krank und ein ordentlicher junger Mann hatte die Vertretung übernommen. Keiner der Schüler sollte vor dem Neuen Angst haben, denn dieser setzte Respekt und Autorität anstelle einer Rute ein. Als der erste Schultag zu Ende ging und die Sonne langsam das Ende des Tages einleitete, liefen die meisten Kinder alleine nach Hause. Der kleine Mehdi spielte verträumt mit seinen Freunden auf den sandigen Straßen herum, als sie plötzlich an einem Friedhof vorbeikamen. Einer der Jungen blieb stehen, drehte sich um und riss seine Augen auf.

»Habt ihr schon mal einen Totenkopf mit Haaren gesehen?« Die anderen Kinder zuckten zusammen und bekamen beim bloßen Gedanken schon Gänsehaut. Doch ihre Neugier war weit größer als ihre Angst, weswegen sie auch flüsternd nachfragten, wo er denn so etwas schreckliches gesehen hätte. Gemeinsam schlichen sie um die Ecke zum Friedhof, hinter der der Junge eine dicke Metallplatte nach oben klappte und ihnen der grässliche Totenkopf entgegenstarrte. Alle Kinder erschauderten und wandten sich sofort ab, doch der kleine Mehdi blieb wie versteinert stehen und konnte seinen Blick einfach nicht abwenden. Immer wieder schaute er zwischen seinen kleinen Fingern hindurch und sah, wie der Totenschädel ihn furchterregend und leblos anstarrte. Währenddessen erzählte einer der Jungen, dass seine Mutter ihm erklärt habe, dass Menschen, die im Leben schwere Sünden begangen hatten, lebendig begraben werden und unter der Erde auf ihren Tod warten müssten. Ein anderes Kind, welches danebenstand, quasselte aufgeregt dazwischen.

»Mein Onkel schläft jeden Abend in einem Sarg, der auf dem Vierzehn-Mädchen-Friedhof steht. Dort bereitet er sich auf den Tod vor, damit er vor dem Engel, der ihn in der ersten Nacht besucht, keine Furcht hat.« Die Kinder waren nun so verängstigt, dass sie immer näher zusammenrückten und gespannt der Geschichte lauschten.

»Dieser Friedhof erhielt seinen Namen durch eine schreckliche Begebenheit. Eines Tages wurden vierzehn Mädchen von blutrünstigen Räubern verfolgt. In ihrer Angst suchten sie Zuflucht und beteten zu Gott, er möge Ihnen Schutz und Hilfe gewähren. Doch seitdem wurden die Mädchen nie wieder gesehen. An manchen Tagen, wenn der Vollmond hoch über den Gräbern wacht, kann man in der Stille noch ein ganz leises und verängstigtes Wimmern wahrnehmen.« Mit ihren funkelnden braunen Augen sahen sie sich achtsam um und nahmen sich dabei gegenseitig an die Hand. Die Sonne fiel nun immer tiefer und bevor es dunkel wurde, schlichen sie ganz leise vom Friedhof, um nicht den Zorn der Toten zu wecken. Hinter dem Gelände befand sich in der Ferne eine alte Karawanserei, vor der der kleine Mehdi mit seinen Freunden schon des Öfteren gespielt hatte. Aber aus Angst vor den vielen Tierschädeln, die überall vor dem Eingang herumlagen, trauten sie sich nie wirklich hinein.

Die zweite Schulwoche war zu Ende, als der kleine Mehdi Zuhause saß und mitbekam, wie seine Mama ein freundliches Gespräch mit einer fremden Frau führte. Mamanjun war dabei Stoffe zu kaufen und verhandelte wie eine Besessene, weil sie die geforderten Preise einfach nicht bezahlen konnte. Die Verkäuferin argumentierte immer wieder lautstark dagegen, da sie von der exzellenten Qualität ihrer Ware absolut überzeugt war.

»Ich habe die besten Stücke im ganzen Orient und fühle mich persönlich beleidigt, wenn mich jemand so sehr herunterhandeln will. Entweder Sie kaufen die Stoffe oder ich gehe!« Mamanjun knickte schließlich ein und zeigte sich mit der geforderten Summe einverstanden. Anschließend begleitete sie die Verkäuferin freundlich und zuvorkommend nach draußen. Als sie die Tür schloss, stand der kleine Mehdi sofort im Raum und erkundigte sich ungeduldig nach der Dame, woraufhin seine Mutter erzürnt antwortete.

»Diese Frau, mein Junge, war eine Stoffverkäuferin, eine schmutzige Hündin, die halsabschneiderische Preise für ihre Ware verlangt. Ich habe sie für deine Schwester gekauft, sie wird bald heiraten und ich muss langsam versuchen für sie die Aussteuer zu besorgen.«

In der nächsten Woche sah er, dass sich immer mehr neue Sachen im Zimmer ansammelten. Darunter waren Petroleumlampen, ein Samowar, neue Decken, ein kleiner Gebetsteppich, einige Porzellanteller und andere wichtige Dinge des Alltags. Doch ein Gegenstand hatte es ihm ganz besonders angetan. Es war eine kleine handgeschnitzte Holzschachtel, die verdeckt und verschlossen zwischen all den anderen Sachen stand. Mit gespitzten Ohren nahm er sie in die Hand und schüttelte sie, um zu hören ob sich etwas im Innern befand. Gleich danach versuchte er sie mit seiner ganzen Kraft zu öffnen und scheiterte am kleinen, aber starken Verschluss. Neugierig schlich er im Raum herum und begab sich auf die Suche nach dem dazugehörigen Schlüssel. Dabei guckte er in jede Schublade und suchte jeden Winkel ab, doch irgendwie schien er einfach nicht auffindbar. Erst als er die Schatulle unachtsam zurückstellte und diese umfiel, entdeckte er, dass der Schlüssel auf der Unterseite angeklebt war. Erwartungsvoll schloss er die Holzschachtel auf und starrte enttäuscht auf die vielen beschriebenen Zettel, die sich im Inneren befanden. Aufgeregt stiefelte er hinüber in die Küche, in der er seiner Mama die geöffnete Schachtel vor die Nase hielt.

»Ach Mehdi, ich habe dir doch schon ein Dutzend Mal gesagt, dass du nicht in den Sachen von deiner Schwester herumkramen sollst.« Ihr Sohn lächelte verlegen und ließ sich erwartungsvoll auf dem Fußboden nieder. Bei den akkurat gefalteten Zetteln handelte es sich um Glückwünsche von den Verwandten, die der Braut nach der Hochzeit feierlich überreicht werden sollten.

»Nun gut, einen werde ich dir vorlesen, danach hilfst du aber ein wenig im Haushalt, ist das klar?« Mehdi nickte zufrieden und hörte gespannt zu.

»Dieser hier ist von Babajan und dort steht: ‚Meine liebe Tochter, ich wünsche dir alles Glück der Welt. Ich hoffe, dass du einen Mann heiraten wirst, der immer für dich und deine Kinder sorgen kann.‘«

Mehdi klatschte aufgeregt in seine kleinen Hände und fing an zu betteln.

»Bitte noch einen, bitte Mamanjun.«

»Ist ja gut, du gibst ja eh keine Ruhe.« Mit geschlossenen Augen kramte sie noch ein Papier hervor, welches sie aber am liebsten wieder zurückgesteckt hätte, weil es von ihrer kürzlich verstorbenen Mutter stammte.

»Dieser Glückwunsch ist von deiner Oma. ‚Meine liebe Enkelin, ich habe in meinem Leben so viel Schmerz und Leid erfahren und hoffe, dass du es einmal besser haben wirst. Ehre Allah und deinen Mann und dir wird nur Gutes widerfahren. In ewiger Liebe.‘«

»Mama, was ist Leid und Schmerz eigentlich?«

»Deine Oma hatte kein leichtes Leben, sie hat viel durchgemacht. Das wirst du eventuell verstehen, wenn du älter bist.« Mamanjun holte tief Luft und kämpfte dabei sichtlich mit den Tränen.

»So, jetzt ist aber genug! Es bringt außerdem Unglück, wenn man den Inhalt schon vorher kennt. Die Glückwünsche werden dann nämlich nicht in Erfüllung gehen.« Dabei zeigte sie mit dem Finger drohend in den Himmel um ihren Sohn daran zu erinnern, dass Allah allgegenwärtig war.

Vier Tage vor der Hochzeit ließ Mamanjun den kleinen Mehdi nicht mehr zur Schule gehen, da er ihr bei den alltäglichen Dingen unter die Arme greifen musste. Völlig genervt lief sie im Haus umher und schimpfte herum, weil sie bemerkte, dass ihr Kind lieber spielen wollte.

»Mehdi, dein Vater und deine Geschwister arbeiten von morgens bis abends, also musst du heute für uns einkaufen gehen. Ich kann nicht ständig an zwei Fronten kämpfen, das schaffe ich nicht. Außerdem muss ich heute noch zwei Teppiche für die Feier ausleihen. Gehe also bitte sofort los, damit wir später gleich weiterkönnen.«

Zu ihrer Verwunderung machte sich ihr Sohn ohne ein Widerwort auf den Weg und besorgte in weniger als einer halben Stunde alles, was auf seiner Einkaufsliste stand. Völlig erschöpft ließ er sich anschließend auf dem Fußboden nieder und stöhnte herum. Doch seine Mama hatte keinerlei Verständnis für seine Faulenzerei und scheuchte ihn hoch.

»Komm, beweg dich, du kannst dich jetzt nicht ausruhen. Wir müssen los.«

»Mamanjun, es ist so schrecklich heiß draußen, das kann doch kein normaler Mensch aushalten.« Die Mutter stand gerade vor dem Spiegel und schaute amüsiert zu ihm hinüber.

»Wenn ich die Hitze mit meinem Kopftuch ertragen kann, dann kannst du es ja wohl erst recht.«

Nach langem Hin und Her machten sie sich auf den Weg und besorgten in der glühenden Mittagshitze all die Dinge, die sie für die Hochzeit noch brauchten.

Drei Tage vor der Vermählung kam eine junge Dame zu ihnen nach Hause. Ihr Name war Liah und sie war schon des Öfteren zu Besuch gewesen. Der kleine Mehdi kannte sie so gut, dass er ihr hinter vorgehaltener Hand den Spitznamen »Foltermeisterin« gegeben hatte. Nach einer herzlichen Begrüßung ließ sie sich mit seiner Schwester und ein paar anderen Frauen aus der Familie im Schlafzimmer nieder und begann mit einem Faden unerwünschte Haare vom Körper zu entfernen. Mehdi stand währenddessen im Türrahmen und beobachte mit schmerzverzerrtem Gesicht, wie die Foltermeisterin hochkonzentriert ihrer Arbeit nachging. Dabei schrie und weinte seine Schwester fürchterlich, was seine innere Abneigung gegenüber der jungen Frau nur noch verstärkte. Als die unliebsame Prozedur endlich zu Ende war, kamen die anderen Damen an die Reihe und die Jammerei ging wieder von vorne los.

Am späten Abend stand eine uralte Frau vor ihrer Tür, die einen altertümlichen Tanz aufführte. Mehdi, der die unheimliche Dame noch nie zuvor gesehen hatte, schaute verängstigt zu Mamanjun und hoffte inständig, dass sie das gruselige Wesen ganz schnell fortschicken würde. Doch als er sah, wie sie auf einmal hineintrat und ihn mit ihrem durchdringenden Blick fixierte, bekam er furchtbare Angst. In der linken Hand hielt sie eine Ledertasche, in der sich ihr Werkzeug befand, und über der Schulter trug sie einen hellbraunen Schafspelz, auf dem sie sich mitten im Raum niederließ. Während das alte Weib ihre Arbeitsutensilien ausbreitete, fragte sie mit einem undurchschaubaren Gesichtsausdruck, wer denn als erstes drankommen sollte. Mehdi ging sofort in Deckung und war heilfroh, als Mamanjun seine Schwester vorschickte. Hochkonzentriert ritze sie den freigelegten Rücken an mehreren kleinen Stellen mit einer Rasierklinge ein und ließ anschließend das Blut aus den Wunden in ein Horn tröpfeln. Als sie mit dem traditionellen Brauch fertig war, suchte sie sich ein neues Opfer, wobei ihr düsterer Blick unweigerlich auf Mehdi fiel, der sichtbar geschockt neben ihr stand und verzweifelt überlegte, wohin er jetzt fliehen sollte. Mamanjun erzählte ihr leise, dass ihr Sohn des Öfteren krank und schwach sei und deshalb unbedingt geschröpft werden müsse. Die steinalte Dame nahm ihn daraufhin unsanft an die Hand und forderte ihn in einem strengen Ton zum Sitzen auf. In Nullkommanichts befreite er sich aus den Fängen der knöchrigen Hexe und rannte zur Wohnungstür, die er verzweifelt zu öffnen versuchte. Seine Schwester nahm umgehend die Verfolgung auf und wurde kurz darauf von ihrem kleinen Bruder in den Arm gebissen. Mehdi rannte wie von Sinnen auf die andere Seite des Zimmers und verschanzte sich blitzschnell hinter einem Tisch, den er in Panik umgeworfen hatte. Mamanjun redete mit Engelszungen auf ihn ein, um ihn doch noch von der Schröpfung zu überzeugen. Völlig verängstigt nahm er einen Stein in die Hand, um allen Anwesenden zu demonstrieren, dass er bereit war, sich mit allen erdenklichen Mitteln zu verteidigen. Denn er wollte auf keinen Fall das nächste Opfer dieses abscheulichen Brauchs werden. Nachdem die anderen Frauen ebenfalls behandelt worden waren, hockte der kleine Mehdi noch immer hinter seiner Verschanzung und wartete solange ab, bis die schreckliche alte Dame das Haus für immer verlassen hatte.

Am nächsten Morgen kam der zukünftige Schwager zu Besuch. Er war ein kleiner dicker Mann mit braunen Haaren, der mit seinem baldigen Schwiegervater besprach, wo das Hochzeitszeremoniell stattfinden sollte. Nach langer Verhandlung entschied man sich gegen die Sitte, die Hochzeit zu Hause zu feiern, da das Elternhaus der Braut weitaus geräumiger war. Mamanjun war heilfroh über diese Nachricht, denn das Wenige, was sie an Geschenken aufbringen konnte, musste nun nicht mehr vor den neugierigen Blicken der Nachbarn herausgetragen werden.

Zwei Tage vor der Eheschließung lagen alle verpackten Präsente geordnet auf einem feierlich dekorierten Tisch. Dazwischen standen Kerzen, kandierte Früchte, sowie traditionelle persische Süßigkeiten. Mamanjun kontrollierte zwischendurch immer wieder die Anzahl der Leckereien, weil sie Angst hatte, dass ihr Sohn sich in einer unachtsamen Sekunde an den teuren Süßspeisen bedienen würde. Wie es bei diesem überlieferten Brauch üblich war, kam noch am selben Tag ein Schuhmacher vorbei, der für die Braut und dessen Mutter neue Schuhe anfertigte. Mamanjun borgte sich von ihrer Schwester ein wenig Geld und kaufte zusätzlich noch einen gebrauchten Spiegel sowie einen in Samt gebundenen Koran, welchen sie am Abend in das Haus des Bräutigams brachte.

Am Tag der Heirat wurde die Braut von Frauen der Familie zum Baden begleitet. Anschließend wurden ihre Hände und Füße mit Henna eingefärbt, welche am Ende der Trocknung wunderschöne Muster aufwiesen. Während Mehdis große Schwester geschminkt und eingekleidet wurde, kam ein paar Stunden vor dem Fest ein Koch mit seinem pummeligen Helfer vorbei. Diese schichteten auf dem Hof mehrere Holzstöße aufeinander, die sie kurz darauf anzündeten. In den großen Töpfen kochten sie Reis und in den kleineren Auberginen und anderes Gemüse. Der Hauptteil des Hofes war mit geliehenen Teppichen ausgelegt, auf denen jeweils ein prächtiger Samowar und eine Petroleumlampe standen. Bevor es dunkel wurde, versammelten sich alle Gäste im geschmückten Innenhof, in dem sie sich bei einem Glas Tee und einem freundlichen Gespräch nach und nach auf dem Boden niederließen.

Der kleine Mehdi lief aufgeregt umher und schaute verblüfft in die Gesichter der Leute, denn er hatte noch nie so viele lange Bärte gesehen. Sein Vater hatte zur Feier des Tages ein paar Musikanten beauftragt, was den Eltern des Bräutigams aber missfiel, da sie der Ansicht waren, dass die Art der Musik gegen die Gesetzte der Religion verstoßen würde. Sogar das Klatschen in die Hände wollten sie verbieten, womit sie beim anderen Teil der Familie auf heftigen Widerstand stießen. Trotz der kleinen Meinungsverschiedenheit verlief die restliche Hochzeitsfeier sehr ruhig und harmonisch ab. Man unterhielt sich über die alltäglichen Dinge des Lebens und über die Sorgen des Volkes. Dabei war das Hauptthema natürlich der Zweite Weltkrieg, der sich immer weiter ausbreitete.

Im Laufe des Abends bildete sich eine Traube von Menschen um das Brautpaar herum. Vor der Vermählung musste der Verlobte seinen rechten Fuß auf den linken Fuß seiner zukünftigen Frau stellen, das sollte demonstrieren, wer zuhause das Sagen hatte. Nachdem die Trauung von einem Imam vollzogen war, standen die beiden schüchtern und zurückhaltend vor den Gästen, die laut applaudierten. Kurz nach Mitternacht verabschiedete sich der größte Teil der Besucher und nur die engsten Familienangehörigen blieben, um die frisch angetrauten Eheleute zum Brautgemach zu begleiten.

Persisches Neujahr

Der Sommer leitete die zweite Hälfte des Jahres ein. Es sollte ein gutes Jahr für die Familie werden, da die Geschäfte des Vaters vom kleinen Mehdi nun immer besser liefen. Durch die kontinuierlichen Einnahmen gab es wieder regelmäßig etwas zu essen und er konnte die restlichen Schulgebühren für seinen Sohn bezahlen, was ihm eine Menge Last von den Schultern nahm. Der Zweite Weltkrieg hatte sich mittlerweile weit über die Grenzen Europas ausgebreitet und drohte den Iran zu erreichen.

Jeden Abend versammelten sich deshalb ganze Menschenmassen aus den unterschiedlichsten Bezirken Isfahans in einem alten Fabrikgebäude und hörten sich im einzigen Radio der Umgebung die neuesten Nachrichten über das Kriegsgeschehen an. Als allererstes lauschten sie gespannt dem deutschen Sender, weil dieser laut den Übersetzungen, die danach auf einem anderen Kanal folgten, besonders informativ waren. Der kleine Mehdi lag zu dieser Zeit schon längst im Bett und hörte aus der Ferne immer wieder die krächzende Ansage aus den Lautsprechern dröhnen. »Berlin, hier ist Berlin.« Zwar verstand er nicht genau was damit gemeint war, aber sobald die Durchsage ertönte, machten sich sein großer Bruder und sein Vater auf den Weg zum Fabrikgelände.

Der Eigentümer machte während der Radiosendungen das Geschäft seines Lebens und versorgte die Menschen mit Tee und selbstgedrehten Zigaretten. Zwischendurch verschwand er immer wieder in seinem kleinen Büro und entleerte seine Taschen, da er das viele Geld nicht mehr mit sich herumtragen konnte. Obwohl die Diskussionen auf dem Fabrikgelände teilweise sehr hart und bis spät in die Nacht geführt wurden, war die Ablehnung gegenüber dem Krieg bei allen Anwesenden deutlich spürbar. Dabei spielte die Angst über die ungewisse Zukunft eine zentrale Rolle, da der Weltkrieg viele importierte Waren unbezahlbar machte. Am Ende des Jahres hatte der Vater des kleinen Mehdi so viel Geld zusammengespart, dass er einige Schulden, die durch die Aussteuer seiner Tochter angefallen waren, begleichen konnte. Das Neujahrsfest (Norus) stand vor der Tür und er konnte es sich endlich leisten, für die Familie neue Schuhe und Stoffe zu kaufen, die sie einer alten Dame gaben, die hinter ihrem Haus eine kleine Näherei besaß. Sobald die Kleidungsstücke fertig waren, holte sie Mamanjun ab und trug sie unbemerkt ins Haus, in dem sie bis zum Neujahrsfest in einer großen alten Truhe verschlossen blieben. Die Kostüme für den kleinen Mehdi wurden absichtlich etwas größer angefertigt, da er die Sachen ja auch noch in ein paar Jahren tragen sollte. Die Schuhe kaufte die Mutter auf dem Basar von einem Schuhmacher, der in engem Kontakt mit dem Vater stand. Er war ein glatzköpfiger, rotbärtiger und krank aussehender Mann, der die Frauen unüblicherweise direkt ansprach. Mamanjun schämte sich sehr, mit fremden Männern zu sprechen, weshalb sie die Schuhe auch mir nichts dir nichts aussuchte. Als der erste Regen kam, konnte der kleine Mehdi nur schwer in den neuen Schuhen laufen, da er beim Gehen immer wieder hinausschlappte. Irgendwann war er so genervt, dass er die riesigen Treter in die Hand nahm und nur noch barfuß durch die Gegend lief. Zu diesem Zeitpunkt wusste er aber noch nicht, dass es für viele Jahre sein einziges Paar sein würde.

Wenige Tage vor Beginn des neuen Kalenderjahres hatte ein Hilfsarbeiter des Vaters trockenes Brot, Gaz (Weißer Nougat mit Pistazien), Reis, Gemüse und geräucherten Fisch zu ihnen nach Hause geliefert. Diesen Luxus konnte sich die Familie in diesem Jahr noch ein allerletztes Mal gönnen und sollte zum persischen Neujahrfest verzehrt werden. Einen Abend vor der Feier konnte der kleine Mehdi vor Aufregung nicht einschlafen, da Mamanjun seine Handflächen und die Nägel mit Henna gefärbt hatte. Verkrampft lag er im Bett und spreizte die Finger auseinander, damit die Farbe optimal einziehen konnte. Mit unbeschreiblicher Vorfreude dachte er daran, wie er am morgigen Tag den anderen seine prächtig gefärbten Hände zeigen und im Gegenzug dafür Geschenke erhalten würde. Am frühen Morgen schaute er erwartungsvoll aus dem Fenster, weil er unbedingt die ersten Sonnenstrahlen erhaschen wollte, die den Beginn des Tages ankündigten. Anschließend blickte er erwartungsvoll hinunter auf seine Hände und schien über das Resultat alles andere als begeistert zu sein.

Durch seinen unruhigen Schlaf waren die Muster so sehr verwischt, dass er trotz des schlechten Ergebnisses hoffte, noch genügend Präsente zu bekommen. Enttäuscht ging Mehdi nach unten ins Wohnzimmer, in dem er auf seine Schwester Amira traf, die ihm freudestrahlend ihre perfekten Hennafärbungen zeigte. Bei genauerer Betrachtung konnte man sogar noch ein paar kleine rote Krümel erkennen, die sich über den gesamten Handrücken erstreckten. Leise und umsichtig schlichen sie in das Nebenzimmer, in welchem sie ihre neuen Kleidungsstücke aus der Truhe nahmen um sie anzuprobieren. Nachdem die beiden ihre Kostüme ausgiebig im Spiegel bestaunt hatten, begaben sie sich auf den Hof, um ihre Gesichter zu waschen. Dort begegneten sie ihrem Vater, der gerade eine seiner rituellen Waschungen vornahm. Respektvoll sprachen sie ihn mit Babajan (lieber Vater) an und wünschten ihm freudestrahlend alles Gute für das neue Jahr. Der Papa nahm sie liebevoll in den Arm und drückte sie so fest er nur konnte an sich. Anschließend forderte er sie in einem ernsten, aber freundlichen Ton zum Beten auf, doch beide lehnten ab, weil sie erst noch ihrer Mama zum Neujahr gratulieren wollten. Als sie zurück ins Haus kamen, war Mamanjun schon wach und wirbelte wie eine Verrückte im Haus herum. Mehdi und seine Schwester rannten voller Freude auf sie zu und küssten nach einer kleinen Verbeugung die Außenfläche ihrer Hände. Sie war überglücklich und gab ihnen zum Dank einen liebevollen Kuss auf die Stirn. Kurz darauf beteten sie gemeinsam auf dem Hof, bevor sie sich zusammen im Haus niederließen. Mehdi saß ungeduldig auf seinem Platz und wartete sehnsüchtig auf seinen großen Bruder Hussein. Doch der liebte es an Feiertagen bis vormittags zu schlafen und sorgte mit seiner morgendlichen Abwesenheit für lange Gesichter. Im Kreise der Familie fehlte noch der letzte Bruder Reza, der es durch den Einzug in die Armee meistens nicht schaffte, bei seiner Familie zu sein. Am späten Nachmittag klopfte es an der Tür und die Freude über seinen spontanen Besuch war riesengroß. An jenem Tag erhielten der kleine Mehdi und seine Geschwister von ihrer Tante jeweils ein rotgefärbtes gekochtes Ei und von ihrem Onkel bekamen sie ein paar Dah Shahi (persische Cent) worüber sie sich sehr freuten. Den ganzen Abend blieb die Familie zusammen und feierte miteinander, während die Kinder auf den sandigen Straßen vor dem Haus spielten. Wegen der Feiertage hatten alle Schüler dreizehn Tage schulfrei, was dem kleinen Mehdi besonders gut gefiel, denn so konnte er die ganze Zeit mit seiner Mama zusammen sein und ihr ein wenig bei der Hausarbeit helfen.

Am darauffolgenden Tag hörte er in den frühen Morgenstunden einen sich immer wiederholenden dumpfen Schlag. Mit verschlafenen Augen stand er am Fenster und schaute hinunter auf den Hof. Dort hatte sein Vater den ganzen Morgen Holz gehackt, welches er Scheit für Scheit aufeinanderstapelte. Babajan sah seinen Sohn erstaunt am Fenster stehen und rief ihm zu:

»Mehdi komm zu mir, dann zeige ich dir wie man ein richtiger Mann wird.« Begeistert rannte er die Treppen hinunter und stand kurz darauf völlig außer Atem vor seinem Papa, der ihm lachend auf die Schulter klopfte.

»Verschnauf erstmal, wenn du beim Holzhacken unkonzentriert bist, kann es sehr schnell gefährlich werden. Hast du verstanden?« Mehdi stellte sich ängstlich neben seinen Vater, der schwungvoll ausholte und gezielt auf den Holzklotz einschlug. Doch die Axt war so alt und wackelig, dass beinahe die Klinge wegflog. Er ging sicherheitshalber mehrere Schritte zurück, weil ihm das Ganze zu unsicher erschien. Aber Babajan machte ihm so viel Mut, dass er all seine Bedenken über Bord warf und es ausprobierte. Er hob die Axt hoch über seinen Kopf und flog dabei fast hintenüber. Kurz darauf sauste die Schneide hinab und traf das Holzstück exakt in der Mitte, woraufhin es in zwei Hälften zerbrach. Der Papa machte große Augen und lobte ihn daraufhin in den höchsten Tönen.

»Das hast du wirklich toll gemacht, mein Junge. In Zukunft kannst du die kräftezehrende Arbeit ja gerne für mich übernehmen, denn lange halte ich das nicht mehr aus.« Mehdi umarmte ihn begeistert und düste danach völlig euphorisch im Hof herum.

Der Arzt der armen Leute

Es war März und die Wärme des bevorstehenden Frühlings war noch immer nicht spürbar. Trotzdem ließ es sich die Familie nicht nehmen und verbrachte den kalten sonnigen Morgen gemeinsam auf dem Hof. Der Vater war gerade mit dem Holzhacken fertig und ließ sich schweißgebadet und völlig außer Atem auf dem Teppich nieder. Alle Anwesenden waren so sehr in ihre Gespräche vertieft, dass sie überhaupt nicht bemerkten, als der Papa völlig unerwartet zur Seite kippte und nicht mehr hochkam. Mehdi eilte ihm sofort zur Hilfe und sah ihm erschrocken entgegen.

»Babajan was ist mit dir?« Der Vater versuchte ihn zu beruhigen und streichelte ihm sanft über sein Gesicht.

»Sei ganz unbesorgt, dein alter Herr muss sich nur ein bisschen ausruhen.«

Nach zehn Minuten hatte er sich mit Hilfe der anderen Familienmitglieder wieder aufgerichtet und ging auf wackeligen Beinen zurück nach drinnen. Mehdi lief neben ihm her und nahm ihn zur Sicherheit an die Hand, weil er schreckliche Angst davor hatte, dass er erneut zusammenbrechen würde.

»Mein Junge, mach dich nicht verrückt, ich ziehe mich nur schnell um und komme gleich wieder zu euch.« Mit einem mulmigen Gefühl ging Mehdi wieder hinaus zu den anderen. Doch dort wartete er vergeblich auf ihn.

Am nächsten Morgen trommelte die Mutter alle Familienmitglieder zusammen, um sie über den schlechten Gesundheitszustand ihres Mannes zu informieren. Im Anschluss ging der kleine Mehdi sorgenvoll hinauf und versuchte durch den Spalt der Schlafzimmertür einen Blick auf seinen Papa zu erhaschen, doch dieser lag unter einer dicken Decke und war tief und fest am Schlafen. Mamanjun ertappte ihn auf frischer Tat und gab ihm in einem strengen Tonfall zu verstehen, dass keiner außer ihr das Zimmer betreten dürfe. Voller Verzweiflung schaute er auf, während ihm eine Träne die Wange hinunterkullerte.

»Warum darf ich Babajan nicht sehen, was ist mit ihm?«

»Dein Vater ist sehr krank. Er war die ganze Zeit am Phantasieren. Hinzu kommt noch, dass er sehr hohes Fieber hat. Du musst mir unbedingt einen Gefallen tun und Dr. Hakim Bescheid geben. Er soll so schnell wie möglich zu uns kommen.« Mehdi schlüpfte hastig in seine Schuhe und machte sich umgehend auf den Weg.

Dr. Hakim nannte man auch den Arzt der armen Leute, da er von seinen Patienten immer nur das bekam, was sie ihm geben konnten. Manchmal waren das ein paar Lebensmittel oder ein wenig Geld. Doch ganz häufig ging er auch mit leeren Händen nach Hause, denn die Armut war durch den andauernden Krieg in allen Lebensbereichen drastisch angestiegen. Als er bei der Praxis eintraf, war er völlig außer Atem. Seine Schuhe hielt er wie immer in den Händen, da er in ihnen weder richtig laufen, noch rennen konnte. Ohne Punkt und Komma erzählte er dem Arzt vom Gesundheitszustand seines Vaters, während dieser in Eile ein paar wichtige Medikamente einpackte. Kurze Zeit später rasten sie auf einem klapprigen Motorroller über die staubigen Straßen, wobei Mehdi sich krampfhaft bei seinem Vordermann festhielt, da er bei dem holprigen Untergrund befürchtete hinunterzufallen.

Beim Elternhaus angekommen, wartete seine Mama ungeduldig vor der Tür und schaute beschämt auf seine Füße, die mal wieder völlig verdreckt waren. Sie begrüßte den Doktor mit dem nötigen Respekt und bat ihn höflich hinein.

»Bitte kommen Sie hier entlang. Mein Mann befindet sich im Schlafzimmer, sie dürfen gerne zu ihm nach oben gehen.« Anschließend drehte sich Mamanjun erbost um und sprach ihn mit zitternder Stimme an.

»Ich will von euch kein einziges Wort hören, solange der Arzt bei uns im Haus ist. Hast du verstanden?« Dann stellte sie ihrem Sohn das Essen vor die Nase, welches nur aus fettigem Wasser und alten aufgequollenen Brotstücken bestand.

»So, ich gehe jetzt beten. Gib mir Bescheid, wenn der Doktor wieder hinunterkommt.« Mehdi nickte traurig und starrte dabei regungslos auf seinen Teller.

Sein größerer Bruder Hussein kam gerade von draußen hinein und sah ihn schluchzend am Boden sitzen.

»Du brauchst nicht weinen. Babajan wird wieder gesund und wir werden schon bald alle wieder gemeinsam draußen sitzen und miteinander lachen.« Mehdi atmete erleichtert auf und schaute verheult in die Augen von Dr. Hakim, der gerade von oben heruntergekommen war und seinen Bruder zu sich heranwinkte. Er sprang sofort auf und lauschte dem Gespräch, dass direkt vor der Haustür geführt wurde. Der Arzt schien sichtlich besorgt zu sein, da er eine ganze Weile zögerte, bevor er Hussein die Wahrheit sagte.

»Ihr Papa ist sehr krank. Er hat Gelbsucht und seine Leber sowie seine Galle sind befallen. Ich kann ihn nicht weiter behandeln. Man muss ihn umgehend in ein Krankenhaus bringen, sonst sieht es äußerst schlecht für ihn aus. Man kann die Symptome zwar weiterhin mit starken Medikamenten abmildern, aber ich weiß nicht wie lange sein Körper das noch aushält.«

Hussein war wie vor den Kopf gestoßen und bekam bei der Verabschiedung des Doktors kein einziges Wort heraus. Während der Krankheit des Vaters hatte er absichtlich weniger gearbeitet, um im Falle eines Notfalls immer für ihn da sein zu können. Was allerdings zur Folge hatte, dass die Ersparnisse der Familie rapide zur Neige gingen.

Zehn Tage waren mittlerweile vergangen und Mamanjun ließ noch immer nicht zu, dass ihre Kinder das schwerkranke Familienoberhaupt sehen durften. An diesem Freitagnachmittag saß Mehdi in der Sonne vor dem Haus und starrte trostlos vor sich hin, als ein kleiner Junge vorbeikam, welcher ihn fragte ob er nicht Lust hätte mit ihm zu spielen. Er winkte unglücklich ab und rührte sich keinen Zentimeter, was den Knaben besonders neugierig machte.

»Entschuldige, aber ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so ein Häufchen Elend wie dich gesehen.« Mehdi schaute interessiert nach oben und versuchte ihm seine Situation zu erklären.

»Es tut mir furchtbar leid, aber mein Papa ist todkrank und das macht mir sehr zu schaffen.« Der fremde Bub redete ihm gut zu, aber man konnte auf Anhieb erkennen, dass es ihm schwer fiel mit solch einer schwierigen Situation umzugehen. Irgendwann waren die Sorgen aber für einen Augenblick vergessen und beide jagten sich frohen Mutes durch die staubigen Straßen und vergaßen dabei komplett die Zeit. Auf dem Rückweg traf Mehdi auf den Doktor, den er ohne jede Begrüßung sofort nach der körperlichen Verfassung seines Vaters befragte. Doch der Arzt wich seinen Fragen immer wieder aus und versuchte ihn mit seiner besonnenen Art zu beschwichtigen.

»Mehdi, mit deinem Papa ist soweit alles in Ordnung. Gehe zu ihm, er erwartet dich sehnsüchtig.«

Nach einem kurzen »Dankeschön«, rannte er freudestrahlend nach Hause und stürmte völlig euphorisch zur Tür hinein. Mamanjun war über die Ausgelassenheit ihres Sohnes ein wenig verwundert und fragte interessiert nach.

»Was ist bloß los mit dir? Du hast nicht zufällig Dr. Hakim getroffen?« Mehdi lächelte und lief aufgeregt im Flur herum.

»Ja, das habe ich, und er hat mir alles erzählt. Darf ich ihn jetzt bitte sehen?«

»Babajan geht es sehr schlecht, gehe dich erst mal waschen danach kannst du zu ihm. Vergiss aber nicht, seine Hände zu küssen, wenn du ihn begrüßt.«

Mehdi winkte genervt ab und rannte nach dem Waschgang unmittelbar hinauf. Zaghaft öffnete er die Schlafzimmertür und schaute durch den Spalt auf einen blassen alten Mann mit Vollbart, der erschreckenderweise überhaupt nicht mehr so aussah, wie er ihn in Erinnerung hatte. Er war vom Anblick so schockiert und wollte die Tür gerade wieder schließen, als er plötzlich mit gedämpfter Stimme angesprochen wurde.

»Willst du deinen alten Herrn nicht begrüßen?« Verängstigt ging er hinüber zum Bett, an das er verunsichert herantrat und seinen Kopf wimmernd auf die Schulter seines Vaters legte.

»Bitte schaue mich an und weine nicht, mein Sohn.« Die glasigen Augen des kleinen Mehdi blickten besorgt in das tief eingefallene Gesicht.

»Mein starker Junge, ich muss bald von euch gehen. Ein Leben lang habe ich hart gearbeitet und habe es zu nichts gebracht. Versprich mir, dass du in Zukunft niemals arm werden wirst und versuche immer ehrlich zu dir selbst und zu deinen Mitmenschen zu sein.« Mehdi drückte ihn so fest er nur konnte an sich, doch als er antworten wollte, war seine Kehle auf einmal wie zugeschnürt.

»Geh nur, und sage deiner Mama Bescheid, dass sie zu mir kommen soll.«

Um sich von der schwierigen Situation abzulenken, schaute Mamanjun noch am selben Abend bei ihrer Schwester vorbei. Dort versammelten sich alle Familienmitglieder in einem kleinen Raum und beteten andächtig für den kranken Vater.

Wegen der weltweiten Konflikte und dem ausbleibenden Handel mit den Nachbarländern wurden viele Dinge über Nacht doppelt so teuer, während es manche Sachen überhaupt nicht mehr zu kaufen gab. Die einfachsten Grundnahrungsmittel wurden zu Wucherpreisen gehandelt, was dramatische Auswirkungen auf die Bevölkerung hatte, da jeder erbittert ums Überleben kämpfte. In der Mitte des Monats verlangte Mehdi nach seinen Schulgebühren, die er dringend bezahlen musste, weil sie ihn sonst von der Schule geworfen hätten. Mamanjun, die kein eigenes Geld verdiente, schlich auf leisen Sohlen ins Schlafzimmer und fragte zögerlich bei ihrem kranken Ehemann nach. Dieser zeigte mit einer kraftlosen Geste auf seine Hose, die auf einem Stuhl lag. Mit fürchterlichen Gewissenbissen entnahm sie die letzten Ersparnisse, wovon sie zehn Rial ihrem Sohn übergab und acht zum Einkaufen einbehielt. Trotz der schwierigen Umstände war Mehdi heilfroh, dass er nun einen weiteren Monat zur Schule gehen konnte und sich nicht mehr vor seinem Lehrer rechtfertigen musste.

Mittlerweile waren zwei weitere Monate vergangen und das Problem mit den Schulgebühren hatte sich zugespitzt, da er mit der Zahlung erneut in Rückstand geraten war. Die Ausreden, die er sich jedes Mal aufs Neue zusammenschusterte, waren irgendwann so abstrus, weshalb er zwischenzeitlich die Schule schwänzte, da er fürchterliche Angst vor den bevorstehenden Konsequenzen hatte. An diesem einen Tag war der Lehrer von seinen Ausflüchten aber so genervt, dass er ihn kurzerhand zum Direktorschickte. Auf dem Weg zum Büro dachte er noch daran wegzulaufen. Doch als er sich umdrehte und bemerkte, wie sein Klassenlehrer sich auf dem Gang dicht an seine Fersen heftete, verwarf er den Gedanken schnell wieder. Im Büro angekommen, hagelte es Vorwürfe ohne Ende, die schlussendlich dazu führten, dass Mehdi der Schule verwiesen wurde. Auf dem Weg nach Hause schlenderte er über den Basar, an dem er zufällig seinem Bruder in die Arme lief, der gerade Lebensmittel einkaufte.

»Ich glaube ich träume, was machst du denn hier?« Mehdi versuchte sich auf die Schnelle eine Notlüge aus dem Hut zu zaubern, aber ihm wollte partout nichts einfallen.

»Es tut mir schrecklich leid, aber ich wurde von der Schule geworfen, weil ich die Gebühren nicht bezahlen konnte.« Zu seiner Verwunderung reagierte Hussein überaus verständnisvoll, was ihn sehr wunderte, da seinem Bruder auch gerne mal die Hand ausrutschte.

»Du gehst jetzt sofort zurück und sagst ihnen, dass du die Schulden morgen begleichen wirst, habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt, oder soll ich dir mit einer Backpfeife auf die Sprünge helfen? Los hau schon ab, bevor ich ungemütlich werde.« Mehdi nickte bejahend und verschwand blitzschnell um die Ecke. Dort überlegte er fieberhaft, was er jetzt tun sollte, doch als er in Gedanken die herablassenden Blicke seiner Mitschüler sah, schämte er sich so sehr, dass er sich dafür entschied, der Schule an diesem Tag fernzubleiben. Die Zeit bis zum offiziellen Unterrichtsschluss verbrachte er an seinem Lieblingsort, der hinter dem Friedhof lag. Dort setzte er sich unter einen großen Baum und dachte ununterbrochen über seine ausweglose Situation nach.

Als er am frühen Abend zuhause eintraf, warf Mamanjun ihm sofort einen strengen Blick zu. Da er ein extrem schlechter Lügner war und vermutete, dass sein Bruder ohnehin schon alles ausgeplaudert hatte, entschied er sich dafür, die Wahrheit zu sagen. Die Mama war schockiert und machte ihm ohne Umschweife klar, dass er sich das Geld für seine Schulgebühren in Zukunft selber verdienen müsse.

»Du brauchst mich gar nicht so komisch angucken. Ich habe vorhin mit Dr. Hakim gesprochen, er hat eine Arbeit für dich. Du sollst ruhig mal zuhause bei ihm vorbeischauen.« Mehdi fiel ein Stein vom Herzen und obwohl er innerlich vollkommen unsicher war, freute er sich auf die neue Herausforderung.

Am nächsten Morgen begab er sich auf direktem Wege zum Haus des Arztes, welches am anderen Ende des Bezirks lag. Als er sich nach über zwei Stunden durch die glühende Hitze der Innenstadt hindurchgekämpft hatte und am Tor anklopfte, war er völlig erledigt. Kurze Zeit später öffnete ihm eine verschleierte Frau, die sein verschwitztes Äußeres skeptisch beäugte.

»Wie kann ich Ihnen helfen, junger Mann?«

»Ich komme auf Empfehlung von Dr. Hakim. Er sagte meiner Mutter, dass er eine Arbeit für mich hätte.« Die Dame wusste scheinbar genau Bescheid und bat ihn freundlich hinein. Bevor er sich im Innenhof niederließ, überreichte sie ihm ein Glas Wasser, welches er in einem Zug austrank.

»Wann ist es möglich mit dem Doktor zu sprechen, es ist wirklich sehr dringend.«

»Da musst du dich wohl noch ein wenig gedulden, er befindet sich nämlich gerade auf einem Außentermin. Aber er ist schon länger fort und müsste jederzeit zurückkommen.« Daraufhin stellte sie ihm frisch gebackenes Fladenbrot vor die Nase, welches er aber der Höflichkeit halber ablehnte. Doch als die Gastgeberin wieder im Inneren verschwand, vergaß er all seine guten Manieren und stopfte sich das knusprige Brot ausgehungert in den Mund. Noch bevor er zu Ende gekaut hatte, erschien Dr. Hakim, woraufhin er die teigige Masse in die Hand spuckte und mit einem Ruck auf das Grundstück des Nachbarn warf. Glücklicherweise schaute der Arzt gerade in die andere Richtung, weshalb er von der kuriosen Aktion nicht das Geringste mitbekam.

»Mehdi, schön, dass du hier bist. Leider habe ich nicht viel Zeit für dich. Ich brauche einen klugen zuverlässigen Burschen, der für einige meiner Patienten einkaufen geht. Würdest du das hinkriegen? Als Gegenleistung erhältst du von mir einen kleinen Lohn und zusätzlich bezahle ich dir deine Schulgebühren, na, was sagst du dazu?« Mehdi verschlug es vor Freude die Sprache und strahlte über das ganze Gesicht.

Bevor der Doktor abermals aufbrach, überreichte er ihm Geld und eine Einkaufliste, auf der draufstand was er einholen sollte und welche Kundin er an diesem Tag zu beliefern hatte. Im Anschluss brach Mehdi umgehend auf zum Basar, der nur ein paar Straßenzüge entfernt lag. Als er vor Ort eintraf, wurde er unweigerlich vom Trubel mitgerissen, der sich urplötzlich vor ihm auftat. Überall standen Verkäufer herum und priesen lautstark ihre Waren an, dabei roch es nach frischen Kräutern, Orangen, Zimt und nach süßem Gebäck, welches es an fast jedem Stand zu kaufen gab. Nach einigen Minuten wurde er sichtbar nervös, da er im dichten Gedränge der quirligen Menschenmenge die Orientierung verlor. Mit Geschick kletterte er auf einen wackeligen Holzkarren, von wo aus er sich einen Überblick über das gut funktionierende Chaos verschaffte. In der Ferne konnte er einen weißbärtigen Mann mit Augenklappe sehen, der auf einem kleinen Podest stand und von einer interessiert dreinblickenden Menschentraube umringt war. Mehdi hüpfte in einem Satz herunter und schlängelte sich bis ganz nach vorne heran, um das bizarre Schauspiel aus nächster Nähe mitzuverfolgen.

Dort lief der Greis langsam umher und machte ein paar mystische Bewegungen, bevor er den ersten Freiwilligen aus der Menge herauspickte, um ihm die Zukunft vorauszusagen. Der verunsicherte kleine Mann setzte sich auf eine marode Holzkiste und streckte dem Alten sichtlich aufgeregt seine Hand entgegen. Nach ein paar zweifelhaften Beschwörungen, die der Wahrsager hinauf in den Himmel schickte, widmete er sich hochkonzentriert dessen Handinnenfläche, die er sich mit weit aufgerissenem Auge ansah. Die Zuschauer kamen bei jedem Geräusch, das er von sich gab, näher, weil sie dachten, dass er Dinge sehen würde, die ihnen aus der Ferne verborgen blieben. Mit großer Spannung erwarteten sie die Antwort, die durch den kräftigen Duft des entzündeten Weihrauchs beinahe ekstatische Züge annahm. Ein erstauntes Raunen zog sich durch die Reihen, als der Hellseher dem Fremden eine aussichtsreiche Zukunft voraussagte. Nach Zahlung eines geringfügigen Betrags verließ er zufrieden das Podest, während die Leute überfallartig nach vorne drängten. Bei dem kurzen Gerangel verlor Mehdi das Gleichgewicht und stolperte dem Seher direkt vor die Füße. Dieser zog ihn entschlossen zu sich heran und versuchte sich mit seinem lauten Organ bei der unruhigen Menge Gehör zu verschaffen.

»Bitte bewahren Sie Ruhe. Wir haben einen neuen Freiwilligen.« Mehdi wusste überhaupt nicht wie ihm geschieht und wollte sich losreißen, weil ihm der faule Zauber nicht ganz geheuer vorkam. Wie hypnotisiert blickte er in das vom Alter gezeichnete Gesicht und ließ die Prozedur, genau wie sein Vorgänger, wortlos über sich ergehen. Die energiereiche Stimme des Wahrsagers wurde von Wort zu Wort lauter und drang dabei bis in die hinterste Ecke des Basars vor.

»Ich sehe eine Zukunft, die sehr schmerzvoll für dich sein wird. Dein Leben wird ein ständiges Auf und Ab, dessen Ende aber noch völlig offen zu sein scheint.« Bevor er weiterreden konnte, schoben und drückten die Menschen von allen Seiten, da sie ebenfalls an die Reihe kommen wollten. Mehdi war heilfroh, dass das unheimliche Spektakel vorzeitig endete und hielt dem alten Greis beim Aufstehen eine Münze entgegen.

»Lass nur, du kannst das Geld mit Sicherheit besser gebrauchen als ich, denn ich habe noch nie so eine grauenhafte Zukunft wie die deine gesehen.«

Mit Unbehagen verließ Mehdi den Marktplatz und machte sich auf den Weg zu seiner ersten Kundin, wobei er ununterbrochen über die unheilvollen Prophezeiungen nachdachte, die er sich logisch zu erklären versuchte. Nachdem er die Lebensmittel bei der kranken Dame abgeliefert hatte, ging langsam die Sonne unter. Auf dem Weg zurück nach Hause stachen ihm sofort die vielen Schilder ins Auge, die vereinzelt an den Laternen hingen. Darauf war zu lesen: ‚Wir sind das Sprachrohr des Volkes! Die Tudeh-Partei.‘

An einer Straßenecke stand ein Zeitungsjunge, der aufgeregt mit der neuesten Tagesausgabe herumwedelte und aus voller Kehle schrie:

»Attentat auf Schah Mohammad Reza Pahlavi! Was geschieht mit dem Iran? Kaufen Sie hier die neuste Ausgabe!« Mehdi war erschüttert über die Nachricht, da der Schah bei der Bevölkerung eigentlich ein hohes Ansehen genoss. Gedankenversunken lief er durch eine finstere Gasse, in der er von einem zwielichtigen Typen angesprochen wurde.

»Hallo, junger Knabe. Bist du auch für den Kommunismus?« Mehdi blieb stehen und guckte den Herrn fragend an, weil er überhaupt nicht verstand, was dieser von ihm wollte. Der Fremde sah das passive Verhalten seines Gegenübers als willkommene Einladung und leierte in einem Atemzug seine kommunistischen Floskeln herunter. Als er Zuhause ankam, befragte er seine Mama völlig unbedarft nach der Tudeh-Partei, da ihm die vorangegangene Begegnung nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Mamanjun schaute ihn entsetzt an und befürchtete das Schlimmste, weil sie ganz genau wusste, dass die Partei eigentlich streng verboten war.

»Sag schon, was hast du angestellt?« Mehdi zog ahnungslos die Schultern hoch und schien sich keiner Schuld bewusst zu sein.

»Ich wurde auf dem Rückweg von einem komischen Kerl angesprochen, der meinte, dass er von der Partei sei und ob ich nicht Lust hätte, mich ihrer Sache anzuschließen. Nur weiß ich überhaupt nicht, was er damit gemeint hatte.« Seine Mutter hastete in die Küche und holte die aktuelle Zeitungsausgabe hervor, die sie ihm merklich betroffen vor die Nase hielt.